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Friedrich von Wieser, Das Gesetz der Macht (Wien: Verlag von Julius Springer, 1926).
Editor's Note
To make this edition useful to scholars and to make it more readable, I have done the following:
Erster Teil. Allgemeiner Aufbau von Macht und Gesellschaft
Zweiter Teil. Das geschichtliche Werk der Macht
Dritter Teil. Die Wege der Macht in der Gegenwart
[III]
Die Menschen stehen unter dem Gesetze der Macht. Das ganze gesellschaftliche Wesen wird durch die Macht regiert, sie ist der höchste Wert, nach welchem die Völker streben und nach welchem sie gezählt, gewogen und gerichtet werden. Doch ist es nicht, wie man in aller Regel annimmt, die äußere Macht, die alles entscheidet, sondern im letzten Grunde ist die innere Macht der Korn der Machterscheinung, der, wie er geschichtlich nach und nach ausreift, das Gehäuse der äußeren Macht sprengt, unter dessen Schutz er seine Reife gewinnt. In dem Buche, das ich hiemit der Öffentlichkeit vorlege, war ich von dem Gedanken geleitet, zu zeigen, wie sich das strenge Gesetz der äußeren Macht im Laufe der Zeit zu den milderen Geboten von Recht und Sittlichkeit wandelt. Diese Wandlung vollzieht sich in folgerichtiger Notwendigkeit, denn die Macht, die den Menschen das Gesetz gibt, Bteht selbst unter dem Gesetze ihres Werdens. Es war der zweite Gedanke, der mich in diesem Buche geleitet hat, das Gesetz des Werdens der Macht zu entwickeln, das sich unter dem Reichtum der geschichtlichen Tatbestände in eine ganze Reihe von einzelnen Gesetzen auflöst.
Der Titel des Buches könnte die Vermutung nahelegen, daß es in näherer Beziehung zu Nietzsches „Willen zur Macht“ steht. Das ist nicht der Fall. Das Buch ist weder als Ausführung zu Nietzsches Werk, noch auch als Gegenschrift gegen Nietzsche gedacht, es ist ganz unabhängig von ihm entstanden. Der Träger von Nietzsches Machtwillen ist der hochstrebende Herrenmensch, der Träger des Gesetzes der Macht, das in diesem Buche dargestellt wird, ist die Gesellschaft in ihrer Spannung von Führer und Masse. Die Gesichtspunkte, unter denen in diesem Buche die Machtersoheinung betrachtet wird, sind daher von denen Nietzsches so verschieden, daß die beiden Anschauungen sich kaum berühren; nur an ganz wenigen Punkten, die allerdings das Wesen der Sache angehen, stoßen sie gegeneinander, in der Hauptsache gehen sie aneinander vorüber, und ich habe darum nur [IV] an ganz wenigen Stellen des Buches Gelegenheit gehabt, mich gegen Nietzsche zu wenden.
Auch sonst hatte ich kaum Gelegenheit, mich auf andere Autoren zu berufen, die sich mit dem in diesem Buche behandelten Stoffe beschäftigen. Meine Arbeit hat zu den meisten Arbeiten auf diesem Gebiet keine bedeutsameren Beziehungen. Das Gebiet der Machterscheinung und der sie umgebenden gesellschaftlichen Erscheinungen ist bisher wissenschaftlich ziemlich vernachlässigt worden, und wer es durchforschen will, muß auf seine eigene Weise versuchen, wie er durchkommen kann. Ich habe, als ich meinen Weg begann, sehr bald die Erfahrung machen müssen, daß ich auf keinem der versuchten Wege weiterkommen konnte, und ich würde den Leser daher irreführen, wenn ich ihm in der von den deutschen Gelehrten geübten Weise literarische Berufungen geben wollte. Meine Erkenntnisquelle war nicht die Literatur über die Macht, noch auch die sonstige soziologische Literatur, ich habe die Tatsachen und Gedanken dieses Buches auf andern Wegen gesammelt, über die ich den Aufschluß, den ich dem Leser schuldig bin, dadurch geben will, daß ich ihm berichte, wie dieses Buch entstanden ist.
Die erste nähere Berührung mit den Tatsachen der Macht verdanke ich dem Studium der Geschichte, zu dem mich von meinen Knabenjahreu an ein unstillbares Verlangen trieb. Ich las, was ich von geschichtlichen Werken zur Hand bekommen konnte. Ich begann mit den Schulbüchern, versenkte mich dann insbesondere in die Darstellungen der vaterländischen Geschichte, suchte später durch die Lektüre universalhistorischer Werke einen Überbück über die Weltzusammenhänge zu erhalten und fand meine höchste Befriedigung an den Meisterwerken, welche die Geschichte der großen weltgebietenden Völker, wie der Römer und der Engländer, sowie die großen geschichtlichen Höhepunkte, wie die Renaissance, und die großen Katastrophen der Revolutionen, wie namentlich der französischen Revolution, darstellen.
Noch näher als durch das Studium entfernter Zeiten und Völker kam ich den Dingen durch die Beobachtung der politischen Ereignisse der Gegenwart. Tch war noch in den Knabenjahren, als Österreich seine „Verfassung“ erhielt, aber ich war schon empfänglich genug, um die gehobene Stimmung in dem Kreise zu teilen, dem ich durch meine Familie angehörte. Von da an habe ich die ganze Wandlung mitgemacht, in welcher der liberale Gedanke in Österreich zuerst kraftvoll aufblühte und sich sodann national und sozial zersetzte. Am politischen Leben teilzunehmen, konnte ich mich nicht entschließen. Ich mußte alt werden, um den Grund darin zu erkennen, daß mir die Beschränktheit des [V] Parteiwesens nicht zusagte. Desto unbefangener konnte ich als aufmerksamer Beobachter die Entwicklung verfolgen. Ich habe auch die politischen Zustände außerhalb Österreichs aufmerksam verfolgt, für die mein Interesse nach und nach erwachte und für deren Verständnis ich den Schlüssel aus den Erfahrungen erhielt, welche ich der nahen Beobachtung zu Hause verdankte.
Meine eigene Arbeit führte mich von den geschichtlichen und politischen Interessen in das Gebiet der Volkswirtschaftslehre. Ich habilitierte mich für diese Wissenschaft und habe als Lehrer und Schriftsteller ein langes tätiges lieben an siß gewendet. Dabei waren es jedoch nicht die historischen und politischen Beziehungen der Volkswirtschaft, die zunächst meine Aufmerksamkeit auf sich zogen, ich ging vielmehr ganz im theoretischen Studium auf. Ich mußte mir eben erst über das Wesen der volkswirtschaftlichen Vorgänge klar werden, bevor ich mich entschließen konnte, mich ihren geschichtlichen und politischen Beziehungen zuzuwenden. Als ich mit meinen wirtschaftstheoretischen Gedanken zu einiger Ordnung gelangt war, bemerkte ich, daß mich von den geschichtlichen und politischen Beziehungen der Wirtschaft noch ein weiteres Gedankenhindernis trennte. Volkswirtschaftliches Handeln ist gesellschaftliches Handeln, und man muß daher, um volkswirtschaftlich klar zu sehen, erst über das allgemeine Wesen des gesellschaftlichen Handelns klar geworden sein. Was die klassische individualistische Schule hierüber lehrte, konnte mich nicht befriedigen, ebensowenig das, was die modernen Gegner der Klassiker vom Standpunkt einer organischen Auffassung lehrten. Dies brachte mich dazu, die gesellschaftlichen Zusammenhänge selbständig zu durchdenken, und hiebei traf ich zum erstenmal auf das Thema der Macht. Von nun an dehnte ich meine volkswirtschaftlichen Vorlesungen und Arbeiten im Sinne gesellschaftlicher Erklärung aus. Als ich knapp vor dem Weltkrieg meine „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft“ vollendete, war ich so weit, daß ich ihr die notwendigste gesellschaftliche Grundlegung geben konnte. Daneben benützte ich eine Reihe von besonderen Gelegenheiten zu Arbeiten soziologischen Inhalts. Meine Prager Rektoratsrede von 1901 über ,,Die gesellschaftlichen Gewalten", die Vorträge über „Recht und Macht“, die ich bei den Salzburger Hochsehulkursen von 1909 hielt, ein Aufsatz über Spencers „Große-Mann-Theorie“, den ich bei der Gründungsfeier des Wiener Schottengymnasiums im Jahre 1908 unter dem Titel „Arma virumque cano“ veröffentlichte, bezeichnen die Richtungen meiner Arbeit. Die steigende Heftigkeit des politischen Kampfes in Österreich bestimmte mich zu einer Reihe von Büchern [VI] und Artikeln über österreichisches Verfassungswesen und die Zustande in Böhmen.
Da gab mit einem Male der Weltkrieg meinen Gedanken eine neue Richtung. Ich hatte seinen Ausbruch lange befürchtet, aber immer an ihn doch nicht glauben können, wie man an das nicht glauben kann, was zu begreifen man nicht imstande ist, und nun war er in unbegreiflicher Größe zur Wirklichkeit geworden. In unbegreiflicher Größe schritten die Kulturvölker Europas, obwohl im Tiefsten des Gemütes erschüttert, mit ungebrochener Entschlossenheit zur Tat. Wenn die Unbegreiflichkeit des Krieges Wirklichkeit geworden war, so blieb nicht« übrig, als das Äußerste EU tun, um sich zu behaupten, und dieses Äußerste wurde von allen beteiligten Völkern getan, Wunder der Kraft und des Opfermutes wurden geleistet. Auch ich war bestrebt, meiner vaterländischen Pflicht zu genügen. Ich hatte immer auf Seite derjenigen gestanden, die behaupteten, Österreich müßte geschaffen werden, wenn es nicht schon durch die Geschichte geschaffen gewesen wäre, und ich habe nun, nachdem es in seinem Bestände bedroht war, aus vollster Überzeugung nach meinen Kräften das meinige im Dienste seiner Aufrechterhaltung getan. In dieser Absicht äußerte ich mich in einigen Reden über das Verhältnis Österreichs zum Kriege; reichere Gelegenheit fand ich im Herrenhause, in das ich berufen wurde, und insbesondere als Mitglied der Regierung, der ich unter dem letzten Kaiser von Österreich bis zum Schlüsse angehörte.
Der Unbegreiflichkeit des Weltkrieges folgte die Unbegreiflichkeit des inneren Zerfalles. Nun war die Zeit des Handelns zu Ende und das Gemüt meldete sich zum Wort. Wie hatte dies alles geschehen können ? Hatte das Leben nicht seinen ganzen Sinn verloren ? Waren die Mühen einer jahrhundertlangen geschichtlichen Arbeit und die unerhörten Opfer des Krieges wirklich ganz vergebens gebracht ? Das waren die Fragen, die sich aufdrängten. In einem kleinen Buche, „Österreichs Ende“, und in mehreren Aufsätzen über die Revolutionen habe ich eine nächste Antwort zu geben versucht, in einem Artikel, „Die Schuld am Frieden“, formulierte ich die Anklage, die ich gegen den Gewaltfrieden zu erheben hatte, außerdem faßte ich den Plan zu einer großen Schrift über den Weltkrieg und die Verfehlungen des Friedensschlusses und war eifrig an den Vorarbeiten hiezu tätig. Aus diesen Ansätzen ist das „Gesetz der Mächt“ entstanden. Mein Urteil über den Weltkrieg verschob sich immer mehr, je mehr mich meine Vorarbeiten dahin leiteten, ihn in weltgeschichtlicher Perspektive zu sehen. Ist der Weltkrieg nicht ein Stück Weltgeschichte, und muß man nicht [VII] deren treibende Mächte kennen, bevor man von ihm sprechen darf? So fragte ich mich, und indem ich nun den Ursachen nachging, die den Weltkrieg herbeigeführt hatten, wurde ich nach und nach immer tiefer in die Zusammenhänge der Jahrhunderte und aus diesen in die Zusammenhänge der Jahrtausende zurückgeleitet. Dabei tauchten die Gedanken wieder auf, die ich schon vor dem Weltkrieg den gesellschaftlichen Problemen gewidmet hatte ; diese erschienen mir jedoch nun in wundersam verschärften Umrissen. Von der grellen Flamme des miterlebten Krieges fiel neues Licht auf die Vergangenheit zurück und ich lernte die Gegenwart als Lehrmeisterin der Geschichte kennen. Niemals werden wir von den Mächten der Vergangenheit diejenigen begreifen können, die geschichtlich überwunden sind, wir werden z. B. niemals den Sinn zu begreifen vermögen, der ein ägyptisches Königsgrab unter dem Koloß einer Pyramide versenkt hat. Für dio Distanz, die den Pharao über die Tausende von Sklaven erhöh, welche für ihn schanzen mußten, haben wir kein Maß mehr, wohl aber kann uns aus der Vergangenheit dasjenige lebendig werden, was in dem Stück Geschichte, welches wir in der Gegenwart mitmachen, noch weiterwirkt. Indem der Weltkrieg und der Umsturz in den Völkern Kräfte wiedererweckten, von denen wir keine lebendige Vorstellung mehr hatten, sind uns die langen Perioden der Vergangenheit, in denen diese gleichen Kräfte wirkten, in deutliche Sehweite des Verständnisses gerückt worden. Auf diese Weise habe ich gelernt, die Maehtbeweguugen nachzufühlen, die durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Geschichte bis in unsere Zeit hereinreichen und von denen wir wohl sagen dürfen, daß sie auch noch über unsere Zeit hinaus weiterreichen werden.
Damit waren mir die Gedanken zusammengeschossen, denen ich in diesem Buche Auadruck zu geben versuchte. Die Ordnung, in der ich sie dem Leser vortrage, gibt durchaus nicht die Folge wieder, in der sie mir gekommen sind. Das Buch hat. sich in seinen einzelnen Teilen gleichzeitig in meinem Geiste entwickelt, seine Hauptgedanken haben sich mir gemeldet, ohne daß ich mir ihres Zusammenhanges zunächst bewußt gewesen wäre. Mir ging es wie dem Wanderer im Gebirge, der die Bergapitzen voneinander getrennt über dem wallenden Nebel vor sich sieht, bis der Nebel weicht und er erkennt, daß sie die Krönung eines breitverbindenden Massivs sind. Was ich konnte, habe ich dazu getan, um die verbindenden Grundlagen nachzuweisen. Auch darin hatte ich ein anderes Ziel als Nietzsche, der mit dem rhapsodischen Schwünge des Dichters sich in übermenschlichen Höhen hält, ganz in den Anblick der Lichtgestalten versunken, die ihn entzücken, während [VIII] er für das Dunkel darunter nur höhnische Verachtung aufbringt. Ich habe mich erst zufrieden gegeben, als ich den Eindruck hatte, das Ganze der Machterscheinung und ihrer gesellschaftlichen Umwelt bis in ihre Tiefen zu überblicken. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß ich keines der wesentlichen Elemente vernachlässigt habe, wohl aber muß ich fürchten, daß es mir nicht gelungen ist, die einzelnen Stücke, die sich mir nach und nach zur Einheit verbanden, in der Darstellung fließend aneinander zu fügen. Einige von ihnen waren längst fertig und auch schon veröffentlicht, ehe ich über das Ganze des Werkes ins reine kam, bo die Abschnitte über Führer und Masse, über Machtpsychologie, über das geschichtliche Werk der Gewalt, über die modernen Diktaturen ; ich habe sie in den Hauptgedanken unverändert in dieses Buch übernommen, dagegen habe ich mich über das gesellschaftliche Werk der Kunst nunmehr anders geäußert als in einem im Jahre 1920 veröffentlichten Aufsatz, in welchem ich der einigenden Friedensmacht der Kunst eine stärkere Wirkung zugestanden habe, als ich ihr abschließend zuzugestehen imstande war. Da und dort mögen zwischen den einzelnen Abschnitten trotz aller Mühe, die ich mir gab, immer noch die verbindenden Übergänge fehlen, ein Mangel, aus dem ich aber den Gewinn zu ziehen hoffe, daß der Leser erkennt, daß es nicht in meinem Plane war, die Schlußergebnisse, zu denen ich gelangt©, aus Prämissen abzuleiten, die mir von Anfang an feststanden, noch auch umgekehrt zu Schlußergebnissen, die mir von Anfang an feststanden, die theoretischen und geschichtlichen Unterlagen nachträglich aufzubauen. Ich habe nichts beweisen noch logisch verflechten wollen, sondern ich habe nur beschreibend wiedergeben wollen, was ieh nach angestrengtem Schauen in einem geschlossenen Zusammenhange vor mir sah, dessen Verhältnisse freilich so ausgedehnt sind, daß nur das angestrengteste Schauen seine Einheit erkennt.
In einem einzigen Punkte muß ich zugestehen, eine vorgefaßte Meinung hartnäckig festgehalten zu haben. Ich habe das Buch aus dem Sinne unbedingter Lebensbejahung geschrieben. Wer an das Leben nicht mehr glaubt, möge sich still abseits halten oder einen Seolenarzt befragen, es hat keinen Sinn, daß er mit seinem Zweifeln und Verzweifeln die Öffentlichkeit beunruhigt, die ihrem Lebensinstinkte folgt und über alle hinweggehen wird, welche ihr diesen Instinkt rauben oder mindern wollen. Man braucht deshalb die blinde Zuversicht nicht zu teilen, mit der die Masse in den Tag hineinlebt. Wer Augen hat, zu sehen, hat auch die Pflicht zu sehen und nach den Gefahren Umschau zu halten, die das Glück des Lebens bedrohen. Die Geschichte hat Katastrophen, die noch schlimmer waren als der Weltkrieg, und die [IX] Menschheit wäre längst untergegangen, falls sie darüber ihren Lebensmut verloren hätte. Ich suche meinen Platz und ich suche für dieses Buch die Leser unter denen, die aufrecht bleiben wollen, und bitte sie, mir zu folgen, wenn ich den Strömungen nachgehe, die das Lebensschiff der Menschheit bisher durch die Pressungen der Geschichte hindurchgeleitet und trotz der furchtbarsten Verluste und Schäden doch einem hohen Ziele nähergeführt haben. Es liegt mir ferne, anzunehmen, daß der Katastrophe des Weltkrieges keine weitere mehr folgen werde, im Gegenteil, ich meine, daß wir uns rüsten müssen, neuen schweren Pressungen zu begegnen, um so mehr aber meine ich, daß wir uns auch rüsten müssen, unseren Sinn aufrecht zu bewahren.
Ich habe keinen heißeren Wunsch als den, daß dieses Buch etwas dazu beitragen möge, die Gemüter mit der Zuversicht zu erfüllen, daß es den Menschen beschieden sei, endlich im Hafen des Friedens zu landen. Dabei muß ich jedoch befürchten, daß ich keiner der beiden Parteien des Friedens und des Krieges ganz zu Gefallen rede. Was die Sache anlangt, so stelle ich mich auf die Seite der Friedenspartei, was aber die Personen anlangt, mit denen zu gehen ich die Neigung habe, so finde ich in den Reihen der Friedenspartei nur wenige ausgezeichnete Männer, denen folgen zu dürfen ich als Ehre betrachte; die große Masse der Friedensmenschen ist müde und kraftlos und wird die hohe Sache des Friedens verderben. Was heute unter den Kulturvölkern treibende Kraft besitzt, ist, mit Ausnahme jener wenigen ausgezeichneten Männer, zu einem Teil noch immer in den Reihen der Kriegspartei gesammelt, oder wird sich wieder unter den Fahnen sammeln, wenn das Vaterland rufen sollte. Aus vollster Überzeugung kann ich sagen, daß ich meinerseits den kraftentschlossenen Männern, die durch ihr vaterländisches Gefühl zum Kampfe getrieben werden, nicht feindselig gegenüberstehe, ich beuge mich ihrer Tapferkeit und ihrem Opfermute. Ich sehe in den Millionen, die sich im Weltkrieg aufgeopfert haben, heroische Märtyrer des geschichtlichen Werkes der Menschheit. Möge der heldenhafte Geist, uüt dem sie in den Tod gingen, um die ihnen auferlegte Pflicht zu erfüllen, auch über denjenigen sein, die es unternehmen, für den Frieden zu kämpfen ! Ich habe sie immer im Geiste vor mir gehabt, als ich an diesem Buch arbeitete. Es ist ihrem Andenken gewidmet!
Wien, im Januar 1926
F. WIESER
[1]
Bis ins 18. Jahrhundert hat sich die Kraft fast aller Völker des modernen Europa willig dem Gesetze gefügt, das ihnen eine kleine Zahl von Adelsgeschlechtern oder gar ein fürstlicher Alleinherrscher gab. Der eine oder die wenigen herrschten über die vielen, so gut wie unbestritten galt das Gesetz der kleinen Zahl. In der Antike ist es nicht anders gewesen. Im Orient war das Gesetz der kleinen Zahl fast überall bis zur Despotie gesteigert, bei fast allen Völkern gehorchte die oft bis zur Sklaverei herabgedrückte Masse dem Gebote ihrer Herren. Sind Griechen und Römer während gewisser Perioden ihrer Geschichte in sich selber auch frei gewesen, so hat sich gerade durch sie das Gesetz der kleinen Zahl um so strenger in den Herrschaften erfüllt, die sie ausbreiteten. Die kleine Zahl der Rftmer gab einer Welt das Gesetz.
Das Gesetz der kleinen Zahl ist das merkwürdigste Problem, das uns die Geschichte zur Losung stellt. Es teilt da« Schicksal aller großen Probleme, daß man es die längste Zeit gar nicht als Problem empfunden hat. Es war den Menschen durch Jahrtausende hindurch so selbstverständlich, sich dem Gesetze der kleinen Zahl zu beugen, vor dem es kein Entrinnen gab, daß sie sich gar nicht fragten, wie es denn sein könne, daß die kleine Zahl das Übergewicht über die große Menge habe. Als dann endlich der Gedanke der Volkssouveränität aufkam, gab man sich ihm so leidenschaftlich hin, daß man erst recht nicht fragte, warum er nicht schon immer gegolten habe. „Das Volk hat geschlafen, aber nun ist es erwacht und von nun an wird die Macht bei den vielen bleiben“, [2] mit dieser Formel, die ihr von den Rednern des Tages vorgetragen wurde, gab sich die öffentliche Meinung zufrieden.
Für die proletarischen Denker hat der Gedanke der Volkssouveränität, der ursprünglich von den Denkern des Bürgertums verkündet worden war, erhöhte Bedeutung gewonnen, denn sie erst fühlten sich als die wahren Vertreter der Masse des Volkes. Dennoch würde man es vergebens erwarten, von ihnen über den Sinn des Gesetzes der kleinen Zahl Aufklärung zu erhalten, denn ihnen mußte es ja vor allem darnn gelegen sein, gar keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß das Volk allein zur Macht berufen sei. Auf dieses Ziel waren die eindringlichen Untersuchungen gerichtet, die sie über die Macht anstellten. Eine solche Untersuchung, realpolitisch auf die Gegenwart berechnet, ist die Rede „Über Verfassungswesen“, mit der Lassalle seine Agitation eröffnete, der er ebensogut den Titel „Über das Wesen der Macht“ hätte geben können; eine solche Untersuchung, auf den geschichtlichen Werdegang der Macht eingestellt, ist Marxens Lehre von der materialistischen Geschichtsauffassung. Aller Reichtum und Glanz dieser Darstellungen darf uns jedoch nicht darüber täuschen, daß in ihnen ein unerklärter Rest übrigbleibt, ein Rest, der geradezu das Wesentliche des Machtproblems betrifft.
Lassalle nennt am Beginn seiner Rede den König in Preußen als eine der realen Mächte. Damit rührt er an das Problem der kleinen Zahl, aber er geht daran vorbei, ohne sich in Gedanken darüber einzulassen. Um so ausführlicher verweilt er bei der realen Macht der Armee. Während er die geschriebene Verfassung Preußens „das Blatt Papier“ nennt, bezeichnet er die Kanonen als „jene so wichtigen Verfassungsgrundlagen“, was in seinem Sinne so viel sagen will, wie ein wesentliches Stück realer Macht. Er klagt die Demokratie auf das heftigste an, daß man im Jahre 1848 seine Zeit damit verloren habe, sich über eine Verfassung zu beraten, statt sich der Kanonen zu bemächtigen, wie man es leicht hätte tun können. War es aber im Preußen von damals wirklich so leicht, sich der Kanonen zu bemächtigen ? Man hätte dies nicht ohneweiters tun können, denn man hätte es zuerst mit den Kanonieren zu tun bekommen, und diese waren damals gut königlich gesinnt. Für das Volk ist die Zeit, sich der Kanonen zu bemächtigen, erst 70 Jahre später gekommen, als der preußische König nach dem Zusammenbruch aufgehört hatte, eine reale Macht zu sein. Wenn der Fürst durch die Waffe herrscht, so herrscht er über sie durch eine innere Macht, die er über die Träger der Waffen hat, diese innere Macht ist die Schlüsselmacht zu seiner äußeren Macht. Uns über diese Schlüsselmacht [3] Aufklärung zu geben, hat Lasgalle gar nicht versucht. Er hat uns daher das Wesen der Macht nicht erklärt, ja er ist nicht einmal so weit gelangt, daß er das innerste Problem der Macht auch nur aufgestellt hatte.
Auch Marx in seiner materialistischen Geschichtsauffassung ist nicht so weit gelangt. Wir werden Marx beistimmen, wenn er sagt, daß in den Jahrhunderten, die der Besiedlung des Lande« folgten, der Grundbesitz der entscheidende Besitz war, und wir werden ihm ebenso darin beistimmen, daß in der Zeit der großen industriellen Entwicklung der Kapitalbesitz entscheidend wurde; wenn er aber dann behauptet, daß in der ersteren Periode Fürst, Adel und Geistlichkeit machtig sein mußten^ weil sie über den Grundbesitz verfügten, und daß sodann die Unternehmer mächtig sein mußten, weil sie über das Kapital verfügten, so können wir ihm nicht mehr folgen, denn er hätte uns erst klarmachen müssen, was klarzumachen er gar nicht versucht, wie es kommen konnte, daß sich der entscheidende Besitz von Land und Kapital nicht immer in der Hand der großen Masse befunden habe. Was hat der kleinen Zahl die Schlüssel macht gesichert, durch die sie über den entscheidenden Besitz verfügen konnte ? Darauf kommt es an.
Lassalle und Marx konnten sich, ebenso wie zu ihrer Zeit die Denker der bürgerlichen Freiheitsbewegung, dem Problem der Macht nicht nähern, weil ihnen ein klarer Begriff der Macht fehlte. Sie alle standen im Banne des gemeinen Sprachgebrauches, in welchem der Gedanke der äußeren Macht voransteht, wie diese durch die große Zahl, durch Waffen oder Reichtum erworben wird. Und doch hätte der Sprachgebrauch eines Besseren belehren können. Denn im Worte Macht, wenn man ihm auf den Grund geht, ist der tiefste Sinn der Machterscheinung beschlossen, der die innere Macht mitumfaßt. Das ist der unschätzbare Vorteil, den alle Wissenschaft vom inneren Erleben des Menschen vor den Naturwissenschaften voraus hat, daß für sie der Sprachgebrauch, wenn er nur recht gedeutet wird, der untrügliche Weiser bis in die letzte Tiefe der Erscheinung ist. Die in der Volkssprache niedergelegte Naturbeobachtung ist die Beobachtung des Laien, die von der Naturwissenschaft weit überholt ist; deshalb vermeidet es der methodisch geschulte Naturforscher mit Recht, dem Sinne der Worte der Volksaprache nachzugrübeln, für welche die Sonne immer noch aufgeht und untergeht; Ernst Mach, der ausgezeichnete Methodiker [4] der Physik, will selbst den Sprach begriff der Kraft nicht mehr gelten lassen. In Rücksicht auf die inneren Erlebnisse des Menschen ist dagegen das Volk mit seinen Aussagen nicht Laie, seine Aussagen Rind Kronzeugnisse, als die Aussagen derjenigen, die dabei gewesen sind. Der strengste gesellschaftliche Denker wird den Sprachbegriff der Macht gelten lassen müssen, er wird ihn nicht nur gelten lassen müssen, sondern er wird erst seinen Sinn ganz auszuschöpfen haben, bevor er sich der Machterscheinung zuwenden kann, deren Umfang und Gehalt ihm der Sprachbegriff aufschließt.
Wie alle Urwörtcr der Sprache, die sich auf menschliche Dinge beziehen, hat auch das Wort Macht einen schillernden, verwirrenden Reichtum an Sinn. Man versteht es, wenn Max Weher den Machtbegriff amorph nennt. Was wird nicht alles an äußerer und innerer Macht ausgesagt und von welchen verschiedenartigsten Trägern wird es nicht ausgesagt! Die Träger der äußeren Macht sind meist Personen, entweder Einzelpersonen oder Personengruppen, wie der Fürst, die Adelsgeschlechter, das Volk und seine Parteien, der Staat; innere Macht wird nur in selteneren Fällen auf bestimmte Personen bezogen, wie es z. B. geschieht, wenn man dem großen Rcligionsstifter oder der Kirche Macht zuerkennt, in aller Regel wird sie als unpersönliche, als anonyme Macht ausgesagt, als eine Macht, die da ist, ohne daß sie bestimmten Personen zuerkannt werden könnte. So verhält es sich bei der Rechtsmacht oder der sittlichen Macht oder bei den Ideen, Strömungen und Bewegungen, denen Macht zugesprochen wird. Diese unpersönliche Art der Aussage darf uns nicht irremachen, alle diese anonymen Mächte haben doch immer ihre persönlichen Träger. Könnte Rechtsmacht oder sittliche Macht bestehen, ohne rechtlich oder sittlich fühlende Menschen? Damit die Ideen Macht haben, müssen immer Menschen in Bewegung sein, die sich ihnen begierig hingeben. Bei allen diesen anonymen Mächten ist jedoch die Zahl derer, die sie tragen, so groß, daß sie nicht mehr zu übersehen ist, und auf jeden einzelnen von den vielen entfällt ein so geringer Anteil an Macht, daß man ihn nicht als Machthaber zählen kann, und darum läßt man dort, wo man anonyme Mächte auszusagen hat, ihre persönlichen Träger fallen, während man die inneren Kräfte, durch welche die Wirkung ausgeübt wird, als ihre Träger nennt. Der gleichen Metonymie bedient man sich übrigeas auch bei den äußeren Mächten, wenn man z. B. von der Macht der Waffen oder des Reichtums spricht, die doch nicht selber Macht in sich haben, sondern nur die Machtmittel, die Werkzeuge sind, durch welche die persönlichen Träger ilire Macht haben. Wenn endlich der Sprachgebrauch [5] auch noch die Wendungzuläßt, daß jemand oder daß etwas eine Macht sei, wenn man z. B. vom Staate sagt, daß er eine Macht, eine Großmacht, eine Weltmacht sei, bo betrifft diese Wendung nur die Form der Aussage; der Zustand, der ausgesagt wird, ist immer der gleiche. Der Staat ist eine Macht, weil er so ist, daß er Macht hat.
Für alle im Sprachgebrauch ausgesagten Machterscheinungen trifft ohne Ausnahme und auf das genaueste die Deutung zu, die Spinoza gibt, wenn er die Macht als Herrschaft über das menschliohe Gemüt definiert. Die Naturkraft wird zur Naturmacht, wenn ihre Wirkungen unser Gemüt durch ihre Furchtbarkeit oder ihre Zauber mit Schrecken oder mit Bewunderung erfüllen; die Macht, die ein Freund über den andern, die ein Liebender über die Geliebte gewinnt, geht durch das Medium des Gemütes, und ebenso bedeutet gesellschaftliche Macht — um die es uns bei unserer Untersuchung zu tun ist — die Herrschaft über die Gemüter in der Gesellschaft. Bei der inneren Macht ist diese Beziehung auf das Gemüt, auf das seelische Fühlen und Wollen von vornherein klar ; die Rechtsmacht und die sittliche Macht, die Macht des Glaubens, des Wissens, der Ideen und geistigen Bewegungen aller Art und nicht anders die Macht der Gewohnheit und selbst die der äußeren Sitte beruhen Ruf Eindrücken, die im Gemüte wirken. Gilt dasselbe aber nicht auch für jegliche Bildung äußerer Macht? In ihrem nächsten Sinne scheint äußere Macht nichts anderes besagen zu wollen, als die Verfügung über die äußeren Machtmittel, über die großen Massen, die Waffen oder den Reichtum — alle diese Machtmittel sollen aber auf die eine oder die andere Weise im letzten Ziele die Menschen, auf die sie gerichtet sind, unterwerfen oder irgendwie abhängig machen und also Herrschaft über die Gemüter geben; die großen Massen, über die man gebietet, sollen es durch den überwältigenden Eindruck ihrer Menge, die Waffen solien es durch Furcht und Schrecken, die sie verbreiten, der Reichtum soll es durch die Genüsse, die er in Aussicht stellt, oder durch den Druck, den er auf den Konkurrenten ausübt, dessen Absatz er bedroht, oder den er auf den Arbeiter ausübt, welchem er die Mittel zur Arbeit bietet oder verweigert. Immer ist also äußere Macht Verfügung über äußere Machtmittel mit dem Ziele der Herrschaft über die Gemüter, oder wie wir besser zu sagen haben, äußere Macht ist Herrschaft über die Gemüter durch die Verfügung, die man über äußere Machtmittel besitzt. Sie ist daher ganz und gar des gleichen Wesens mit der inneren Macht, von der sie sich nur durch die Mittel unterscheidet, die sie gebraucht.
[6]
Wir dürfen uns auch durch die Bestimmtheit nicht irremachen lassen, mit welcher der Sprachgebrauch die äußere Macht hervorhebt. Wenn man von Macht spricht, ohne sie durch einen Zusatz als innere Macht erkennen zu lassen, so ist immer äußere Macht gemeint. Äußere Macht ist Macht schlechthin, Übermacht ist überlegene äußere Macht, der Machthaber, der Mächtige ist derjenige, der über äußere Macht verfügt ; wird doch die äußere Macht oft geradezu als die entscheidende Macht ausgesagt: „ Macht geht vor Recht“. Ist damit das Kronzeugnis des Sprachgebrauches nicht eindeutig zugunsten der äußeren Macht abgelegt ? Wenn wir aber allen überlegen, so müssen wir doch erkennen, daß der Sprachgebrauch auch die innere Macht, überall wo er sie aussagt, als echte Macht gelten läßt. Wenn der Dichter die Macht des Gewissens aufruft, die innerste Macht, die es gibt, so spricht er nicht im Gleichnis, Shakespeare zeigt uns Richard III. in der Wirklichkeit seiner Verzweiflung, die sein Gemüt überwältigt. Daß der Sprachgebrauch der äußeren Macht den Vorrang gibt, erklärt sich zur Genüge daraus, daß sie mit sinnlich wahrnehmbaren Mitteln wirkt, die sich der Beobachtung am deutlichsten darbieten, und daß ihre Entscheidungen, ihre Siege und Niederlagen in ihrer nächsten Wirkung unbestreitbar sind. Die große Masse beugt sich ihnen in stummer Ergebung und selbst das tapfere Herz mag durch sie erschüttert werden, während dagegen die innere Macht oft und oft, namentlich in ihren fast unbemerkbaren ersten Regungen, nur mit leisen Schlägen arbeitet und auch ihre Siege oft und oft so ganz allmählich gewinnt, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit kaum recht zu Bewußtsein kommt. Schließlich sind doch die in die Sinne fallenden Entscheidungen der äußeren Macht alle ohne Ausnahme von inneren Mächten getragen, mögen diese auch, im Hintergrunde wirkend, der Beobachtung der Menge entzogen sein und sich nur dem Blick des großen Führers oder späterhin dem rückblickenden Auge des Forschers erschließen. Es ist heute eine beliebte Redensart geworden, von der Rücksicht zu sprechen, die der gewandte Politiker auf die besondere Mentalität seines Gegners zu nehmen weiß, und den Staatsmann zu rühmen, der auch für die Imponderabilien Fühlung hat, im letzten Grunde kommt es indessen immer auf Mentalität und Imponderabilien an, denn es kommt immer auf die Wirkung im Geinüte an, die unwägbar ist, auch wenn sie überwältigend ist. Die letzten Träger der äußeren Mächto sind immer irgendwelche innere Schlüssel mächte, die den gesicherten Zugang zu ihrem Besitz [7] eröffnen. Der äußere Machtverband des Staates, den das Siegervolk auf dem Rücken der unterworfenen Millionen aufrichtet, setzt, um aufrecht bestehen zu können, einen überlegenen inneren Machtverband des Siegervolkes selber voraus, der den festen Kern des Staates bildet ; das weite, äußere Machtaggregat der unterworfenen Völker, das durch Furcht und Schrecken zusammengehalten ist, setzt das innere Machtaggregat des Siegervolkes voraus, das durch sein Volksgefühl geeinigt ist. Es ist noch eine ganz rohe innere Macht, die das Siegervolk in sieh verbindet, aber es ist gleichwohl eine innere Macht. Sobald im Siegervolk keine Zusammengehörigkeit mehr besteht, so zerfällt das innere Machtaggregat und mit ihm geht auch das darüber aufgebaute äußere Machtaggregat in Brüche.
Bei den zu dauernder Herrschaft begabten Siegervölkern verfeinert sich im Laufe der Entwicklung die rohe innere Macht, mit der sie ihre Laufbahn beginnen. Die Erfahrung des Kampfes sagt ihnen, daß sie ihre Siege mehren und sichern, wenn sie sich bei ungebrochenem Mannessinn dem Befehle der erfolgreichen Führer unterordnen, und sie sagt wohl auch dem führenden Adel, daß er am besten tue, sich dem gewaltigen Kriegsfürsten unterzuordnen, der Sieg auf Sieg häuft. Am Ende geht die Entwicklung dahin, daß ein aufgeklärtes fürstliches Regiment auch das äußere Machtaggregat der Unterworfenen mit innerer Macht durchdringt und bindet, indem es die Untertanen zu Bürgern wandelt. So entstand die rcalo Macht des Königs in Preußen, von der Lasaalle spricht. Sie war nach außen, den fremden Staaten gegenüber, auf die Furcht der Waffen gegründet, nach innen, dem Volke gegenüber, auf Ehrfurcht und Vertrauen, wie dies Bismarck in .seinen „Gedanken und Erinnerungen“ so treffend darlegt. Der „Rocher de bronce“, auf den die Hohenzollern pochten, war wie der Fels, auf den Christus die Kirche baute, ein Aggregat innerer Macht. Er war minder fest wie der kirch liehe Bau, der heute noch steht; mit der Macht des preußischen Königs war es vorüber, sobald die Masse des Volkes dem obersten Kriegsherrn, der im Weltkrieg versagt hatte, nicht mehr Ehrfurcht und Vertrauen entgegenbringen konnte.
Die Geschichtschreibung hat damit begonnen, daß sie von Siegen und Niederlagen des eigenen Volkes und dann auch der fremden Völker erzählte, von denen man Kunde hatte, und daß sie. im Zusammenhang damit vom Aufbau und Niederbruch der Staaten erzählte und von [8] den Königen, Feldherren und Staatsmännern, die bei diesen Ereignissen die Führer der Völker gewesen waren. Die Geschichte dieses Sinnes ist die Geschichte der auffälligsten von den äußeren Mächten, nämlich der Kriegsmächte und der Staatsmächte. Später hat man auch der wirtschaftlichen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit zugewendet, da man die Bedeutung fcrkaimte, welche die wirtschaftlichen Vulkskräfte für den Sieg im Kriege und für das Gedeihen des Staates besitzen; allerdings ist man nicht so weit gekommen, daß man es vermocht hätte, die geschichtliche Entfaltung der Wirtschaftsmächte deutlich zu erkennen und in festen Zusammenhang mit der Staatsgeschichte zu bringen. Auch in das Gebiet der inneren Mächte ist man sodann eingedrungen, wo man die kirchliche Macht als Gegenmacht des Staates in die Darstellung aufzunehmen sich gezwungen sah. Bei der geschichtlichen Erzählung blieben die beteiligten Massen meistens im Hintergrund, alles Licht fiel auf die großen Führer. Das Studium und die Darstellung ihrer Charaktere war eine Aufgabe, an der sich die Kirnst des Geschichtschreibers besonders gerne versuchte.
Es ist noch nicht lange her, daß man es müde wurde, von Kriegen, Kriegsfürsten und Feldherren zu berichten, und sich mehr und mehr der Entwicklung von Zivilisation und Kultur zuwandte, indem man diese entweder mit der äußeren Staatsgeschichte verband oder geradezu für sich behandelte. Es möge dem Verfasser gestattet sein, daß er in aller Kürze der Meinung Ausdruck gebe, die Geschichtschreibung sei trotz dieser Wendung noch immer nicht zur vollen Erfassung ihrer Aufgabe vorgeschritten. Gerade das Wichtigste über die inneren Mächte hat uns eine Geschichtschreibung noch nicht gesagt, die uns an Stelle der alten militärpolitischen Staatengeschichte innerhalb ihres Kahmens über die innere Macht nicht mehr zu sagen wüßte, als wir sonst in Geschichtswerken über die schönen Künste, über Religion, Dichtung und Wissenschaft zu lesen bekommen. Eine solche Geschichtschreibung hat uns noch durchaus nicht darüber belehrt, in welchem Maße die inneren Mächte zum Aufbau der menschlichen Gesellschaft beitragen. Wissenschaft und Kunst erschöpfen ihre gesellschaftliche Wirkung nicht darin, daß sie unser Lehen schmücken, sie festigen es auch, und mehr noch als sie tun dies die inneren Mächte des Glaubens und der Sittlichkeit. Während die äußeren Mächte die äußeren Machtaggregate aufbauen, bauen die inneren Mächte als deren Schlüsselmächte die inneren Machtaggregate auf, die der tiefste Halt aller Gesellschaft sind. Die Geschichtschreibung darf ihr Werk nicht beendet sehen, bevor es [9] ihr nicht gelungen ist, uns zu erzählen, wie der gesellschaftliche Aufbau sich im allmählichen Werden durch die Wechselwirkung von äußeren und inneren Mächten bis zur heutigen Höhe aufgerichtet hat.
Die Geschichtechreibung setzt sich jedenfalls ins Unrecht, wenn sie überhaupt aufhören will, von SchJachten und Siegen zu berichten, selbst wenn durch diese die Kulturvölker sich der vernichtenden Angriffe ihrer barbarischen Gregner erwehrten. Die Perserkriege darzustellen, hat nicht nur lokalpatriotisches Interesse für den griechischen Erzähler gehabt, denn diese Kriege bezeichnen eine der großen Wendungen in dem tausendjährigen Ringen der westlichen und östlichen Völker. Wenn es einem zur Kultur berufenen Volke glückt, in schwerem Kampfe seine Unabhängigkeit zu wahren, so ist ein solcher Erfolg kulturgeschichtlich noch bedeutsamer als kriegsgeschichtlich. Der Sieg gegen Attila auf den Katalaunischen Gefilden hat die sinkende römische Kultur noch für eine kurze Frist gesichert und wenigstens die schlimmste der zerstörenden Mächte von ihr abgewendet. Der Sieg, den Karl Martell bei Tours und Poitiers über die aus Spanien hervorbrechenden Araber erfocht, hat der werdenden Kultur des Abendlandes ihre freie Zukunft gesichert. Der Sieg in der Türkenschlacht vor den Mauern von Wien eröffnete die Wendung, in deren Folge das erstarkte Abendland den verloren gegangenen Südosten von Europa wiedergewann. Der antiken Kultur haben Alexander, Scipio und Cäsar den weiten Bereich und die lange Dauer ihrer Geltung erobern müssen, ohne die sie nicht die Unterlage der modernen Kultur hätte werden können. Das durch das Schwert gegründete Römerrcich ist die notwendige Vorstufe für die römische Kirche, und das will sagen, für die entscheidende Verbreitung des Christentums gewesen.
Die Größe der Herrschaft, welche die äußeren Mächte über die Gemüter ausüben, erkennt man daran, daß auch die innersten Mächte nicht umhin können, sich ihrer als letzter Auskunft, als ultimum remedium zu bedienen. Die inneren Mächte haben den Trieb der Ausdehnung geradeso in sich, wie ihn die Machtbegierde des Eroberervolkes oder des kriegerischen Dynasten in sich hat. Jede leidenschaftliche Überzeugung ist von dem Verlangen begleitet, sich andern mitzuteilen, um sie zu bekehren: „Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.“ Sobald eine treibende Überzeugung auf eine andere stößt, die sich nicht zu ihr bekehren will, so entbrennt der Kampf der Geister, und falls dieser Kampf sich mit geistigen Waffen nicht austragen ließe — und gegen eine Überzeugung des Herzens gibt es keine Argumente — [10] so drängen die aufgeregten Gemüter dazu, ihn mit kriegerischen und nnderen äußeren Machtmitteln auszukämpfen. Ideen, die ihrer ganzen Anlage nach auf tiefen Frieden gestellt find, münden, falls sie «eh mit widerstreitenden Ideen begegnen, am Ende in mörderischen Krieg. Die von Christus eingesetzten Apostel sind ausgezogen, um mit feurigen Zungen die frohe Botschaft des ewigen Friedens zu verkünden, der den Meiusehen gebracht sei; stark durch die Kraft des Glaubens haben die Christen den Waffen der Verfolger getrotzt, die nur ihre Körjier, nicht aber auch ihre Seelen treffen konnten, aber eben dieser unbezähmbare Drang hat dazu geführt und dazu führen müssen, daß man dem andern nicht den Frieden bewahren wollte, der im Unglauben verharrte oder im Aberglauben abfiel. Wer der Lehre widerspricht, der man aus innerstem Herzen anhängt, macht einen selber im Glauben irre, welcher das heiligste Besitzt um des Menschen ist, und er gilt daher als der gefährlichste aller Gegner. Darum hat die Inbrunst der religiösen Idee die Greuel der Albigenserkriege und die Inquisition zur Folge gehabt, Die Protestanten waren nicht weniger hartnäckig in ihrem Glauben als die katholische Kirche, darum hat sich nach der Reformation der erbitterte Gegensatz der alten und der neuen Kirchen, die alle den Frieden lehrten, im Dreißigjährigen Kriege entladen, welcher der Weltkrieg des 17. Jahrhunderts geworden ist. Der moderne Freiheitssinn liebt es, die Kirche wegen ihres Willens zur Gewalt anzuklagen ; hat aber nicht tüe moderne Freiheitsbewegung, die das Reich der Vernunft aufrichten wollte, selber im Willen zur Gewalt geendigt? Der Rest des Reiches der Vernunft wur die Guillotine, der Bürgerkrieg und die lange Reihe der äußeren Kriege bis zu Napoleon hin, zu denen die Nation durch den Expansionstrieb der Freiheitsidee fortgerissen wurde. Das ganze Zeitalter der modernen Kultur ist, weil mit neuen Ideen, so auch mit Ideenkriegen gefüllt. Hätte das moderne wissenschaftliche Denken sich in < Weltanschauung vollendet, die auch die Massen hätte so hätte es auch unausweichlich zum Ideenkrieg führen müssen. Die sittlichen Ideen haben sich von den religiösen Ideen noch nicht so weit abgetrennt, daß sie selbständig in die Menschengeschichte eingegriffen hätten, dafür erregen die wirtschaftlichen Ideen ununterbrochen den wirtschaftlichen Kampf, der, selbst dort, wo er nur mit wirtschaftlichen Mitteln ausgefochten wird, doch nicht weniger fordert als der Kampf mit Waffen. Und wie oft hat nicht der der wirtschaftlichen Interessen den Kampf der Waffen selber herausgefordert, und mit welchen Gefahren droht er nicht noch für die Zukunft ! [11] Und doch bringt das ultimum re medium der äußeren Mächte keine endgültige Entscheidung im Reiche der inneren Mächte, keine Idee kann auf dem Schlachtfelde niedergerungen werden, es sei denn, daß man die Menschen und Völker vollends vernichte, die ihre Träger sind. Der Dreißigjährige Glaubenskrieg hat den Besitzstand der streitenden Bekenntnisse nicht verändert. Was aber das Schwert nicht vermochte, hat die neue Idee der Aufklärung getan, welche beiden Rcligioroparteien durch den Abfall der Geister empfindlichen Abbruch getan hat. Das durch die Aufklärer errichtete Reich der Vernunft ist durch die Diktatur Napoleons beseitigt worden, dessen Cäsarentuni durch die heilige Allianz besiegt wurde, stärker aber noch als die Heere der heiligen Allianz war die durch die Bildungabewegung getragene demokratische Idee. Arnos Gomenius, der Begründer der Elementarschule, der im Dreißigjährigen Krieg von Haus und Heimat vertrieben wurde, hat in der Geschichte dauerhaftere Bahnen gezogen als Wallenstein und Gustav Adolf. Im Laufe der Geschichte wächst der Anteil, den die inneren Mächte am gesellschaftlichen Aufbau haben, und vielleicht wird einmal der Tag kommen, an welchem das ultimum remedium der äußeren Macht nicht mehr aufgerufen zu werden braucht, weil die inneren Machte beruhigt ins Gleichgewicht gekommen sind. Kann eine Geschichtflehreibung vollständig sein, welche die eine oder die andere der beiden aufbauenden Mächte vernachlässigt?
Auch der Weltkrieg war nicht bloß ein Interessenkrieg, sondern zugleich ein wahrer Ideenkrieg, es hat sich in ihm nicht nur um große praktische Vorteile, sondern um bewegende Gedanken gehandelt, welche die Geister erheben und zu Opfern bereit machen. Der Weltkrieg ist durch den Gegensatz der nationalen Ideen entzündet worden, die aus der atemlosen Entwicklung der Volkswirtschaften ihre gesteigerte •Spannung erhalten haben. Nationale Kulturmacht und Wirtschaftsmacht, beides innere Mächte, aus dem Frieden geboren und auf Frieden gestellt, haben sich gedrängt gefühlt, ihre Gegensätze in Waffen auszutragen, weil alle großen und kleinen Kulturnationen bis zur höchsten Spannung von ihnen erfüllt waren. Nur als Ideen krieg hat der Weltkrieg seine ungeheuren Verhältnisse annehmen können, kein Dynast hätte einem Kulturvolke so maßlose Opfer an Gut und Blut zumuten dürfen, als die Nationen es selber in der Erregung der Gemüter getan haben. Auch Napoleon hat den Franzosen nur deshalb die Lasten [12] seiner Kriege aufbürden können, weil er die Heere der Revolution vorfand, die noch des Expansionstriebes der Freiheit voll waren, und weil er die französische Nation durch die Idee der Weltherrschaft zu berauschen vermochte.
Dem nächsten Anschein nach hatte die Entente ihren Sieg nur ihrer Überlegenheit an äußeren Machtmitteln zu danken, ihrer Überzahl an Streitern, an Waffen und sonstigen Kriegsmitteln, zumal an den lebenswichtigen Gütern des Volkskonaums. Bei genauerem Zusehen erkennt man, daß hier wie sonst die Idern die Träger der Kampfmittel waren und die Tragfähigkeit der Ideen den Ausschlag gegeben hat. Die Entente hat durch die werbende Kraft der nationalen Idee eine Anzahl von Nationen zum Kampfe gewonnen, die sich zunächst noch fern gehalten hatten, und sie hat insbesondere durch die werbende Kraft der von ihr aufgerufenen demokratischen Idee die entscheidende Hilfe der Vereinigten Staaten gewonnen, deren Massen von ihren kapitalistischen Führern nicht anders hätten in Bewegung gesetzt werden können.
Wie zuerst bei den Russen die sozialistische Idee die Front zersetzte, so ist dies später auch bei den Mittelmächten geschehen, und das nationalgemischte Österreich-Ungarn ist überdies noch durch die Wühlarbeit der nationalen Idee zersetzt worden. Wäre der Wille zum Krieg bei den Völkern der Mittelmächte durch alle Schichten hindurch bis zum Ende so entschlossen geblieben, wie er es zu Anfang war, so hätten sie sich der Überzahl der Gegner, so groß diese war, vielleicht doch so weit zu erwehren vermocht, um einen Frieden der Sclbsterhaltung durchzusetzen. Die Kriegsnot war jedoch für die von der Hungerblockade heimgesuchten Bürger der Mittelmächte fast unerträglich geworden, und in folgenschwerer Verblendung versäumten es die obersten Führer, die militärischen und politischen Folgerungen aus dieser Tatsache beizeiten zu ziehen. So kam es, daß der Sieg, den die Entente an der Front nicht zu gewinnen vermochte, durch den Zusammenbruch der Gemüter im Hinterlande entschieden wurde, dem der Zusammenbruch an der Front und der innere Znsammenbruch folgten.
Wie bei allen Ideenkriegen, wird auch beim Weltkrieg der Sieg der Waffen, so überwältigend er scheint, nicht die letzte Entscheidung bringen. Schon heute ist die öffentliche Meinung auch in den Siegerländern darin unsicher geworden, auch dort leidet man darunter, daß der Friede, den man diktierte, kein Friede ist, und wer weiß, ob man nicht auch dort endlich erkennen wird, daß die Schuld am Frieden, deu man genau zu überlegen volle Zeit hatte und der doch kein Friede werden [13] kann, weit schlimmer Ist ab die am Kriege, den alle gefürchtet hatten und von dem doch alle überrascht wurden.
Sollten die Kulturnationen keiner inneren Bewegung mehr fähig sein, die den von allen ersehnten Frieden bringen wird? In Indien hat Gandhi mit seiner Idee des nationalen Widerstandes ohne Gewalt den großartigsten Versuch innerer Machtwirkung unternommen, der, abgesehen von den religiösen Bewegungen, jemals unternommen worden ist. Er hat Erfolge erreicht, die niemand erwartete, er hat Hindus und Mohammedaner vereinigt, er hat die bewunderungswürdige Herrschaft über sich selber erwiesen, der Bewegung Halt zu gebieten, als er fürchtete, daß sie im Begriffe sei, in Gewalt umzuschlagen, und er hat das Wunder getan, die Menge zum Gehorsam zu bringen, wenn er ihr Halt gebot, er hat endlich auch der englischen Regierung, die ihm zunächst mit Geringschätzung begegnete, Respekt abgenötigt. Es mag dahingestellt bleiben, ob es ihm gelingen wird, die überwiegende Mehrheit der Inder für seine Idee zu gewinnen und dauernd bis zum Sieg zusammenzuhalten, es mag dahingestellt bleiben, ob der Widerstand ohne Gewalt, in den sich das Naturell des Inders ergibt, auch dem härteren Willen der europäischen Masse abgerungen werden kann. Gewiß aber beweist die Mächtigkeit, welche die indische Bewegung heute schon erlangt hat, daß innere Bewegungen höchster Ergriffenheit, wie sie in den Zeiten von Buddha, Zoroaster und Christus über die Erde gegangen sind, auch heute noch zur Wirklichkeit werden können und nicht nur den Erinnerungen der Geschichtskenner oder den Träumen der Schwärmer angehören.
Die großen Realpolitiker, die am Eingang und am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Weltpolitik gemacht haben, Napoleon und Bismarck, haben beide die Ideologien ihrer Zeit mit Verachtung abgewiesen, nichts wäre aber verkehrter als die Meinung, daß Napoleon nur durch seine starken Bataillone und Bismarck nur durch Blut und Eisen gesiegt habe. Während sie die Ideologien abwiesen, haben sie die wirkenden Ideen der Zeit klar erkannt und für ihre Politik genützt. Jede große Realpolitik ist immer auch Ideenpolitik, sie arbeitet zugleich mit Waffen und sonstigen äußeren Machtmitteln, wie mit den inneren Mächten, welche die Menschen beherrschen. Kein Staatsmann wäre groß zu nennen, der sich nicht auch der wirksamen Ideen der Zeit zu seinen Zwecken bediente. [14] Die Ideologien sind als Buchideen entstanden, als bloße Hinüdcen, wenn mau so sagen darf, wie sie der Geist der Opposition erzeugt, der sich gegen den Druck der alten Gewalten auflehnt, aber doch dem Leben fremd ist, weil er seine Vorstellungen nach erträumten Idealen bildet. Die Ideologien der französischen Revolution waren die konstruierten Ideen des reinen Vernunftmensehen, aber nicht die lebendigen Ideen des Franzosen der Wirklichkeit, der aus seiner geschichtlichen Umgebung nicht ganz heraus konnte. Diese konstruierten Ideen waren reich genug, um dem Widerstund gegen die überlebten geschichtlichen Mächte vollen Halt zu geben und die Menschen mit dem Mut zu neuen Zielen zu erfüllen, sie waren indes der Wirklichkeit doch zu wenig an gepaßt, um sieh in dauerndp Ordnungen umsetzen zu lassen. Nach dem ersten Glücksrausch des revolutionären Erwachens fand sich die französische Nation in einen tragischen Konflikt gestürzt: gesellschaftliches Denken und gesellschaftliches Handeln wollte sich nicht zusammenfinden. Da hielten sich die Besonnenen zurück, weil sie sich über ihre Wege nicht schlüssig werden konnten, und die Führung der Geschicke bÜeb bei den Verblendeten, denen das tönende Wort über alles ging und die, um die Herrschaft des Wortes durchzusetzen, dem die Gemüter der Menge nicht mehr folgen wollten, da» Äußerste an Schrecken aufbieten mußten. Napoleon war der Mann dazu, nicht nur den revolutionären Ausartungen durch Gewalt ihr Ende zu bereiten, sondern zugleich dem guten Sinn der Bewegung genugzutun, indem er als Realpolitiker das verwirklichte, was von ihren Wünschen realisierbar war. Er erkannte mit unfehlbarer Sicherheit die lebendigen Bedürfniese der französischen Volksseele, er gab der französischen Verwaltung ihre bleibende Ordnung, er schuf das bürgerliche Gesetzbuch, — es trägt nicht nur seinen Namen, sondern atmet auch seinen Geist — das dem Rechtsempfinden des französischen Volkes seineu klaren Ausdruck gibt. Er hat der französischen Nation ihre Einheit, er hat dem Begriffe der Nation seine Gestalt gegeben. Wie zutreffend er den französischen Charakter verstand, beweist am anschaulichsten das kleine Bändchen der von ihm gestifteten Ehrenlegion, an dem sich die französische Gesellschaft noch heute nach allen Stürmen der Geschichte erkennt und an dem sie festhalten wird, solange es Franzosen gibt. In Deutschland gewann er sich die Mitwirkung der landesherrlichen Idee, die er auf Kosten des Reiches stärkte; daß er seine Eroberungen in Italien festhalten konnte, dankte er seinem Verständnis der italienischen nationalen Idee, der er den ersten politischen Ausdruck verlieh. Sein Verhängnis war der unbezähmbare Machttrieb, der ihn sich nicht daran genügen ließ, der Cäsar Frankreichs [15] zu sein, sondern ihm das unerreichbare Ziel wies, der Imperator der Welt zu werden. Sein Glück verblendete ihn, so daß er den Wider-
die starken Bataillone gegen ihn waren; sie waren stark nicht so sehr durch ihre Zahl, denn gegen die Überzahl hatte er oft genug gesiegt, sondern sie waren es durch den nationalen Geist, der sie befeuerte, während die durch endlose Kriege erschöpften Franzosen sich in ihren Gemütern ron ihm abwendeten und selbst seine Marschalle den Glauben an ihn verloren.
Wie Napoleon die Ideologie der französischen Revolution, so hat Bismarck die demokratische Ideologie des Jahres 1848 geringschätzig zurückgewiesen, indem er richtig empfand, daß sie der Gesinnung der Masse des preußischen Volkes und der deutschen Nation nicht gemäß sei. War er aber nicht doch der Vollender der Ideen der Panlskirehe ? Er hat die richtigen Mittel gefunden, um sie durchzusetzen, die das Parlament der gebildeten Männer vergebens gesucht hatte. Er sah es klar vor sich, daß, um die deutsche Einigung zu vollenden, auch noch äußere Machtmittel angewendet werden mußten, welche die durch die Geschichte gegebenen Widerstände zu überwinden hatten, und er wußte, (laß die Machtmittel, die er brauchte, ihm durch die Überlieferungen der preußischen Regierung und des preußischen Volkes in die Hand gegeben waren, er wußte, daß der preußische Landwehrmann dem Rufe dn Königs zu den Waffen in Treue folgen werde. Sein klarer Blick ließ ihn zugleich nicht im Zweifel, daß er, um bis zum Ende zu kommen, die Gefühle der besiegten Süddeutschen und Österreichs schonen mußte, war er doch daran, sein Leben zu enden, wenn es ihm nicht gelänge, den König zu einem billigen Frieden mit Österreich zu überreden. Dadurch erreichte er es, daß Kaiser Franz Josef sich im französischen Krieg neutral verhielt, und er erreichte späterhin den noch größeren Erfolg, dem Deutschen Reiche durch den Zweibund seinen geschichtlich berufenen Verbündeten zu sichern. Sein verhängnisvoller Fehler war, daß er beim Friedensschluß mit Frankreich dem Drängen der preußischen Generale nicht zu widerstehen vermochte, die ein Stück des französisch nationalen Bodens begehrten, um damit einen militärischen Anfangs vorteil für den nächsten Krieg zu haben, den sie eben dadurch herausforderten.
Diese Verletzung der nationalen Idee hat sich im Weltkrieg furchtbar gerächt. Im Zeitalter der nationalen Idee kann keine große Nation auf ihre ungeschmälerte Sclbstcrhaltung verzichten. Das nationale Selbstbewußtsein drängt die Gemüter zu Machtaggregaten zusammen, die [16] sich durch die in ihnen unablässig wirkenden anziehenden Molekular kräftc immer wieder zusammenschließen, mögen sie auch auf kürzere oder längere Zeit durch die Einbrüche überlegener äußerer Mächte zerrissen werden. Durch die Nachhaltigkeit ihres nationalen Gefühles haben die Italiener und die Polen trotz aller Niederlagen über die großen Mächte triumphiert, die sich in ihre Stammesgebicte zu teilen gedachten. Wird sich die Kraft der nationalen Selbsterhaltung nicht auch an der bestätigen ?
Jede Macht setzt als ihre Unterlage eine Kraft voraus. Dadurch, daß die Wirkungen der Kraft im Bewußtsein wahrgenommen werden, werden Gefühl und Wollen angeregt; zu den Wirkungen, welche die Kraft ihrem Naturgesetze gemäß bis dahin ausgeübt hat, tritt nun die Wirkung aufs Gemüt hinzu, um derentwillen man ihrem Träger Macht zuerkennt. Es ist ein anderes, die natürlichen Wirkungen der Kraft zu erkennen, und ein anderes, die Grtiße der Macht zu empfinden, die sie im Gemüto übt. Der Ballistiker vergleicht rechnerisch die Elevation, die Geschwindigkeit und die Schlagwirkung der Geschos.se oder die Tragweite der Geschütze, in der Schlacht erst kommt die Wirkung auf dos Gemüt zur Geltung, um die es dem Feldherrn zu tun ist. Der Techniker schätzt die Wirkung der Wasserkraft nach den Pferdekräften ein, mit denen sie arbeitet, auf dem Markte erst kommt durch das Mittel der Preise die Wirkung auf das Gemüt der Nachfrage zur Geltung, um die es dem Unternehmer zu tun ist. Nicht nur die äußeren Naturkräfte, sondern auch die persönlichen Kräfte, die in der Wirtschaft aufgewendet werden, muß man nach ihrer äußeren Leistung anschlagen, der Unternehmer vergleicht rechnerisch kühl die Leistung des Arbeiters mit der der Maschine, und im sozialistischen Zukunftsstaate wird man die« auch nicht unterlassen dürfen. Es gilt nicht anders für alle persönlichen Kräfte welcher Art immer, die für einen praktischen Zweck eingesetzt werden. Immer muß die Wirkung nachgeprüft werden, die ihnen als Mittel zum Zweck zukommt; erst darauf, daß sie sich als Mittel zum Zweck bewährt haben, folgt der Eindruck im Gemüt, der sie mit dem Nimbus der Macht umgibt.
Bei jenen inneren Kräften, die mit Uirer Wirkung unmittelbar aufs Bewußtsein zielen, wie bei der Verstandes kraft, welche Erkenntnis bringen soll, oder bei der moralischen Kraft, die den Willen läutern soll, wird schon der Akt der Kraftlcistung von Regungen des Gemütes [17] begleitet, doch muß man auch hier Kraft und Macht grundsätzlich klar auseinanderhalten. Auch hier hat überall die Kraft ihre Technik. Was ist die Logik anders als die Technik des Verstandes ?
Der Soziologe, der es unternimmt, die Wege der Macht zu zeigen, muß die Kräfte kennen, die sich in der Gesellschaft in Macht umsetzen, und er muß in seiner Darstellung von ihnen ausgehen, aber er wird es »ich nicht zur Aufgabe machen, das Gesetz darzustellen, nach welchem die Kräfte wirken, noch wird er auf ihre Ursprünge und das Gesetz ihrer Entfaltung zurückgehen. Eine so weit ausgedehnte Aufgabe müßte seine Fähigkeiten übersteigen, wie ihr auch die Aufnahmsfähigkeit der Leser nicht gewachsen wäre. Er muß es den Technikern überlassen, zu zeigen, in welcher Folge die Menschen sich die Naturkräfte für ihre Arbeit nutzbar gemacht haben, er muß es den Philosophen und den Moralisten überlassen, die allmähliche Entwicklung der moralischen und intellektuellen Energien klarzumachen, er selber hat genug zu tun, wenn er das Gesetz der Macht erkennen lehrt, zu der sich die Kraft wandelt, indem ihre Wirkungen die Gemüter in Bewegung setzen. Das Gesetz der kleinen Zahl stellt» fest, daß die Kraftwirkungen der vielen nur einigen wenigen zu Macht zugerechnet werden; der siegende Feldherr empfängt seine Macht nicht schon allein durch seine eigene Leistung, sondern immer auch durch die Leistung der Soldaten, sowie der erfolgreiche Unternehmer die seinige mit durch die Leistung seiner Arbeiter. Es gibt noch eine Reihe anderer Gesetze, welche die Umsetzung gesellschaftlicher Kraft in Macht betreffen. Die Theorie der Macht hat eine ebenso schwierige wie bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, wenn sie die Probleme lösen will, die durch diese Gesetze gestellt sind.
Staat und Gesellschaft werden oft als Erweiterungen der Familie, die Familie wird oft als die gesellschaftliche Zelle bezeichnet. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, so müßten die Familien, die in Staat und Gesellschaft nebeneiuanderstchen, durch dieselben Kräfte und Mächte zusammengehalten werden, wie die einzelne Familie in sich selbst. Das ist aber nicht der Fall. Die Familie in eich ist durch [18] das Liebesgefühl des Blutes zusammengehalten, in Staat und Gesellschaft aber sind neben starken Gefühlen der Zusammengehörigkeit nicht minder starke Gefühle der Gleichgültigkeit und Feindschaft offenbar, die nicht nur geduldet, sondern unter Umstünden gepflegt, gefördert und gefordert werden. Zwar gibt es auch in der Familie Streit und Haß, die Bibel beginnt ihre Erzählung von den menschlichen Dingen, die der Vertreibung aus dem Paradiese folgten, mit dem Brudermord, den Kain an Abel verübte. Während aber der Brudermord in der Familie als fluchwürdiges Verbrechen empfunden wird, ist er in den Kriegen in Staat und Gesellschaft als Pflicht erzwungen und als Heldentum gefeiert. Selbst wenn, was erst noch zu beweisen ist, das ganze Menschen geschlecht eines Blutes wäre, so ginge es daher nicht an, den Ursprung der gesellschaftlichen Macht vom Blutinstinkt der Familie abzuleiten. In Staat und Gesellschaft wirken noch andere Elemente wesentlich mit, Staat und Gesellschaft sind nicht schlechthin Erweiterungen der Familie, die Familie ist nicht die gesellschaftliche Zelle. In einem patriarchalischen Zeitalter könnte man sich etwa uüt dieser Auffassung zufrieden geben, die alle Macht auf die Autorität des Familienvaters zurückführt, in welchem die Blutsgemeinschaft ihr natürliches Oberhaupt verehrt; in einer Zeit der Machtkämpfe, wie es die Gegenwart ist, wird man nichts mehr mit ihr anzufangen wissen, wie sie uns auch für das Verständnis der geschichtlichen Machtkämpfe keine Erklärung zu bieten vermag.
Immerhin müssen wir für unsere Erklärung davon ausgehen, daß die Familie zeitlich die notwendige Vorstufe aller großen gesellschaftlichen Verbände ist. Sie ist geschichtlich zuerst da gewesen und hat den Boden bereitet, in welchem die Triebe Wurzel fassen konnten, durch deren Wachstum die Gesellschaft gebildet wurde. In den Anfängen des menschlichen Daseins gab es keine andere Kraft, welche die Menschen untereinander hätte verbinden können, als die instinktive Kraft des Blutes, die den Mann und das Weib in den Jahren der Geschlechtsreife zusammenführt, die Eltern mit den Kindern verbindet, welche ihrer Umarmung entsprießen, und noch die Kinder und Kindeskinder untereinander verbindet, welche sich der gleichen Abstammung bewußt sind. Tn einer Entwicklungsperiode, in der höhere Verbände noch nicht gefunden waren, mußte der Blutsverband auch gewisse gemeinsame Werke außerhalb des Familienhauses auf sich nehmen, die von der Not des Lebens gebieterisch gefordert wurden. Dadurch wurde er zum Kampfverband und zum wirtschaftlichen Verband ; auch Sitte, Sittlichkeit und Recht haben in ihm ihre ersten Bildungen erhalten. [19] Wie jede« stark in Anspruch genommene Organ wurde auch die Familie unter diesen Umständen übermäßig, man möchte sagen hypertrophisch , entwickelt. Das Blutsgefühl, das durch die Notwendigkeiten des gemeinsamen Handelns aufs lebhafteste aufgerufen war, wurde weit über den engeren Kreis der Familie, bis in entfernteste Verwandtschaftsgrade hinaus, lebendig, in denen es die späteren Menschen nicht mehr nachempfinden konnten. Die Horde, der Stamm, der Clan, die Sippe, das Geschlecht erkennt die Verwandtschaft bis in die Vetternschaften entlegensten Gliedes, und dadurch wurden sie, das läßt sich nicht leugnen, zu Werkgemeinschaften befähigt, die tief in die Funktionen eindrangen, welche späterhin von den neuentstehenden höheren Verbänden übernommen wurden. Als aber endlich diese höheren Verbände gefunden waren, erwiesen sie Rieh für die einschlägigen Funktionen um so viel tauglicher, daß die Blutsverbände ihnen weichen mußten. Von da an wurde die Familie wieder zu ihrer natürlichen Funktion und Ausdehnung rückgebildet, wie das Haus, das man in unsicherer Zeit zum wehrhaften Haus und zur Burg ausgebaut hatte, wieder zum einfachen Wohnhaus rückgebildet wurde, sobald es der Staat auf sich nehmen konnte, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Im ausgebildeten Staate ist die Familie wieder das Organ des rein persönlichen Lebens geworden, das sie im Anfang war, im Dienste der ehelichen Gemeinschaft der Geschlechter und mit ihr im Dienste der Fortpflanzung und der Erziehung der Kinder. Das Liebesgefühl der Familie wird nun für die Sphäre des häuslichen Lebens bewahrt. In der Sphäre der Öffentlichkeit reicht es nicht zu und muß noch andern Gefühlen Raum geben, die zum Teile hart auf Abwehr und Kampf gestellt sind, oder aber, wenn sie auf den Frieden eines öffentlichen Wesens gestellt sind, weitsinnig aufs Allgemeine gehen müssen.
Das weibliche Herz ist den Gefühlen fast verechlossen, die das öffentliche Leben fordert, dennoch geht die Liebe, mit der die Mutter ihre Kinder umgibt, für das öffentliche Leben nicht verloren. Wer das Glück einer reinen Jugend gehabt hat, wird sich auch gegenüber den leidenschaftlichen Versuchungen reiner bewahren, denen seine Mannheit im öffentlichen Wirken begegnet. Wie das Licht der Sonne durch jeden Riß in der Wolkendecke durchdringt, so wird das Licht der Liebe, das von seiner Kindheit her sein Herz erwärmte, in das kalte Dunkel der Welt eindringen, wo immer eine Einbruchstelle offen ist. Der Fortschritt von Friede und Gesittung wäre noch langsamer gewesen, als er ist, ja er wäre wohl ganz in Frage gestellt gewesen, wenn das Liebesgefühl nicht vom Elternhause her überall lebendig erhalten worden wäre. [20] Freilich stellt das gesellschaftliche Wesen aber so mannigfache Forderungen, daß es zu seinem Aufbau noch andrer härterer Elemente bedarf.
Was sind die Ursachen, welche die Blutsgemeinschaft daran hindern, sich aus sich selbst heraus zu großen gesellschaftlichen Verbänden zu erweitern ? Stellen wir zunächst die Tatsachen fest, bevor wir zur Erklärung schreiten. Von den Blutsverbänden spalten sich unter dem Drucke der Fortpflanzung und Vermehrung von Zeit zu Zeit die Überschüsse ab, die sich aus dem neuen Zuwachs gebildet haben. Sic formen sich zu selbständigen Verbänden, indem sie näher oder entfernter neue Jagdgründc oder Weideplätze oder Ackerböden aufsuchen. Es ist im Grunde der gleiche Vorgang wie bei den Bienenvölkern, bei denen von Zeit zu Zeit Schwärme vom Mutteratock ausfliegen, die unter eigenen Königinnen neue Völker bilden. Der Trieb, mit dem die neuen Zuwächse, welche im alten Blutsverbande nicht mehr Raum finden, an diesem hängen, wird durch den Trieb der Selbständigkeit sehr rasch überwunden. Dabei wirkt die Tatsache entscheidend mit, daß die Menschen für ihre Nahrung viel weiterer Räume bedürfen als die Bienen, deren ausgeflogene Schwärme ganz in der Nähe wieder einfallen und im gleichen Blütenrevier ihre Nahrung holen. Der menschliche Wandersdiwarin, der sich abgespaltet hat. muß ziemlich weit hinaus, um seinen Nährboden zu finden. Es ist bekannt, daß selbst die Bienenvölker, deren Stöcke im gleichen Hause knapp beisammen stehen, einander fremd und feindlich werden, sie unterscheiden sich am Gerüche und stellen Wächterbienen auf, welche die fremden Bienen abwehren, die sich einschleichen oder „einschmeicheln“ wollen, um Honig zu rauben. Noch fremder werden sich die menschlichen Bluts verbände, die weit auseinander hausen und sich den örtlichen Bedingungenaiipassen ; mögen Rie auch durchdie Gemeinschaft der Sprache und mancher Sitte zunächst noch verbunden bleiben, so werden Bie sich jeder in seiner besonderen Art weiterbilden und jeder wird auf den Besonderheiten seines Wesens mit Eifersucht bestehen. Am längsten werden religiöse Überlieferungen verbindend weiter wirken; bei den Griechen galt Gottesfriedc für die großen, den Göttern geweihten Spiele, bei denen die Angehörigen aller Stämme zusammentrafen, zwischen welchen im übrigen Kämpfe ohne Unterlaß weiter gingen, bis sich diese unter der Führung der beiden Hauptstaaten Athen und Sparta zum Peloponnesischen Kriege steigerten, der fast zum Vernichtungskrieg ausartete. In sich durch anziehende Molekularkräfte innig verbunden, [21] sind die einzelnen Blutsverbände gegeneinander durch abstoßende Molekularkräfte selbständig und feindlich gestellt.
Vor dem Triebe der Selbsterhaltung, mit dem sich jeder der abgespalteten Blutsvei bände zu behaupten sucht, versagt der Instinkt der Blutsgemeinschaft. Der Fortpflanzungstrieb sendet immer weiter neue Schwärme von Blutsverbänden aus, aber je fruchtbarer er wird, um destu weiter zerfällt die ursprüngliche Einheit. Schon sind jedoch im Innern der Blutsverbände die Bildungen bereitet, welche die Eignung dazu haben, den Selbsterhaltungstrieb der Blutsverbände zu überwinden und über ihre Gegensätze hinweg den gesellschaftlichen Aufbau ins Große fortzusetzen und zu vollenden. Nach und nach entstehen innerhalb der Blutsverbände Werkgemeinschaften de« Kampfes, der Wirtschaft oder anderer Zwecke, die nicht mehr alle Blutsverwandten umfassen und die ihre Ordnung nicht mehr von der verwandtschaftlichen Ordnung empfangen. Eine Zahl junger Leute schart sich um den sieggewohnten Führer, wenn er zum Raub oder zur Eroberung auszieht; es ist nicht der Vorrang des Blutes, der ihm seine Stellung gibt, er wird Heeresfürst oder Herzog durch den Erfolg seiner Waffen, die Jungmannschaft, die mit ihm auszieht, geht nicht als seine Verwandtschaft, sondern als seine Gefolgschaft mit, und wenn er unter ihnen eiserne Zucht aufrichtet, so leitet er das Recht dazu aus dem Kampfzweek ab, der erreicht Werden soll. Im fortschreitenden Erfolge wird die werbende Kraft der Werkgemeinschaft so groß, daß sie, sei es gewaltsam, sei es friedlich, über die Kluft hinübergreift, welche die alten Blutsverbände voneinander trennt. Von da an ist der Weg zur Gesellschaft offen, die Familie, die Schöpfung des Blutinstinktes, bleibt zurück, höhere Ordnungen des Zusammenseins bauen sich über ihr auf, die der bloße Instinkt nicht mehr schaffen kann, weil sie gesammelte, zweckbewußte Kraft voraussetzen, die freilich zuerst rohestc Gewalt ist, sich aber nach und nach zu den Höhen der Zivilisation und Kultur erhebt. Während in der Blutsgcmeinschaft mehr das Animalische des Menschen hervortritt, wirkt er in der Weite der Gesellschaft als voller Mensch, wenn auch zuerst noch in der Vollkraft der Wildheit. Die Tierstaaten sind bloße Bluts verbände, die gesellschaftliche Überwindung des Blutes ist dem Tiere versagt. Nur ganz leichte Ansätze finden sich vielleicht da und dort, wie zum Beispiel in den sklavenhaltenden Ameisenstaaten.
Setzt sich aber nicht der Instinkt des Blutes auch in den gesellschaftlichen Verbindungen der Menschen auf der Höhe der Entwicklung wieder durch ? Man nimmt dies vom Nationalstaat gerne so an. Ist er nicht die Schöpfung des nationalen Blutes? Gibt ihm nicht die [22] Gemeinschaft des Blutes seine instinktive Kraft ? Man braucht nur der Entstehung der Nationalstaaten nachzugehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Alle ohne Ausnahme sind sie Bildungen der Blutmischung. Alle Stämme reinen Blutes sind auseinandergefallen und mit andern zusammengeflossen, sobald sie in den großen Lauf der Geschichte eingetreten sind. Von den Germanen wissen wir gar nicht, daß sie jemals eine Einheit gebildet hätten, die Deutschen sind erst nach und nach zu einer Einheit zusammengewachsen, die niemals voll war und von der große, Splitter wieder abgefallen sind. Die Teile halten sich fast alle mit Blut andern Ursprungs und anderer Zunge vermengt. Das deutsche Volk von heute, als Volk wie als Staat genommen, ist geschichtlich unter Blutmischung gebildet, und dasselbe gilt für alle großen Nationen. Sic alle sind nicht bloße Schöpfungen des Blutinstinktes, sondern höhere Ordnungen der Werkgemeinschaft, welche die Ordnungen der Blutsgemeinschaft überwunden haben.
Die zwingende Kraft der Werkgemeinschaft geht vom Erfolge aus, den ihr Wirken schafft. Ein wichtiger Satz! Er erklärt uns, weshalb die Werkgemeinschaft besteht und wächst, während die Blutsgemeinachaft stillcsteht und vergeht. Die Blutsgemeinschaft besitzt den großen Vorzug, daß in ihr von vornherein Bereitwilligkeit zum gemeinsamen Handeln da ist, zugleich mit einer natürlichen Ordnung der Familie, die immer ihr Oberhaupt hat. Darum ist sie zeitlich zuerst berufen, ohne sie hätte die Geschichte keinen Anfang, aber bei der Enge des Kreises, auf den sie beschränkt bleibt, kann sie über einen verhältnismäßig nahen Punkt der Entwicklung nicht hinauskommen, und daher hätte durch sie allein die Geschichte keinen Fortgang. Zur reinen Werkgemeinschaft fehlt vom Anfang an die Bereitwilligkeit der Massen, die sich nicht keimen, und weim sie sich kennen, nicht finden, weil sie sich mißtrauen. Darum sind die ersten Bildungen der Werkgemeinschaft auch nur auf den kleinen Kreis der Blutsgemeinschaft beschränkt. Ist aber einmal sichtbarer Erfolg gewonnen, so wendet seine Zauberkraft die Gemüter, und je melir er wächst und gefestigt wird, tut er es bei einer um so größeren Zahl von Menschen und bindet er um so fester Gefühl und Wollen in seine Richtung. Anderseits schreckt der Mißerfolg Gefühl und Wollen ab. Durch Erfolg und Mißerfolg ist die Geschichte die Lehrmeisterin der Menschen, eine Lehrmeisterin, die mit höchsten Werten belohnt und mit Geißeln und Skorpionen [23] züchtigt. Auf die Dauer erzeugt der Erfolg der verbundenen Kraft feste Herrschaft über die Gemüter; durch den Erfolg gelpitet, kann die Masse am Ende nicht anders, als sich, wie die geschulte Truppe, im gleichen Schritt und Tritt von Gefühl und Wollen bewegen. »So werden die Machtverbände und so wird die Macht geschaffen.
Die Erfolge wechseln, und es scheint daher, daß die Macht auf eine schwankende Grundlage gestellt sein mufi, wenn sie ihren Ursprung im Erfolge haben soll. Gibt es nicht in der Tat genug schwankende Macht, und muß die Theorie der Macht nicht auch deren Ursprung erklären ? Man darf nur nicht meinen, daß eine Macht immer gleich zerstört ist, wenn der Erfolg einmal ausbleibt. Xur die schwachen Menschen beugen sich widerstandslos dem Mißgeschick, die starken, die entschlossenen werden ihm Trotz bieten, sie fühlen die Kraft in sich, den Erfolg wieder zu gewinnen, und ihnen gehört darum am Ende die Welt. In der Dauer ihrer Macht belohnt sich die Zuversicht ihrer Kraft. Bis zum Weltkriege hat das Haus Hohenzollern allen, selbst den schwersten Stürmen des Geschickes Widerstand geleistet, seine feste Hand hat jedes Mißgeschick überwunden und den Erfolg immer wieder an seine Farben gefesselt, daher hat es über die Gemüter eine Herrschaft gewonnen, die unzerstörbarschien. Der Mißerfolg im Weltkrieg war aber so furchtbar, so volksvernichtend, daß diese Macht mit einem Male zusammengebrochen ist.
Kann man auch die innere Macht, die moralischen Mächte insl)esondere, aus dem Erfolge ableiten ? Muß es dem geraden Manne nicht widerstreben, „sich nach dem Erfolge zu richten“ und heute diesem, morgen jenem Mächtigen des Tages seine Huldigung zu leisten? Duß man die äußere Kraft, über die man verfügt, nach dem Erfolge einschätzt, scheint klug und unabweisbar, denn wie kann man sie vernünftigerweise andere schätzen als nach ihrer Wirkung ? Immer werden wir die Mächte, die uns förderlich sind, als wohltätige Hilfen für unser Wesen, ols Freiheitsmächte, und diejenigen, die uns hemmen und erdrücken, als Zwangsmächte empfinden — wie könnten wir es anders halten ? Hierin liegt nichts Unmoralisches, der strengste Richter muß es billigen. Könnte mau es aber bei den inneren Mächten anders halten, dürfte man sie einschätzen, ohne auf ihre Erfolge zu achten ? Warum schätzen wir sie so hoch? Doch nur, weil sie die höchsten, die dauerndsten, die beglückendsten Erfolge verheißen! Der Mann, der ..sich nach dem Erfolge richtet“, wird dadurch verächtlich, daß er seine Gesinnung dem bloßen äußeren Erfolge zum Opfer bringt. Der Satz, «laß die Macht durch den Erfolg bedingt ist. nimmt den inneren Mächten nichts von ihrer Größe und Würde, man muß diesen Satz nur recht [24] verstehen, daß er sich auf den wahren und dauernden Erfolg bezieht. Die Geltung der inneren Mächte ist dadurch nicht herabgemindert, geschweige denn aufgehoben, daß man auch sie nach ihren Wirkungen wertet, im Gegenteil, ihrer ist die Zukunft, weil sie sich auf die Dauer als die Mächte der umfassendsten und gesichertsten Wirkungen bewähren.
Die zwingende Kraft des Erfolges bindet die Menschen auch dort, wo der Instinkt des Blutes versagte, sie bindet auch Menschen verschiedenen Blutes. Eine Werkgemeinschaft, die den Erfolg für sich hat, darf nicht fürchten, daß sich ihre Mitglieder von ihr abspalten, vielmehr werden ihr immer neue Mitglieder zuströmen, solange ihr der Erfolg treu bleibt, ihre wachsende Zahl wird vielleicht sogar — es muß flies keineswegs immer so sein, aber es gilt gerade für die stärksten Kräfte — die Kraft zum Erfolge noch steigern. Das Römervolk war aus drei verschiedenen Stämmen zusammengeflossen, deren Geschichtserinnerung sich noch lange in gewissen Überlieferungen, namentlich in gewissen Kulteinrichtungen bewahrt hat; die zeugende Kraft des Erfolges hat aber das Blut der drei Stämme zu einer untrennbaren Einheit des Kampfes und des Staatslebens verbunden. Durch das gemeinschaftliche Werk seiner äußeren Siege und seiner inneren Entwicklung ist das Römervolk zu einer geschichtlichen Einheit geworden.
Die zwingende Kraft des Erfolges wird von den Menschen am deutlichsten bei den äußeren Zwangsmächten empfunden, die ja auch im Sprachgebrauch und in der gemeinen Vorstellung als die Mächte schlechthin gelten. In der Tat erhalten aber auch die inneren Mächte aus dem Erfolge zwingende Kraft und ordnen Gefühl und Wollen der Menschen ebenso gebieterisch wie die strengsten äußeren Mächte. Sie ergänzen sich mit diesen oder wenden sich gegen sie, und immer wird das wechselseitige Verhältnis durch den Erfolg bestimmt.
Der folgende Überblick zeigt uns in aUer Kürze die Hauptformen der Zwangsmächte und der Freiheit« mächte und zugleich damit die Hauptformen der Gemeinschaften oder Verbände, die durch die einen und durch die anderen zusammengehalten werden.
Der rohe äußere Zwang schafft die strengsten der Zwangsverbände, die Gewaltverbände, wie es die Staaten waren, die von rohen Siegervölkern durch den Erfolg ihrer Waffen aufgerichtet wurden. Solange Gefühl und Wille der Besiegten nocli nicht ganz gebrochen sind, werden [25] sie die Zwangeherrschaft durch Aufstände und Abfall abzuschütteln suchen. Schwache Völker verlieren am Ende durch die Zwangsherrschaft alle Fähigkeit der Selbstbestimmung und versinken in die schlimmste Abhängigkeit bis zur vollen Sklaverei.
Auch der Staat eines freien Volkes, wie es die Romer waren, ist in sich ein Zwangsverband. Ob man will oder nicht, gehört man dem Staate an. in den man hineingeboren ist, und muß in ihm seine Pflicht erfüllen. Dies gilt für jeden Staat, selbst für den freiesten; trotzdem darf sich dasjenige Volk mit Recht frei nennen, das keinen Herrn über sieh hat, sondern sich ganz, aus eigenem Willen den Notwendigkeiten des Daseins unterwirft. Die gemeine Not ruft das allseits von Feinden umgebene Volk dazu auf, die gemeine Kraft zur Behauptung seiner Unabhängigkeit zu gebrauchen. Jeder echte Quirite fühlte in sich den Trieb, .sich für den Staat zum Kampfe zu stellen, und forderte es zugleich so von jedem andern. Indem einer dem andern die Pflicht des Bürgertums zumutet, entsteht aus wechselseitigem sozialem Zwang eine Zwangs gemeinschaft, die durch Übereinstimmung des Gefühles ihre Mitglieder noch unverbrüchlicher zusammenhält, als der Gewaltverband die Unterworfenen an die Sieger fesselt, unverbrüchlicher und zugleich wirksamer, weil jedermann die ganze Kraft seines Willens einbringt, um der gemeinen Sache zu dienen. In gleicher Weise verbindet das Solidaritätsgefühl überall, wo es lebendig ist, die Genossen durch einen sozialen Zwang zu einem festen Verbände, den der Erfolg ausbreitet und verstärkt. Selbst die lauen und schwachen Genossen gehen mit, auch wenn sie es unangenehm und drückend empfinden, daß sie ihre persönliche Bequemlichkeit aufgeben und für die allgemeine Sache, die ihnen doch nicht recht am Herzen liegt, Opfer bringen müssen. Sie sind Mitläufer, die sich „nach dem Erfolge richten“, solange dieser sich eben einstellt, sie werden sich zurückhalten und früher oder später abfallen, sobald der Erfolg einmal ausbleibt. Die überzeugten und entschlossenen Genossen dagegen werden durch den Mißerfolg nicht sobald abgeschreckt, sie glauben an ihre Sache und erwarten aufrechten Gefühles den kommenden Sieg. Wo das genossenschaftliche Zusammenhalten sich bewährt, nimmt die Zwangsgemeinschaft des Gefühles nach und nach die verfeinerte Gestalt des Rechteverbandes an, der seine Regeln durch rechtlichen Zwang empfängt. Wo man Widerständen begegnet, die das Äußerste an Kraft herausfordern, dort steigert sich in der Verzweiflung des Gefühles der soziale Zwang zum Terror, der nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern noch rücksichtsloser gegen die eigenen Genossen wütet, welche sich widerspenstig zeigen oder denen [26] man mißtraut. Solange die Staaten gegeneinander im Kampfe stehen, sind die Opfer, die ein Staat von den Bürgern fordern muß, so groß, daß auch im freien Volksstaat der Zwang erdrückend werden kann. Dasselbe gilt für die Klassen auf der Höhe des Klassenkampfes.
Die Glaubensgemeinschaft, die sittliche Gemeinschaft und jede Kulturgemeinschaft sind durch inneren Zwang zusammengehalten, durch moralischen Zwang, durch den Zwang des Gewissens, des Wahrheitstriebes, des Verlangens nach dem Schönen und jedes sonstigen starken inneren Triebes. Auch in diesen Gemeinschaften sind immer Mitläufer anzutreffen, ganze Scharen von Menschen, die sich zur Stimmung des Tages bekennen, ängstlich bemüht, das Verhalten zur Schau zu tragen, das dem Vollmenschen durch die innere Stimme vorgeschrieben ist. Für die Mitläufer liegt der Erfolg, dem sie sich beugen, in dem allgemeinen Beifall, der dem Verhalten zu Teil wird, dem sie sich anschließen, für die echten Menschen liegt er in ihrer inneren Befriedigung und der Selbstsicherheit ihres Wesens, die sie erreichen. Sie können nicht anders, als dem Gewissen gehorchen und der Wahrheit die Ehre geben; sie tun es vielleicht erst nach schweren inneren Kämpfen, aber nachdem sie sich durch diese durchgerungen, hat ihr Wesen dafür beruhigende Festigkeit gewonnen. Ohne Zweifel hat für die Masse auch der echten Menschen das Vorbild des großen Führers überragende Bedeutung, ohne dessen Weisung würde man seinen Weg nicht finden, aber man folgt ihm doch nur deshalb noch, weil man sich innerlich getroffen fühlt und weil die Seelenkraft aufgerufen ist, deren Gebot man sich nicht mehr entziehen kann. Ohne Zweifel wird die Masse auch der echten Menschen in ihrer Richtung dadurch ermutigt, daß sie neben sich andere in großer oder überwältigender Zahl auf dem gleichen Wege findet; die Überzeugung der Masse wird immer durch die Wahrnehmung gefestigt, daß man nicht allein geht, sondern einer großen Gemeinschaft angehört. Neben dem inneren Zwange und ihn steigernd wird also auch ein gewisser sozialer Zwang empfunden, dem man sich umso weniger entziehen kann, weil das soziale Urteil mit Härte diejenigen trifft, die sich gegen die Gebote der Gemeinschaft verfehlen, ein Urteil, das bei den schlimmsten Verfehlungen soweit geht, die Frevler aus dem gesellschaftlichen Verkehre auszuschließen; sie werden durch den Spruch einer sozialen Feme so in Acht und Bann getan, wie Staat und Kirche es <:un. Trotzdem haben wir in den inneren Gemeinschaften nicht Zwangsgemeinschaften vor uns, sondern freie Gemeinschaften, denn sie sind im tiefsten doch durch den Trieb des Inneren zusammengehalten; sie [27] würden niemals entstanden sein und würden nicht aufrecht bleiben, wenn nicht ein Ruf «de erweckt hätte und lebendig erhielte, der aus dem Innersten ertönt, in welchem kein anderes Gebot als das der eigenem Überzeugung gilt. Die Pflichten, die sie heischen, werden von den echten Menschen, welche ihren festen Kern bilden, freudig empfunden als Erfüllungen des eigenen Wesens, als Entscheidungen des freien Willens. Für diese Empfindung kommt nichts darauf an, ob das Gefühl der Willensfreiheit nur ein schmeichelnder Schein ist, in dem sich die Strenge des Kausalgesetzes verhüllt, oder ob der moralische Zwang seine unaufhaltsame Kraft nicht gerade dem Umstände verdankt, daß sich in ihm das Beste des menschlichen Wesens wirklich frei ergießt.
Es gibt allerlei Interessenverbiinde, die durch die Erkenntnis des praktischen Nutzens geschaffe n und zusammengehalten sind, welchen man davon hat, seine Kraft, die für sich allein fast verloren wäre, im Zusammenhang mit andern zu gebrauchen. Der volkswirtschaftliche Verband ist das bedeutendste Beispiel. Der einzelne steigert seinen Erfolg ins Ungemeine, wenn er den richtigen Platz für sein Wirken in der arbeitsteiligen Wirtschaft des Volkes findet. Die Volkswirtschaft, wie sie sich auf der Grundlage des privaten Eigentums entwickelt hat, unterscheidet sich durch ihre freiere Ordnung deutlich von der Zwangsgemeinschaft, von der uns der Staat das bedeutendste Beispiel gibt; sie hat kein gemeinsames Handeln als Inhalt, sie geht nicht unter dem Zwang eines einheitlichen Befehles vor sich, die Individuen sind nur insoweit unter den Zwang des Rechtes und der Sittlichkeit gestellt, daß sie gewisse unüberschreitbare Schranken einhalten müssen, aber innerhalb dieser dürfen sie sich nach ihrem Ermessen frei bewegen, es ist ihnen überlassen, sich nach Maß ihres Interesses zu entscheiden. Von den inneren Gemeinschaften, für die wir in der sittlichen Gemeinschaft das bedeuteneiste Beispiel haben, unterscheidet sich die Volkswirtschaft dadurch, daß das Interesse durch Erwägungen der Klugheit geleitet wird, die nicht die Strenge der inneren Überzeugung haben. Man muß die Frage erheben, ob die Volkswirtschaft, da sie weder einem sozialen noch einem ausgesprochenen inneren Zwange folgt, überhaupt eine eigentliche Gemeinschaft sei oder nicht vielmehr ein loser Verband von Individuen, die sich ohne alle Verbindlichkeit treffen und wieder trennen. Für die älteren Ordnungen des Wirtschaftens hat allerdings der genossenschaftliche Verband des Dorfes und der Zunft, haben die Grundherrschaften und städtischen Obrigkeiten und haben die merkantilistischen Regierungen mit ängstlicher Sorgfalt die mannigfaltigsten Zwangsvorschriften erlassen, später aber haben sich die Klassiker mit [28] ihrer Lehre durchgesetzt, da alle diese Zwangsvorschriften gegen das Wesen der Wirtschaft verstießen, welches innerhalb der allgemeinen Schranken von Recht und Sittlichkeit die freie Bewegung der Individuen fordere. Geht man nun aber der klassischen Lehre nach, so wird man erkennen, daß auch die Individuen selbst dort, wo ihnen rechtliche und sittliche Bewegungsfreiheit eingeräumt ist. unter zwingende gesellschaftliche Mächte gestellt sind, die vom Wettbewerbe des Angebotes und der Nachfrage ausgehen. Geht man den Dingen noch genauer auf den Grund, so erkennt man, daß es nicht erst der Wettbewerb ist, der die gesellschaftlichen Mächte schafft, welche dem wirtschaftlichen Individuum seine Bahn weisen. In den Weiten der Volkswirtschaft wäre jeder einzelne, selbst der Stärkste, verloren, wenn er allein auf sich gestellt bliebe. Dem starken und vom Glück begünstigten Menschen gelingt es, sich mit zur Führung der Mächte aufzuschwingen, denen er sich anvertraut hat, der schwächere oder in ungünstige Lage gestellte sucht in seines Nichts durchbohrendem Gefühle den Anschluß an gesellschaftliche Mächte innerhalb der Masse, und wenn er ihn nicht findet, so wird er die Beute von feindlichen Mächten, die seine Kraft für ihre Zwecke ausnützen. Schon in seiner Berufswahl, die ihm den Ausgangspunkt für seine Tätigkeit weist, ist der einzelne nicht freier Herr seiner Entschlüsse, er ist in der Hauptsache durch che Macht seiner Verhältnisse und seiner Umgebung bestimmt , und es sind wiederum nur die Stärksten und vom Glück Begünstigten, die sich selber durchzusetzen wissen. Die Masse folgt dem Herkommen, das dem Individuum in zahlreichen Fällen gar keine eigene Wahl läßt und in andern Fällen seine Wahl aufs engste einschränkt. Das alte Recht, das noch nicht zu individualisieren vermochte, sondern überall dem typischen Zustand seinen naiven Ausdruck gab, hat in der starren Ordnung der Kasten den Sohn geradezu an den Beruf des Vaters gebunden, das moderne Recht erst gibt die Berufswahl frei, aber rechtliche Freiheit bedeutet hier, wie sonst so oft, keineswegs auch schon tatsächliche Unabhängigkeit. Diese kommt alles in allem doch nur verhältnismäßig wenigen zugute, für die Masse bleibt es bei der tatsächlichen Gebundenheit der Berufswahl. Auch in der Ausübung des Berufes ist es dem einzelnen Geschäftsmanne durchaus nicht anheimgegeben, ganz selbständig das Maß zu bestimmen, in welchem er seinen Vorteil verfolgen will, sondern er ist an den Typus gewiesen, den der allgemeine Wettbewerb auf Grundlage der technischen und gesellschaftlichen Erfahrungen der Zeit und der gegebenen Volksenergie ausbildet. Es sind immer nur verhältnismäßig wenige, die nicht die Kraft aufbringen, den Typus zu erfüllen, und ihre Mißerfolge geben [29] den andern ein warnendes Beispiel. Die große Masse hält 6ich ziemlich enge an den Typus; die Freiheit, die sie von Rechts wegen besitzt, äußert sich, alle« in allem, nur in ganz geringen Abweichungen, die sie sich nach oben oder nach unten erlaubt. Selbst der persönliche Egoismus ist in aller Regel gesellschaftlich umschrieben, die wenigsten sind kühn genug, ihren persönlichen Vorteil über den Rahmen des typischen Verhaltens hinaus zu verfolgen.
Selbst in den Bereich des Privatlebens dringen gesellschaftliche Mächte herein. Privates Leben ist nicht isolieites, sondern gesellschaftliches Leben. Es geht nicht an, von Robinson, solange er der einzige Bewohner seiner Insel ist, zu sagen, daß er Privateigentum habe. Privates Leben ist nicht nur immer von gesellschaftlichem Leben umgeben, sondern ist auf dieses immer auch mehr oder weniger eingestellt, nur daß es dem Berechtigten vorbehalten ist, die Größe des Einflusses zu bestimmen, den er der gesellschaftlichen Umgebung zugesteht, und insbesondere fremde Eingriffe ahzuwehren, die ihn stören. Mein Privatrecht erlaubt mir, über das Meinige selbständig mit Ausschließung anderer zu verfügen, aber es hält mir die Möglichkeit offen, bei meinen Verfügungen mit andern Personen in Verkehr zu treten; ich wäre um vieles ärmer, wenn ich diese Möglichkeit nicht hätte, alle Geldwerte, über die ich verfüge, wären da verloren und selbst der größte Teil der naturalen Werte ließe sich nicht mehr voll ausnützen. Wie das Privatrecht, steht alles private Leben unter gesellschaftlicher Perspektive, selbst in dem persönlichsten Abschnitte des privaten Lebens, im Familienlelxm des Hauses, läßt sieh der einzelne vom gesellschaftlichen Wesen nicht ganz absondern. Der Satz „Mein Haus ist meine Burg“ will nur das aussagen, daß jeder in seinem Hause fremden Zutritt überwachen darf und selbst der Staat das Hausrecht schützen und in gewissem Grade auch seinerseits respektieren muß. Dabei empfindet aber doch jeder Verständige ein lebhaftes Interesse, die Ordnung seines Hauses im Sinne der liesten Vorbilder zu treffen, die ihm die Gesellschaft gibt, und er weiß recht gut, daß er sich dem gesellschaftlichen Tadel aussetzt, wenn er von den Vorschriften der allgemeinen Sitte und besonders von den Vorschriften seiner Klasse und Schicht merklich abweichen wollte. Bei Völkern und Schichten entwickelter Zivilisation treffen wir eine überraschende Uniformität in allen Einzelheiten des häuslichen Wesens; Anlage und Betrieb haben in allen Punkten ihre bestimmte Regel, vom Morgen bis zum Abend hat jede Stunde ihre feste Einteilung. Gilt das gesellschaftliche Gebot schon im Haute, so gilt es um so mehr, wenn sich der einzelne auf die Straße und in den Verkehr der öffentlichkeit [30] begibt, auch wenn er dabei nur seine privaten Angelegenheiten im Sinne hat. Die Kleidung, die man trägt, wenn man sieh unter die Leute mischt, die Bewegung, die man sich dabei erlauben darf, das Mienenspiel, die Ausdruckweise und Stärke, mit der man die Stimme laut werden JäUt, müssen, wenn man nicht auffallen und herausfordern will, genau im Sinne der gesellschaftlichen Sitte abgemessen sein. Auch dieses Gebot der gesellschaftlichen Sitte, so wenig es zunächst den Anschein hat, geht vom Erfolg aus, denn selbst eine schwerfällige, belästigende Sitte, selbst eine törichte Mode bringt in ihrer Uniformität doch einen merklichen gesellschaftlichen Erfolg, weil die Gleichmäßig' keit, die sie vorschreibt, die Reibungen mindert. Ist eine militärische Truppe oder sonst ein gesellschaftlicher Verband, der ein Gesamtwerk leisten soll, auf einheitliches Handeln, ist die Interessengemeinschaft der Volkswirtschaft auf ergänzendes Handeln gerichtet, so sind die Individuen in ihrem privaten Handeln, wenn man den Ausdruck gebrauchen darf, parallel gerichtet, so daß auch das private Handeln sich als ein gesellschaftlich geleitetes, als ein gesellschaftliches Werk darstellt.
Der Trieb dazu, sich auch in seinen privaten Angelegenheiten gesellschaftlich zu richten, ist tief in dos menschliche Wesen gelegt, es gibt kaum eine gesellschaftliche Macht, die sieh unverbrüchlicher durchsetzt, als die Macht der Verkehresitte, welcher sich fast ohne Ausnahme alle Menschen unterordnen, nicht nur die Masse des Durchschnittes, sondern auch diejenigen, die sich sonst abseits stellen, nicht nur die feiner Gebildeten, sondern auch die Plumpen und Frechen, nicht nur die Toren, sondern auch die Weisen. Man könnte fast daran irre werden, ob die Menschen, die der Zufall auf der Straße, im Theater, in den Verkehrsanstalten zusammenwirft, hier nicht überall eigentlich ihr privates Wesen verlieren und bei allem Wechsel der Personen doch zu gesellschaftlichen Körpern zusammenschmelzen. Unsere Sprache bezeichnet die Massen, die sich in diesen Zwischenzuständen zwischen privatem und öffentlichem Wesen befinden, als Publikum; ein glücklicher Ausdruck, der die Beziehung auf die Öffentlichkeit anklingen läßt, aber doch nicht so deutlich ausspricht, als das deutsche Wort es täte. Nun, dieses Publikum ist, während es seinerseits gesellschaftlichen Mächten unterworfen ist, zugleich selber eine starke gesellschaftliche Macht. Für alle öffentlichen Darbietungen, von der des Dichters, des Schauspielers, des bildenden Künstlers bis zu der des wirtschaftlichen Angebotes, entscheidet die Gunst des Publikums über den Erfolg, mindestens über den nächsten und äußeren Erfolg, der aber oft genug, wenn es sich nicht um edlere Werte handelt, der entscheidende Erfolg bleibt.
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Über das einzelne der Machtpsychologie — da« will sagen der psychischen Erregungen, unter denen die Macht ihre Herrschaft über die Gemüter gewinnt und festhält — wäre noch vieles zu sagen, was wir aber an dieser Stelle lieber noch beiseite lassen wollen. Zunächst war es uns nur darum zu tun, die großen Formen der Macht aus der gemeinsamen Quelle des gesellschaftlichen Erfolges abzuleiten und die ebenso verbreitete als irrige Vorstellung zu widerlegen, als ob keine andere zwingende Macht, in Frage käme, wie die der äußeren Gewalt. Über diese Vorstellung muß jeder hinwegkommen, der die Wege der Macht in Geschichte und Gegenwart verstehen will. Wer sie nicht überwindet, der bleibt in gesellschaftlichen Dingen von Grund aus ein Laie. Er teilt die Kurzsichtigkeit der anarchistischen Träumer, für welche das Ideal der Freiheit ein Zustand gänzlicher Herrschaftslosigkeit ist, deii sie sich so denken, daß die Individuen zueinander in keine andern Verbindungen treten, als diejenigen, die sie durch ihren Vertragswillen schaffen und wieder lösen, wonach also jeglicher Dienst des Staates von Vereinen übernommen werden könnte, derart wie die Sportvereine oder Geselligkeitsvereine, denen beizutreten oder aus denen auszutreten in jedermanns Beheben stünde. Damit wäre die Gesellschaft aller Festigkeit beraubt, sie würde in ihre persönlichen Atome zerfallen und die festen Bindungen verlieren, die sie zur Sicherung ihrer Erfolge braucht. Es ist indes dafür gesorgt, daß es dahin nicht komme; die treibende Kraft, die der Erfolg der Werkgemeinschaften erzeugt, wird bei jedem Volke, das zu gesellschaftlichem Werke fähig ist, auch die notwendigen Bindungen im Gemüte schaffen. Die schwächeren Teilnehmer werden durch Zwangsmächte gebunden, die starken finden in Freiheitsmächten die notwendige Hilfe. Ein gesundes Volk erkennt es sehr bald, daß die Besiegung der auf ihm lastenden Zwangsmächte nur der erste Schritt zur Freiheit ist und daß, wenn die Freiheit wirklich erstehen soll, der zweite Schritt, die Aufrichtung von Freiheitemächten, folgen müsse, deren soziale Gebote den gleichen Gehorsam finden, wie vorher das Gebot des äußeren Zwanges. Wahre Freiheit ist nicht persönliche Ungebundenheit, sondern ist ein schwer errungener gesellschaftlicher Zustand. Gottfried Keller, der vom Herzen Demokrat war, spottete über diejenigen seiner Schweizer Landsleute, die vermeinten, schon dadurch allein echte Republikaner zu sein, daß sie keinen König über sich hätten. Um wie viel mehr Grund zum Spotte hätten ihm die neuen Republiken gegeben, die nach dem Umstürze in einer ganzen Reihe von europäischen Staaten fast über Nacht errichtet wurden, ohne durch tragfähige Freiheits' mächte gestützt zu sein! [32] Wie der Staat, bedarf jede Werkgenieinsckaft tragfäkiger Freiheitstnachte, um in Wahrheit frei zu sein. War die Volkswirtschaft dadurch allein schon wirklich frei geworden, daß das liberale System durchgeführt und alle geschichtlich überlieferten Zwangsvorschriften beseitigt wurden, oder sind nicht vielmehr überall dort, wo die kleinbürgerlichen, die proletarischen oder auch die kleinbäuerlichen Schichten zu schwach waren, an Stelle des staatlichen Zwanges die kapitalistischen Zwangsmächte hervorgetreten, wo ihr keine genügenden Hemmungen mehr in den Weg traten ?
Es ist eine fast unübersehbare Fülle von Zwaugsmächten und Freiheitsmächten, von Kampfmächten und Friedensmächten, von Mächten des öffentlichen und des privaten Lebens, durch die bei jedem entwickelten Volke Gefühl und Wille der Menschen gesellschaftlich gerichtet sind. Von diesen Mächten ist in den engen Blutsgemeinschaften, mit denen die Geschichte beginnt, fast nichts lebendig, der Instinkt des Blutsgefühles mußte sie ersetzen und die Gemüter zu Werken der Geraeinschaft bereit machen. Dennoch dürfen wir die Kräfte nicht gering schätzen, mit denen die Menschen ihr geschichtliches Werk begonnen haben. Dies gilt insbesondere für diejenigen Stämme, die sieh späterhin zu Edel Völkern entfaltet haben. In dem Blute der edlen Urvölker waren alle Anlagen zum Kulturmenschen in reichlichen Keimen ausgesät. Zwar hatten auch sie ihre primitiven Anfänge, aber es wäre ein grober Irrtum, wenn man für diese das Maß von solchen Volksstämmen abnehmen wollte, die, von der Natur vernachlässigt, bis heute primitiv zurückgeblieben sind. Von der ungeheuren Größe ihrer Leistung gibt uns die Robinsonade, an deren Beispiel man sich gerne die Volksanfänge anschaulich macht, nur ein ganz unzureichendes Bild, denn was ihnen zu tun oblag, haben sie ohne die Hilfen tun müssen, die Robinson auf seine Insel mitgebracht hat. Robinson kommt auf seiner Insel deshalb so gut durch, weil er schon wichtige Erfahrungen der heimischen Bildung mitbringt und weil ihn der klug berechnende Erzähler mit gerade so viel Vorräten und Werkzeug aus dem gestrandeten Schiffe ans Land kommen läßt, als er notwendig hat, um sich durchzuschlagen. Wir stellen uns die Vorfahren der Edelvolker am besten so vor, wie sie die Volkssage besehreibt, als Riesen, die den Kampf mit den Göttern wagen. Die Kulturvölker stehen kaum über ihren Vorfahren, sondern eher unter ihnen, wenn man es auf die Spannung des Wesens und auf das innere Gewicht der Kraft ankommen läßt. Der [33] verfeinerte Kulturmensch würde das Werk, das jene zu leisten hatten,
können, er würde dabei schmählich unterKräfte sind hei aller ihrer Ausbildung doch durch die vorausgegangene Fronarbeit der Geschichte arg verkümmert und entartet. Könnte dagegen ein Wildling edlen Blutes in ein Kulturland gebracht werden, so würde er rasch und begierig seine Anlagen entwickeln. Die Wikinger, welche die Normandie besetzten, waren in kurzer Zeit so weit, daß sie in den Künsten des Krieges und des Friedens die Spitze der europäischen Ritterschaft einnahmen. Was das Kulturvolk voraus hat, ist das Kultur kapital, das es der Arbeit der vorhergegangenen Generationen verdankt. Durch diesen Besitz ist es reich, auch wenn es selber nur wenig Kraft zu seiner Mehrung übrig hat. Ks hat alle Ursache, die Kraft von Körper und Willen zu bewundern, mit der seine reckenhaften Vorfahren der Wildheit des Lebens Trotz boten, und es hat nicht minder Ursache, die geistige Kraft zu bewundern, mit der sie die Bahnen fanden, die aus der Wildheit zur Kultur führten. Der Begründer des Welthauses Krupp hat erklärt, das Schwerste sei gewesen, das erste Tausend Taler aufzusammeln. Haben nicht auch unsere Ahnen das Schwerste getan, indem sie das erste Tausend an Kulturarbeit erarbeiteten ? Die Erfindung des Pfluges ist von den Alten mit gutem Sinn den Göttern zugeschrieben worden, sie ist an Tiefe und Wirksamkeit von keiner der glänzendsten Erfindungen übertroffen, auf welche die Gegenwart stolz ist.
Bei alledem bedurfte es der angestrengten Bemühungen der Jahrtausende, um selbst die edelsten Volksanlagen zur Reife zu bringen. Der Name der Evolution, den man für diesen Prozeß gerne gebraucht, kann leicht irreführe.i, wir haben nicht eine einfache Entfaltung vor uns, wie wir sie etwa beim Baume wahrnehmen, der, unter günstigen Verhältnissen aufwachsend, Jahresring auf Jahresring ansetzt, die Entwicklung ist auch weit gestaltenreicher als die des Schmetterlings, in den sich die Raupe durch den Puppenstand verwandelt. Der Fortschritt jedes Volkes ist immer im stärksten Maße durch die Hemmungen bedingt, denen er begegnet und die seine Kraft aufregen. Das gesellschaftliche Werk erhält seine stärksten Antriebe aus der Nötigung, die Widerstände zu überwinden, die ihm von Stufe zu Stufe entgegentreten.
Solange das Zusammenleben auf den engen Kreis der Blutsgemeinschaft [34] beschränkt ist, sind der Entwicklung nahe Grenzen gezogen. Alle leben das gleiche einförmige Leben, die Arbeiteteilung ist so ziemlich auf die häuslichen Geschäfte beschränkt, denn draußen treiben alle fast das gleiche Work. Sic alle sind Jäger, Fischer oder Hirten. Auch der Häuptling und seine nächsten Gehilfen bei der Führung sind nur um weniges über die andern hervorgehoben, im Grunde sind sie alle desselben rohen Wesens. Die Abstufung im Range bedeutet so gut wie keine Schichtung in der Lebenssitte, der vornehme und der geringe Mann sitzen bei der gleichen Mahlzeit am gleichen Tisch, nur daß der erstere den Elirenplatz einnimmt. Für solche Anlagen, die über das hergebrachte Tun hinausstreben, ist kaum Gelegenheit der Anwendung. Vielleicht sind die Anlagen des gleichen Blutes überhaupt ziemlich gleich, jedenfalls fehlt es bei der Dürftigkeit der Mittel an Behelfen, sie zu fördern. Man geht darin auf, das Dasein des Stammes und seine Lebensnotdurft einigermaßen sicherzustellen. Darüber hinaus kommt man aber nicht. Die Kraft der Entwicklung, durch keinen Reiz von außen herausgefordert, wird nicht lebendig.
Auch mit den Verbänden, die von Zeit zu Zeit vom Mutterstaiunie abwandern, kommt es kaum zu fruchtbarem Verkehr. Für den Tauschverkehr, der das erste Mittel ist, um fremde Völkerschaften zu verbinden, fehlt noch immer die Voraussetzung der Arbeitsteilung, denn auch die Abgewanderten treiben so ziemlieh dasselbe, was im Mutterstamme getrieben wird. Man besitzt weder hier noch dort die Kenntnisse, tim die eigentümlichen Schätze seines Bodens auszubreiten. Für geistigen Austausch fehlt erst recht jede Voraussetzung, alle Geister sind gleich unentwickelt, überdies kommt man nicht über das Hindernis hinweg, das selbst durch geringe Entfernungen schon bereitet wird. Die umgebenden Hemmungen gehen noch über die Kraft.
Der treibende Reiz geht von dem Hange zur Gewalt aus, der dem Menschen mitgegeben ist. Der Mensch der geschichtlichen Anfänge war ein Gewaltmensch und mußte es sein, um den Kampf mit der ungebändigten Natur bestehen zu können. Der Gewalttrieb, innerhalb der Blutsgemeinschaft zurückgehalten, findet den Weg ins Weite gegenüber dem abgewanderten und fremdgewordenen Stamme und vollends gegenüber dem Stamme fremden Blutes. Anlässe zum Kampf sind immer da, Fremdsein heißt Feindsein; das gilt für den Kulturmenschen so, und wie sollte es nicht für den rohen Menschen gelten! In der allgemeinen Lebensnot stoßen die Interessen hart aneinander, man i3t dringend aufgefordert, die Ansprüche mit allem Nachdruck zu wahren, die man auf Jagdboden und Fisch wasser, auf Weide [35] und Acker, auf Vieh und das sonatige kärgliche Eigen zu besitzen glaubt, man muß, was noch viel stärker auf das Gemüt fällt, Freiheit und Leben für sich und die Seinigen schützen, die fortwährend bedroht sind. Das Weib ist dasjenige Kampfziel, das die Leidenschaft der Männer am hei Besten erregt.. Begierde, Mißtrauen, Furcht und Streitlust sind darin unerschöpflich, zum Kampfe zu reizen. In einer unendlichen Folge von Abwehr und Angriff, von Sieg und Niederlage setzen sich endlich die stärksten Stämme durch, sie unterwerfen sich nach und nach die schwächeren Nachbarn, große Reiche entstehen und vergehen, endlich gelingt ea den Siegern höchster äußerer und innerer Kraft, dauernde Herrschaften zu begründen, feste Staaten werden aufgerichtet, Völkerschaften und Völker wachsen auf. Durch den Erfolg von Siegen und Siegen sind über den Volkstrümmern der alten Blutsgemeinschaften ausgedehnte gesellschaftliche Gewaltverbände entstanden. Nun finden die Anlagen, die in der ursprünglichen Enge keine Nahrung hatten, den Boden reicher Entwicklung. Die Spannung des Kampfes, der auf Tod und Leben geht, kann nicht anders wirken, als daß sie die höchsten Anstrengungen aufruft, der Triumph des Sieges bringt ihnen Blüte und Frucht. Das mächtig gewordene Volk wird sich sodann seiner zurückgehaltenen Bedürfnisse bewußt; es erholt sich an den Besitztümern der Unterworfenen und mehrt, seinen Reichtum, indem es diese für sich arbeiten läßt. Der Trieb der Vulksvermehrung wird nicht mehr dnreh die Not nach außen abgelenkt, mit der Volkszahl mehrt sich die Volkskraft. Vou aller knechtlichen Arbeit entbunden, einzig auf das Werk des Kampfes gewiesen, der seinen Herrensinn erhebt, gewinnt das Siegervolk Laune und Muße zu höheren Betätigungen. Die entstehende Siegerkultur, die sich zuerst in äußerer Pracht gefällt, wendet sich bei den Edelvölkern bald ins Innere, geistige Bedürfnisse werden wach, durch welche die geistigen Kräfte angeregt werden, die Finsternis eines kindlichen Aberglaubens wird erhellt, der befreite Geist fängt an, zu den Erfahrungen, die er sammelt, auch die Deutungen zu suchen, nach denen es ihn drängt. Der Weg aus dem Engen ins Weite führt zugleich aus dem Dunkeln ins Helle, dem Werke der Staatengründung verbindet sich das Werk der Kulturbcgr ündung. Hinter diesen beiden gesellschaftlichen Werken treten in den geschichtlichen Anfängen alle andern weit zurück, an ihnen bilden sich die großen gesellschaftlichen Kräfte, die sich in die herrschenden Mächte der Zeit umsetzen. Krieger und Priester, oder wie man sie späterhin nennt, geistliche und weltliche Große, Adel und Geistlichkeit, werden die Machthaber dieser Epoche.
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Jede der folgenden Epochen ist durch besondere gesellschaftliche Werke ausgezeichnet, wie sie durch die Bedürfnisse und die Kraft der Zeit, herausgefordert, und ermöglicht sind. Eine Geschichtsschreibung großeu Stils wird die Epochen, die sie unterscheidet, nach den gesellschaftlichen Werken abgrenzen, die ihnen eigentümlich sind. Jede Epoche mißt die Größe ihrer Führer an dem Erfolge, mit dem diese das Werk der Zeit fördern. Begabungen, die unter andern Verhältnissen unfruchtbar geblieben wären, schütten, wenn ihre Stunde da ist, ihren vollen Reichtum aus. Was an gesellschaftlichen Kräften verfügbar ist, wird in den Dienst der Führer der Zeit, gezwungen oder stellt sich begierig selber in ihren Dienst. Durch die gesellschaftlichen Erfolge gehoben, die sich an ihren Namen knüpfen, treten die neuen Führer mit in die Reihe der Machthaber ein, während die Macht der Mächtigen von früher mehr und mehr verblaßt.
Innerhalb des gesellschaftlichen Wachstums sind zwei Tendenzen zu bemerken. Die erste ist die Tendenz zunehmender Schichtung; die Gesellschaft wird immer reicher an Abstufungen der Überordnung und Unterordnung, und die Distanzen von den obersten zu den untersten Stufen werden immer größer, weil sich die neu geschaffenen materiellen und geistigen Werte zunächst bei den Marhthabem sammeln, während die unteren Schichten an den Fortschritten geringeren Anteil haben oder gar ausgeplündert und herabgedrückt werden. Das Licht der aufgehenden Kultur trifft zuerst die Spitzen der Gesellschaft, die Tiefen bleiben zunächst im Dunkeln, und bei vielen Völkern bleiben sie es für immer. Ist wohl heute schon irgend ein Kulturvolk so weit, daß seine geschichtlich herabgedrückten Schichten alle wieder zu menschenwürdiger Höhe erhoben sind ? Immerhin, eine Tendenz in dieser Richtung besteht l>ei jedem kräftigen Volk, es ist dies die zweite Tendenz des Wachstums, die wir wahrnehmen, die Tendenz der aufsteigenden Klassenbewegung, um sie mit dem Namen zu bezeichnen, den ihr ein geistvoller Denker in Rücksicht auf die modernen Verhältnisse gegeben hat. Starke Völker sind von so gesunder Kraft, daß ihre unteren Schichten dem Drucke von oben Widerstand zu leisten vermögen, so daß sie ihm nicht völlig erliegen, sondern eich, wenn auch verspätet und langsam, das Gute zu eigen machen, wie es ihnen durch die neu geschaffenen materiellen und geistigen Werte der oberen Schichten vermittelt wird. Der verständige Machthaber erkennt ja selber das Interesse, das er daran [37] hat, die Volkskraft zu steigern, um eic besser zu nützen, der Machthaber großen Sinnes hat übrigens immer auch ein starkes Volksgefühl. Wenn auch die Massen durch lange Epochen der Geschichte hindurch an der öffentlichen Macht keinen Anteil haben, so geben ihnen der Friede und das Aufblühen der Arbeitskünste doch die Möglichkeit, in gesellschaftlicher Wechselhilfe ihr privates Werk weiterzubilden. In stiller Arbeit mit unverdrossener Bemühung hat Bauernkraft, wo es nur anging, die Wälder gerodet und den Boden urbar gemacht, und hat Bürgerfleiß die Städte gefüllt und bereichert. In der Epoche der Gegenwart wird das Antlitz der Erde durch die Regsamkeit der führenden wie der ausführenden industriellen Arbeiter technisch umgewandelt. Alle diese stillbereiteten aufsteigenden Massenkräfte haben sich zu ihrer Zeit in gesellschaftliche Macht umgesetzt oder werden sich in sie umsetzen, erst als Widerstand wirkend, zum Schlüsse aber auch als mittätiges Element der Führung wirksam. Damit wird der Boden für eine neue Geschichtsepoche gelegt.
Erst in der Gegenwart ist das Wirtschaften in die vordere Reihe der gesellschaftlichen Werke aufgenommen worden. Die längste Zeit hindurch war die Gütererzeugung, weil örtlich gebunden, eine private Angelegenheit geblieben. Das stärkste Hindernis ihrer gesellschaftlichen Entwicklung war die Entfernung; nicht nur weil die Erzeugnisse die Kosten der mühevollen Transporte nicht bezahlten, sondern ebensosehr, ja mehr noch deshalb, weil die produktiven Kräfte nicht genügend beweglich waren. Man konnte die Menschen, die man brauchte, nicht zur Stelle schaffen, und die Kapitalien waren noch zu spärÜch angesammelt, um sie weithin auszubreiten. Die materialistische Geschichtsauffassung lehrt, daß das Wirtschaften von Anfang an die allgemeinste menschliche Angelegenheit sei und daher von Anfang an die leitende gesellschaftliche Angelegenheit sein müsse. Dies ist ein Mißverständnis, i Das allgemeine Werk ist als solches nicht auch schon ein gesellschaftliches Werk, wenigstens nicht ein gesellschaftliches Werk im entscheidenden Sinne der Werkgemeinschaft. Was alle machen, müssen sie nicht auch gemeinsam machen. Solange ein Nachbar neben dem andern sein Feld bebaut, bleibt die Bodenkultur eine private Sache, die ihren gesellschaftlichen Einschlag nur dadurch erhält, daß einer vom andern lernt; dieses parallele Vorgehen hebt aber ihren [38] privaten Grundcharakter noch nicht auf. Auch das Ineinandergreifen der Arbeitsteilung, wie ea bei genügender Entwicklung der Privat betriebe eingerichtet wird, nimmt diesen ihren Grundcharakter noch nicht, jeder Produzent und Geschäftsmann bleibt doch selbständig. Erst der Großbetrieb schafft wirkliche Werkgemeinschaften. Vielleicht wird die weitere Entwicklung des Großbetriebes zur allgemeinen volkswirtschaftlichen Werkgemeinschaft führen, wie es der Sozialist fordert. Darübet wird der Erfolg entscheiden, vorerst ist man noch nirgends so weit, immerhin wird heute das Wirtschaften soweit gemeinsam empfunden, daß eR das Solidaritätsgefühl weiterer Kreise anregt, und da die Wirtschaft außerordentliche Reichtümer ansammelt, ist es zu verstehen, wenn sie beginnt, ihre Kräfte in gesellschaftliche Macht umzusetzen.
Nacli einer besonderen Richtung hat das wirtschaftliche Interesse schon von Anfang an schwerwiegenden gesellschaftlichen Einfluß geübt, ea ist von Anfang an eine der Wurzeln des gesellschaftlichen Kampfes gewesen. Vom Anfang au wurde der Kampf um den Besitz geführt, so wie der noch folgenschwerere um die Freiheit des Arbeiters, an dessen Stelle nachher, als endlich die persönliche Freiheit des Arbeiters bei den Kulturvölkern vom Rechte gewährleistet war, der Kampf um die Freiheit der Arbeit tritt. Im politischen Kampfe ging es und geht es im weiten Umfange um wirtschaftliche Interessen; ebenso in den Bürgerkriegen und ebenso in den äußeren Kriegen. Vielleicht wäre der Weltkrieg gar nicht entbrannt, wenn zu den nationalen Befürchtungen und Empfindlichkeiten, die an seinem Ausbruch Schuld tragen, nicht noch wirtschaftliche Begehrlichkeit und Besorgnisse hinzugetreten wären.
Sicherlich ist das wirtschaftliche Interesse nicht das einzige Kampfinteresse. Es geht nicht an, wie es im Sinne der materialistischen Ge Schichtsauffassung liegt, die Kämpfe um die Staatengründung grundsätzlich als wirtschaftliche Kämpfe zu bezeichnen, noch weniger geht es an, das Werk der Staatengründung als solches rein aus dem wirtschaftlichen Interesse abzuleiten. Vollends beim Werke der Kulturbegründung kann der wirtschaftliche Charakter gar nicht in Frage kommen.
Das Nacheinander der Werke, denen sich die Gesellschaft zuwendet, das Nacheinander der Schichtungsstufen, über die sich die gesellschaftlichen Werke ausbreiten, erstreckt den Prozeß des geschichtlichen Wachstums [39] auf lange Zeitperioden. Jedes gesellschaftliche Werk fordert und zeitigt auf jeder seiner Stufen einen wohl angepaßten Machtapparat, der Aufbau dieser Machtapparate braucht wieder seine gemessene Zeit, zumal er immer den Widerstand der Machtorganisationen zu überwinden hat, die bei dem vorhergehenden Werke ihren Dienst zu leisten hatten, wie er ja auch seinerseits bestrebt sein wird, sich über sein Werk hinaus weiter zu behaupten. Wenn mehrere gesellschaftliche Werke gleichzeitig zu vollziehen sind — und das wird umso ausgiebiger geschehen, je reicher die verfügbaren Kiäfte geworden sind — so werden sich ihre Machtorganisationen gegeneinander auszugleichen haben, was oft erst nach langen Kämpfen glücken mag. Der langdauernde Kampf zwischen Staat und Kirche, der vom Mittelalter her die Jahrhunderte bis in die Neuzeit hinein füllte, ist aus dem Widerstreit der Maehtorganisationen entsprungen, die innerhalb der romanisch-germanischen Völker für die beiden Werke der Staaten bildung und der Kulturentwicklung aufgebaut wurden. Kirche und Staat waren durch ihre Erfolge stark geworden, und beide setzten alles daran, die dominante Macht zu werden.
Die Anlagen jedes Volkes sind begrenzt und auf die Dauer mögen daher selbst die Kräfte des begabtesten und aufs glücklichste gestellten Volkes ausgeschöpft werden. Dann wird die Entwicklung stillestehen, und da im Wettbewerb der Völker Stillstand Zurückbleiben ist, so wird das zurückbleibende Volk vielleicht andern, frischeren zur Beute ausgeliefert sein. China gibt uns dafür ein Beispiel. Das Stillestehen eines Volkes kann al>er auch anderswo seinen Grund haben, als in der völligen Erschöpfung seiner Kräfte, es kann im Mißverhältnis der Volksmächte begründet sein, indem eine übermächtig gewordene Überschicht die noch nicht ausgereiften Kräfte der unteren Schichten niederhält, während sie doch selbst neuen Aufschwungs nicht mehr fähig, weil in sich erschöpft ist. Wachstum der gesellschaftlichen Kräfte und Schichtung der gesellschaftlichen Mächte sind zwei Erscheinungen, die man streng auseinanderhalten muß. Gewöhnlich pflegt man nur den ersteren Verlauf zu beachten, der uns leichter zugänglich ist, weil er im Wachstum der persönlichen Kräfte seine Analogie hat, der zweite verdient aber die Aufmerksamkeit des gesellschaftlichen Forschers in viel höherem Grade denn aus ihm entstehen die eigentümlichsten und dunkelsten gesellschaftlichen Probleme. Der Baum im Walde wächst anders empor als der freistehende Baum ; er wird durch die umgebenden Bäume beeinträchtigt und wird vielleicht verkümmern, wenn er zu schwach ist, er muß in die Höhe streben, um nicht von Luft und Licht abgeschnitten zu werden, und ist daran behindert, eine reiche [40] volle Krone anzusetzen, dafür ist er gegen die Gefahr des Windbruchs besser geschützt. Ebenso wirkt die Einordnung in die Machtschichtung der Gesellschaft bald fördernd, bald drückend auf das Wachstum der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen. Die Überschichtung durch eine höhere Macht mag das Wachstum der unteren Schichten schützend fördern, mag es aber auch aufhalten und zerstören. Jede Änderung in den Verhältnissen der Schichtung wird darum immer auch auf das Wachstum der Kräfte wirken, sie mag den Druck nach unten verstärken, sie mag aber auch zurückgehaltene Kräfte befreien. Die Überechiehtung der untertänigen Bauern war so drückend, daß sie die alte Bauernkraft, die geschichtliche Wurzel der Volkskraft, aufzureiben drohte. Das Werk der Bauernbefreiung, das die fürstlichen Regierungen begannen und die Revolutionen vollendeten, hat dem Bauerntum und damit dem Volkstum die Bahn seiner natürlichen Entwicklung wiederum eröffnet. Das Proletariat erwartet von seiner Befreiung die gleiche Wirkung.
Wie che einzelne Macht unter dem Drucke des Mißerfolges abbröckelt oder zusammenbricht, wenn die Kräfte versagen, die ihr den Ursprung gaben, oder wenn sie von einer höheren Macht überwältigt wird, so kann auch der volle gesellschaftliche Verfall seinen Grund in den beiden Tatsachen des inneren Kräfteverfalls und der Überschichtung haben. Die auslautenden Übermächte, die sich an den großen Kräften des Volkes versündigen, müssen immer zum allgemeinen Verfalle führen, die gesellschaftlichen Spitzen müssen einstürzen, wenn die tragenden Schichten nachgeben. Die stolzen Herrenvölker, welche die Geschichte dos alten Asien gemacht haben, sind heute nach Menschenzahl, Besitz und Bildung auf den Stand ihrer Frühepochen rückgebildet und zählen geschichtlich nicht mehr mit. Ein guter Teil ihrer Kräfte ist freilich in grcuel vollen Kriegen aufgerieben worden, aber bei allen hat die Überschichtung der Macht ihren wesentlichen Anteil am Verfalle gehabt.
Verfall eines Volkes bedeutet noch nicht seinen vollen Untergang. Zum vollen Untergang eines Volkes kommt es überhaupt nur selten, er wird eigentlich nur im Vernichtungskriege bereitet, und der Vernichtungskrieg im vollen Sinne wird nur solche Völkerschaften aufzehren, die, wie die Goten in Italien oder die Vandalen in Afrika, als eine ganz dünne Oberschicht ausgebreitet sind und ihre Herrschaft in barbarischem Heldenmut fast bis auf den letzten Mann verteidigen. Von solchen Ausnahmsfällen abgesehen, erleidet kein Volk den körperlichen Tod. Und man darf es auch nicht als seelischen Tod deuten, wenn ein Volk durch die Vermischung mit andern sein Sonderdasein endigt. Der Untergang des romischen Reiches bedeutete nicht [41] auch den Untergang der ganzen römischen Bevölkerung, sowenig etwa wie die Unterwerfung des Sachsenreiches in England durch die Normannen den Untergang des Sachsenvolkes bedeutete. In dem einen wie. in dem andern Fall haben die Besiegten zwar ihre Volksindividualität verloren, sie haben aufgehört selbständig zu sein, und mußten sich die Überschichtung durch eine fremde Macht gefallen lassen, aber wie die Sachsen in England auch in der Verschmelzung mit den Normannen ein lebenswichtiges Element des englischen Volkes blieben, so gilt dies auch für die römische Reichsbevölkerung, die bei der Verschmelzung mit den germanischen Siegern diesen sogar ihre Sprache aufzudrängen vermochte und außerdem einen ansehnlichen Rest ihrer Kultur in das folgende Zeitalter hinüberrettete, den die ältere Geschichtschreibung wohl um vieles zu niedrig angeschlagen hat. Diese Übertragung von Sprache und Kultur, wie sie vom untergehenden römischen Reiche auf die emporstrebenden Barbarenreiche stattfand, hatte einen noch viel reicheren Gehalt als der Kulturprozeß der Renaissance. Die Renaissance war eine bloße Übertragung der Ideen, die Humanisten verfeinerten ihr Latein, indem sie sich in Cicero vertieften, und die Bildhauer und Architekten lernten an den neuausgegrabenen römischen Vorbildern, dagegen ließ der Untergang des römischen Reiches, mit so großen Opfern an Volkszahl er auch verbunden war, doch eine den zugewanderten Siegern überlegene Zahl von Einwohnern übrig, die als persönliche Träger der alten gesellschaftlichen Kulturkräfte tätig waren und durch die Überlegenheit ihrer Kultur Einfluß üben konnten, auch wenn sie ihre äußere Machtstellung verloren hatten. Dadurch, daß sie die Kirohe und das Papsttum für sich hatten, fanden sie übrigens sogar den Zugang zu den herrschenden Mächten der Zeit.
Die hier vorgetragene Auffassung vom geschichtlichen Wachstum deckt sich mit der üblichen Auffassung nicht. Es ist üblich, das Gesetz des gesellschaftlichen Wachstums vom persönlichen Wachstum herzunehmen und demnach in der Gesellschaft die gleichen drei Altersstufen der Jugend, der Mannheit und des Greisentums zu unterscheiden, wie im persönlichen Leben. Man folgt dabei derselben anthropomorphen Anschauung des gesellschaftlichen Lebens, durch die man sich auch sonst dessen zusammengesetzte Bildungen unter dem einfacheren und vertrauteren Bilde der persönlichen Lebensakte näherzubringen sucht. So faßt man z. B. die Akte, durch welche das Handeln innerhalb der Gesellschaft bestimmt wird, als gesellschaftliche Willensentscheidungen auf, von denen man annimmt, daß sie ganz im Sinne der persönlichen Willensentscheidungen ablaufen, [42] mit dem einzigen Unterschied, daß sie, statt von einem einzelnen Subjekt, von Tausenden oder von Millionen zusammen vollzogen werden. In der Tat verläuft die gesellschaftliche Willensbildung, worüber an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen sein wird, in der Weise, daß der Wille der Masse der Teilnehmer entweder geradezu ausgeschaltet oder doch auf eine so untergeordnete Mitwirkung beschränkt wird, wie sie niemals genügen würde, um einen persönlichen Willensakt zu begründen. Ebenso geht auch vom persönlichen Wachstum ein großer und vielleicht der größte Teil ins gesellschaftliehe Wachstum nicht über. Das Greisenalter zieht sich mit seiner schwindenden Kraft vom gesellschaftlichen Werke nach und nach zurück, alles in allem ist doch nur die Mannheit gesellschaftlich tätig, das ganze persönliche Wachstum der Jugend fällt gesellschaftlich aus, es hringt die Gesellschaft nicht weiter, sondern bringt nur die Jugend einmal so weit, daß sie gesellschaftlich mittun kann. Das Wachstum der Jugend ist für das gesellschaftliche Wachstum nur dann von Bedeutung, wenn die Jugend aus den neuen Verhältnissen, in denen sie groß wird, zu neuen Bewegungen gestimmt wird, in der Hauptsache aber holt die Jugend zunächst einmal die vorausgegangene gesellschaftliche Entwicklung nach. Wie der menschliche Embryo dem ontogenetischen Grundgesetz zufolge die Formen wiederholt, in denen sich die Entwicklung der Gattung vom einfachsten Lebewesen bis zum Menschen vollzogen hat, so wiederholt der jugendliche Geist in seinem Wachstum die Gestalten, die der menschliehe Geist geschichtlich durchzumachen hatte; der Knabe lebt zuerst spielerisch dahin, dann gefällt er sich mit leidlos an den wilden Grausamkeiten des Indianers, später wendet sich sein Sinn ins Abenteuerlich-heroische, in einer gewissen Spannung der Entwicklung schwelgt er in der Inbrunst des Glaubens, um nachher hochgespannten Idealen nachzujagen, bis der Geist der großen Zahl der Herangewachsenen endlich ernüchtert im Hafen der wirtschaftlichen Klugheit landet. Das gesellschaftliche Wachstum ist dagegen durchaus nicht die Wiederspiegelung des persönlichen, immer wird nur ein Teil der persönlichen Kräfte auch der Mannheit zum gesellschaftlichen Werke aufgerufen, der Rest bleibt dem persönlichen Leben vorbehalten.
Der zum gesellschaftlichen Werke aufgerufene Teil ist in zwei eng verwobene Prozesse eingestellt, nämlich die Entwicklung der Kräfte durch ihre Übung und die Umsetzung der Kräfte in gesellschaftliche Macht. Dieser zweite Prozeß hat im persönlichen Leben überhaupt keine Analogie, und auch der erstere wird gesellschaftlich ganz eigentümlich verschoben, denn er vollzieht sich, wie wir wissen, schichten weise oder [43] stufenweise, wofür das persönliche Wachstum gleichfalls keine Analogie , hat. Kein Volk, das sich entwickelt, wächst in allen seinen Schichten gleichmäßig, die obersten Schichten mögen schon abgelebt sein, während die mittleren und unteren noch in unverbrauchter Frische aufsteigen oder aber vorzeitig gehemmt und rückgebildet werden. Ein Volk, das sich entwickelt, wird in seinen verschiedenen Schichten immer verschiedenen Alters sein, sofernc man die persönlichen Abstufungen der Lebensalter überhaupt auf seine Verhältnisse übertragen darf. Nur für die Stufen der frühesten Anfänge und vielleicht auch der letzten Vollendung, wenn es sie jemals erreichen sollte, dürfte man das ganze Volk einer und derselben Altersperiode angehörig denken. Die Reifezeiten von Rittertum und Bürgertum sind bei den Völkern des Abendlandes weit voneinander getrennt, die des Proletariates ist überhaupt noch nirgends in Sicht. Selbstverständlich wird dabei doch vermöge des allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhanges jede Stufe immer vom Stande der andern mit beeinflußt sein, es mag daher eine Volksschicht, die schon stillestand, von einer andern, die weiter strebt, neue Anregungen empfangen. Daher zeigt jede Volksgeschichte die Erscheinung wiederholter Pubertät, die das persönliche Wachstum nicht kennt, oder wenn wir Goethe folgen dürfen, nur bei Persönlichkeiten von ganz besonderer Stärke kennt.
Wie ist man wohl dazu gekommen, die Wachstumperioden der Völker mit denen des persönlichen Lebens gleichzustellen? Man hat es immerhin nicht ganz ohne einigen Grund getan. Die geschichtliche Betrachtung zeigt bei den Völkern manche Ähnlichkeiten zur Persönlichkeit, die ja freilich nicht ausreichen können, um die Idee des Wachstums auf die Völker voll zu übertragen. Vor allem ist das Reifen der Völker dem persönlichen Reifen nahe, wenn auch die Zeiträume, die es füllt, ungleich ausgedehnter sind. Wie jedes Individuum bringt jedes Volk eine gewisse Ausstattung von Anlagen mit, die nach und nach zu Blüte und Frucht gedeihen, bis sie endlich ausgeschöpft sein müssen. Bei Völkern, die durch ihre Anlagen dazu berufen sind, Geschichte zu erleben, aber noch nicht recht in ihre Entwicklung eingetreten sind, erhält man ohne allen Zweifel den Eindruck jugendlichen Wesens, das auch den Männern und selbst den rüstigen Greisen noch das erfrischende Gefühl verhaltener Kraft leiht; daneben zeigt uns die Wahrnehmung wieder andere Völker, denen jede Anlage zui Geschichte fehlt und die von ihrer Frühzeit an greisenhaft welk sind, und ebenso gibt es Zustände des gesellschaftlichen Verfalles, wo schon die jungen Leute Drang und Hoffnung vermissen lassen. Nicht jedes Volk indes [44] erlebt solchen Verfall. Sowenig ein Volk, sich in immer frischen Geschlechtern erneuernd, körperlichen Tod erleidet, sowenig erleidet das starke Volk jenen Verfall der Kräfte, der dem Tode vorausgeht. Seine Kraft ausschöpfen, heißt für das Volk nichts anderes, als seine Anlagen bis zu Ende ausbilden, so daß es in seiner Entwicklung stillesteht. Dazu, daß die gesellschaftlichen Kräfte im eigentlichen Sinne verfallen, müßten ganz besondere Ursachen tätig sein. Dieses Schicksal droht insbesondere den obersten Schichten, die sich in den übermäßigen Anstrengungen des Krieges, der ihnen obliegt., oder auch der geistigen Arbeit verzehren, der sie sich leidenschaftlich hingeben, oder die im Übermut der Ausschweifungen entarten; den Massen droht es, wenn sie in dumpfe Not und Sklaverei herabgedrückt sind. Wo aber sich unter der Decke der welkenden Oberschicht die Masse kernhaft gesund erhält, wird beim Aufstieg ihrer Schichten das Volk eine neue Mannheit und selbst eine neue Jugend erleben. Von den meisten der Völker des Altertums haben wir durch die ant iken Geschieht Schreiber nur die Zustände der obersten herrschenden Schicht geschildert erhalten, die uns als geschichtlichen Abschluß den Eindruck des Verfalles geben. Allerdings bestimmt die Geschichte der Oberschicht im großen Maßstab die der Maasen mit, aber sie entscheidet sie keineswegs endgültig. Wenn die herrschende Schicht erschöpft ist, werden die Reiche zusammenbrechen, die nur durch ihre Kraft gehalten waren, und die Massen werden unter unendlichen Leiden mit in den Sturz hineingezogen werden, dennoch wird die Lebenszähigkeit der Massen noch folgenden Jahrhunderten neues Wachstum und reichen Inhalt geben können. Immer wieder müssen wir darauf zurückkommen, daß die Entwicklung der Völker sich in ihren Schichten stufenweise vollzieht. Der Gescbichtschreiber wird seiner Aufgabe niemals genügen, wenn er die Entwicklung eines Volkes in dem einfachen Zuge persönlicher Entwicklung darstellen will. Er muß mit der größten Aufmerksamkeit den Wendungen folgen, in denen die herrschenden Schichten zur Herrschaft aufsteigen, in denen der Druck der Überschiehtung die Massen niederhält, und in denen hinwieder die Massen, wo sie dazu stark genug sind, durchbrechend ihre gesammelte Kraft zu neuer Blüte entfalten.
Bei den Völkerschaften des Altertums kann man die Kulturentwicklung msoferne als ein ungeteiltes Ganzes nehmen, weil sie bei ihnen von einer einzigen Kulturschicht getragen ist. Die Kultur der Athener ist von der dünnen Schicht der Vollbürger getragen, die über den Halbbürgern und Unfreien aufgebaut war. Bei den moderneu Völkern dagegen ist auf ihren Höhen die Kultursehicht nirgends in [45] rechtlicher und tatsächlicher Schärfe vom übrigen Volke abgesondert und darum geht es nicht an, die Kulturgeschichte und auch die allgemeine Gcschichte der modernen Völker im gleichen ungebrochenen Zuge darzustellen, wie die der Antike. Ihre Vielgestaltigkeit läßt sich nicht auf den einfachen Umriß persönlicher Entwicklung zurückführen. Um die Innigkeit nachzufühlen, die in deutscher Musik und deutscher Lyrik ausklingt, muß man die Frömmigkeit und den Frieden verstehen, mit dem das deutsche Bürgerhaus sich vom äußerlichen Treiben der Höfe und des Adels abhebt, worüber man doch wieder die Vorgeschichte nicht übersehen darf, in welcher der Fürst und die Ritterschaft die kraftvollen Vorkämpfer und Vorbilder des Volkes waren. So liefert eine Zeit und Schicht nach der anderen die Züge, die den Charakter des Volkes zeichnen.
Wir unsererseits werden unsere Untersuchungen durchaus auf den gesellschaftlichen Gesichtspunkt einstellen. Vom Persönlichen werden wir dabei gewiß nicht absehen können, aber wir werden es nur insoweit einbeziehen dürfen, als es eben die notwendige Unterlage des Gesellschaftlichen ist. Wir werden es daher nur dann berücksichtigen, wenn es dazu befähigt ist, gesellschaftliche Wirkung zu üben. Wir werden nicht glauben, daß wir die geschichtliche Entwicklung aus dem Streben des persönlichen Wachstums allein verstehen können, sondern wir werden immer darauf aufmerksam sein, auch die äußeren Umstände mitzubedenken, die den wachsenden Kräften des Innern die gesellschaftlichen Bahnen eröffnen oder verschließen. Wenn wir in den Anfängen harte Gewalt entscheiden sehen, so werden wir diese nicht schlechthin aus der Unreife der Völkerjugend erklären, sondern wir werden sie vor allem aus der Härte der Widerstände ableiten, die in den Anfängen zu überwinden sind. Wenn wir späterhin weichere innere Machte immer reicher aufwachsen sehen, so werden wir diese wiederum nicht schlechthin auf die gewonnene Volksreife oder etwa auf die Alterserechöpfung des Volkes zurückführen, sondern wir werden in Rechnung stellen, welch uneudliclic Hilfe der erreichte Zustand äußeren Friedens und Reichtums dazu geben muß, die lange zurückgehaltenen zarteren Regungen zu entfalten und die erwartungsvollen Seelen endlich einmal ganz zu lösen. Wir werden immer auch noch die Nachwirkungen in Rechnung zu stellen haben, welche die einmal befestigte Macht nach *ieh zieht. Solange ihr keine neuen Kräfte entgegentreten und sie in ihrer eigenen Kraft etwa abbröckelt und verfällt, hat die einmal befestigte Macht einen Vorsprung, durch den sie sich weiterbehaupten mag. Wenn neue starke Kräfte emporkommen, so wird sie ihnen endlich weichen [46] müssen, aber nichtsdestoweniger kann sie ihnen als Vorstufe gedient haben, und dieser Dienst tritt dann ganz klar hervor, wenn sie sich aus sich selber im Sinne der neuen Verhältnisse wandelt. In beiden Fällen baut sich die neue Macht aus den Erfolgen der alten auf. Mögen auch die beiden Richtungen sich kreuzen und verwirren, so wird der Blick des gesellschaftlichen Forschers doch die Gesamtlinie der Entwicklung erkennen. Sein gerechtes Urteil stellt fest, daß die harte Gewalt, die den Staat lngründet hat, dazu notwendig war, um den Volksboden für die Freiheitsmächte zu schaffen. Die politische Leidenschaft denkt niemals weiter hinaus oder zurück, sie hält sich au die Gegenwart, und vielleicht kann es nicht anders sein, wenn das Werk der Gegenwart getan werden soll. Die fortgeschrittenen Parteien der Gegenwart heben die kühneu Führer des Freiheitskampf e: s auf den Schild und wenden »ich in Spott und Zorn wider die Gewalthaber; sie tun es mit Recht, wenn die Stunde der Freiheit wirklich da ist, mit gleichem Recht haben aber damals, als das Werk der Staatengründung harte Gewalt forderte, die lösten Männer sich an den Hofen der siegenden Fürsten gesammelt, um ihnen zu dienen. Zum Teil haben sie es wohl um des äußeren Erfolges willen getan, die echten unter ihnen haben es jedoch aus t v l)erzcugung getan, in dem Bestreben, mit am Werke, am Fortschritte der Zeit zu arbeiten. Vielleicht hat der eine oder der andere sogar den Blick dafür besessen, um zu erkennen, daß der weitere Fortschritt zur Freiheit führen müsse. Volle Anerkennung gebührt aber auch schon jenen Männern, die nichts weiter im Sinne hatten, als dem Werke der Zeit genug zu tun, ohne sich erst Rechenschaft darüber zu geben, daß dieses Werk sich späterhin wandeln werde und müsse.
Gesunde Völker haben die Kraft, durch alle Wege der Entwicklung hindurch zum guten Ende zu kommen, wenn sich nur ihrer Kraft auch ein günstiges Geschick gesellt. Die schwachen und vom Schicksal verfolgten Völker bleiben auf dem Wege liegen, sie vermögen es nicht, die Gegenkraft aufzubringen, um die Übermacht der alten Gewalten zu brechen, oder dem Einbrüche starker Völker zu begegnen.
Aus dieser Betrachtung erhellt, daß die Macht, die im gesellschaftlichen Erfolge ihren Ursprung hat und mit ihm wächst, doch keineswegs ohneweiters den höchsten gesellschaftlichen Nutzen verbürgt. Tn der gesellschaftlichen Entwicklung ist das utilitarische Prinzip, das Prinzip höchsten gesellschaftlichen Nutzens nur unter gewissen [47] Bedingungen verwirklicht zu finden, die so gestellt sind, daß sie ausschließlich für die Völker höchster Kraft uud Lebenszähigkeit zutreffen und daß selbst für diese die Entwicklang erst stufenweise gelingen kann. Gesellschaftlicher Erfolg ist jeder Erfolg innerhalb der Gesellschaft, auch ein solcher, der von einer einzelnen Gruppe auf Kosten der Masse errungen wird. Das Gesetz der kleinen Zahl ruht auf dem gesellschaftlichen Erfolg kleiner Gruppen, der gesellschaftliche Erfolg kleiner Gruppen kann sich aber zu vollem gesellschaftlichen Erfolg erheben, wenn die neue Kraft, die durch die Kieme trruppe zunaenst in inrem Interesse geruiciet ist, au» inren Händen in die Verfügung der ganzen Gesellschaft hinübergeleitet wird. Erst einigt der Fürst das Volk und nützt es für sich ; sobald jedoch das Volk sich in der gesicherten Ordnung des Fürstenstaates von den Wunden erholt hat, die ihm der Kampf um die Ordnung geschlagen hatte, so schüttelt es, wenn es noch genug Auftrieb in sich hat, den unbequem und kostspielig gewordenen fürstlichen Führer ab und wendet sich in fortschreitender Entwicklung unter neuen Werkmeistern neuen Werken zu. Es wird seine Erfahrungen zu machen haben, ob es mit den neuen Führern besser fährt. Auch für die entwickeltsten Völker ist das goldene Zeitalter friedsamer allgemeiner Wohlfahrt noch ferne, das Ziel höchsten gesellschaftlichen Nutzens ist noch nirgends erreicht, und wir müssen in bangem Zweifel sein, ob sich heute schon die Linie der Entwicklung
Jeder gesellschaftliche Verband braucht und hat seine Verfassung. Jeder Staatsverhand brauchte und hatte seine Verfassung, lange bevor es Verfassungen im modernen Sinne gab, die ausführlich beraten, säuberlich gesatzt und feierlich beschworen wurden. Nicht nur der Staats verband, auch der Kirchenverband, der Heeres verband, der volkswirtschaftliche Verband und sonst jeder freie gesellschaftliche Verband bis zu den bloß geselligen Verbänden herab braucht und hat seine Verfassung, ob sie nun eine rechtlich gesatzte oder eine bloß tatsächliche Verfassung sei. Die Rechts verfass uiig ist die ausdrücklich geregelte Ordnung der Machtbefugnisse im Verbände, die tatsächliche Verfassung ist [48] die tatsächlich befolgte Ordnung — Überund Unterordnung oder auch Gleichordnung — der Mächte im Verbände, wie sie auf der gegebenen Verteilung der gesellschaftlichen Kräfte beruht. Im letzten Grunde ist die gesellschaftliche Verfassung ebenso der gegebene Zustand der Kräfte und Mächte., wie die Geistesverfassung eines Menschen der Zustand ist, in welchem sich seine geistigen Kräfte befinden. Je näher der rechtlich beschriebene Zustand dem tatsächlich gegebenen kommt, desto lebensvoller und daher wirksamer wird eine Rechtsverfassung sein. Eine noch so künstlich gesalzte Verfassung, die mit der Wirklichkeit in keinem Punkte stimmt, ist in der Tat, wie Lassalle es nennt, nur ein Stück Papier. England, das von allen europäischen Staaten die lebensvollste Verfassung besitzt, hat die formloseste von allen.
Alle Verfassungen sind nur Abwandlungen einer immer wiederkehrenden Grundform. Immer ist es ihr wesentlicher Inhalt, die Macht zwischen Führer und Masse zu teilen. Führer und Masse haben im gesellschaftlichen Leben ihre bestimmten Tätigkeiten, die zwar in ganz verschiedener Stärke wirksam werden können, aber immer beide wirken müssen. Wenn ein Verband handlungs fähig sein soll, so muß er über beide Organe verfügen. Die unmittelbare Demokratie in ihrer weitestgehenden Gestalt ist nicht lebensfähig, denn niemals kann eine große Volksraasse unmittelbar Führungsdienst vollziehen, sie braucht dazu immer ein besonderes Organ der Vertretung. Was das Zusammenwirken von Führer und Masse für den gesellschaftlichen Erfolg bedeutet, das wird heute vom Proletariat genau verstanden, indem es den Wert der Organisation erkennt. Was heißt es, sich organisieren? Es heißt nichts anderes, als daß sieh eine Masse unter Führern ordnet, die ihr Vertrauen haben. Die Führer geben der Bewegung Ziel und Plan, die Masse gibt ihr das Gewicht.
Wenn der Soziologe heute über die Erscheinung der Masse spricht, so pflegt er von der Psychologie der Masse auszugehen, wobei diese zumeist recht schlecht wegkommt. Die wissenschaftliche Betrachtung hält sich dabei gerne an die auffallendsten, an die stürmischen und ausgeartetsten Massenbewegungen und sie bleibt auch gerne im Bereich der politischen Verhältnisse, wo die Masse heute am stärksten hervortritt. Wir wollen den Ausgang unserer Untersuchung allgemeiner wählen.
Die Notwendigkeit der Führung ist keineswegs oder ist doch nicht in erster Linie durch die Unzulänglichkeit der Durchschnittsmenschen begründet, welche die Masse bilden. In einem Parlamente sind die Männer versammelt, die sieh bei den Wahlen als Führer der Massen durchgesetzt haben, und doch sind sie, wenn sie sich als Parlament [49] versammeln, selbst wieder eine Masse, die ihnFührung braucht. Nicht die Massenpsychologie, sondern die Massentechnik zwingt in erster Linie zur Führung, selbst die fähigsten Menschen, fall» sie eben in Masse beisammen sind, könnten nicht handeln, wenn nicht Führer für sie eintreten würden. Die Verständigungsmittel, die man im Einzelverkehr gebraucht, um zum Zusammenschluß und zu gemeinsamer Tat den Weg zu finden, sind in einer großen Masse nicht anwendbar. Der Vertrag ist die geeignete Form der Vereinigung zwischen zwei Personen oder einer ähnlichen geringeren Zahl, zwischen Millionen aber kann es keinen Vertrag geben. Die Denker, welche von einem Gesellschaftsvertrag oder Staatsvertrag ausgehen, haben das Wesen der Massentechnik nicht verstanden, sie sind jenem Irrtum verfallen, mit dem alles gesellschaftliche Denken beginnt, nämlich den Menschen in der Masse so zu nehmen, wie wir ihn in seinem persönlichen Leben vor uns haben. Der Mensch empfängt aus der Umgebung einer großen Masse nicht nur andere Kräfte, sondern er muß sich zu ihr auch durch andere Mittel ins Verhältnis setzen, als er im nahen Verkehr gewohnt ist.
Wenn zwei Personen einen Vertrag schließen wollen, so muß jeder von ihnen seine Absichten für sich überlegen und muß dann dem andern mitteilen, was er will. In einem Volke von Millionen ist eine allgemeine Wechselrcdc überhaupt ausgeschlossen, aber schon in einer Versamm lung von Tausenden oder nur von Hunderten dürfen nicht alle reden, wenn man überhaupt zu Ende kommen will, die große Mehrheit muß stille sitzen — wie schon der Name Sitzung besagt — und muß schweigen, während bloß die Wortführer reden. Das Zuhören bringt es leicht mit sich, daß man auch auf das selbständige Überlegen verzichtet, man
um zu den gewünschten Zielen zu gelangen. Da man aber doch nicht ganz unüberlegt handeln will, so wird zur Beratung ein Ausschuß gewählt, zu dessen Technik es unter Umständen wieder gehört, daß er einen Unterausschuß bestellt, der seinerseits das Geschäft der eingehenden Überlegung vielleicht noch auf Berichterstatter abwälzt. Die Beschlußfassung kommt endlich in der Weise zustande, daß der Berichterstatter oder auch ein Gegner einen Antrag stellt, über welchen «odann Unterausschuß, Ausschuß und Vollversammlung durch Zustimmung oder Ablehnung entscheiden. Beschlüsse, die ein ganzes Volk binden, kommen zustande, ohne daß die große Zahl der Volksvertreter mehr als ihr bloßes Ja oder Nein zu äußern braucht. Wie unüberlegt und formlos würde man einen privaten Vertrag nennen, bei [50] dem sich der eine Teil auf die bescheidene Rolle zurückziehen wollte, welche die Massentechnik der Mehrzahl der Volksvertreter zuweist!
Einen besonders lehrreichen Einblick in die Technik des Massenhandelns gibt der Fall der politischen Wahl, die ein keineswegs bo einfacher Akt ist, wie es die Wähler und leider auch die Gesetzgeber zu denken pflegen. Schon der Käme ist vollkommen irreführend, denn der Wähler wählt nicht, er wählt nämlich nicht selber aus, was doch der wesentliche Teil jeder Wahl ist, sondern er sagt nur sein Ja oder Nein zu den Namen der Bewerber, welche die Parteiführungen ausgewählt haben. Der Wähler wählt die Partei, der er seine Stimme geben will, und dort, wo ihm, wie es so oft der Fall ist, seine Parteistellung von vornherein durch sein Interesse angewiesen wird, wählt er überhaupt nicht, sondern er beschränkt sich darauf, durch die Abgabe des Stimmzettels ein Bekenntnis zu seiner Partei abzulegen. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der vom Volke gewählt werden soll, damit er dem Kongreß gegenüber möglichste Autorität besitze, wird im wahren Sinn doch nicht vom Volke gewählt, und da« kann massentechnisch gar nicht anders sein. Die Vereinigten Staaten würden rüemals mit der Wahl des Präsidenten fertig, wenn alle Millionen Wähler des Volkes ihren Präsidenten in dem Sinne wählen wollten, wie ein Bräutigam seine Braut wählt. Die eigentliche Wahl, nämlich die Auswahl aus der Zahl der Bewerber, wird in Konventionen der großen Parteien vollzogen — kleinere Parteien haben überhaupt nicht mitzusprechen — und da geben wieder die engeren Kreise der einflußreichsten Männer den Ausschlag, welche die Konvention leiten. Der Akt, der sich am öffentlichen Wahltag vollzieht, ist das bloße Parteibekenntnis und als solches freilich entscheidend, weil dadurch das Gewicht der Stimmen abgemessen wird, die sich auf die Parteien verteilen. Diesem entscheidenden Akte muß aber die Auslese des Bewerbers vorausgehen, auf welchen die Wähler ihre Stimmen zu vereinigen haben, die sich zur Partei bekennen, und diese Auslese kann nur im engen Kreise der Führer vollzogen werden.
Wie für die Wahl fordert die Massentechnik für alles gesellschaftliche Handeln, welches immer es sei, durchaus den Führer. Die Führung hat ihren Ursprung nicht — oder nicht in erster Linie — in der Trägheit oder Interesselosigkeit der großen Masse, so sehr diese auch in gewissen Fällen dazu beitragen mag, sondern sie ist unabweisbar durch die Technik des Massenverkehros gefordert. Aus einem Haufen bewaffneter und tapferer Männer wird erst dann eine brauchbare Kampftruppe, wenn sich die Leute unter Führung gestellt haben. Die Technik des Kampfes fordert durchaus die gebietende Person des Führers, so wie [51] die alte Stoßtaktik die Fahne forderte, dir beim Sturme vorangetragen wurde. Ebenso fordert jedes gesellschaftliche Handeln den Führer an der Spitze.
Der Sprachgebrauch liebt es, den Namen des Führers für die großen Männer der Geschichte vorzubehalten. Theoretisch brauchen wir indessen einen Namen für die Führeretellung, wie immer sie ausgefüllt sein mag, was selbstverständlich nicht sagen will, daß es theoretisch gleichgültig sei, wie sie ausgefüllt werde; theoretisch muß daher der Name allen Personen zugeteilt werden, die leitend über der Masse stehen. Jeder Anführer ins Gute oder ins Schlimme muß uns als Führer gelten, selbst ein zerstörender Attila oder ein Verfallsmeister ; auch dürfen wir den Namen nicht auf die militärischen oder politischen Führer, auf die Fürsten, Heerführer, Staatsmänner, Parteiführer beschränken, sondern er gilt ebenso für die religiösen Führer und die Führer in Kunst und Wissenschaft und überhaupt für alle, die auf irgend einem Gebiete gesellschaftlichen Wirkens, wenn auch vielleicht nur in einem engeren Kreise, als Lehrer, Meister, Pioniere, Vorkämpfer, Vorarbeiter vorangehen. Der Führer wirkt nicht nur durch das Mittel des strengen Befehles, der Weisung oder Anordnung, sondern er kann auch durch den Vorschlag oder Antrag wirken, der in der Masse Zustimmung findet, oder durch das Urteil, da« er fällt, oder durch die Lehre, die ihm Schüler oder Jünger gewinnt, oder durch den Rat, den man befolgt, oder durch das erfolgreiche Beispiel, das man nachahmt, oder sonst in irgend einer Weise durch vorbildliches Schaffen, sei es zunächst auch nur ein vorahnendes Fühlen und Streben. In diesem theoretischen Sinn Führer sein, heißt nichts anderes als in Sachen eines gemeinen Wesens der Erste sein. Die geschäftliche Funktion des Führers ist Vorangehen, die der Masse ist Nachfolge. Hundertc oder Tausende oder gar Millionen können sich zu einer einheitlichen Bewegung nicht anders zusammenfinden, als wenn sie durch das Beispiel des Erfolges geleitet werden, der in der Person des Führers anschaulieh wird.
Die höchste Form der Führung ist diejenige, bei welcher der Führer durch die überragende Kraft berufen ist, die er an seinem hohen Werke entfaltet. Wir werden sie die autoritäre Führung, und einen solchen Führer den großen Führer nennen, wir könnten ihn vielleicht auch den [52] geborenen Führer nennen. Der große Führer ist der persönliche Führer im eigentlichsten Sinne des Wortes, er leitet sein Amt von niemand anderm ab, er ist durchaus Führer aus eigenem Rechte, der Erfolg hat ihn als den Besten bewährt, sein Titel ist der der reinsten geschichtlichen Auslese. Wenn ihn der öffentliche Ruf bezeichnet, so wird ihm damit nicht erst sein Amt verliehen, sondern er wird eben als der durch den Erfolg Bestbewährte anerkannt, dem die andern bereitwillig folgen, wenn er vorangeht. Mitunter setzt sich der große Führer sofort und unter allgemeiner begeisterter Zustimmung durch, falls er, wie der siegreiche Feldherr, den auffälligen hinreißenden Erfolg für sich hat. Mitunter begegnet er, weil er Einkehr und Umkehr im Tiefsten des menschlichen Wesens fordert, leidenschaftlicher Ablehnung, und seine Lelire ringt sieh vielleicht erst durch, wenn er durch seinen Tod Zeugnis für sie abgelegt hat. Wie der Leichnam des Cid Campeador den Reihen der Seinigen im Kampfe vorangetragen wurde, so kann es kommen, daß der Gedanke des großen geistigen Führers noch in ferne Zukunft hinein schützend und erhebend die Seelen leitet.
Wir begegnen dem großen Führer, der die Gemüter durch das übermenschliche Auamaß seines Werkes überwältigt, im Laufe der Geschichte, alles in allem, nur selten. Trotzdem ist seine Gestalt am besten dazu geeignet, uns das Wesen der Führung zu eröffnen, denn sein Fall ist der Idealfall, der dieses Wesen am reinsten und am deutlichsten zeigt. An ihm werden wir der Funktion des Vorangehens und der Auslese durch den Erfolg am klarsten inne; in den andern Formen der Führung, die für die übergroße Zahl der Fälle der Wirklichkeit gelten, werden die beiden Elemente mehr oder weniger verdunkelt.
So geschieht dies vor allem bei der Form der Gewaltführung, die in den Anfängen der Geschichte am stärksten hervortritt. Der siegende Gewalthaber, der den Gegner niederwirft und beraubt, ist „der Erste“ in der Menge, seine Überlegenheit ist offenbar, doch kann man sein Tun kaum als Vorangehen bezeichnen, das Nachfolge erzeugen soll. Der Gewalthaber will die unterworfene Masse nicht vorwärtsbringen, er will sie eher zurückhalten, um ihre Kraft des Widerstandes zu schwächen, auch ist der Sieg der Gewalt, durch den er auf die Gemüter wirkt, eine so rohe Form der Auslese, daß man ihr diesen auszeichnenden Namen kaum zugestehen will. Ansätze wahrer Führung sind erst zu bemerken, wenn der Gewalthaber die Masse sammelt, um sie für sich kämpfen und arbeiten zu lassen. Wenn sich damit die Gewaltführung zur Herren führung entwickelt, so wird die Funktion des Vorangehen» bereit» wirksamer erfüllt; die Befolgung der Gebote, die der Herr von den [53] Untergebenen fordert, ist schon echte Nachfolge. Der Gewalthaber, der sich als ordnender Herr behaupten will, ist auch nicht mehr durch bloße Gewalt ausgelesen, sondern muß zugleich durch gewisse Kulturvorzüge hervorgehoben sein. Die Höhe der Herrenführung ist die herrschaftliche Führung, wie sie das europäische Fürstentum vom Mittelalter her bis zum aufgeklärten Absolutismus übte. Die herrschaftliche Führung hat vom Zwange der Gewaltführung nur noch so viel übrig behalten, daß sie den Nachdruck zu steigern vermochte, mit dpm die innere Autorität wirkte, welche sie durch den Erfolg ihres weitblickenden Vorangehens gewann. Sie ist eine der wirksamsten Führungen im ganzen Lauf der Geschichte gewesen.
In kleineren gesellschaftlichen Kreisen, wie z. B. in der Zunft, gilt vom Anfang an die genossenschaftliche Bestellung des Führers, der duich Wahl berufen wird. In einem engeren Kreise von Genossen, die sich wechselseitig kennen, ist diese Form natürlich gegeben. Selbstverständlich ist die rechte Wahl immer auch Auslese der geeignetsten Person, der Genosse, den man in der Form der Wahl beruft, muß schon vorher durch die Auslese des Erfolges emporgehoben sein ; freilich wird es sich kaum vermeiden lassen, daß der Ausgang der Wahl durch die Interessen und Beziehungen der Mächtigen des Kreises mitbeeinflußt wird. Der Grad der Autorität, den der gewählte Führer gegenüber seinen wählenden Genossen behauptet, wird in aller Regel weit geringer sein als beim autoritären Führer. Der gewählte Führer wird gegen die öffentliche Meinung seines Wahlkreises nicht leicht aufkommen können, in aller Kegel wird er durch sie gebunden sein, immerhin muß er wenigstens in den Einzelheiten der Durchführung voran gehen, sonst würde er seine Geltung bald verwirkt haben. Auch in größeren Kreisen und insbesondere im staatlichen Gemeinwesen ist mit zunehmender Freiheit die genossenschaftliche Bestellung des Führers mehr und mehr üblich geworden; die Wahl der Volksvertreter und der Volksbeauftragten in der Demokratie ist nichts anderes als die genossenschaftliche Führerbestellung im großen. Freilieh ist auf ein großes Volk die Form der genossenschaftlichen Führung nicht so rein zu übertragen, wie man heute zu denken liebt. Ohne Vorschlag von berufener Seite müßte sich die Wahl aus einer großen Masse heraus immer zersplittern. Die Wahl ist ja — wir haben dies eben gezeigt — ein gesellschaftliches , Handeln, das, wie jedes andere gesellschaftliche Handeln, der Führung bedarf. Es ist ein grober Irrtum, zu meinen, daß der Wahltag der Gerichtstag ist, an welchem das freie Volk von der Höhe seiner Souveränität sein Urteil über die Führer spricht. Die Parteimassen [54] empfangen die Losungen, mit denen sie zur Wahl gehen, immer von ihren Führern, und die Führer wissen es sehr gut, daß der Ausgang der Wahl zu einem guten Teil davon abhängt, welche Führung die Wahl zu leiten oder, wie man mit einem bezeichnenden Ausdruck sagt, zu „machen“ hat. Auf diesem Instrument der Massentechnik zu spielen, ist nicht so leicht, wie es in seinem gläubigen Sinne der einfache Mann annimmt, als welchen sich, wie man leider hinzufügen muß, in politischen Dingen in aller Regel auch der gebildete Mann erweist. Das Instrument der Wahl muß auf das kunstvollste ausgebildet sein, wenn die aus der Wahlurne gezogenen Lose wirklich die Beaten des Volkes bezeichnen sollen, und nicht bloß das Instrument muß auf das kunstvollste ausgebildet sein, sondern, was viel wichtiger ist, auch die Spieler müssen es sein, die es zu bemeistern haben. Damit die Führerbestellung durch die Wahl das Ziel wirklich erreiche, die Besten des Volkes auszulesen, muß bereits eine geschichtliche Auslese der alten Führungen vorausgegangen sein. In keiner der jungen Demokratien ist diese Voraussetzung erfüllt.
Bei längerer Dauer und unter zutreffenden Umständen wandelt sich die persönlich-autoritäre und auch die genossenschaftliche Fühning znr geschichtlichen Führung. Da sieh diese erst im Zusammenhange des geschichtlichen Werkes der Macht verstehen läßt, so müssen wir uns ihre Darstellung bis dahin vorbehalten.
Es gibt noch eine Form der Führerschaft, die von der Theorie so gut wie gar nicht beachtet wird und die doch von höchster Wirksamkeit und für das Gedeihen der Gesellschaft geradezu unentbehrlich ist. Es ist dies jene Form, die sich in der freien Gesellschaft durchsetzt. Oder sollte die freie Gesellschaft ihre gewaltigen Leistungen ohne Führer vollenden können? Konnte ohne Führung der Aufbau der freien Volkswirtschaft, die Bildung der Arbeitsteilung und Geldwirtschaft gelungen sein ? Und könnte weiters das Wunderwerk der Sprache, könnte Kunst und Wissenschaft, könnte Recht und Sittlichkeit, könnte auch nur die äußere Sitte sich ohne Führung entwickelt haben ? Allerdings sind im Bereiche der freien Gesellschaft niemals Gesamtentscheidungen zu treffen, die eine zusammenfassende Einheiteführung fordern, wie die Entscheidungen in Heer und Staat es tun, die Führung in der freien Gesellschaft muß freier, muß lockerer sein, aber fehlen darf sie doch nicht, weil sie nirgends fehlen darf, wo die Masse gesellschaftlich zu handeln hat, wozu sie ohne Führung schlechterdings unfähig ist. Daß die Aufgaben, die in der freien Gesellschaft zu erfüllen sind, ein gesellschaftliches Handeln fordern, kann nicht bezweifelt werden. Die [55] ungezählten Individuen, die sich in ihrer äußeren Sitte treffen, müssen, damit sie sich treffen können, ein gleichartiges oder — um den Ausdruck zu wiederholen, den wir schon an einer früheren Stelle gebraucht haben — ein paralleles Verhalten befolgen, für die Arbeitsteilung zwischen Land Wirtschaft und Gewerbe oder zwischen den einzelnen Gewerben ist ein ergänzendes Verhalten der einzelnen Wirtschaften gefordert, und ähnlich gilt es in Kunst und Wissenschaft, in Recht und Sittlichkeit. Auch ein solches gleichartig-paralleles oder ergänzendes Verhalten fordert die Verständigung unter den Millionen, und diese Verständigung kann ohne Führung nicht gelingen. Es ist hier eine ganz eigenartige „unpersönliche“ Führung am Werk, deren wissenschaftliche Aufhellung um vieles schwieriger ist als die der klar persönlichen Führung. Das Beispiel der Sprache, bei deren Aufbau beide Formen der Führung vereinigt wirken, gibt uns vielleicht die beste Gelegenheit, diese in ihrer Wirkung gegeneinander zu vergleichen.
Am Aufbau jeder Kultursprache waren große geistige Führer beteiligt, sprachgcwaltige Führer, Meister, deren Wort in alle Weiten des Volkes drang; Dantes „Göttliche Komödie“ hat die italienische Schriftsprache und Luthers Bibelübersetzung hat die deutsche Schriftsprache entscheidend mitbestimmt. Es ist indes klar, daß selbst die Kraft der sprachgewaltigsten Dichter und Propheten nicht für sich allein die nationalen Sprachen ausgebildet hat, ihr Werk setzt Bchon eine Volkssprache voraus, und auch nachdem sie ihr Werk getan haben, entwickeln sich die nationalen Sprachen weiter. Neben den großen Propheten, vor ihnen und nach ihnen, werden wir auch kleinerer und kleinster Propheten gewahr, die am Aufbau der Sprache mitführend beteiligt sind, der nüchterne Kanzleistil hat auch sein Teil daran gehabt, so wie das Geschäftsleben und die Gasse. Wie oft wird nicht der Sprachschatz durch irgend eine glänzende, witzige oder auch derbe, aber treffende Wendung bereichert, die dem Einfall deB AugenbÜcks ihren Ursprung verdankt, indem sie irgend einem Mann aus dem Volke gelingt und aus dem Kreise der wenigen nächsten Hörer nach und nach in aller Mund übergeht! Diese Kleinarbeit im Aufbau der Sprache ist unausgesetzt im Gang, ohne daß die Namen derer aufbewahrt würden, die hiebei als Führer wirken. Neben den großen bekannten und benannten Führern, deren Namen die Geschichte vermerkt, sind wechselnde Führer mitbeteiligt, jeder für sich nur mit einer kleinsten Leistung, aber alle zusammen mit einer kaum abzuschätzenden Größe an Wirkung; wir können sie im Gegensatze zu den Gestalten der benannten Führung als anon y ine Führer bezeichnen, weil ihre Namen in die große öffentlichkeit [56] nicht hinausdringen. So wie den großen Führern folgt aueh diesen kleinen, anonymen Führern die Menge nach, indem sie die von ihnen gefundenen glücklichen Worte und Wendungen begierig aufsammelt und dem Sprachgebrauch einverleibt. Das „Volkslied“, dessen Verfasser unbekannt bleibt, gibt uns deutlichen Aufschluß darüber, wie auch der anonyme Führer die Nachfolge der Masse am Werke der Sprachbereicherung gewinnt. Das Volk als solches dichtet nicht, es kann kein Lied schaffen, nur der einzelne, dazu Begabte kann es, aber auch der oder jener einzelne, dem es an ausreichender Begabung fehlt, um den Namen des Dichters zu verdienen, kann einmal in einer guten Stunde einen guten Ton treffen. Ohne daß sein Name bekannt wird oder erhalten bleibt, greift das Volk das Lied auf, das ihm gefällt, und bewahrt es, seinen Sprachbesitz mehrend, der Zukunft auf.
Ganz so haben anonyme Führer ihren Anteil an der Schöpfung des Geldes. In dem Verlangen, sich im Tausche, den sie um ihres Nutzens willen aufsuchen, besser zu behclfen, als es in der schwerfälligen Form des Naturaltausches sein kann, haben findige Köpfe nach einem bequemeren Tauschmittel gesucht, und indem der Erfolg, den sie im einzelnen und kleinen gewannen, die Menge zur Nachahmung lockte, wurde nach und nach die glatte Gestalt des Gelde« herausgeschliffen, das durch die Masseneewohnheit der Annahme zum allgemeinen Tauschmittel geworden ist und sodann vom Staate technisch und rechtlich vollendet wurde.
Selbstverständlich ist auch die anonyme Führung im Grunde persönlich, nur daß sieh die Personen der Führer ablösen. Es ist eine wechselnde und verteilte Fülirung, indem bald der eine, bald der andere den guten Einfall hat, der nachgeahmt wird. Der anonyme Führer schafft ja auch nicht eine große Sache, seine Leistung beschränkt sich auf ein einzelnes Element, auf eine Verbesserung da oder dort. Darum ist es zu verstehen, daß seine Person vernachlässigt wird. Sein Werk findet verbreitete Nachfolge, sein Werk wird ausgelesen, ohne daß es zu einer Auslese der Person käme, die im Dunkeln bleibt.
In der Sphäre des privaten Lebens herrscht die anonyme Führung vor. Sie paßt sich den hier bestehenden kleineren Verhältnissen gut an und reicht doch dazu aus, um zu jener Nachahmung des vorbildlichen Beispiels anzuregen, die ein paralleles oder ergänzendes Verhalten in weiteren Kreisen ermöglicht. Wo indes in der privaten Sphäre größere gesellschaftliche Einheiten zur Geltung kommen, treffen wir auch in ihr die ausgesprochene persönliche Führung an. Jeder wirtschaftliche Betrieb bedarf der festen persönlichen Führung, in einem ausgedehnten [57] Großbetriebe von Hunderten oder Tausenden von Angestellten und Arbeitern tritt die Person des Führers stark hervor. Der Großunternehmer muß eine volle Persönlichkeit sein, um seine Erfolge zu gewinnen, manche von den modernen Großunternehmern zählen mit in die erste Reihe der gesellschaftlichen Führer; an ihren Entscheidungen hängt nicht nur das Schicksal der in ihren Betrieben unmittelbar beschäftigten Massen, sondern durch die Anstöße, die sie geben, wirken sie auch auf die Richtung und das Tempo der ganzen wirtschaftlichen Entwicklung und vielleicht der politischen Entwicklung ihres Landes ein, und selbst Weltwirkungen gehen von ihnen aus. Rechtlich ist die Führungsmacht des Unternehmers auf hloße private Wirkung eingeschränkt, er kann die Personen, mit denen er es zu tun hat, die Lieferanten, Abnehmer, Angestellten und Arbeiter nur durch Verträge binden, bei deren Abschluß sie ihm mit gleicher Rechtsfähigkeit, gegenüberstehen. Er hat rechtlich keine Befehlsgewalt über sie. Tatsächlich jedoch ist eine überwiegende, mitunter eine ganz überwältigende Macht in seine Hand gegeben, tatsächlich hat er Zwangsmacht, ja Zwangsgewalt, und zwar nicht nur jenen Personen gegenüber, mit denen er Verträge abschließt, sondern auch gegenüber der vielleicht weit größeren Zahl derjenigen, die er, ohne mit ihnen persönlich zusammenzutreffen, vom Markte verdrängt oder sonst, sei es unmittelbar oder mittelbar, in ihren wirtschaftlichen Ixjberisbedingungen schädigt. Seine Macht ist so groß, daß sie es ihm erlauben würde, überall, wo er sie hemmungslos ausüben kann, als Herrenführer, ja als Gewaltführer der öffentlichen Wirtschaft Zwang anzutun, wie zu seiner Zeit ein waffenmächtiger Ritter mit seinen Reisigen von seiner festen Burg aus. Sogar unter den Hemmungen, die der staatliche Arbeiterschutz und die Gewerkschaft ihnen bereiten, sind die kapitalistischen Unternehmungen großen Stils und gar die Konzerne dieser Unternehmungen imstande, in der Form privaten Rechtes öffentliche Macht zu üben. Dazu trägt nicht wenig die ungewöhnliche Stärke der Persönlichkeiten bei, die unter dem Auftrieb eines bis aufs äußerste gespannten Wettbewerbes zu ihrer Führung ausgelesen werden. In den Ruhepausen der industriellen Entwicklung, wie sie von Zeit zu Zeit auch in unserer bewegten Gegenwart nicht ausbleiben, erhält man zwar den Eindruck, daß der einmal reich gewordene Industriekönig oder Finanzmagnat mit dem Übergewicht seines Kapitalea den Wettbewerb auch der stärksten persönlichen Begabung niederhalten könne, und daß er in der Lage sein werde, die Stellung, die er selbst aus dem Titel der persönlichen Auslese gewonnen hat, auf Söhne und Enkel aus dem Titel des Erbrechtes weiter zu übertragen. Wenn aber nach [58] solchen Pausen die Entwicklung in Volkswirtschaft und Weltwirtschaft ihren atemlosen Lauf wiederum aufnimmt, dann werden wiederum die Männer der starken Hirne und Nerven als die Sieger im Wettbewerb der Führer in die Höhe kommen. Eine reiche Zahl der amerikanischen Riesenbetriebe von heute ist im Besitze von Männern, die von der Pike auf gedient haben.
Die von uns beschriebenen Formen der Führung werden dem Reichtum der Wirklichkeit noch nicht ganz gerecht. Wir haben nur die Typen in ihrer reinen Gestalt beschrieben, die Formen der Wirklichkeit sind um vieles bunter gemischt. Wie sich die geistige Verfassung eines Menschen nicht restlos auf die reinen Formen zurückführen läßt, welche dir wissenschaftliche Deutung zu zeichnen versucht, so gilt dies auch für die gesellschaftliche Verfassung. Auch die Satzungen der geschriebenen Verfassungen sind der Wirklichkeit nicht voll auf den Leib geschrieben, auch sie enthalten noch allerlei typische Wendungen, die ihren wahren Wert, erst durch die Art und Weise empfangen, wie sie durch die Kräfte und Mächte ausgefüllt werden, welche tatsächlich im Staate gegeben sind. Die gleiche demokratische Formel bedeutet für England vermöge seiner besseren Kräfteverteilung eine starke Regierungsmacht, für Deutschland nach dem Umsturz Zerrissenheit und Ohnmacht, für das bolschewistische Rußland die Herrschaft des Schrekkens.
Um ihres Erfolges aicher zu sein, fordert die Führung die Unterstützung des obersten Führers durch untergeordnete Helfer. Im Heere oder im Staate oder in der Kirche ist es eine förmliche Hierarchie der Führung, die eingerichtet werden muß, um den Dienst der Leitung der Massen zu besorgen. Der oberste Führer wird immer darauf bedacht sein, sich seine Gehilfen und namentlich seine nächsten Gehilfen selbst auszuwählen. Die Apostel konnten nur von Christus mit voller Autorität eingesetzt werden, und ebenso konnten ihre Jünger wieder nur von ihnen selbst berufen werden. Was der Gehilfe für den Führer bedeutet, hat einer der erfolgreichsten wirtschaftlichen Führer in den Vereinigten Staaten, Carnegie, treffend ausgesprochen, indem er sagte, daß, wenn er die Wahl hätte, ob er lieber sein Kapital oder seine Mitarbeiter verlieren wollte, er sich ohne Bedenken für den Verlust des Kapitales entscheiden würde, denn er sei gewiß, sein Kapital wieder zu gewinnen, falls er den Stab seiner Mitarbeiter behielte. Die fürstliche Politik hat im klaren Machtinteresse darnach getrachtet, möglichst alle Stellen in [59] der Hierarchie der Führung nicht nur im Staate selbst, sondern auch in der Kirche, in den Gemeinden oder wo es sonst nur anging, durch fürstliche Ernennung zu besetzen, oder wo dies, wie bei den geistigen Führungen, nicht recht anging, durch Verleihung von Ehren und Titeln und ähnliche Mittel Einfluß auf die Führerpersonen zu gewinnen. Die Demokratie strebt ihrerseits darnach, mit den obersten Führungen auch die Unterführungen möglichst durch Wahl zu besetzen. Die Parteien, die in der Demokratie so viel zu sagen haben, wissen ihre Macht gesteigert, wenn ihnen der Wahlsieg nicht nur Volksvertretung und oberste Regierung, sondern unmittelbar oder mittelbar auch noch weitere Ämter des Staates für ihre Angehörigen eröffnet. Außerdem suchen . sie durch ihre Vereinsorganisation auch im übrigen der Gesellschaft die Führung möglichst in ihre Hand zn bekommen.
Die Unterführer bilden den Übergang vom obersten Führer zur Masse. Der Masse gegenüber zählen sie mit zur Führung, indem Rie die Tätigkeit des obersten Führers unterstützen; dem obersten Führer gegenüber zählen sie mit zur Masse, indem sie seinen Weisungen nachfolgen. Sie sind die Ersten in der Nachfolge und vermitteln dadurch die Nachfolge der breiten Masse, daß sie mit ihr nähere Fühlung haben als der entfernte leitende Führer. Die Führer des untersten Ranges haben viel vom eigentlichen Massengefühl, sie stehen der Masse so nahe, wie etwa der Unteroffizier der Mannschaft. Die Werkführer, die Vorarbeiter in der Fabrik sind technisch Gehilfen der Betriebsführung, ihr Klassengefühl verbindet sie aber häufig mit der Arbeiterschaft, der sie dann als Führer im wirtschaftlichen Kampfe vorangehen.
Neben den einzelnen Führerpersonen müssen wir auch noch auf die Erscheinung der Führerschiohten aufmerksam sein, wie sie uns im Führervolk, im Führerstand, in der Führerklasse begegnet. Das römische Volk war ein Führervolk, Adel und Geistlichkeit waren Führerstände, die Schicht der Besitzenden und Gebildeten ist eine Führerklassc. Ein rohes Führervolk, das sich durch bloße Gewalt seine Herrschaft gewinnt, wird sich kaum lange an der Herrschaft behaupten können und wird es im besten Falle über eine barbarische Herrschaft nicht hinausbringen, die der Entwicklung nicht fähig ist, das Reich eines Edelvolkes dagegen wird, wenn ihm nicht besonderes Unheil widerfährt, dauern und gedeihen. Die Führervölker edlen Blutes sind die Träger aller großen Geschichte gewesen, die Führerstände und Führerklassen [60] der späteren Entwicklung stammen zum guten Teil aus dem Blute der Führervölker. Aus den Führerschichten werden nicht nur die obersten Führungen ausgelesen, sondern ihnen ist auch die Macht und oft auch das Recht vorbehalten, alle andern staatlichen und gesellschaftlichen Führerstellungen zu besetzen, mit denen ein ausgiebigerer Einfluß und Vorteil verbunden ist. So hatte %, B. die Klasse der Besitzenden und Gebildeten vor dem Aufstieg des Proletariates die Anwartschaft auf die Stellen im Staatsdienst, denen wichtigere Entscheidungen zustehen, und ehenso auf den Antritt der freien Berufe und namentlich auch auf den Antritt der wichtigen Führerstelle des Unternehmers. Nur den stärksten und vom Glück besonders begünstigten Angehörigen der untern Schichten mag es gelingen, sich in die Führerschicht und zu den ihr vorbehaltenen Stellen mitzuerheben. Es wird von den befähigten Köpfen der besitzlosen Massen oder der unterworfenen Völker als schmerzhafte persönliche Zurücksetzung und zugleich als öffentliches Ühel empfunden, daß die bevorzugten und verantwortungsvollen Führerstellen nicht nach Maß der persönlichen Begabung verteilt, sondern für die führenden Schichten vorbehalten sind, die damit selbst für ihre kenntnislosen und charakterlosen Mitglieder die gewünschte Versorgung finden. Es hängt indes ganz von den gegebenen Verhältnissen ab, ob die persönliche Ungerechtigkeit des Systems nicht durch den gesellschaftlichen Dienst gutgemacht wird, welchen die Führerschicht als Ganzes kraft ihrer Rasse, ihrer geschichtlichen Auslese und Erziehung leistet.
3is zu einem gewissen und mitunter sehr hohen Grade deckt und erhebt die starke Rasse und Klasse auch das schwache Individuum, während umgekehrt die schwache Rasse und Klasse auch das starke Individuum drückt. Solange das Volk der Quiriten auf seiner Höhe stand, war in Rom der rohe Barbar, so reich er von der Natur ausgestattet sein mochte, für jedes Amt ungeeignet; im modernen Staate kann der Ungebildete schon die Formansprüche nicht erfüllen, die jedes Amt stellt. Auch kommt es immer darauf an. inwieweit die Führerschicht selber in sich auf persönliche Auslese bedacht ist. Eine Führerschicht kann ihre Höhe immer nur solange voll behaupten, als sie daran festhält, ihre starken Individuen voranzustellen, und der Erfolg könnte sie gar nicht auf ihre stolze Höhe emporgehoben haben, wenn sie an starken Individuen nicht reich wäre. Wenn sie klug ist, wird die Führerechicht selber die besonderen Begabungen, die von unten emporstreben, in ihre Reihen aufnehmen; die Kirche hat es in ihren guten Zeiten so geübt, auch die aufgeklärten fürstliehen Rpgierungen haben darauf [61] gesehen, sei tat der Adel hat es mitunter getan, und die gebildete Klasse ergänzt sich automatisch aus den Talenten, denen der Aufstieg von unten gelingt. Sobald die Führerechicht ihre Überlegenheit von Blut und Erfahrung verliert, und doch ihre gesellschaftliche Stellung unter Berufung aid ihr angestammtes wohlerworbenes Recht weiter behaupten will, dann wird auf die Dauer die aufsteigende Bewegung der unteren Schichten durchdringen. Wo aber diesen die Kraft dazu fehlt, ist es mit dem Volke zu Ende, weil Führer und Masse in gleicher Weise versagen.
Auf Seite der Masse scheinen die Dinge einfacher zu liegen, indes auch hier begegnet dem aufmerksamen Beobachter eine größere Zahl von Formen, als er zunächst annehmen möchte. In den einfachsten Fällen bleibt die Nachfolge bei der bloßen Nachahmung stehen: das vorbildliche Beispiel des anonymen Führers wird von seiner Umgebung und sodann auch im weitem Kreise nachgeahmt. Das Werk des großen Führers dagegen ist zu gewaltig, als daß der gewöhnliche Mensch es nachahmen könnte, er versucht es gar nicht. Die Nachfolge Christi will nicht die Nachahmung Christi sein, sie bescheidet sich damit, die Befolgung jener Gebote zu sein, die der Stifter der Religion der schwachen Menschenkraft für angemessen erachtet hat. Der Dutzendmensch, der die Gebärde des bedeutenden Mannes annimmt, macht sich lächerlich. Selbst die Befolgung der bloßen Massengebote ist für die Kraft gar vieler zu schwer. Auf dem Grunde jeder Gesellschaft liegt der Bodensatz einer toten Masse, die der Schutt der Geschichte ist; der toten Masse zunächst steht die fast passive Schicht der Masse, die nur zu einer blinden Nachfolge geeignet ist, und die eigentlich mehr der nächsten Umgebung als dem Führer folgt, bis zu dessen Höhe ihre Fühlung gar nicht reicht; sie bildet den Ballast bei den Bewegungen der Gesellschaft und ist eine besondero Gefahr, weil sie jede Bewegung ias Sinnlose übertreibt und immer zum Umkippen hinneigt. Erst die überlegende, prüfende Nachfolge ist wahre Nachfolge. Sie ist l>ei weitem nicht so verbreitet, wie der stürmische Demokrat annimmt, der vermeint, das ganze Volk teile seinen Eifer, ein Irrtum, der an den vielen Fehlschlägen der demokratischen Bewegung die Hauptschuld trägt. Die höchste Stufe der Nachfolge ist die tätige Nachfolge, die von der Masse eine gewisse Selbständigkeit des Verhaltens fordert, mit Her Fähigkeit, sich den gegebenen Umständen anzupassen. Ernster Wille, unverdrossene Bemühung müssen aufgeboten werden, um selbst [62] den tüchtigen Mann zur tätigen Nachfolge auszubilden. Der geschulte und erprobte Soldat von der Art der Veteranen Casare oder der alten Garde Napoleons vollzieht eine hervorragende Leistung, wenn er dem Befehle des Führers gehorcht. Seine tätige Nachfolge ist, schon körperlich genommen, eine ungewöhnliche Leistung, sie ist es aber ebenso geistig wie moralisch. Aus der Deckung des Schützengrabens aufspringen und dem Fülirer ins feindliche Feuer folgen, ist ein Willensakt, welcher einen ganzen Mann voraussetzt und der Masse vielleicht nur gelingt, weil sie und wenn sie untereinander die Fühlung hat, daß jeder es von den andern so fordere und daß keiner zurückbleiben dürfe, ohne vor den Kameraden aufs tiefste beschämt zu sein. Jede wahrhaft tätige Nachfolge der Masse muß geistig und moralisch getragen sein — wie könnte sonst im Volke Empfindung für Recht und Sittlichkeit, wie könnte wahre Eildung, wie könnte starkes Freiheitsgefühl bestehen!
Wir haben die gesellschaftliche Funktion des Führers im Vorangehen uud die der Masse in der Nachfolge erkannt. Diese allgemeine Erkenntnis bedarf noch der näheren Bestimmung.
Die Geeellschaftslehre, wie sie bis heute ausgebildet ist, hat die Funktionen, die von Fülirer und Masse in der Gesellschaft erfüllt werden, nur ganz unzulänglich gewürdigt, sind doch selbst die Erscheinungen von Führer und Masse nur recht unzulänglich erfaßt worden. Man kann sagen, daß sie alles in allem nui in ihren auffälligsten Gestalten und nicht in ihrem Wesen erfaßt sind. Die Lehre von der Massenpsychologie handelt in der Hauptsache von den kriminellen, von den pathologischen und insbesondere von den revolutionär erregten Massen, die zum ersten Bewußtsein ihrer Macht kommen, aber ihrer Macht noch nicht sicher sind. Diese Masse nzustände, che zum Teil geradezu krankhaft und auf alle Fälle nicht normal sind, beobachtet die Lehre von der Massenpsychologie auf das glücklichste, aber über die Funktion der gesunden Masse in der Gesellschaft sind wir dadurch doch nicht belehrt. Was die Führer betrifft, so sind es in aller Regel nur die ganz großen Gestalten, auf die man aufmerksam ist. Carlyle spricht von den Heroen, Emerson von den repräsentativen Männern, Nietzsche vom Übermenschen, Spencer vom großen Mann. Mehr noch als die andern gesellschaftlichen Denker, die sich mit dem Verhältnisse des Führers zur Masse beschäftigt haben, sind Nietzsche und Spencer voreingenommen an ihre Untersuchungen gegangen, die eigentlich nicht Untersuchungen, sondern Plaidoyers sind. [63] bei Nietzsche zum Preise des Übermenschen, bei Spencer zur Wahrung der Massenfreiheit. Wie Nietzsche die Gestalt des Übermenschen idealisierend steigert, so denkt Spencer bei allen Vorbehalten, die er macht, das Volk doch im Zustand gesteigerter Reife. In Wirklichkeit sind Führer und Masse zumeist mit viel bescheideneren Kräften ausgestattet, als Nietzsche und Spencer voraussetzen, und ihre Leistung ist daher um vieles eingeschränkter. Nietzsche und Spencer sind bei jener idealisierenden Darstellung stehen geblieben, die eine unentbehrliche Hilfe der geisteswissenschaftlichen Forschung ist, weil sie den Weg zu den schwerer zu deutenden, zusammengesetzten der Wirklichkeit weist, diesen Wege selber sind sie aber nicht mehr gegangen. An ihre Darstellung anschließend, werden wir versuchen, ihn zu gehen.
Nietzsche sieht im großen Menschen den Träger des wahren Lebens. Die vom Herdentrieb geleitete Masse ist ihm nur der Stoff, aus dem «lieser seine Werke formt. Der große Mann braucht die Masse als seinen Gegensatz, als seine Gefahr, seinen Kriegszustand, ohne den er seinen Hang nicht behaupten, die notwendige Distanz nicht wahrnehmen kann. Spencer dagegen belehrt uns, daß die „Große-Mann-Theorie“ höchstens eine teilweise Wahrheit besitze, wenn man sie nämlich auf frühere Gesellschaften beschränkt, die darauf ausgehen, einander zu vernichten oder zu unterjochen, in welchem Falle der fähige Führer als all wichtig dargestellt werden dürfe, obgleich selbst hier die Zahl und Eigenschaft seines Gefolges nicht ganz außer acht gelassen werden solle ; er lehrt uns aber weiter, daß, sobald der Krieg aufhört, das Geschäft der ganzen männlichen Bevölkerung zu sein, ohne Aufdrängen, ohne den Gedanken an einen König oder Gesetzgeber neue Institutionen, neue Taten, neue Ideen, Meinungen und Gewohnheiten in die Erscheinung treten, deren Entwicklung man nicht verstehen wird, auch wenn man sich blind läse über den Biographien aller großen Herrscher; er lehrt uns, daß die Gesellschaft den großen Mann bilden muß, bevor er sie neu bilden kann, so daß alle jene Veränderungen, deren nächster Urheber er ist, ihre Hauptursachen in den Generationen haben, von denen er abstammt ; daß durch keine Möglichkeit ein Aristoteles von einem Vater oder einer Mutter mit Gesichtswinkeln von 50 Graden kommen könne oder ein Beethoven von einem Kannibalenstamm, dessen Chor zur Vorbereitung auf ein Festmahl von Menschenfleisch eine Art rhythmischen Geheules ist; daß Shakespeare seine Dramen nicht hätte schreiben können ohne die Fülle des Lebens, die ihn in England umgab, ohne die Sprache, welche Hunderte von Generationen durch den Gebrauch entwickelt und bereichert hatten: daß das strategische Genie Moltkes [64] nicht hätte triumphieren können, hätte es nicht eine Nation von 40 Millionen gegeben, die ihm Männer zur Verfügung stellte von stämmigem Korper, starkem Charakter, gehorsamer Natur und fähig, Befehle intelligent auszuführen; und daß denn also eine Erklärung gesellschaftlicher Erscheinungen, die beim großen Mann verweilt, nicht mehr Rationalität besitzt, als wenn jemand bei den überschwenglichen Wirkungen eines Körnchens Pulver verweilt, ohne die entzündete Ladung, die Bombe, die Kanone und jene ganz enorme Summe von Hilfsmitteln zu erwähnen, wodurch Ladung, Bombe, Kanone wie das Pulverkörnchen erzeugt worden sind.
Spencer hat ohne Zweifel recht, wenn er auch das Genie von der geschichtlichen Vorbereitung und von der Mitarbeit seines Volkes und seiner Zeit abhängig zeigt. Er ülx'rsieht jedoch, daß, um der Not der Zeit abzuhelfen, welche die Gesellschaft in Spannung erhalt, ein Neues zu schaffen ist, ein Neues, welches sich vom Alten zunächst so fremd abhebt, daß es nicht als seine geschichtliche Folge, sondern als seine Aufhebung erscheint. Dieses Neue, das im geheimnisvollen Dunkel einer großen Seele entsteht hat nur in ihr entstehen können. Wie immer wir überzeugt sein mögen, daß auch die Kraft, die in der großen Seele wirkt, in den früheren Zuständen der Gesellschaft ihre Ursachen hat, so sind wir doch nicht imstande zu sagen, wie hervorgegangen ist. Hier ist für unser menschliches Auge ein wirklich Neues, nicht bloß eine alte Kraft, die sich in neue Formen nach Hegeln umsetzt, welche wir zu beherrschen oder auch nur irgendwie zu ahnen vermöchten. Immer wieder mußte überraschend aus dem ficien Räume des Geistes der Funke des Genies aufblitzen, durch die Titanenkraft eines Prometheus entzündet, um der Entwicklung ihre Bahn zu weisen durch das Licht eines neuen Gedankens, durch den Hauch neuer Empfindung, durch den Mut zu neuer Tat. So aufgefaßt, löst sich das aufbauende Werk der Geschichte in eine Reihe von Fortechritten auf, von denen jeder die Leistung eines großen Führers voraussetzt. Ohne die großen Männer wäre keine Entwicklung, sie sind die Triebe, durch welche die Menschheit wächst, ohne sie wäre das Volk nicht das Volk, wäre die Welt nicht die Welt.
In einem Hauptpunkt hat Spencer ganz offenbar unrecht. Die Persönlichkeit des Führers ist nicht nur in den ersten rohen, vernichtenden Kämpfen „allwichtig“, sie bleibt es immerdar, ja ihre Bedeutung wächst mit den Aufgaben der Kultur. Eher noch hätten die vernichtenden Kämpfe der ersten Horden und Stämme ohne den allwichtigen Führer ihrem ziellosen Ende gelangen können, als daß die Aufgaben eines [65] wissenschaftlichen Zeitaltere, eines sittlich empfindenden Zeitaltere ohne überragenden Führer erfüllt werden konnten. Der Stollen, der aus dem Dunkel der Unkultur zum Lichte hinaufgetrieben wird, ist dort eröffnet worden, wo das Gestein am weichsten war und am wenigsten Widerstand bot — im Kampf der Gewalt gegen die Schwäche — erst im weiteren Fortschreiten wagt man sich sodann an immer härteres Gestein und immer schwerer muß daher die Aufgabe des Führers werden, der mit dem diamantenen Vorbohrer des Geistes die Widerstände überwindet. Des naturwissenschaftlichen Geistes seiner Zeit voll, hat Spencer von den gesellschaftlichen Zusammenhängen vor allem diejenigen aufgegriffen, die sich naturwissenschaftlicher Bestimmung leichter fügen wollten, die Bewegungen der Masse, die einem festen Gesetze des Fortschrittes zu folgen scheinen. Für die Wege des Genies glaubte er kein Gesetz finden zu können und daher war es ihm darum zu tun, den großen Mann so klein als möglich zu machen und aus dem Zusammenhange der Geschichte auszuschalten, so weit es nur angehen mochte. Darum ließ er vom großen Mann fast nichts übrig, Napoleon ist ihm kaum mehr als ein großer Räuberhauptmann gewesen.
So unerläßlich die Leistung des vorangehenden Führers für das Werk der Gesellschaft ist, so unerläßlich ist aber auch die Nachfolge der Masse. Wenn der Führer der Sämann ist, der das Samenkorn auswirft, so ist die Masse der Boden, der es aufnimmt; auf felsigem Gestein verdorrt es, im reichen Ackergrund trägt es tausendfältige Frucht. Die Kraft des Führers allein kann der Gesellschaft noch nicht das Gesetz geben, sein Werk ist es, die Geister zur Nachfolge aufzurufen. Damit gewinnt er sich zunächst seinen Führungsstab; durch die Unterführer mitgenommen, antworten die regsamsten Gruppen der breiten Masse dem Rufe des Führers mit tatiger Nachfolge, allmählich gehen dann die andern mit, bis auch die Gruppe der blinden Nachfolge in Bewegung kommt und selbst die tote Masse ihr Gewicht leiht. Durch diese Allgemeinheit der Nachfolge empfängt, das gesellschaftliche Gebot seinen allbczwingenden Charakter, wie wir ihn z. B. aus der Massengewohnheit der Annahme beim Gelde so deutlich entstehen sehen. Dadurch, daß sie ihnen Nachfolge vorenthält oder gewährt, entscheidet die Masse in letzter Instanz über die Führer selbst, sie ist es, die über die Führer das weltgeschichtliche, das weltgerichtliche Urteil ausspricht. Durch die Probe des Erfolges trifft die Masse die Auslese zwischen den Führern. Gewiß kann der einfache Mann aus dem Volke die Idee des Führers nicht in Worten wiedergeben, noch weniger kann er über sie in Worten urteilen, dennoch [66] hilft er dazu mit, über sie zu entscheiden, indem er, soweit es seiner Sphäre angemessen ist, seihe Taten nach ihr einrichtet. Es ist Torheit, der Masse den Beruf abzusprechen, über die Leistung des Fülircrs zu entscheiden. Für die Menschheit, die es vermocht hat, die übermenschliche Gestalt eines Christus in Ehrfurcht zu erkennen, gibt cb keine menschliche Größe, über die zu urteilen sie nicht das Vermögen besitzen sollte. Man muß sich nur immer erinnern, daß zur Masse auch die Apostel und Jünger mit der ganzen Hierarchie der Führung gehören. Alles, was in letzter Folge die Probe der Massen Vollziehung nicht aushält, ist wider die Natur des Menschen oder geht über menschliche Kraft.
Was die Masse für den Führer bedeutet, gibt uns am besten da* Verhalten der Führer selber zu erkennen. Viele von ihnen richten sich von allem Anfang auf die Haltung der Masse ein und suchen nur die Mittel und Wege, um den Strömungen der Masse genug zu tun, aber auch die starken Geister, die zunächst ihren eigenen Weg gehen, indem sie sich unwillig von den Menschen abkehren, welche am Gewohnten festhalten, wenden sich, sobald sie. die rechte Bahn gefunden zu haben meinen, wieder zur Masse zurück und verlangen begierig nach ihrer Nachfolge, die ihnen als die Bestätigung dafür gilt, daß ihnen der rechte Erfolg gelungen ist. Der Führer will, daß der von ihm gefundene Weg der allgemeine Weg wird : darin liegt ja uueh sein gesellschaftlicher Dienst, durch den er das allgemeine Wesen vorwärts bringt. Wie viele von den Führern werden aber nicht klein in der Begierde, mit der sie nach öffentlicher Anerkennung verlangen! Wie viele von ihnen erniedrigen eich nicht geradezu dadurch, daß sie nach leerem Beifall lechzen und ihn schon für wirkliche Anerkennung nehmen! Wie oft wird da mcht der Übermensch menschlich, allzumenschlich! Selbst diejenigen Führer, welche die schale, mit Worten dargebrachte Huldigung verachten, werden, wie oft, von jenem edleren Ehrgeiz verzehrt, der es nicht erwarten kann, in den Taten der Masse fortzeugend bestätigt zu sein. Nur die wahrhaft großen Geister sind über solche Schwäche erhaben. Ihr Sinn geht voll in ihren Werken auf, sie sind ihres Wesens so sicher, daß sie das Gleichgewicht in sich selber finden.
Der Verfall der Führerschicht eines Volkes ist ein schweres gesellschaftliches Übel. Es bedarf neuer gewaltiger Anstöße, um in einer neuen Geschichteperiode neue Führungen emporzuheben. Nicht jedes Volk hat die Kraft besessen, nach der höfischen und kirchlich -ritterlichen Kultur noch zu einer bürgerlichen Kultur aufzusteigen. Damit [67] aber eine neue Volksschicht aufsteigen könne, muß die Masse in ihren Tiefen gesund geblieben sein. In diesen Tiefen fließt die Quelle der Volkskraft, die Masse ist der Jungbrunnen des Volkes, die Reserve seiner Zukunft. Wenn einmal auch die Bauernkraft verdorben ist, dann hat das Volk seine geschichtliche Rolle für immer ausgespielt.
Was hier von der Masse gesagt ist, gilt nur von der gesunden Masse des Volkes, die mit den Führungen gleichen Blutes ist und in ihrem Blut geschichtlich noch nicht verdorben wurde. Der Hochmut der Führerschichten pflegt auch diese Masse für minderwertig zu nehmen, in Wahrheit ist sie es keineswegs, sie ist, weil durch ihre Massenaufgabe gebunden, allerdings geschichtlich zurückgeblieben und ihre Werte sind daher noch nicht ausgebildet, dafür sind sie aber auch noch nicht ausgegeben. Sobald ihre Zeit da ist, wird die gesunde Masse des Volkes an Stelle der verbrauchter geschichtlichen Führungen neue Schichten zur Führung entsenden. Der demokratische Sinn irrt aber seinerseits, wenn er auch die Masse minderen oder verdorbenen Blutes für vollwertig nimmt. Diese Masse, die den Namen der Masse verächtlich gemacht hat, nimmt an der Geschichte des Volkes keinerlei fordernden Anteil, sie ist vielmehr ein völliger Unwert, sie ist Hemmung und Gefahr, sie ist der Pöbel und das Chaos.
Jedes starke Volk hat die Zuversicht, daß ihm zur rechten Zeit der rechte Führer geboren werde. Die Religionen lehren und die Frommen im Volke glauben es, daß Gottes Finger den großen Führer erhebt, wo es nottut. Auch die wissenschaftliche Geschichtschreibung hat dieser Meinung lange Zeit beigepflichtet, noch Spencer hatte sich mit einem namhaften englischen Historiker seiner Zeit auseinanderzusetzen, der in diesem Sinne Geschichte schrieb. Der moderne wissenschaftliche Geist lehnt mit allen andern Wundem auch dieses Wunder ab, er ist eher geneigt, wie wir am Beispiel Spencer» sahen, die großen Männer wegzuleugnen, um damit die Folgerichtigkeit der geschichtlichen Entwicklung zu wahren. In der neuesten Religionsgeschichte scheut man sich nicht, den Zweifel auszusprechen, ob die größten religiösen Führer, ob ein Zoroaster, Buddha und Christus jemals gelebt haben. Man versucht ihre Lehren aus der Gesinnung ihrer Zeit abzu leiten. Was wäre indes damit gewonnen? Wenn man Christus leugnet, so sind doch die Worte Christi da, in einer überwältigenden Einfachheit ausgesprochen, wie sie nur ein Geist sondergleichen aussprechen konnte, und wenn man selbst über die Worte Christi hinwegkommen wollte, so bleibt doch Paulus übrig, den man nicht wegleugnen kann. [68] Auch Alexander den Großen und Cäsar muß die geschichtliche Kritik auf alle Fälle gelten lassen, und so wie man dies tut, steht man vor der Frage, welches der Gang der Weltgeschichte gewesen wäre, wenn Alexander seine Lebenskraft früher verzehrt und wenn der Dolch der Verschwörer oder ein gallisches »Schwert Cäsar früher weggerafft hätte. Ist der große Mann in der Geschichte, wenn man ihn zuläßt, wie man muß, nicht ein bloßer Zufall, der die Folgerichtigkeit der Entwicklung aufhebt? Zu dieser Frage muß man die rechte Stellung finden. Auch wir dürfen an ihr nicht vorübergehen.
Fürs erste sei hiezu bemerkt, daß der große Mann keineswegs immer unersetzlich ist, er ist keineswegs immer der Eine, der Einzige, der nicht wiederkehrt. Wie oft sind nicht große Ideen, sobald sie im Zuge der Zeit gelegen waren, von mehreren Denkern nebeneinander ausgesprochen worden! Lcibniz und Newton mit ihren mathematischen Entdeckungen sind ein bekanntes Beispiel. Wir können für sicher annehmen, daß auch in dem Falle, als Kolumbus vorzeitig gestorben wäre, Amerika nicht unentdeckt geblieben wäre; es ist nicht zu bezweifeln, daß unter den kühnen Seefahrern, die nach ihm seine Entdeckung weiter verfolgten, sich auch der Mann gefunden hätte, der an seiner Statt den Gedanken des Kopernikus in die Tat umsetzen konnte. Überall, wo wir eine Folge von großen Forschern arbeiten sehen, die eine Wissenschaft nacheinander aufbauen, können wir gewiß sein, daß die späteren die Arbeit ihrer Vorgänger, die sie fortsetzen, selber getan hätten, wenn sie eben nicht schon getan gewesen wäre.
Dieser erste Gedanke leitet auf einen zweiten über. Es gehört zum Wesen jedes starken Volkes, daß es mit großen Männern begabt ist, so wie sich in jedem Gebirge über den Kamm noch die Gipfel erheben. Niemals hat es ein Volk gegeben, dessen Individuen von der Natur alle gleich oder auch nur annähernd gleich angelegt waren, der Volkscharakter, den man beobachtet, ist der Durchschnitt aus einer sehr ausgiebigen Dispersion der Anlagen. Der Grad der Dispersion ist von Volk zu Volk verschieden, die Römer waren gleichmäßiger begabt als die Griechen; nach dem Urteil Mommsens hatten sie bis auf Cäsar keinen Staatsmann und selbst keinen Feldherrn von wirklich genialer Größe, aber dieser Mangel war durch die Tüchtigkeit ihrer Massen gutgemacht. In Rom konnte man von Jahr zu Jahr mit aller Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, die zwei Konsuln zu finden, welche die Legionen [69] nach den überlieferten Regeln der Kriegskunst zu führen verstanden, und die Legionen waren die Jahrhunderte hindurch von gleicher Siegeskraft. Dahei hat jedes Volk in der Richtung, in der seine Masse begabt ist, auch die größere Zahl der starken Führerbegabungen. Ist es zu verwundern, wenn ihm in den Richtungen, in denen es vor allem seine Wege sucht, zur rechten Zeit der rechte Führer gegeben ist ? Die allgemeine Spannung der Zeit des Suchens muß die besonders empfindlichen Führerbegabungen besonders erregen; sie werden durch eine größere Zahl von mitstrebenden, wenn auch minder begabten Genossen gedrängt und gehoben, die leidenschaftliche Begierde, mit der die Führerleistung erwartet und aufgenommen wird, steigert ihre innere Sammlung aufs höchste und steigert die Äußerungen ihrer Kraft aufs höchste. Ihr Auftreten, ihr Wirken ist kein Zufall. Es ist das folgerichtige Ausklingen der Umgebung, der sie aber allerdings den erhöhten persönlichen Ausdruck zu geben das Vermögen haben.
Vollends freilich kann man auf diese Weise die Taten Alexanders oder Casars und kann man Shakespeares 'Hamlet oder Goethes Faust geschichtlich nicht konstruieren, um von den größten Seelenführern, den Propheten, ganz zu schweigen. Es bleibt ein unerklärbarer persönlicher Rest, ohne Zweifel. Dieser unerklärbare persönliche Rest deckt sich aber doch keineswegs mit dem Ganzen der großen Führergestalten, sondern er betrifft nur denjenigen Teil ihres Wuchses, mit dem sie den nächstberufenen Führer überragen, der in Volk oder Welt ihr Werk übernommen hätte, wenn es von ihnen nicht vorgetan worden wäre. Wäre Cäsar nicht gewesen, so hätte Pompcjus der Große oder einer seiner kraftvollen Söhne oder einer der andern nach der Herrschaft strebenden Römer das Werk getan, das geschichtlich getan werden mußte, um den Staat monarchisch einzurichten, der bei seiner Ausdehnung und der Ungleichartigkeit seiner Teile nicht mehr mit seiner alten städtisch-genossenschaftlichen Verfassung weiterleben konnte. Vielleicht hätte ein anderer als Cäsar das Werk nicht mit dem gleichen genialen Wurf getan und es hätte vielleicht wiederholter Anläufe bedurft, bis der cäsarische Wille zur Herrschaft sich durchgerungen hätte, aber er hätte sich durchgerungen, weil er sich durchringen mußte. An den Gestalten von Marcus Antonius, Augustus, Tiberius sehen wir, daß die Generationen des Rom von damals reich genug an Herrennaturen waren. Auch der ganz große Führer ist doch zu einem ansehnlichen Teile der Exponent seines Volkes und seiner Zeit. Jedenfalls verläuft aber von dem Zeitpunkt an, wo er in die Geschichte eingreift, der weitere [70] Prozeß streng folgerichtig. Von »einer persönlichen Leistung hält das Volk so viel aufrecht, als es vermöge seiner gegebenen Beschaffenheit dauernd zu tragen vermag.
Am Beispiel Bismarcks und des deutschen Volkes wird uns dag Verhältnis des großen Mannes zur Masse anschaulich klar. Ohne Bismarcks politisches Genie wäre das Deutsche Reich vielleicht nicht so bald und nicht so stark aufgerichtet worden. Er hat sich selber bloß als den Steuermann erklärt, der ohne die Macht der nationalen Strömung war nichts ausgerichtet hätte, und die Macht der nationalen Strömung war so kräftig und in solchem Ansteigen, daß sich früher oder später ein anderer Steuermann gefunden hätte, der, wenn vielleicht auch mit geringerer Kunst, das Volk zum Ziele des Reiches geleitet hätte. Im Vergleiche zu Engländern, Franzosen oder Italienern ist die politische Unreife der Deutschen an Haupt und Gliedern, an Führer und Masse so groß, daß der unerklärbare persönliche Rest bei der Gestalt Bismarcks erheblich größer ist, als bei den großen politischen Führern jener andern Nationen. In Preußen, dem politisch am stärksten organisierten deutschen Staat, war Bismarck nach Friedrich dem Großen der erste, der wiederum zur Weltpolitik befähigt, war. Er kannte sein Volk zu gut, um nicht von schwerer Sorge erfüllt zu sein, ob das von ihm aufgerichtete Reich von Dauer sein werde. Sein Wort: „Ich habe das deutsche Volk in den Sattel gehoben, reiten muß es selber kennen“ klingt wie eine Vorahnung des drohenden Sturzes. Es hätte eines zweiten Bismarck bedurft, um den Weltkrieg zu verhindern oder ihn politisch so vorzubereiten, daß er militärisch gewonnen werden mußte — dieser zweite Bismarck war nicht da, der geschichtliche Zufall, daß Deutschland über einen zur Weltführung berufenen Staatsmann verfüge, hat sich in so kurzer Zeit nicht zum zweiten Male ereignet. Auch die Entente hatte bei der Eröffnung des Weltkrieges nur Staatsmänner mittleren Ranges zur Vcif ügung, aber ihre politische Schulung, namentlich in England, dem geschichtlich reifsten Staate Europas, war Deutschland und den Mittelmächten gegenüber so überlegen, daß der Sieg ihr nur durch eine militärische Höchstleistung der Mittelmächte hätte entrissen werden können, die diese in gewissen Abschnitten des Krieges erreichten, die sie aber auf die Dauer doch nicht festhalten konnten. Das doutscho Volk hat den Weltkrieg des 20. Jahrhunderts aus dem gleichen Grunde verloren und verlieren müssen, wie seinerzeit den Dreißigjährigen Weltkrieg des 17. Jahrhunderts. Der Dreißigjährige Krieg, der als religiöser Bürgerkrieg innerhalb Deutschlands begonnen hatte, ist durch die Einmischung erst der Dänen, dann der Sschweden und zuletzt der Franzosen, [71] und neben ihnen auch noch der Magyaren mehr und mehr ein Außenkrieg geworden, der weiter und weiter andauerte, auch nachdem der Kaiser mit der Mehrzahl der protestantischen Stände seinen Frieden gemacht hatte. In diesem Außenkrieg sind Kaiser und Reich der Staatskunst Oxenstiernas und Richelieus unterlegen, denen nach dem Falle Wallensteins kein ebenbürtiger Führer entgegenstand. Damals und jetzt ist das deutsche Volk in strengster Folgerichtigkeit durch seine politische Unreife zu schwerstem Schaden gekommen. Von Bismarcks Erbe hat das deutsche Volk so viel aufrechterhalten, als es nach dem geschichtlich bedingten Maß seiner Kräfte dauernd zu tragen vermochte. Wird die Folgerichtigkeit der Geschichte sich auch darin wieder bewähren, daß es sich durch gesteigerte innere Kraft neuerdings erhebt, für die es ihm niemals an großen Führern gemangelt hat?
Ist die innere Volkskraft in ihren Ursprüngen übrigens nicht ebenso geheimnisvoll wie der „unerklärbare persönliche Rest“, von dem wir gesprochen haben ? Wie für den übermenschlichen Führer können wir auch für die Volksmasse das Gesetz nicht fassen, durch das ihr Aufstieg aus den Tiefen des Seins und das Ziel ihrer Kraft bestimmt wird. Wir müssen zufrieden sein, wenn es uns gelingt, die Folgerichtigkeit zu zeigen, mit der die Geschichte sich vollzieht, sobald Führer und Masse mit ihren Kräften auf den Plan getreten sind.
Auch das Verfassungswesen eines Volkes ist folgerichtig bestimmt, sobald einmal durch Anlage und geschichtliche Erziehung die Kräfte gegeben sind, mit denen seine Führer und Massen an die geschichtlichen Werke gehen, die ihnen durch die Zeit vorgeschrieben sind. Stets ordnen sich seine wirkenden Kräfte nach dem Gesetze der höchsten Kraft oder des Erfolges.
Zu allen Zeiten sind der Gesellschaft zweierlei Werke vorgesehrieben. Die einen sind die Gesamtwerke, zu denen sich die „geeinigto Masse“ zu gemeinsamem Vorgehen unter einheitlichen Führungen zusammenfinden muß, die anderen sind die Sonder werke oder privaten Werke, als deren Subjekte uns auf den ersten Blick die Individuen als solche erscheinen, an denen wir aber, wenn wir genauer zusehen, doch immer auch die Masse beteiligt sehen, die sich als „zerstreute Masse“ unter anonymen Führungen für ein paralleles oder ergänzendes Handeln die Regeln gibt. Subjekt des öffentlichen Wesens ist die unter benannten Führern geeinigte, von Einheitsmächten beherrschte Masse, Subjekt [72] des privaten Wesens ist die unter anonymer Führung stehende, von anonymen Mächten beherrschte zerstreute Masse. Nicht nur das öffentliche Wesen, sondern auch das private Wesen hat seine Verfassung, oder wie wir richtiger sagen müssen, seine Verfassungen, denn hier und dort galten für alle zugehörigen Sphären des gesellschaftlichen Handelns besondere Verfassungen, die durch das besondere Werk der einzelnen Sphären gefordert sind. Die Staatsverfassung ist nur eine der mehrere n ineinandergreifenden öffentlichen Verfassungen, ebenso ist die Wirtschaftsverfassung nur eine der mehreren ineinandergreifenden privaten Verfassungen. Aus dem Ineinandergreifen des ganzen öffentlichen und privaten Verfassungswesens erst bildet sich die Gesamtverfassung der Gesellschaft. Der Jurist, der die Staatsverfassung als eine Gegebenheit für sich betrachtet, kann sie unmöglich bis auf den Grund verstehen. Ihr Gleichgewicht, ihr Schwerpunkt ist immer durch die gesellschaftliche Gesamtverfassung bestimmt. Die politischen Rechte und Pflichten sind der Ausdruck von Kräften und Widerständen, die in der religiösen Verfassung und den übrigen öffentlichen Verfassungen und neben diesen in der Wirtschafteverfassung und den übrigen privaten Verfassungen ihren Halt haben.
Wie sich Führer und Masse in die Macht teilen, ist nicht allein durch die Persördichkeit des obersten Führers bestimmt. Es hängt immer wesentlich mit den Aufgaben zusammen, die dem obersten Führer am Werke der Zeit zufallen und die seinem Einfluß bald mehr, bald weniger Gaurn eröffnen, und es hängt noch ganz besonders mit dem Aufbau der Fülu*erschichten und der Massenschichten im Volke zusammen und mit der Spannung, die zwischen diesen besteht.
Alles private Werk ruft in erster Linie die Individuen zur Vollziehung auf. Es kommt für sein Gedeihen daher auf die durchgängige Tüchtigkeit der Masse an. Die Führung erhebt sich in der Hauptsache nicht über die Form der anonymen Führung. Da die anonymen Führer in stetem Wechsel aus der Masse hervortreten, so sind sie mit dieser auf das innigste verflochten und für ihre Tüchtigkeit ist die durchgängige Tüchtigkeit der Masse die gegebene Voraussetzung. Die anonymen Führer werden ihre Antriebe aus ihren eigenen privaten Werken empfangen, die sie so wie alle andern betreiben, nur daß sie oben in guter Stunde die eine oder andere Weise finden, um die bisherige Übung da oder dort erfolgreicher zu gestalten. Unter ihrem schrittweisen Vorangehen, dem die ganze Masse folgt, wird der allgemeine Zustand, wenn auch im einzelnen fast unmerklich, auf die Dauer doch ausgiebig gebessert, und nach und nach kann ein neuer Boden gefestigt [73] sein, auf dem sich eine durchgreifendere Veränderung vorbereitet. Innerhalb der ländlichen Hauswirtschaft hat sich das Gewerbe, innerhalb des zünftigen Gewerbes der Großbetrieb vorbereitet. Durchgreifendere Veränderungen bedürfen dann allerdings der offenen Führung, die aber auch noch innerhalb des privaten Wesens wirken kann, wie uns die großen Unternehmer zeigen, welche im privaten Wesen fußen, wenn sie auch ins öffentliche Wesen hinüberreichen mögen.
Jede Glaubensgemeinschaft, jede sittliche Gemeinschaft und jede andere innere Gemeinschaft braucht die feste Unterlage verbreiteter Massenbeteiligung unter anonymer Führung, von deren Boden aus, wenn es zu durchgreifenden Entwicklungen kommen soll, sich die großen autoritativen Führer erheben. Das Gesamtwerk derZwangsgemeinschaften und Einheitsverbände hat immer die offene persönliche Führung zur Voraussetzung, wobei die führenden Personen aus den gegebenen Führerschichten hervortreten.
In den Perioden der Staatengründung und der Kultur begründung nimmt die offene persönliche Führung ihre strengsten Formen an. Gewaltführung, Herrenführung, herrschaftliche Führung sind aufgerufen, höchste autoritäre Führer erheben sich, eine herrschende Schicht von Kriegern und Friestern baut sich über der Masse auf. Es hängt von der Anlage und geschichtlichen Erziehung der herrschenden Schichten und wohl auch von äußeren Umständen ab, ob sie sich selber ihre genossenschaftliche Verfassung bewahren oder sich auch ihrerseits unter Fürsten und Fürstengeschlechter unterordnen, unter deren Leitung sie ihr Gruppeninteresse vielleicht noch erfolgreicher befriedigen. Das römische Bauernvolk hat in seinen Kämpfen mit den Nachbarn, die ursprünglich eher in der Absicht der Abwehr als der des Angriffes ihr Motiv hatten, mit der Führung der patrizischen Geschlechter ausgereicht, die ihrerseits keinen König brauchten noch duldeten. Nach der Abwehr des Angriffes von Haniubal, unter dem Eindruck der Vernichtungsschlacht von Cannae, die mit der Vernichtung des Staates zu drohen schien, gingen die römischen Kriege auf das höhere Ziel, die Weltherrschaft bis zu ihrer vollen Sicherung auszubauen, und von da an konnte der nach altvaterischer Überlieferung geleistete Dienst der Führerschicht für das wechselvolle Werk der Weltpoütik nicht mehr ausreichen. Starke persönliche Führer waren notwendig, von der Kraft eines Scipio, eines Marius, eines Sulla, eines Pompejus, um die gefährlichen Krisen des Staatslebens zu überwinden, die nacheinander durchgemacht werden mußten, bis die Herrschaft an Julius Cäsar, als den stärksten Führer fiel und von ihm aus auf die julische Dynastie und [74] sodann auf weitere Dynasten und Dynastien überging. In der ganzen Periode der Kämpfe um die Staatengründung ist die Militärverfassung der Rahmen der Staatsverfassung. Dies gilt nicht nur für die Despotie des barbarischen Siegers, sondern es galt ebenso im Staate des Römervolkes in seiner guten Zeit und ebenso in der Blütezeit der germanisch-romanischen Staaten. Es hat sein letztes bezeichnendes Symptom noch in der Gegenwart darin, daß der Monarch auch im europäischen Kulturstaat die militärische Uniform als diejenige Kleidung trägt, die seine Stellung am getreuesten bezeichnet.
Unter dem Druck der Kampfverfassung versinkt allmählich die alte Bauernkraft aller weicheren Völker, und selbst die der härteren Völker droht zu versinken. Dagegen erheben sich in der nun gesicherteren Ordnung der Staaten neue Kräfte, nach der Kraft eines gereinigten Glaubens die wirtschaftliche Kraft des Bürgertums und die Kraft der Bildungssehichteu, im Bündnis mit ihnen sammelt und erholt sich wiederum die Bauernkraft. In der kapitalistischen Volkswirtschaft massiert und organisiert sich sodann die Kraft des Arbeiterproletariates. Die neuen Schichten machen sich zuerst nur als Träger wirksamer Widerstände gegen die alten Mächte geltend, später steigen die stärksten unter ihnen selbst in die führenden Schichten auf und zuletzt nimmt auch die proletarische Schicht die Führung im Volk, und wenn es nicht anders geht, die Diktatur in Anspruch. Nachdem die kirchliche Autorität sich mit der modernen Bildungsmacht hatte auseinandersetzen müssen, müssen auch Fürst und Adel dem demokratisierenden Zug der Zeit nachgeben, wie ihn das Werk geistiger und wirtschaftlicher Arbeit des Bürgertums und Proletariates in das Verfassungswesen hereinbringt ; entweder fügen sie sich oder sie werden durch umstürzende Gewalt beseitigt. Die Kampfverfassung mit ihrer monarchisch-feudalen Spitze wandelt sich zur Demokratie des Bürgertums und Proletariates, die mit ihren kapitalistischen und genossenschaftlichen Bestrebungen ihren Rahmen in der Wirtschaftsverfassung hat.
Durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Völkergeschichtc bis auf die Gegenwart herauf hat das Gegenspiel von persönlichen Führern, Führerschichten und Masse dem Aufbau des gesellschaftlichen Lebens seine Grundlinien gegeben. Immer weist das Werk der Zeit den Spielern ihre Rollen zu, die sie nach dem Grade der Kraft ausfüllen, welcher ihnen durch Blut und geschichtliche Erziehung zu eigen ist.
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Die gesellechaftliche Macht hat in ihren größten Steigerungen etwas übermenschliches, ja nicht selten etwas Unmenschliches an sich. Man versteht es daher, daß viele von den Geschichtschreibern, Staatslehrern, Rechtsphilosophen, Ökonomen und Soziologen, die sich mit Machterscheinungen zu beschäftigen hatten, deren Ursprung in irgend welchen objektiven Elementen außerhalb der Sphäre des persönlichen Wesens gesucht haben. Wer dies tut, begeht aber einen doppelten Irrtum: er schränkt sich auf das Gebiet der äußeren Macht ein, die sich äußerer Machtmittel bedient, und er verwechselt überdies die Macht erscheinung mit den Machtmitteln. Daß von den äußern Machtmitteln ein Gebrauch gemacht wird, der gegen das menschliche Gefühl streitet, dazu ist die Möglichkeit in der Beschaffenheit der Machtmittel gegeben, jedoch die Entscheidung darüber, welcher Gebrauch von den Machtmitteln zu machen ist, fließt letztlich immer aus der Gesinnung des Machthabers. Bei den inneren Mächten ist es vollends klar, daß sie ihren Ursprung im menschlichen Sinne haben.
Für Denker von der Art Stendhals und Nietzsches, die in der Masse nur den Herdentrieb wirken sehen, lag es nahe, das Ubermenschliche der Macht auf die Person eines Übermenschen zurückzuführen, wobei sie noch eine besondere Größe darin erblicken mochten, wenn dieser als Unmensch die Grenzen des Menschlichen überschritt. Eine solche Deutung reicht indes offenbar für die große Zahl der Fälle nicht aus, Übermenschen oder Unmenschen von der Art Cäsar Borgias sind Ausnahmsmenschen. Übrigens hatte Cäsar Borgia gewiß nicht die Größe, in der ihn Stendhal uns vorführen will. Er war der echte Sohn seiner Zeit, er war einer der vielen und vielleicht der bedenkenloseste unter den Condottieri, denen die italienischen Verhältnisse von damals die Mittel und die Versuchung darboten, sich einen Fürstenthron aufzurichten. Was er wirkte, hat er mit Hilfe der geschichtlichen Mächte gewirkt, wie sie damals der italienische Boden emportrieb. Er für sich allein war keineswegs der Schöpfer seiner Taten und Untaten, für die aus der geschichtlichen Umgebung empfing, in der er lebte. Nur die ganz großen Seelenführer, wie sie einsam in der Geschichte aufragen, schaffen aus eigensten Kräften, aber selbst an ihrem Werk hat die Masse ihren wesentlichen Anteil, weil diese erst es sich aneignen muß, damit es volle Wirklichkeit werde.
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Selbst von denjenigen Denkern, die erkannten, daß die Mas«? am Machterlebnisse ihren persönlichen Anteil habe, konnten sich doch gar viele nicht dazu entschließen, es bis auf die Einzelpersonen, bis auf die Individuen zurückzuführen. Die Individuen scheinen zu schwach, um das Übermenschliche, das Überindividuelle der Macht zu tragen, das mitunter bis zum Antiindividuellen gesteigert ist. So erklärt es sich, daß man gerne die Masse, das Volk im ganzen als Kollektivsubjekt der Macht annimmt. Wenn man dies tut, so wird man nicht umhin können, von einer Masse nsecle, einer Volksseele zu sprechen. Die Versuchung dazu, diese klingenden Worte zu gebrauchen, ist groß, jeder Redner oHer Schriftsteller, der über Phantasie und Sprachgewalt verfügt', kann seiner Wirkung gewiß nein, wenn er sie am rechten Platze verwendet, Ein Oswald Spengler, der das Überwältigende der Kulturideen zur Geltung bringen will, wird die dichterische Freiheit benützen, die ihm der Sprachgebrauch gibt, und von der Volksseele sprechen, aus der diese Ideen strömen, ein Romain Rolland wird von der Massenseele sprechen, wenn er den Druck empfinden lassen will, mit dem die Gedanken der Heerstraße auch den edleren Geist im Banne halten. Wer so spricht und sich des bildlichen Siimes dieser Wendungen bewußt bleibt, erzielt eine starke und erlaubte Wirkung. Welche Verirrung aber ist es, die dichterische Freiheit des Wortes theoretisch ernst zu nehmen, und wie es nicht nur unbewußt, sondern sogar vollbewußt geschehen ist, die Volksseele oder die Massenseele statt als die Übereinstimmung der Seelen im Volke oder in der Masse als eine besondere Wesenheit für sich gelten zu lassen, die über den Einzclseelen ihr eigenes Leben hat! Und welche Verirrung ist es gar, wenn man, wie es auch geschehen ist, zu dieser in den Höhen schwebenden Seele noch einen eigenen Körper hinzukonstruiert! Solchen Verirrungen gegenüber muß man klar daran festhalten, daß der Seelensitz auch in allen gesellschaftlichen Beziehungen in den Individuen ist und bleibt. In Wahrheit gibt es keine Volksseele und keinen Volkswillen; man kann noch weiter gehen und sagen, im strengen Sinne gebe es auch keine öffentliche Meinung der Gesellschaft als solcher, keine allgemeine Rechtsüberzeugung des Volkes in seiner Einheit, kein sittliches Gefühl der Masse im ganzen. Alle diese Wendungen, die sich unwillkürlich aufdrängen und die ebenso irreführend als bezeichnend sind, wollen nur sagen oder sollen nur sagen, daß die Seelen, die Willen, die Meinungen, die Überzeugungen, die Gefühle gleichgerichtet sind, entweder bei allen Bürgern oder doch lx-i der entscheidenden Mehrheit oder vielleicht auch nur bei einer Minderheit, die eben die Herrschaft über die Gemüter der andern besitzt.
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Wodurch die Individuen einer Vielheit gleichgerichtet werden, da« ist in unserer Untersuchung über den Ursprung und das Wachstum der Macht deutlich geworden. Es ist der Erfolg, der die Individuen dazu verhält, in gleichem Schritt und Tritt vorzugehen. Damit ist zugleich deutlich, daß der einzelne, der mit den vielen gleichgerichtet ist, sich im Banne einer übergeordneten Gewalt fühlt, die stärker ist als er; daß er selber mit an ilirer Bildung Anteil hat, will ihm nicht leicht in den Sinn. Selbst wenn er zunächst diese Meinung hat, so weist er sie unter dem überwältigenden Drucke der Umgebung wiederum ab. So entsteht das Gefühl, wie es Mephisto im Gedränge der Walpurgisnacht mit den Worten ausspricht: „Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben“. Von wem sonst aber wird der einzelne geschoben, ab von den andern, die sich mit ihm drängen und von denen jeder ebenso wie er selbst sich von außen geschoben f ühlt ? Es ist der gleichgerichtete Geist aller, der eine Vielheit von Menschen in Bewegung setzt. In jeder Vielheit wird das individuell Besondere, das sich mit der Gesamtbewegung nicht verträgt, niedergehalten und abgeschliffen. Insoweit ist die Bewegung überindividuell und selbst antiindividuell, aber dadurch wird sie nicht unpersönlich. Die Kraft, die in ihr wirkt, kann keinen andern Ursprung haben, als in den Personen, die zur Vielheit vereinigt sind. Jede wahre, jede starke gesellschaftliche Macht muß in den Seelen der beteiligten Individuen miterlebt sein; der Staat wirkt nicht ohne den aufrechten Sinn der Bürger, der seinen Entscheidungen ihr Gewicht gibt, das Heer nicht ohne die Tapferkeit der Krieger und den tätigen Druck ihrer Zahl, die Kirche nicht ohne die Frömmigkeit der Gläubigen, das Recht nicht ohne die Überzeugung der Berechtigten und Verpflichteten, die Ideen müssen, um zu wirken, in den Hirnen der führenden Schichten der Zeit lebendig sein, die gesellschaftlichen Bewegungen oder Strömlingen müssen durch ihre Herzen gehen.
Was wir auch an übcrindividuellen oder selbst antiindividuellen Wirkungen der gesellschaftlichen Macht beobachten, so muß es das wissenschafthohe Denken auf seinen persönlichen Ursprung zurückzuführen vermögen oder das wissenschaftliehe Denken hat seine Aufgabe nicht erfüllt,
Gegenüber der gefestigten äußeren Macht ist das Machterlebnis der Masse nur leidend. Vielleicht, daß die stärksten Individuen Anwandlungen zum Widerstand verspüren oder dort, wo sie besonders herausgefordert werden oder die Gelegenheit besonders günstig scheint, selbst [78] Widerstand versuchen, aber die große Zahl der Schwachen versinkt in dumpfe Resignation. Auf die Dauer sehlägt der Herdentrieb durch, alles fügt sich dem gegebenen Zustand und die ganze Masse folgt dem gleichen Gefühle der Unterordnung.
Die innere Macht weckt in der Masse den Trieb zu williger Nachfolge. Der einzelne gehorcht dabei nicht bloß seinem eigenen Triebe, sondern er wird auch durch die Fühlung mitbestimmt, die er von dem Verhalten seiner Umgebung und der ganzen großen Masse hat. Das Machterlebnis wird dadurch gesteigert, daß der einzelne, der sich der Macht unterordnet, durch seinen Beitritt zugleich das Gewicht erhöht, mit dem die innere Macht in der Gesellschaft wirkt, er tritt, wenn auch nur mit einem kleinsten Anteil, in die Reihe der gesellschaftlichen Machthaber ein.
Das Machterlebnis der Masse wird in seinem Gehalt dort noch ausgiebig bereichert, wo, wie es oft der Fall ist, äußere und innere Mächte zu gemeinsamer Wirkung verbunden sind. Das Machterlehnis des Soldaten gibt uns dafür ein besonders belehrendes Beispiel.
In jeder guten Truppe ereignet sich das Wunder, daß der friedliche Muttersohn, der für seine Person Kampf und Blut scheut, sich zum geschulten Krieger wandelt, welcher mit ruhiger Überlegung der feindlichen Waffe standhält und ihr mit entschlossenem Mut entgegenstürmt. Um diese Wandlung zu vollziehen, reicht die Furcht vor den Zwangsmitteln der militärischen Disziplin nicht aus; Furcht, das leidende Machterlebnis, erzeugt nur dumpfen Gehorsam. Die Wandlung ist auch noch nicht vollzogen, wenn der Rekrut, vom Kanonenfieber geschüttelt, dennoch im suggestiven Bann seiner Umgebung zum Sturmlauf des Angriffes willenlos fortgerissen wird; das ist das bloße Herdenerlebnis der Macht, das ebenso rasch in Panik umschlagen kann. Die Wandlung beginnt damit, daß der Soldat den Sinn der Mannszucht begreift, ohne die kein Erfolg gedeihen kann. Sobald die Truppe so weit ist, fordert nicht bloß der Vorgesetzte, sondern fordert jeder einzelne in der Truppe von jedem andern, daß er seine Pflicht bis zum äußersten tue, umgekehrt steht jeder einzelne unter der treibenden Vorstellung, daß alle andern es ebenso von ihm erwarten. Der tapfere Sinn antwortet auf diese Erwartung mit der lebendigsten Aufwallung des Ehrgefühls und selbst der schwachmütige Sinn kann sich dem Gebote der Ehre nicht entziehen. Nun findet der Befehl eines Vorgesetzten, dem die Truppe vertraut, die seelischen Bahnen offen, kein Mann würde es ertragen, hinter den andern zurückzubleiben, selbst wenn es das Äußerste gilt. Die Wandlung ist vollendet, wenn sich zur soldatischen Ehre [79] soldatischer Stolz hinzugesellt, der den Triumph des Sieges genießt. Im/ Erfolge des Sieget* erleht der Soldat das Hochgefühl einer Kraft sondergleichen, die sich durch alle Schrecken hindurch behauptet: es ist ein Krafterlebnis, wie er es niemals auch nur annähernd in sich gekannt hat und von dessen Höhe er auf den Pfahlbürger mit Geringschätzung herabblickt, ein Krafterlebnis, das zugleich ein Machterlebnis ist, weil man es in seiner überwältigenden Gemütswirkung erlebt. Wie jeder, der dabei war, an der Kraft seinen Anteil hatte, so hat er ihn auch an der Macht, er ist durch sie miterhüht und steht mit in ihrem Banne. Soldatenehre und Soldatenstolz fließen zum soldatischen Geist zusammen, der die Soldatenpflicht in sich schließt. Alle die Tausende oder Millionen, die dieses Geistes voll sind, setzen den Befehl des Führers durch das Medium ihres Willens wie bewußte Transformatoren zur eigenen Handlung um und binden sich dadurch zu einer Einheit, von der die stärksten Wirkungen ausgehen.
In allen Fällen, in denen der individuelle Wille in den Massen sich zum gesellschaftlichen Machtgewebe verknüpft , läuft der seelische Prozeß in der gleichen Folge ab: erst die Erkenntnis der Notwendigkeit des Zusammengehens, dann die wechselseitige Forderung und Erwartung des Zusammengehens — all dies auf der Grundlage von Trieben des Unterbewußtseins — , weiter die Aufregung des Ehrgefühls, dieser Erwartung zu entsprechen, und zwar nicht nur bei den starken, sondern selbst bei den schwächeren Genossen, darauf die Wahrnehmung des Erfolges und der Stolz des Krafterlebnisses, das man als Mac hterlebnis genießt, welches den Trieb verstärkt, und schließlich zum gesellschaftlichen Pflichtgefühl erhöht wird. Je innerlicher das Erlebnis, desto bindender das Pflichtgefühl. Räuberehre und Räuberatolz — auch sie sind ja Äußerungen der gesellschaftlichen Natur des Menschen — führen über das Gefühl kameradschaftlicher Pflicht nicht hinaus; Bürgcrchre, Bürgeretolz, Bürgersinn rufen die Stimme des Gewissens mit auf; Recht und Sittlichkeit sind tief im Gewissen beschlossen, doch fehlen die Erregungen von Ehre und Stolz keineswegs; auf das Ehrenkleid der Unbescholtenheit soll kein Makel fallen und dem aufrechten Manne ist das stolze Gefühl getaner schwerer Pflicht erlaubt, ohne daß es ihm als Pharisäertum ausgelegt werden dürfte. Nur der ganz entschlossene Schurke und Bösewicht hat den Trotz, sich als einer gegen alle aufzulehnen. Die Masse der Menschen ist weicher, sie gibt dem Druck des allgemeinen Willens nach und sie gibt ihm nicht nur leidend nach, sondern, das Machtcrlcbnis des Rechtssieges 'mitgenießend, folgt sie ihm tätig, sie formt sich innerlich [80] nach der allgemeinen Regel. Wenn es auch wohl niemand gibt, der nicht im einzelnen Falle, der Versuchung erliegend, das Gewissensverbot verletzt, so wird doch das innere Machterlebnis des Sieges über die Versuchung, das sich in der großen Mehrzahl der Fälle wiederholt, das Gewissen immer wieder neu aufrufen und bestärken. Freilich die Zahl der Menschen, die gar keiner fremden Hilfe bedürfen, um innerlich aufrecht zu bleiben, ist nicht allzu groß. Der weitgehende Verfall von Recht und Sittlichkeit nach Weltkrieg und Umsturz hat mit erschreckender Deutlichkeit bewiesen, wie gering bei vielen Menschen, die bis dahin in allen Ehren dastanden, der eigene moralische Halt war. Die erschütterte Autorität von Gericht, Polizei und Kirche, die durch die Not verursachte Steigerung der Versuchungen, das böse Beispiel des Erfolges gewissenloser Menschen, die wider Recht und Sittlichkeit in die Höhe kamen, hat viele schwächere Gemüter vom Weg der Pflicht abgeleitet oder in ihrer Pflicht säumig gemacht. Es ist ein Trost, zu beobachten, daß, während die Welt vom Lärm derjenigen widerhallt, die das Gesetz brechen, die Stillen im Lande weiterhin ohne Wanken ihrem Gewissen folgen. Sie verstehen einander, ohne daß sie viel Worte zu machen brauchen, sie bewahren die Vorstellung der Gesellschaft, wie sie sein soll, unverkümmert in sich fort und setzen sie durch das Medium ihres Willens weiterhin in Taten um. In der Wärme ihres inneren Machterlebnisses erhalten sich die Keime einer besseren Zukunft.
Das Machterlebnis des Glaubens ist das innerlichste von allen. In den Seelen eines starken Glaubens haben Ehre und Stolz geringes Gewicht, ihr Ruhm ist, wie der Apostel sagt, das Zeugnis ihres Gewissens in Einfalt und Demut des Herzens. Sie sind bereit, ihren Glauben gegen die Macht einer ganzen Welt zu bewähren, das Martyrium ist für Bie das höchste Machterlehnis, durch das sie freudig Zeugnis für eine überirdische Macht geben, mit der sie sich innerlich verbunden fühlen. Ihr Machterlcbnis ist noch weit reiner und reicher, als selbst das des Soldaten auf dem Felde der Ehre.
Sich einem großen Ganzen unterordnen und damit zugleich dessen Erfolge als eigenes Machterlebnis empfinden — das ist für die Masse der in tausenderlei Formen wiederholte Inhalt der Machtpsychologie.
Das Problem der Machtpsychologie, wie wir es ebeu kennengelernt haben, berührt sich einigermaßen mit der Lehre von der [81] Massen-Psychologie, wie sie von Tarde, Sighele, Le Bon und andern entwickelt ist. Wenn man das Handeln der Masse verfolgt und auf seine psychischen Triebe zurückführt, wie es die Schriftsteller dieser Richtung tun, so stößt man notwendigerweise auf die Erscheinung der Macht, unter deren Bann die Masse handelt. In den Untersuchungen über die Massenpsychologie, dio mit Scharfblick und Geist geschrieben sind, findet sich daher mancherlei, was auf die Machterscheinung Licht wirft. Indes ist die Lehre doch nicht auf eine eigentliche Analyse der Machterscheinung angelegt und man muß sich außerdem darüber klar sein, daß der Begriff der Masse in dieser Lehre nicht so verstanden wird, wie wir ihn verstehen, nämlich im Gegensatz, zum Führer. Als Masse gilt hier jede Menge, jede größere Zahl von Menschen, die in einem gegebenen Falle unter den gleichen seelischen Eindrücken stehen; die Führer sind dabei miteingeschlossen, mindestens alle Unterführer und anonymen Führer, die man gar nicht weiter unterscheidet, aber auch so ziemlich alle höheren Führer mit einziger Ausnahme der ganz großen, die sich deutlich von der Menge abheben.
Die Lehre von der Massenpsychologie hat zunächst die Massenpsychosen und sodann von diesen aus in der Hauptsache das Machterlebnis der Massen unserer Zeit beschrieben, die eben zur Herrschaft gelangen, aber ihrer Herrschaft noch nicht ganz sicher sind. Das vielgelesene Buch von Le Bon über die Psychologie der Massen fuhrt uns in geistreicher Darstellung und in lebensvoller Anschaulichkeit in die Gedanken dieser Lehre ein. Der kritische Blick des Skeptikers enthüllt schonungslos die Schwächen der Demokratie. Der Wert der neuen Lehre liegt eben in diesem unerbittlichen Trieb nach Wahrheit, in diesem empirischen Ernst. Daher denn auch ihre große Wirkung, von ihr gilt das Wort „Selig sind diejenigen, die keine Phrasen machen, denn sie werden verstanden werden“. Die neue Lehre bedeutet ein redliches Besinnen gegenüber der demokratischen Phrase, zugleich bedeutet sie aber auch in den wissenschaftlichen Gedanken über das gesellschaftliche Handeln die Wendung vom Wort zu den Tatsachen. Sic will nur die Erfahrung gelten lassen und sucht sie an ihrer Quelle. Als die Quelle des gesellschartlichen Handelns erkennt sie — und das ist eine Erkenntnis, die vor ihr in dieser Deutlichkeit noch nicht da war — die Psyclic der Individuen, die in einer Masse vereinigt sind und sich in dieser nun wesentlich anders verhalten, als sie es jeder für sich tun. Auch in den bewegtesten Szenen des Massenlebens kennt sie keine anderen handelnden Personen als die Individuen, bei denen jedoch unter den Erregungen des öffentlichen Lebens Motive des Handelns zur [82] kommen, die im privaten Leben nicht oder kaum hervortreten. Dasselbe Individuum, das in seinem privater Leben seine Triebe zu zügeln bestrebt ist, mag, wenn es als Mitglied der Masse zum Bewußtsein öffentlicher Macht gelangt ist, sich ihnen zügellos hingeben; bei den nüchternsten Menschen, wenn sie als Mitglieder einer Masse besonders starken Eindrücken ausgesetzt sind, mögen Triebe hervorkommen, deren sie sich früher niemals bewußt waren, krankhafte und vielleicht gar perverse Triebe, die sich unter der Einwirkung der Massensuggestion in kriminellen oder anderen Massenpsychosen ansteckend verbreiten und entladen. In weiterer Verfolgung ihrer Gedanken behauptet die Lehre von der Massen Psychologie, daß das Individuum in der Masse erregbarer sei, das Triebhafte trete hervor, das Intellektuelle trete zurück; selbst der gebildete Mann, der sich in seinem persönlichen Kreise von allem rohen und flachen Wesen absondert, gehe, wenn er ins bunte Oedränge der Öffentlichkeit gemischt ist, mit der Masse mit, ebenso leichtgläubig wie sie und ebenso veränderlich von einem Extrem zum andern schwankend.
Diese Sätze werden von Le Bon und seinen Genossen durch eine ganze Reihe von glücklich gewählten und wirksam vorgetragenen Beispielen aus der Erfahrung belegt, dennoch dürfen wir uns mit ihnen nicht zufrieden geben. Abgesehen davon, daß die Lehre von der Massenpsychologie das private Leben überhaupt beiseite läßt — worauf wir noch zurückkommen werden — so hält sie sich selbst innerhalb des öffentlichen Lebens so gut wie ausschließlich an die besonders auffälligen Erscheinungen des Massenlebens, die doch nur die geringere Zahl sind und für den regelmäßigen Verlauf nichts entscheiden. Die Massen, die sie beobachtet, sind die krankhaft erregten oder die sonst aufgeregten und beunruhigten Massen; den ruhigen Massen, die fest in der Hand ihrer Führer stehen, wendet sie keinerlei Aufmerksamkeit zu. Ganz besonders beschäftigt sie sich mit den schwach und unsicher geführten Massen, wie wir sie in der Periode der Revolutionen so oft und gerade bei den bedeutendsten Schicksalswendungen vor uns sehen. Die Massenpsychologie Le Bons ist im Grunde die Psychologie der modernen demokratischen Mengen, die von dem Bewußtsein ihrer Macht erfüllt sind, aber ihre Macht noch nicht recht zu gebrauchen gelernt haben. Für diese hat in der Tat der Instinkt mehr zu sagen, als die Überlegung und Einsicht, die Suggestion mehr als der entschlossene Wille. Man geht kaum fehl, wenn man erklärt, daß die moderne Lehre das Herdenerlebnis der Macht beschreibe, sie beschreibt das Massengefühl, das sich in der Aufregung der Öffentlichkeit mit unheimlich [83] ansteckender Kraft verbreitet, sich übernimmt und wieder an sich irre wird. Die Periode der Revolutionen, so breit sie ist, ist aber doch nur eine Bruchstelle im ganzen langen Laufe der geschichtlichen Entwicklung, welcher große Perioden einer verhältnismäßig ruhigen und jedenfalls stetigeren Entwicklung vorausgegangen sind und vielleicht wieder solche folgen werden. In diesen andern Entwicklungsperioden erhebt sich das Machterlebnis der Masse, die ihrer Erfolge sicher geworden ist, über das bloße Herdenerlebnis, weil die Masse in diesen Jahrhunderten und Jahrtausenden von strengen und strengsten, vielleicht rohen, aber dabei eben erfolgreichen und deshalb festen Führungen beherrscht ist. Über die Psychologie dieser Zeiten erfahren wir aus der neuen Lehre nichts und es ist deshalb doch nur ein verheißungsvoller Anfang, den sie macht, indem sie die auffälligen Erscheinungen der revolutionären Gegenwart beschreibt. Sie hat sich ihr Beobachtungsfeld zu enge abgesteckt, wir müssen es auf die ganze Weite der Geschichte ausdehnen, wir müssen die moderne Massenpsychologie zu einer vollen Machtpsychologie erweitern, die vor allem das gesunde, von keinerlei Psychosen, Unsicherheiten oder Schwankungen angekränkelte Machterlebnis der Masse zu beschreiben hat.
Die festgeführte und in sich beruhigte Masse ist nicht beweglich, sondern konservativ. Le Bon selbst gibt es gelegentlich zu, daß die Masse ihrem Wesen nach eigentlich konservativ ist. Wenn er, so wie die andern Lehrer der Massenpsychologie, als entscheidenden Charakterzug der Masse ihre Beweglichkeit und ihr stetes Schwanken bezeichnet, so hängt dies zu einem Teil wohl damit zusammen, daß man die Beobachtungen hauptsächlich am Volke der Gallier angestellt hat, von denen schon Cäsar bemerkte, daß sie novarvm rerum cupidi seien. Vor allem aber ist es gewiß dadurch gegeben, daß man die Beobachtungen in der Periode der Revolutionen an Massen angestellt hat, die ohne feste Führung sieh den Stimmungen der wechselnden Lagen widerstandslos hingeben. In ruhiger Zeit vollzieht die Masse Jahr für Jahr mit unverdrossenem Fleiße ihr schweres Lebenswerk, sie bleibt so starr auf ihren Gesichtskreis beschränkt, daß sie nüchtern, engherzig, unduldsam wird. Wie sie in allem konservativ ist, so ist sie es insbesondere in der Anhänglichkeit an ihre überlieferten Führungen. Beharrlich und treu, das ist ihr eigenstes Wesen.
Was die Lehre von der Massenpsychologie über die Zügcllosigkcit des einzelnen in der Masse vorbringt, gilt auch nur für die Masse, der die feste Führung fehlt. Die ruhige Masse steht unter dem Banne überlieferter Wollte, die alle ihre Mitglieder binden; diese Mächte setzen aus, sobald [84] die Masse ins Schwanken geraten ist, und die persönlichen Triebe, die durch .sie zurückgehalten waren, können nun ausbrechen. Können sie aber ganz frei ausbrechen ? Nein, das können sie nicht, denn, solange die Masse als Masse handelt, ist sie eine Einheit, die ihren Mitgliedern das Gesetz gibt, und wenn sie erregt ist, das strengste Gesetz gibt. Le Bon macht sehr gute Bemerkungen darüber, wie die Massen in der großen Revolution bei ihren schlimmsten Zügellosigkeiten von dem Gefühle geleitet waren, sie hätten eine öffentliche Pflicht zu vollziehen. Bei den Septembermorden hätte sich der Pöbel als Richter berufen gefühlt und man hätte in diesem Gefühle eifrig darüber gewacht, daß* niemand sich an den Habseligkeiten der gerichteten Opfer vergreife. Zügellosigkeit auf eigene Faust ist in der Masse nicht erlaubt, um so schlimmer bricht dafür die Zügellosigkeit der gesamten Masse aus. Der Pöbel, der sich des Richteramtes anmaßt, weil kein Richter da ist, welcher seines Amtes waltet, übernimmt von den Pflichten des Richters nur die eine schrecklichste der Vergeltung und im übrigen gibt er sich dem freventlichen Gelüsten eines ausschweifenden Machterlebnisses hin. Die Führung, die sein muß, wenn Einheit bleiben soll, fällt den wildesten Schwarmgeistern zu und der menschliche Llerdentrieb wird den niedrigsten tierischen Instinkten der menschlichen Natur dienstbar, selbst bei Personen, die man sonst für gutgeartet halten konnte. „Abgründe gähnen im Gemüte, die tiefer als die Hölle sind“, wie es im Gedichte heißt.
Zu dem, was die Lehre von der Massenpsychologie über die Eigenschaft der Leichtgläubigkeit behauptet, ist noch allerlei aufklärend hinzuzufügen. Leichtgläubig, so daß sie sich an allem ergötzt, was man ihr bietet, ist die Masse nur dort, wo sie unterhalten sein will, aber sonst kein bestimmtes Interesse verfolgt. Dort, wo sie dies letztere tut, glaubt die Masse immer nur das, was sie glauben will, weil es in dieses ihr Interesse paßt; da freilich istsie bereit, selbst das Unwahrscheinlichste zu glauben, wenn sie anders daraus ein Motiv für die Haltung ableiten kann, die ihr durch ihr Interesse geboten ist. Was die Masse nicht glauben will, weil es sie in ihren Interessen behindert, das prallt entweder stumpf an ihr ab, oder sie weist es mit Heftigkeit zurück, falls man es ihr aufdringen will; darin ist die ruhigste konservative Masse von der unruhigsten nicht verschieden. Diese Art Tieichtgläubigkeit ist ein erwünschtes Mittel der Autosuggestion, durch die man sich in seine Stimmungen verbohrt. Wie jeder einzelne, braucht auch die Masse den Glauben an sich, sie braucht die Legende ihrer Vortrefflichkeit und Sieghaftigkeit, wie sie die Legende der Verdorbenheit und Hassens Würdigkeit des Gegners braucht. Anders würde sie der heroischen [85] Anspannung all ihrer Kräfte nicht fähig sein, die der Kampf um die Macht erfordert. Im Kampfe ums Dasein könnte Bich kein Volk behaupten, dem solche Anspannung nicht möglich wäre. Es gibt keine Volksgeschichte, die nicht davon zu erzählen hätte, welch äußerste Hingebung die Bürger in den großen Staatskrisen bewährt haben. Die stärksten Völker, die am leidenschaftlichsten danach streben, sich obenauf zu halten, sind am heftigsten darauf aus, mit begieriger Gläubigkeit die Motive zu nähren, die sie zur Aufreehterhaltung ihrer Leidenschaft brauchen. Sobald es nottut, machen sich die erfahrenen Kenner des Massenlebens, wie sie jede gesohickte Führung in ihrer Mitte hat, unverweilt daran, dem Volke zu liefern, was dessen Glaubenshunger sucht, und sie wissen recht gut, daß sie in der Kost, die sie verabreichen, nicht wählerisch sein müssen. Je derber, desto wirksamer. Das englische Volk als dasjenige unter den Völkern Europas, das bei seinen staatlichen Entscheidungen am meisten mitzusprechen hat, ist der Propaganda seiner Führer am meisten ausgesetzt. Erst bis geschehen ist, was geschehen sollte, ruft Gott Äolus die Stürme zurück und die Welle ebbt wieder ab. Nun dürfen sich auch die besonnenen Männer wieder hören lassen, die während des allgemeinen Lärmens nicht zu Wort kommen konnten, die vielleicht an sich selber zweifelhaft geworden waren oder die man unsanft zur Seite geschoben hatte. Unter ihrem Tadel und ihren Ermahnungen kommt ein aufrechtes Volk zur Erkenntnis seiner Irrung und man macht sieh sogar daran, zu bessern, was noch zu bessern ist, vorausgesetzt allerdings, daß man — konservativ wie man auch darin bleibt — von den Früchten des Sieges nicht zuviel herausgeben muß. Wenn dann der nächste Kampf zu bestehen ist, gibt sich die Volksseele mit gleicher Leichtgläubigkeit wiederum der gleichen Leidenschaftlichkeit hin und ist ohneweiters bereit, falls man sieh gegen den Freund von gestern wenden muß, dessen eben noch gerühmte Vorzüge in ebensoviel unheilvolle Laster zu verkehren. Das gehört zur Beharrlichkeit des starken Volkes, das sich in der Welt durchsetzen will.
Auch die Behauptung, daß im Massenleben das Triebhafte hervortrete, bedarf noch der aufklärenden Berichtigung. Nur dasjenige Triebhafte tritt hervor, das ein Teil einer starken gemeinen Kraft werden kann, aber dieses wird zum bewußten Willen erhöht, das Triebhafte hingegen, das zu den Heimlichkeiten der Menschenbrust gehört, bleibt auf das persönliche Leben eingeschränkt, wo es freilich, sofern es allgemein persönlich ist, weiteste Wirkung üben wird. Hunger und Liebe behalten immer ihre weite Wirkung im gesellschaftlichen Getriebe, aber als Faktoren gesellschaftlicher Macht sind sie von andern [86] Trieben überholt, welche die großen Maasen zu Einheiten zusammenzwingen. Ebenso wird die Behauptung, daß das Intellektuelle in der Masse zurücktrete, im gesunden Leben der Gesellschaft nicht bestätigt, die Masse wird durch den Führer gehoben, dessen Gedanken sie mitdenkt. Durch den Erfolg des gesellschaftlichen Zusammengehens ist gerade das Intellektuelle in den Menschen ganz besonders gefördert worden; die Bildung ist ein gesellschaftliches Werk, das bald in stetiger, ruhiger Arbeit, bald in reißender Strömung vorwärtsgeht*. Das letztere ereignet sich dann, wenn neue Ideen nach langer Vorbereitung sich plötzlich über die Gemüter verbreiten, in denen sie durch das Machterlebnis zur Herrschaft kommen, mit dem ihr neuer Schwung freudig empfunden wird. Dann erhält der Gedanke etwas Triebhaftes hinzu, er erhält eine überindividuelle Kraft, die aus dem gesellschaftliclien Nachdruck fließt, mit dem die Geister einander vorwärtsd rängen. Mehr noch als beim einzelnen Denker, der sich seinem Drange nach Wahrheit hingibt, ist der neue Gedanke für die Gesellschaft bei ihrem gesteigerten Wesen mit dem Geiste zugleich vom Verlangen getragen, als ein Wahn voll berückenden Glanzes, voll übermäßiger Erwartungen.
Die Lehre von der Massenpsychologie irrt auch darin, daß sie voraussetzt, im privaten Leben finde sich die Erscheinung der Masse nicht, sondern hier stehe das Individuum „für sich“. Es gibt kein „Individuum für sich“, es wäre nicht lebensfähig. Auch in der Zurückgezogenheit des Hauses und der eigenen Arbeit ist jeder Maun dem Einflüsse gesellschaftlicher Mächte ausgesetzt — der anonymen Mächte, wie wir sie genannt haben — auch da will man vor dem Urteil der andern bestehen können, deren Augen, wie man wohl weiß, einen überallhin verfolgen, und ebenso will man auch da von den Erfolgen der andern lernen, die man begierig wahrnimmt, auch wenn man seine Geschäfte in einiger Distanz voneinander verrichtet. Das Wesentliche des Masseulobens, daß man sich nacheinander richtet, spielt sich im privaten Kreise wie in der Öffentlichkeit ab, es besteht nur im Grad ein Unterschied. Im privaten Leben ist man nicht so enge aneinander gepreßt, so daß man sich etwas selbständiger rühren kann; im öffentlichen Leben ist man einander so nahe, daß man im engsten Verbände, um mit Mephisto zu reden, schieben muß und geschoben wird.
Dies hängt, damit zusammen, daß im privaten Leben jeder für sich selber sorgen muß, er hat sein Sonderwerk zu verrichten, im öffentlichen [87] lieben dagegen sind die gemeinsamen Angelegenheiten zu schlichten, hier ist Gesamtwert zu tun. Wie wir wissen, ist aber auch das Sonderwerk des Privatlebens nicht isoliert, es ist in seiner Art gleichfalls gesellschaftliches Werk. Nicht nur, daß der einzelne in seinem Sunderwerk in den Schranken der Mächte von Recht und Sittlichkeit gehalten ist. die ihm nur einen gewissen Spielraum der Bewegung freilassen, so bewegt er sich auch innerhalb dieses Raumes durchaus nicht ganz frei. Es wird wenig Haushaltungen geben, die sich gar nicht an das gesellschaftliche Vorbild halten, die meisten richten sich ziemlich genau nach diesem ein und hüten sich ängstlioh davor, den Tadel der andern herauszufordern. Die persönliche Energie äußert sich zumeist nur in dem Grade der Selbständigkeit, mit der man die allgemeinen Regeln den persönlichen Verhältnissen anpaßt; von der rechtlichen Bewegungsfreiheit bleibt für die Masse der Menschen praktisch nur eine gewisse Wahlfreiheit übrig in Hinsicht auf die Modalitäten, unter denen sie die allgemeinen Regeln erfüllen. Der Egoismus sondert den einzelnen von den andern keineswegs strenge ab, bei der Masse der Menschen geht er darauf hinaus, so für sich zu sorgen, wie die große Masse der andern für sich sorgt, wie „man“ für sich sorgt. Für die große Masse der Menschen gilt in ihren privaten Angelegenheiten die „Psj'chologie des Man“ wenn ich einen Ausdruck wiederholen darf, den ich schon bei andrer Gelegenheit angewendet habe. Der Durchschnittsmensch will sich in allem möglichst so verhalten, wie man sich verhält. Das Ichgefühl, durch das sich der Mensch in seinem Innersten als ein von den andern abgesondertes Wesen erkennt, wird bei allen schwächeren Menschen — und das ist die große Masse — durch unmerkliche, aber zwingende gesellschaftliche Mächte erzogen und erhält dadurch eine Richtung, die nicht mehr rein persönlich ist. Das Bewußtsein hat ungezählte Einbruchspunkte, durch die es gesellschaftlichen Einflüssen zugänglich ist, welche es bis in seine Tiefen hinein in die gesellschaftlich eingefahrenen Bahnen leiten. Das Ichgefühl des gesellschaftlich erzogenen Individuums ist nicht befriedigt, . wenn ea sieh nicht in allen Hauptbeziehungen mit der Gesellschaft einig findet. Bei voller gesellschaftlicher Erziehung geht der Egoismus vom Individuum aus, um in der Gesellschaft zu endigen, er wird zum gesellschaftlichen Egoismus, der gerade nur so viel für sich verlangt, als man nach dem gesellschaftlichen Herkommen für sich verlangen darf und soll.
Dieser Satz gilt nicht nur dort, wo man sich durch soziale Rücksichten deutlich gebunden fühlt, sondern gerade auch dort, wo man ganz auf sich gestellt zu sein meint. Dort, wo der Mann der Masse, der [88] Durchschnittsmensch sich ganz in seinem Elemente fühlt, ist er am wenigsten ein „Individuum für sich“, gerade da ist er so recht das Produkt seiner Umgebung und seiner Zeit, die ihn erzogen haben. Der Individualismus der Durchschnittsmenschen verdient eigentlich diesen Namen nicht, denn an ihnen ist so gut wie nichts Individuelles, nichts wirklich Persönliches geblieben. Haus und Schule haben an ihnen da« Eigenartige abgeschliffen und ihnen, ohne daß sie es recht bemerkten, durch überlegenen Druck, dem sie höchstens den Widerstand des halsstarrigen Kindes entgegenzusetzen vermochten, volle Unterordnung abgenötigt. Rechtlich selbständig geworden, fahren sie fort, das Opfer freier Entschließung tatsächlich weiter zu bringen; ängstlich richten sie sich in jeder Lage darnach, wie man sich in dieser Lage allgemein verhält, immer brauchen sie noch die Stütze des allgemeinen Beispieles, um sich darüber zu entscheiden, was das Zuträglichste, das Sparsamste, das technisch Wirksamste und sonst das Klügste sei. Die Masse der Durchschnittsmenschen sind gleichgerichtete Glieder der Gesellschaft, denen ihr eigenes Recht in der privaten Sphäre unbedenklich eingeräumt werden kann, ohne daß die Gesellschaft Gefahr liefe, wie die Gegner des Individualismus es behaupten, in Atome zerrissen zu werden. Das bescheidene Machterlebnis, dessen sie sich unter ihren Umständen erfreuen, genügt, um sie in der überlieferten Ordnung zu halten. Die klassische Lehre vom Individualismus wäre niemals angefochten worden, wenn sie sich darauf beschränkt hätte, Bewegungsfreiheit für die Masse der gewöhnlichen Menschen zu fordern, die sie niemals gesellschaftlich mißbrauchen konnten, freilieh wäre sie auch niemals ausgedacht worden, wenn sie nicht mehr zu fordern gehabt hätte.
Erst an den führenden Unternehmern hat sich im privaten Wirtschaftsleben Individualismus im wahren Sinne geltend gemacht. Die sich überstürzende Entwicklung der Technik und des Marktes hat den Männern klaren Blickes und starken Willens Möglichkeiten des Gewinnes eröffnet, von denen sie entschlossen und oft rücksichtslos Gebrauch machten. Sie haben nicht nur individuell frei, sondprn individualistisch gehandelt, mit dem Ziele des eigenen Wohles und dem Genüsse des eigenen Wullens. Selbst dies gilt im vollsten Sinne nur für die stärksten dieser Unternehmer, für diejenigen, welche die Führer der Masse der Unternehmer sind. Alle andern, so selbständig sie nach außen hin auftreten, schöpfen ihre Kraft doch zum besten Teile aus der Bewegung der Zeit, die mit ihnen zugleich so viele andere Unternehmer erweckt hat, mit denen zusammen sie ihre gemeinsame Bahn gehen. Wie Marx richtig bemerkt, ist der Unternehmer das Geschöpf seiner Zeit, [89] er muß so wollen, wie die andern neben ihm wollen, sonst wird er von seinen eigenen Genossen mißachtet und zurückgedrängt. Wer als Unternehmer neue Wege versucht, muß eine Kraft über das Mittel der Unternehmerkraft besitzen und muß sicli gegen seine Genossen durchkämpfen.
Die Unternehmer lieben es, ihre Cescbäftspsychologie, die nichts anderes als Machtpsychologie ist, in dem Sinne zu deuten, daß sie nicht so sehr um ihrer persönlichen, als um der allgemeinen Interessen willen tätig seie, sie geben sich gerne als Organe der Gesellschaft, als öfentliche Wohltäter, sie pflegen sich zu rühmen, in welchem Grade sie die gesellschaftlichen Energien vervielfachen, in welchen Mengen sie neue Leistungen hervorbringen, für wie viele Menschen eie Arbeitsgelegenheit schaffen. Man braucht sie deshalb nicht der Heuchelei zu zeihen, man wird indes kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß die meisten dieser Männer ohne den Reiz des persönlichen Machterlebnisses kaum für das gesellschaftliche Wesen so empfänglieh geworden wären, wenn man auch zugeben muß, daß der Drang, ihre Kraft auf dem weiten gesellschaftlichen Felde zu betätigen, mit seinen Reiz auf sie ausübt. Der Reiz des persönlichen Machtcrlebnisses ist es jedenfalls, was sie dagegen gleichgültig werden läßt, welch harten Zwang sie oft ihren Mitarbeitern und Mitbewerbern auferlegen und welch schwere Opfer sie von ihnen fordern.
Wie die wirtschaftlichen Führer, müssen alle Führer des öffentlichen Lebens Persönlichkeiten über dem Mittelmaß sein und insoweit etwas Individuelles an sich haben, was nicht immer heißt, daß sie auch individualistisch sein müssen. Die Führer gehen keineswegs immer darauf aus, ihre Macht für sich persönlich auszunützen, die Zahl derer ist keineswegs gering, deren Egoismus einem weiteren gesellschaftlichen Körper, der Partei, der Klasse, dem Staate dient, und die großen Seelenführer widmen sich ohne Schranken dem allgemeinen Wohle. Wenn der Führer darauf ausgeht, seine Macht für sich auszunützen, so muß es wiederum nicht in der groben Weise geschehen, daß er wirtschaftlichen Vorteil für sich selber sucht. Die Befriedigung des Ehrgeizes ist ein Motiv, das in aller Regel mitspielt und das nicht selten alle andern verdrängt. Bei der Herrschsucht wird es sich oft kaum unterscheiden lassen, ob sie den starken Mann vorwärts treibt, weil er sich zum gesellschaftlichen Werke berufener fühlt, als alle die andern um ihn herum, oder weil er [90] es eben nicht über sich bringt, einem andern den Vorrang zu lassen. Jedenfalls ist der Trieb, seine Kraft auszuleben, in der starken Führernatur kaum zu unterdrücken. Dennoch stehen nur wenige Führer so aufrecht, daß man sie nach dem Worte Nietzsches als freie Geister bezeichnen kann, die meisten sind, während sie Macht üben wollen, zugleich selber im Banne der geschichtlichen Machtströmungen. Nur die auserlesensten Führernaturen widmen ihre Kraft den machtlosen Anfängen neuer geschichtlicher Bewegungen oder gar den Mühseligen und Beladenen. Der typische Führer geht mit der Macht, mit der geschichtlich befestigten oder doch wenigstens mit der werdenden, weil sie allein geeignet ist, ihm das berauschende Machterlebnis des Führers zu bieten, wie »eine Seele es verlangt. Dies ist ein typischer Zug in der Machtpsychologie der großen Zahl der Führer.
Seinen Führerberuf, voranzugehen und die Masse zur Nachfolge zu bewegen, erfüllt der typische Führer dadurch, daß er die Mittel und Wege angibt, damit diese zu den Zielen gelange, nach denen ihre Triebe oder Bestrebungen sie weisen. Der typische Führer steht im Dienste der geschichtlichen Ziele der Masse.
Am selbständigsten vermag sich über den Gesichtskreis der Masse ein starker herrschaftlicher Führer zu erheben, der seiner Macht sicher ist und durch ihren Widerstand nicht eingeschüchtert wird. Ein Bismarck, als der Berater eines Königs von unantastbarer Stellung, konnte das widerstrebende Bürgertum zwingen, seine militärische Pflicht zu tun, als er das Machtmittel von Blut und Eisen für nötig hielt, um den Nationalstaat zusammenzuhämmern. Nach dem Siege war er persönlich stark genug, um dem König und den Heerführern selber zu widersprechen, als sie dem Gegner Friedensbedingungen auferlegen wollten, die er für abträglich hielt, und endlich konnte er, nachdem er erkannt hatte, daß das deutsche Volk saturiert sei, seine ganze Meisterschaft daran wenden, um es über alle Kriegsstimmungen hinweg im friedlichen Besitze des Reiches zu erhalten. Freilich kann cs im dynastischen Wesen auch anders kommen, denn wenn auch die starken Dynastien geschichtlich ausgelesen sind, so sind es nicht alle ihre einzelnen Vertreter und nicht alle ihre Berater. Das demokratische Wesen hat den Vorzug, daß alle seine Führer durch einen gewissen Prozeß der Auslese gesichtet werden müssen, wenn auch dieser Prozeß nirgends so eingerichtet ist. noch auch jemals so eingerichtet werden kann, daß er sichere Gewähr dafür gibt, immer nur die Besten des Volkes zur Führung zu erheben. Die demokratischen Führer werden, um hinauf zu kommen und sich oben zu erhalten, in ihrer großen Zahl den [91] Stimmungen der Masse nachgeben, sie müssen mit den Strömungen der Zeit gehen und sie halten sich daher dorthin, wo diese am stärksten sind, während sie das stillere Fahrwasser meiden.
Wenn man von den ganz großen Führern absieht, so kann man von den Führern im allgemeinen sagen, daß sie die Bestrebungen der Masse übertreiben, statt sie auszugleichen. Die großen Scelenführer schöpfen immer aus dem Ganzen der menschlichen Natur, sie rufen neue Kräfte auf, aber sie suchen immer auch wieder das Gleichgewicht der Seele, die andern Führer dagegen, die Führer der Mittel und Wege, teilen sich in zwei Gruppen, deren Wirksamkeit bei aller ihrer Verschiedenheit darin übereinkommt, dieses Gleichgewicht zu stören. Die einen bringen eine Art allgemeiner Führerbegabung mit, sie haben die leichte Beweglichkeit, sich nach allen Seiten zu wenden, wie es gerade die Not oder das Interesse gebietet, und sie haben vor allem die Gabe der Rede und der Schrift; sie sind die lautesten Rufer im Streit, sie haben für alles das Wort bereit, sie prägen die Schlagworte des Tages, die dazu geeignet sind, rasch zu kursieren und, indem sie von Mund zu Mund gehen, die Übereinstimmung der Meinungen vorzutäuschen; die Masse spendet ihnen heute Beifall, morgen spottet man vielleicht über sie, aber auf alle Fälle braucht man sie, sie sind die unentbehrlichen Spieler auf der Bühne des öffentlichen Lebens. Die andere Gruppe ist die weitaus wirksamere und wertvollere; es sind die Männer, die in einer besonderen Richtung besonders begabt sind und die auf all den vielen (iebieten des Lebens den Fortschritt einleiten, die Vorarbeiter der Masse, bei denen man aber freilich hinnehmen muß, daß jeder von ihnen auf seine Art beschränkt ist. Sie sind dem gemeinen Mann in ihrer besonderen Leistung hoch überlegen, aber er ist ihnen im ganzen überlegen, denn sein Wesen ist mehr im Gleichgewicht. Sie leiden an Hypertrophie bestimmter Organe und bringen es bei aller Ausbildung oft doch nur dazu, Virtuosen ihres Instrumentes zu werden. Die eine wie die andere Gruppe erhält sich in Geltung und Macht durch den Erfolg, den die Masse unter ihrer Führung gewinnt, aber es ist nicht immer ganz der rechte Erfolg, es ist nicht immer der Erfolg auch im Ziele, das man leicht aus den Augen verliert, sondern oft der bloße Erfolg im Mittel. Der militärische Führer, der nichts weiter ist, als ein tüchtiger militärischer Führer — und die meisten sind nichts weiter — weiß den Sieg auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, aber er weiß ihn nicht für den Frieden zu verwerten, und das Volk geht der besten Früchte des Sieges verlustig, wenn ein günstiges Geschick ihm nicht zum Ausgleich auch den tüchtigen staatsmännischen Führer beschert.
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Die Beschränktheit des Führers wird für die Masse um so gefährlicher, weil sie mit einem gesteigerton Ehrgefühl verbunden ist. Führerehre ist Ehrgeiz, Habgier nach Ehre. Der Führer braucht dieses gesteigerte Gefühl, denn sein Amt fordert erhöhte Bemühung und legt ihm erhöhte Opfer und Gefahren auf, die Offiziers Verluste im Felde sind immer größer, ata die der Mannschaft; dafür muß dem Führer ausgleichend auch die Aussicht geboten sein, Ehre in höherem Maße zu gewinnen. Der Erfolg wird ihm, der weithin sichtbar voranschreitet, vor allen andern zugesprochen; er wird mit dem Lorbeer des Siegers geschmückt, während die Masse doch den Sieg mitbestreiten mußte. Welche Versuchung ist es nicht, die Opfer der Masse zu steigern, um das Führererlebnis der Ehre zu steigern! Die höchste Versuchung geht dahin, die Macht des Führers zur Macht des Herrschers zu erheben. Die Herrschsucht bedroht die Masse noch weit schlimmer, als der bloße Führerehrgeiz. In ihrer höchsten Übertreibung streht sie nach der Macht um der Macht willen. Jeder Sieg soll einen neuen Sieg gebären, die Aussicht auf den Frieden, deT doch das Ziel des Erfolges sein soll, rückt in immer weitere Ferne. Die Herrschsucht gefällt sich an den Opfern, die ihr die Masse auf ihrem Wege zum Gipfel der Macht darbringen muß. Das Machterlebnis eines Napoleon wird gesteigert, wenn er nach dem Siege über das Schlachtfeld reitet und es von den Körpern der Gefallenen und Verwundeten bedeckt sieht. Napoleon war nicht bloß ein gewaltiger Kriegsmeister, seine reich begabte Herrschernatur, eine der reichsten der Geschichte, ließ ihn die vielfältigsten und höchsten Aufgaben sonst erfassen und bewältigen, aber seine Herrschsucht war so verzehrend, daß sie alle Kräfte, die er zu scharfen wußte, dem einen Ziele der Weltherrschaft unterordnete, welche er mit dem Schwerte zu gewinnen gedachte. Die Machtpsychologie der jakobinischen Schreckensmänner, die vor ihm die Führer der durch die Revolution aufgeregten Massen gewesen waren, ist schwerer durchsichtig als die seine. Bei ihnen war Herrschsucht und Pflichtgefühl, beides ins höchste gesteigert, ununterscheidbar verbunden, sie waren die überzeugten Diener eines fanatischen Glaubens, dessen Forderungen sie sich selber aufzuopfern bereit waren; erst ihre Nachfolger heuchelten ein Pflichtgefühl, das sie nicht mehr besaßen. Anders als Napoleon waren f>ie, den einen Danton ausgenommen, engbeschränkte Menschen ohne die Fähigkeit, die ungeheuren neu entfesselten und ihres Gesetzes noch nicht bewußten Volkskräfte zu meistern ; gerade die Eigenschaft aber, daß sie enge auf den neuen Gedanken der Volkssouveränität l>cschrankt waren, machte sie zu Führern der [93] Mittel und Wege für so lange, bis die geschichtlichen Widerstände gegen diesen Gedanken gebrochen waren. Sie waren an der allgemeinen revolutionären Psychose noch hitziger erkrankt, als die Masse selbst, und während sie die Schauer eines ungezügelten Machterlebnisses begieriger als alle anderen genossen, waren sie von einem Tag zum andern gewärtig, der furchtbaren Macht, die in ihre Hände gegeben war, selber überliefert zu werden. Kronos, der die eigenen Kinder verschlingt, so hat man von der französischen Revolution gesagt und man hätte kein treffenderes Bild wählen können. Der Machttrieb ruhte nicht bis zur Selbstvernichtung.
An dem Machterlebnisse der großen Führer sind immer auch die bevorzugten Personen ihrer nächsten Umgebung mitbeteiligt und darüber hinaus noch die ganzen Gruppen der bedeutenderen Kämpfer und Helfer, die sie für ihren Erfolg brauchen, die Unterführer, die unter die Masse verteilt sind, sowie auch der Troß selbst, der ihnen nachfolgt; eine bunte Gesellschaft von den großen Würdenträgern des Staates wie der Kirche und den Potentaten des Kapitales angefangen, über Adel und Geistlichkeit, Offiziere und Beamte bis zu den niedrigsten persönlichen Vertrauensmännern, zu Prätorianern und Janitecharen, zu kleinen Geschäftsleuten und Lakaien, die besten und die schlimmsten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes nicht zu vergessen. Sie alle sind dem Führer behilflich, seine Macht aufrechtzuerhalten, die ihre Macht ist. Man muß dies verstehen, um die Tatsache zu verstehen, daß der eine Fürst oder daß eine ganz enge Zahl von Berechtigten den Millionen das Gesetz gibt. Man darf aber außerdem nicht übersehen, was das demokratische Gefühl von heute nicht mehr zu fassen vermag, daß der erfolgreiche dynastische Führer auch im echtesten Sinne volkstümlich werden konnte. Dem demokratischen Gefühl von heute ist das dynastische Gefühl von früher schlechthin der Ausdruck niedriger Unterwürfigkeit; daran hat es ja niemals gefehlt und man braucht nicht nach Asien oder Afrika hinüber zu blicken, um die Belege dafür zu sammeln, aber man muß sich auch in die Seele des seinem Fürsten loyal ergebenen Bürgers zurückversetzen können, der den Fürsten als den Führer der gemeinsamen Siege und Triumphe vor sich sah, dem er durch das schöne männliche Gefühl der Treue verbunden war. Selbst dem schwachen oder ausgearteten Sohne, der dem tüchtigen Vater auf dem Thron folgte, konnte der aufrechte Sinn in Ergebenheit dienen, indem er der Einrichtung diente, die durch die Zeit gefordert, durch die Überlieferung geheiligt und zunächst durch keine andere Ordnung zu ersetzen war. Das Volk mußte erst die Erfahrung des eigenen Machterlebnisses vor sich haben, bevor es sich der geschichtlichen dynastischen Führung [94] entzog, oder aber es mußte die bittere Erfahrung gemacht haben, daß alle Opfer der Ergebenheit, die es dem fürstlichen Willen brachte, umsonst gewesen waren und im Erlebnisse von Unheil und Ohnmacht endeten.
Der Masse, die in Furcht oder Ehrfurcht auf den Herrscher blickt, antwortet der Herrenwille je nach Persönlichkeit und geschichtlicher Lage in Grausamkeit, Härte, Übermut, in Herablassung und Wohlwullen oder in fürstlich vornehmem Pflichtgefühl. Das gemeinsame Maehterlebnis verbindet die Genossen dazu, einander bei der Verteidigung oder Verbesserung der gemeinsamen Stellung Hilfe zu leisten, es verbindet auf der Herrenseite dazu, die gleiche Linie der Abweisung oder der Milde einzuhalten, auf Seite der Müsse verbindet es zum gleichen Gefühle des treuen Dieners oder der trotzigen Auflehnung. Wie zwischen Regierenden und Regierten gilt dies, jeweils den Verhältnissen angepaßt, überall, wo Führer und Masse miteinander gehen und dabei ihrer wechselseitigen Abhängigkeit wie der Spannung ihrer Interessen bewußt werden.
Im Bilde von Kronos, der die eigenen Kinder verschlingt, ist das Überindividuelle und Antiindividuelle des Machttriebes an dem krassen Falle der jakobinischen Schreckensmänner deutlich gemacht. Etwas Üherindividuelles und vielleicht auch Antiindividuelles ist aber in jedem Falle der Zugehörigkeit zu einem Macht verbünde gegeben und ist daher, wenn auch unter Umständen in geringster Dosis, ein wesentliches Element der Machtpsychologie. Gerade so wie einer, der sich mit andern zusammen drängt, um durch gemeinsamen Druck ein im Wege stehendes Hindernis zu beseitigen, auf den freien Gebrauch seiner Gliedmaßen verzichten muß, muß man im gesellschaftlichen Verbände, ob man nun zur Masse gehört oder selbst als Führer hervortritt, ein Opfer seines eigenen Wesens bringen, vielleicht sogar ein Opfer an schwerer Bemühung und Gefahren, mindestens aber ein Opfer der Selbständigkeit seines Willens. Man wird für dieses sacrificium voluntatis im günstigen Falle dadurch entschädigt, daß man Teil einer starken gemeinen Kraft wird, die höhere Erfolge einbringt, und da in der gedeihenden Gesellschaft der günstige Fall die Regel ist, so wird hier das Opfer zumeist nicht vergeblich gebracht sein.
Im privaten l>eben fühlt man das sacrificium voluntatis in der Unbequemlichkeit und Last der sozialen Verpflichtungen, wie man sie der Verwandtschaft, den Nachbarn, den Arbeitsgenossen, der Klasse [95] schuldig ist. Man fühlt es besonders drückend in den Ausgaben, die zur standesmäßigen Haltung gehören, welche auch von den mindergestellten Mitgliedern des Standes gewahrt Meiden muß. Besondere lebhaft fühlt man den Verzieht auf Lieblingsneigungen, Hie man der Notwendigkeit des Erwerbes zum Opfer bringen muß.
In der Sphäre der vollen Öffentlichkeit, wo die Masse auf das engste zusammengepreßt wird, ist die Notwendigkeit des einheitlichen Zusammengehens unabweisbar, es genügt nicht, sich in weiten Abständen einigermaßen nacheinander zu richten, sondern man muß geschlossene Einheiten formieren. Der Erfolg fordert gebieterisch das Gesamtwerk und darum unterwirft sich auch der unabhängigste Sinn dem gemeinen Willen. Die Individuen wollen nicht für sich bleiben, sondern ordnen sich freiwillig in Reih und Glied, alle bringen das bewußte und empfundene Opfer des eigenen Willens. Ehre, Stolz, Pflicht überwältigen die Individuen, so daß sie sich freudig für das allgemeine Machterlebnis aufopfern, welches jeder von ihnen mitempfindet; freudig, wenn auch unter Schmerzen, denn nicht ohne Schmerzen kann man dem Selbsterhaltungstrieb das Äußerste an Verzicht abnötigen. Das Individuum in der Masse hört nicht auf, sich als Individuum zu fühlen, wo es sich den starken Mächten der Öffentlichkeit beugt, es hört hier nur auf, individualistisch im Sinne seines persönlichen Vorteils zu fühlen. Jeder einzelne macht sich zum tätigen Organ des gemeinen Willens, den er durch das Medium seines Willens zu zweckvollen Handlungen umsetzt, er bringt ihm seinen Besitz entgegen, er nimmt Mühe und Gefahr bis zum äußersten auf sich und zögert nicht, wenn es sein muß, auf seine Selbsterhaltuug zu verzichten und sein Leben zum Opfer zu bringen. Der Selbsterhaltungstrieb ordnet sich bewußt dem gesellschaftlichen Machttriebe unter, der individuelle Wille wirkt im Sinne überindividueller Forderungen. Indem er das Äußerste aus sich herausholt, mehr als irgend ein Zwang von außen vermöchte , wirkt erantiindividualistisch bis zur Selbstvernichtung.
Die Führereiire legt den vorangehenden Führern das sacrificium voluntatis in erhöhtem Maße auf. Vor allen andern sind sie zur aufopfernden Arbeit verpflichtet, der Gefahr gegenüber müssen sie die ersten sein, sich preiszugeben.
Wir haben mit dieser Erkenntnis den Schlüssel nicht nur für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, sondern auch für das [96] Gemeinschaft selbst. Dadurch, daß jeder in seinem Willen dahin gebunden ist, sich nach den andern zu richten, ist die ganze vereinigte Masse gebunden, wie sie anderseits durch das Zusammenhalten an Wucht und Ausdauer gewinnt. Diese Erkenntnis ist u-alt, älter als alle wissenschaftliche Soziologie, sie ist längst in dem Gleichnisse von den Ruten niedergelegt, die einzeln für sich geschmeidig, dadurch unbiegsam und fest werden, daü ßie im Bündel zusammengeschnürt sind, sie ist in ihrer ganzen Bedeutung aber erst dann erfaßt, wenn man erwägt, daß die Bindung, die einmal besteht, so leicht nicht wieder gelöst werden kann. Ein gesellschaftlicher Verband, wenn er einmal durch das sacrificium voluntatis seiner Mitglieder zusammengehalten ist, wird durch die Opfer, die er von seinen Mitgliedern verlangt, nicht ohneweiters erschüttert. Wenn der Erfolg einmal Führer und Masse zum Zusammengehen geleitet hat, so wird ein Mißerfolg trotz der Verluste, die er bringt, nicht ohneweiters zum Auseinandergehen Anlaß geben.
Die Beharrlichkeit eines Volkes kann bis zum Ende aushalten. Gerade die starken Völker haben sich oft für lange Zeit, und manche für immer, an den Opfern erschöpft, die sie auf sich nahmen, um ihren gaschichtliehen Weg zu vollenden. Das starke Volk ist noch unbeugsamer, als der starke Mann, dieser findet doch noch eher den Entsclüuß zur Umkehr, wenn er erkennen muß, daß er sich an den Opfern verblutet, die der Kampf kostet. Der einzelne ist nur durch seine persönliche Leidenschaft gebunden, die Tausende oder Millionen eines Volkes sind es außerdem durch den wechselseitigen Druck, den sie aufeinander ausüben, sie sind durch das allgemeine sacrificium voluntatis gebunden. Sie sind in ihrer Haltung dem geschichtlichen Zustand angepaßt, in dem sie groß geworden sind, und besitzen nicht das innere Gleichgewicht, um sich leicht in eine neue Haltung hineinzufinden. Die Technik der Massen arbeitet langsam und versagt mitunter überhaupt. Bis zum letzten Ende will man nicht aufhören, an die Macht zu glauben, die bisher immer Erfolg gebracht hat, die im Erfolge groß geworden ist und der man sich nicht mehr entwinden kann, auch wenn der Mißerfolg sie offenkundig Lügen straft.
Damit erst sind wir zum innersten Geheimnisse der Machtpsychologie vorgedrungen. Die persönliche Kraft wird dadurch, daß sie sich mit den Kräften einer Vielheit gleichgerichteter Menschen zusammenfühlt, weit über das persönliche Maß gesteigert, mit ihr wird das Machtgefühl gesteigert, zugleich aber wird die Kraft in nicht geringem Grade persönlich entwurzelt. Im persönlichen Leben [97] hält der Selbsterhaltungstrieb bei allen Irrungen, denen er sonst ausgesetzt sein mag, den gesunden Mann doch immer instinktiv aufrecht, in der Gesellschaft geht diese Sicherheit des Instinktes verloren, sobald sich der persönliche Selbsterhaltungstrieb mit dem Opfer des eigenen Willens dem gesellschaftlichen Machttriebe ganz und gar unterordnet. Indem die vielen ihren Willen vereinigen und das Opfer ihrer Selbständigkeit bringen, wird ihre Willensherrschaft gemindert. Hieraus empfängt die Macht nicht nur einen überindividuellen und antiindividuellen, sondern unter Umständen einen antigesellschaf tliehen Charakter, der mit voller Umkehrung des Gesetzes des Erfolges bis zur gesellschaftlichen Selbstvernichtung gehen kann.
Wir werden uns mit diesem Gedanken an späterer Stelle noch eingehend zu beschäftigen haben.
In iedem Volke bestehen immer zahlreiche — fast möchte man sagen zahllose — Verbände nebeneinander, in welchen überall Führer und Masse zu gemeinsamem Werk vereinigt sind, und in jedem dieser Verbände webt der Erfolg das Band der Macht, das ihn innerlich zusammenhält. Am deutlichsten treten die großen Machtverbände hervor, welche die Gesamtheit der Bürger vereinigen: der Staats verband, die andern örtlichen Gesamtverbände, der Kirchen verband, der nationale Verband und neben ihnen diejenigen, welche Träger besonders durchgreifender Kräfte sind, wie der Heeres verband. Dann folgt aber noch die bunte Menge all der Organisationen, die den verschiedenartigsten Sonderinteressen dienen, von den höchsten geistigen bis zu den rein materiellen und geselligen Interessen. Am wenigsten fallen dem Blicke des Beobachters die Verbände der freien Gesellschaft auf, die, unter anonymer Führung stehend und durch anonyme Mächte wirkend, einer festen Organisation entbehren, die „anonymen Verbände“, wie wir sie wohl nennen dürfen. Jeder Verband hat seine besondere Verfassung, die dem Werke, das geleistet werden soll, durch den Erfolg angepaßt wird und die dementsprechend die Befugnisse zwischen Führer und Masse teilt. So entstehen Führungaverbände, wo die Vormacht bei den Führern ist, und Massen verbände, wo sie bei der Masse ist. [98] Zu den Führung* verbänden gehören, außer den älteren Gewaltformei), die autoritären und herrschaftlichen, zu den Massen verbänden die genossenschaftlich-demokratischen und die anonymen. Die einen wie die andern finden sich selten rein, gewöhnlich hat man die mannigfachsten Übergangsund Mischformen zu beobachten.
Jedermann ist immer einer großen Reihe von Verbänden gleichzeitig zugehörig ur d somit einer großen Reihe von gesellschaftlicher Mächten gleichzeitig unterworfen. Um nur die wichtigsten Verhältnisse zu berühren, so hat jeder einzelne, der selbständig geworden ist, als Reichsbürger, als Landesangehöriger, als Stadtbürger oder Dorfgenosse weite Pflichtenkreise zu erfüllen, unter denen schon der eine Pflichtenkreis der Wehrpflicht ihn aufs strengste bindet, wieder andere Pflichtenkreise treffen ihn als Angehörigen seiner Nation, seiner Kirche, seiner Klasse, seines Standes und besondern Berufes, und da die gesellschaftlichen Mächte ihn auch in seinem persönlichen Leben zu binden wissen, so hat er auch in seinem Erwerbe, wie als Haushaltcr den Gesetzen des Marktes, als Angehöriger seines Geschlechtes den Vorschriften der Mannesehre oder der Frauenehre und, von allem andern abgesehen, schon als Mensch dem Menschen gegenüber den allgemeinen sittlichen Mächten gehorsam zu sein. Im Bereiche der gesellschaftlichen Mächte gilt Polytheismus, viele große und kleine Götter herrschen nebeneinander, und jeder von uns hat vor zahlreichen Altären sein Knie zu beugen.
Wie die Priester und Gläubigen eines Kirchenverbandes, so haben in jedem Verbände, welcher immer es sei, Führer und Masse das Bestreben, dessen Macht aufe möglichste zu steigern. Bei den Führern wirkt neben dem Eifer für die Sache zugleich der persönliche Ehrgeiz, denn mit der Macht des Verbandes wird ihre eigene Macht gesteigert. Auch in der Masse gibt es immer eine ansehnliche Zahl von Personen, die nicht ganz im Dunkel der großen Menge verschwinden möchten und die darnach trachten, sich einigermaßen über ihre Genossen zu erheben. Dazu bietet die anonyme Führung auch für bescheidenere Begabungen günstige Gelegenheit, und eine weitere Gelegenheit ist durch den Dienst in den Führerstäben geboten, die sich die Hauptführer an die Seite stellen müssen, wo immer umfassendere gesellschaftliche Werke zu verrichten sind. Nimmt man die ganzen Führerstäbe der Gesellschaft zusammen, so ist eine reiche Skala von Ordnungsstufen der Macht und des Ranges entfaltet, um welche der Kampf des Ehrgeizes, des Machttriebes, der Herrschsucht entbrennt. Noch heißere Kämpfe um Macht und Rang, als zwischen den einzelnen im Verbände, gibt es stets zwischen [99] den Verbänden selbst. Man spottet über die Wichtigkeit und Strenge, mit der die Kleinstadt die Rangordnung ihrer Inwohner abmißt; damit folgt sie aber nur denselben tiefsten Trieben der menschlichen Natur, die in den geschichtlichen Anfängen durch die Schranken der Kasten die Lebensstellung der Millionen in starrer Ordnung gefesselt und die zu so viel blutigen Zusammenstößen zwischen Klassen und Völkern geführt haben. Der Herrscher, der alles zu versammeln sucht, was im Staate
Hofe abzumessen, der für viele das höchste Lebensziel ist, weil er ihnen als Symptom, als maßgebende Anerkennung ihrer ganzen gesellschaftlichen Machtstellung gilt. Erfordert schon die Schlichtung des Kampfes um den äußeren Rang unendliche Bemühungen, so nimmt der Kampf um die Macht selbst seinen unaufhörlichen Fortgang. Erst der entwickelte Staat hat es so weit gebracht, daß dieses Ringen zwischen den Bürgern in der Regel mit friedlichen Mitteln ausgetragen wird, von Zeit zu Zeit führt es aber auch hier noch zu Bürgerkrieg und Umsturz. Zwischen den Staaten selber hat die Eifersucht der Macht niemals aufgehört, Kriege zu erregen, in ihr ist ja die letzte Ursache zu erblicken, die zum Weltkriege geführt hat.
Es gibt Verbände und mit ihnen zugleich Mächte, die zunächst im Interesse der Machthaber und bei weiterer Entwicklung im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse zu dem Zweck aufgerichtet werden, um die reibungslose Ordnung des Zusammenlebens zu sichern. Wir werden sie als Ordnungs verbände, beziehungsweise als Ordnungsmächte bezeichnen. Neben ihnen bestehen noch weit zahlreichere Verbände und Mächte, durch welche unmittelbare Lebensgüter oder Lebenswerte gewonnen werden sollen; die Glaubensmacht, die Bildungsmacht, die wirtschaftliche Macht, die sittliche Macht gehören zu ihueu. Wir werden solche Mächte als Lebensmächte bezeiulinen. Jede Lebensmacht hat indes selber wieder Elemente der Ordnungs macht in sich, denn sie braucht und sie schafft sich in ihrer Verfassung ihre besondere Ordnung der Gewalten von Führung und Masse; wie wir am deutlichsten am Beispiel der Kirche sehen, karoi die besondere Ordnung dieser Gewalten sich unter günstigen Umständen sogar zu allgemeiner gesellschaftlicher Geltung erheben, wodurch die Lebensmacht zugleich zur Ordnungsmacht wird. Umgekehrt können wir sehen, daß jede Ordnungamacht ihrerseits wieder eigene Lebenswerte schafft [100] und dadurch als Lebensmacht wirkt. Es greifen daher die heiden Typen der Mächte, die wir nach ihren letzten Zwecken zu unterscheiden haben, in ihren begleitenden Wirkungen wieder ineinander. Wir werden dies klarer erkennen, wenn wir nun zur Besehreibung der einzelnen Hauptfälle übergehen, die den beiden Typen zugehören.
Die erste Ordnungsmacht, die in der Geschichte hervortritt, ist die Waffenmacht. Von jeher haben die Menschen Waffengemeinschaften gebildet, um sich der Unterwerfung durch feindliche Macht, der Unterordnung unter fremde Herrschaft zu erwehren und, wenn möglich, durch den Sieg für sich selber Überordnung zu gewinnen. Der Unterworfene ist in Gefahr, die höchsten LeberiHgüter uud Lebeuswcrte an den Sieger zu verlieren, Freiheit, Ehre, Besitz aller Art, Frau und Kind und das eigene Leben; der Sieger hat die Erwartung, sich an den Lebensgütern und Lebenswerten des Feindes zu bereichern. Dadurch werden den Menschen die Machtmittel, durch die man den Sieg zu entscheiden hofft, selber zu hohen und höchsten liebenswerten. Die Waffe, wie die sonstigen Kampferfordernisse und nicht minder die persönlichen Leistungen und Tugenden des Krieges erhalten in der allgemeinen Schätzung hohen und höchsten Wert. Wir haben sie den ursprünglichen oder unmittelbaren Lebenswerten, die um ihrer selbst willen begehrt werden und das Leben füllen, als mittelbare oder abgeleitete Lebenswerte gegenüberzustellen. Sie sind unentbehrliche Mittel, um sich den Besitz jener andern zu sichern, durch die. man die Lebenszwecke genießt, in ihnen nimmt man die Lebenszwecke vuraus, und jedes Volk zählt sie daher minier mit, wenn e3 seinen Reiohtum anschlägt.
Die Rechtsmacht ist eine Ordnungsmacht von vorwiegend innerer Kraft. Sie sichert den Besitz und die Nutzung der Lebensgüter und Lebenawertc einmal dadurch, daß sie das Rechtsgefühl der Bürger zu festen Regeln gestaltet, außerdem aber auch dadurch, daß sie den anerkannten Rechtsbesitz gegen unbefugte Eingriffe dritter Personen schützt. Auch die Ordnungsmacht des Rechtes schafft in den Rechtsei nrichtungen und in den Leistungen der Richter und sonstigen Rechtskundigen neue mittelbare Lebenswerte, die überall als hohe Zivilisationswerte gelten werden.
Eine dritte wichtige Ordnungsmacht ist endlich noch die polit ische Macht eines Gemeinwesens. In jedem Gemeinwesen muß die Waffenmacht noch durch eine bürgerliche Macht ergänzt werden, das Verhältnis aller Organe der Hoheit und der Verwaltung muß gegeneinander geregelt, sie müssen in ein System der Überund Unterordnung gebracht werden. Insoweit geht die politische Ordnung in die Rechtsordnung [101] über, sie schafft öffentliches Recht. Es gehört aber außerdem zu ihren Aufgaben, dafür zu sorgen, daß alle Aufgaben der Hoheit und der Verwaltung in zweckentsprechender Weise erfüllt werden. Die Staatskunst ist die Kunst der erfolgreichen Verwendung der politischen M acht. In der Bewunderung, die dem großen Staatsmanne zuteil wird, sind seine Leistungen als nationale Lebenswerte anerkannt. Sie gehören mit zu den großen Zivilisationswerten.
Die höchsten Lebensmächte, Glaubensmacht, Bildungsmacht und sittliche Macht werden zu Kulturmächten, soweit sie die Kräfte des Lebens zu erheben wissen. Gereinigte Glaubensmacht, veredelte sittliche Macht, verfeinerte Bildungsmacht sind Kulturmächte ersten Ranges. Die Glaubensmacht des Christentums hat sich im Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft zu einer Ordnungsroacht von solcher Stärke entwickelt, daß sie den Kampf mit der weltlichen Macht aufnehmen und durch lange Zeit hindurch siegreich bestehen konnte. Die waffenlose Kirche hat das römische Weltreich überwänden und überlebt und hat nachher seine Besieger besiegt. Einer der merkwürdigsten geschichtlichen Prozesse, der uns viel zu denken und zu lernen gibt.
Jede wahre Ordnungsmacht schafft, mit am Werke der Zivilisation, das sich mit dem der Kultur ergänzt, indem es bürgerlichen Frieden mit weiten Möglichkeiten des Verkehres und der wechselseitigen Verständigung bringt. Im befriedeten Innern der im Kampfe aufgerichteten Staaten war erst sicherer Boden für Kulturarbeit gewonnen. Wenn das jüdische Volk, nachdem es seinen Staat verloren und sich über die Völker zerstreut hatte, doch noch zur wirtschaftlichen Großmacht aufgewachsen ist, so war dies nur dadurch möglich, daß andere Völker die Mühen und Kämpfe auf sich genommen hatten, welche die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung erfordert. Die vollendete staatliche Ordnungsmacht muß eine geschlossene Gebietsmacht sein, die in ihrem Räume überallhin ohne Kraftverlust wirksam werden kann.
Ein Volk kann nur groß werden, wenn es für alle entscheidenden Ordnungsmächte und Kulturmächte begabt ist und sie alle in geschichtlicher Entwicklung ausgebildet hat. Dabei kann aber kein Zweifel sein, daß gewisse Völker mehr für die ersteren, andere mehr für die letzteren begabt sind und ihre Kräfte einsetzen. Sparta war eine überragende militärische und politische Ordnungsmacht und war vielleicht unter allen Ordnungsmächten, die in der Geschichte hervorgetreten sind, [102] diejenige, die als Kulturmacht die geringste Wirksamkeit hatte. Athen war als Ordnungsmacht so hervorragend, daß es mit Sparta den Wettbewerb um die Hegemonie aufnehmen konnte, und dabei war es außerdem als Kulturmacht so verschwenderisch bedacht, daß es mit den von ihm geschaffenen Werten die Geschichte der Antike füllen und den römischen Weltsieger zur Unterordnung unter die griechische Kultur bewegen konnte, die zum guten Teil seine Kultur war. Vom griechischen Volke im ganzen genommen, darf man wohl sagen, daß die Welt niemals seinesgleichen gesehen hat noch sehen wird; die moderne Kultur lebt immer noch mit vom griechischen Geiste. Die Römer waren eine Ordnungsmocht sondergleichen, militärisch, rechtsbildend und politisch gleich gewaltig, auch ihr geschichtliches Werk wirkt bis auf die Gegenwart.
Im Laufe der Jahrtausende sind noch manch andere Weltreiche durch Waffenmacht und politische Macht gegründet worden. Die meisten sind verschwunden, ohne andere Spuren ihrer einstigen Größe zu hinterlassen, als R«Bte der gewaltigen Baudenkmale, in denen ihre Gewalthaber das Bild ihrer Macht verewigen wollten. Wenn man all der vergangenen Herrenpracht gedenkt, so drängt sich unwillkürlich die Meinung auf, daß Kampf macht vergeht und daß nur Kulturmacht besteht. Für die Attilas und Tamerlans gilt dies in der Tat so, denn ihre Siege haben zerstört, für die Siege des Römervolkes dagegen gilt es nicht. Trotz aller Ausschreitungen im einzelnen sind die Römer in der großen Wirkung für das ganze Mittelmeerbecken eine wahre Ordnungsmacht geworden, wenn sie auch nicht imstande waren, alle unterworfenen Völker zu einem geschlossenen Volkstum zu einigen und ihr Reich gegen die Stürme der Barbaren auf die Dauer zu behaupten. Das Werk der von ihnen geschaffenen Zivilisation i8t mit ihrem Reiche nicht untergegangen. Die Römeratraßen waren so vollkommen gebaut, daß sie selbst ohne Pflege für ein Jahrtausend den wandernden Völkern und Heeren dienen konnten, das Straßenelend hat dort, wo sie bestanden hatten, erst begonnen, nachdem sie mangels jeder Pflege endlich verfallen waren. Die lateinische Sprache hat ihre reichen Ableger in deu romanischen Sprachen getrieben und ist überdies durch ein Jahrtausend und darüber die Sprache der Bildung für Mittelund Westeuropa geblieben. Beim römischen Rechte ist die mittelalterliche und moderne Rechtswissenschaft in die Schule gegangen, um in ihm die sichere Grundlage für den Aufbau ihres Rechtssystems zu finden. Der Gedanke des römischen Kaisertums ist im fränkischen und deutschen Kaisertum wieder aufgelebt. Im größten Sinne aber ist die katholische Kirche die [103] Erbin wie der Kulturmacht so der politischen Macht Altroms geworden, und die Stadt Rom, die ein erstes Mal durch ihre Waffen die Hauptstadt der Welt geworden war. konnte es ein zweites Mal werden, weil Bie der Glaubensmacht der Kirche die Herrschaftsüberlieferung eines ganzen Zeitalters hinzubrachte.
Das englische Volk steht dem römischen in Beziehung auf den Beruf zur Weltherrschaft sehr nahe. Wie dieses vereinigt es die Begabung zur Waffenmacht, zur Rechtsund politischen Macht und ist dadurch befähigt, im Kampfe der Ordnungsmächte eine übergeordnete Stelle zu gewinnen. Daß es in den kontinentalen Kriegen, an denen es sich beteiligte, nun schon seit geraumer Zeit mit „fremdem Degen“ zu kämpfen beginnt, und seine eigene nationale Waffenmacht zurückzuhalten pflegt, bis der Ernst der Entscheidung auch ihr Aufgebot fordert, ist kein Zeugnis gegen seine Waffentüchtigkeit. Es ist ein Zeugnis für seine politische Begabung, die es eben darin bewährt, daß es sich im größten Maße der Kampfmacht von Bundesgenossen und unterworfenen Völkern zu bedienen weiß. Sollte es zum römisch -englischen Typus nicht außerdem noch wesentlich hinzugehören, daß beiden Völkern die Fülle der Kunstbegabung mangelt, wie sie andere große Kulturvölker besitzen ? Beim englischen Volk fällt insbesondere auf, daß es der schaffenden Begabung für die Kunst der Musik entbehrt, in der das moderne Kunstempfinden seinen eigenartigsten und innerlichsten Ausdruck findet. Es ist wohl kein Zufall, daß wir die musikalisch begabtesten Völker aus den entscheidenden Kämpfen um die Vormacht nicht als Sieger hervorgehen sehen. Liegt dies nicht daran, daß sie allzusehr nach innen gekehrt sind, als daß sie die Kraft nach außen wenden könnten, die erfordertlich ist, um sich als beherrschende Ordnungsmacht durchzusetzen?
Im deutschen Volk sind die Elemente der Macht eigentümlich gemischt. Der Gegensatz norddeutschen und süddeutschen Wesens empfängt seinen Inhalt aus dem Gegensatz von Ordnungsmacht und Kulturmacht. Der Kampf um die Vorherrschaft zwischen Preußen und Österreich wurde wie der Kampf zwischen Sparta und Athen zugunsten der spezifischen Ordnungsmacht entschieden. Durch seinen Sieg über Frankreich schien Preußen-Deutschland auf dem Wege, die Vormacht des kontinentalen Europa zu werden. Im Weltkriege haben sich England und Preußen als die führenden Ordnungsmächte der beiden kämpfenden Parteien gemessen. Es ist eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeutung, daß England aus dem Kampf als die siegende Ordnungsmacht Europas hervorging. Wenn es bloß auf die ursprünglich eingesetzte Waffenmacht angekommen wäre, so hätte Preußen-Deutschland [104] durch seine überlegene militärische Ausbildung den Sieg für die Mittelmächte entscheiden müssen. Knglund hat aber durch seine klare politische Überlegenheit, die ihm außer der wirtschaftlichen Macht schließlich auch die Übermacht der ihm verbündeten Waffen einbrachte, den Sieg für die Entente gewonnen. Wenn es trotzdem der Vormachtstellung in der Welt keineswegs sicher ist, so hegt dies daran, daß die Entente den Kampf mit dem gewaltigen Gegner nicht unter seiner Führung vollenden konnte, sondern daß sie die Hilfe eines Dritten, eines tertiuB gaudene anrufen mußte, der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die mit ihrer geschonten Kraft eingriffen, nachdem die beiden Gegner erschöpft waren. Der Anglo-Amerikaner zeigt in seinem Wesen nach mancher Richtung eine Steigerung jener Züge, durch welche England zur führenden Ordnungsmacht berufen scheint, dabei ist er der Kunst noch um vieles abgewandter und seihst der Wissenschaft, in der sich der englische Geist auf das höchste auszeichnet, nicht voll zugewandt. Den Vereinigten Staaten ist außerdem auf ihrem eigenen Boden durch die Gunst der Natur höchste Wirtschaftsmacht gesichert. Ob sie mit alledem die Anwartschaft auf die Weltführung haben, wird sich aber doch erst entscheiden, bis sie aus ihrer geschichtlichen Isolierung dauernd hervortreten und sich unter gleichen Kampfbedingungen und auch als Kulturmacht bewährt haben.
Doch wir wollen die großen Weltbeziehungen zunächst beiseite lassen und uns wieder in den, Schranken der Volksgeschichte halten.
Unter den zahlreichen oder zahllosen Mächten jedes Volkes lehnen sich die schwächeren gern an andere. Mächte an, sie brauchen Schutz und finden diesen in einer Symbiose zumal mit den starken herrschenden Mächten, denen 3ie ihrerseits wieder Kräfte zubringen. Die starken Mächte, die sich zu fühlen beginnen, wollen sich selbständig stellen, sie nehmen den Kampf mit den andern Mächten auf, denen sie begegnen. Nicht nur. daß sie Widerstand leisten, sondern sie suchen des Gegners Herr zu werden, wenn es irgendwie angeht ; sie überwältigen den schwachen und tun ihr Äußerstes, um auch gegen den starken den Sieg zu gewinnen. Alle großen Ordnungsmächte und alle auf ihre Selbstwilligkeit eifersüchtigen allgemeinen Kulturmächte wollen als herrschende Mächte gelten, in keiner ihrer Äußerung behindert, durchaus überlegen gebietend. .Jede Macht, die sich als herrschende Macht berufen fühlt, [105] hat den Trieb zum Maximum in sich. Die starke Macht kennt keine Seibatbeschränkung. An ihr haben wir den Beweis dafür, wie richtig Goethes Spruch zutrifft, ein Gott könne nur wieder durch einen Gott balanziert werden, es sei absurd, daß eine Kraft sich selber einschränken solle, sie werde nur wieder durch eine andere Kraft eingeschränkt werden. Deshalb will die Ordnungsmacht, eine ausschließende Gebietsmacht sein, sie duldet innerhalb ihrer Grenze keine fremde Einsprengung und sucht ihre Grenze noch weiter auszudehnen, deshalb ist die Glaubensmacht in ihrem innersten Wesen intolerant auf allgemeine Geltung gerichtet und auch die Wissensmacht wäre es, wenn sie nur stark genug dazu wäre. Der Trieb zum Maximum läßt die aufstrebende herrschende Macht nicht ruhen, bis sie nicht alle erreichbaren Mächte unter sich geordnet, bis sie nicht omnipotent geworden ist. Sofern sie nicht innerlich abbröckelt, kann sie nur durch fremden Widerstand aufgehalten werden. Daruni wird zwischen den herrschenden Mächten, die aufeinanderstoßen, immer zunächst der Kampf entscheiden, und erst bis man die Kräfte gegeneinander ohne ausschlaggebenden Erfolg gemessen hat, entschließt man sich zu friedlichem Auskommen, das am Ende in Symbiose übergehen mag. Alte Mächte vereinigen sich am ehesten, wenn eie von aufstrebenden neuen bedroht werden, gegen die den Kampf einzeln zu bestehen sie sich nicht mehr stark genug fühlen.
Die Vereinigung der herrschenden Mächte darf man sich nicht als volle Harmonie oder gar als gänzliche Verschmelzung vorstellen. Solange jede ihr eigenes gesellschaftliches Werk vor sich hat, muß sie in derjenigen besonderen Verfassung aufrecht bleiben, die ihrem besonderen Werke angemessen ist. Anderseite geht es doch nicht gut an, daß jede ihre volle Selbständigkeit behauptet, denn da käme es selbst beim besten Willen immer wieder zu Reibungen, immer muß doch eine von den Mächten einen gewissen Vorrang behaupten. Wir können diese bevorzugte Macht als dominante Macht bezeichnen. Die dominante Macht ist den andern nicht schlechthin übergeordnet, sie ist eben nur die Vormacht, die erste unter vielen bis zu einem gewissen Grad autonomen Mächten und nicht die Spitze einer allumfassenden Hierarchie, innerhalb deren sie jede Entscheidung an sich ziehen könnte. Der Satz „Cäsar nun supra gruniinaticos“ gilt im ganzen Umfang der gesellschaftlichen Werke. Wie die Sprache, so gibt sich jedes gesellschaftliche Werk aus sich heraus seine Regeln. Die dominante Macht wird die andern Mächte, die sie überhaupt noch duldet, in ihrem Bereich autonom gewähren lassen müssen und wird für sich nur, wie der Jurist es nennt, die Kompetenzkompetenz beanspruchen, das Vorrecht, die [106] Grenzgebiete zu ordnen, wo sie mit den andern zusammenstößt. Sie wird darauf bestehen, daß keine andere Macht in ihre vorbehaltenen Zirkel störend eingreife, wird dabei aber doch das Stammgebiet der andern schonen müssen. Außerdem hat sie den besonderen Vorteil für sich, daß die neuentstehenden Mächte sich zunächst, soweit es eben angeht, bei ihr versammeln. Vor allen andern Mächten ist sie dadurch zum Wachstum berufen.
Vom Anfang an war der Staat durch seine Waffenmacht zur dominanten Stellung berufen. Seine Gewalt wuchs um so mehr, jo mehr es ihm gelang, neben der Waffenmacht auch noch Rechtsmacht und politische Macht bei sich zu versammeln. Zum Kulturstaat aufgewachsen, hat er zum Schluß seine Überlegenheit noch dadurch gemehrt, daß er es lernte, auch gewisse Kulturmächte an sich zu ziehen oder in sich zu entwickeln. Auch die kirchliche Vorherrschaft ruhte zu ihrer Zeit nicht auf der Glaubensmacht allein, die Kirche war zugleich die Hauptverwalterin der Rechtsmacht, der politischen Macht und der Kulturmächte der Zeit, die von der Glaubensmacht getragen waren. Am Beispiel der Kirche wird es deutlich, daß dominante Macht keineswegs in dem Sinne unbeschränkter Vormacht, allbeherrschender Überordnung zu verstehen ist. Wie die Kirche, war und ist auch der Staat trotz allem darauf gerichteten Streben als dominante Macht nicht omnipotent. Niemals hat es im Staate, selbst in den Zeiten drückendster Tyrannei, einen omnipotenten Machthaber gegeben. Ludwig XIV. ging aus den Kämpfen mit der Fronde als absoluter König hervor, aber er war damit keineswegs zum Selbstherrscher über alle und alles geworden. Der Sieg über die Fronde sicherte dem Königtum die ausschließliche Herrschaft über die Waffenmacht und er sicherte ihm die oberste Rechtsmacht und politische Macht, außerdem wandelte er die feudalen Herren zu Hofleuten, denen mehr daran gelegen war, sich durch Dienste am Hofe königliche Gunst zu erwerben, als auf ihren alten Herrensitzen sich der Ausübung ihrer feudalen Gerechtsame zu erfreuen. Mit diesen Erfolgen gab sich das KöDigtum zufrieden und so ließ es denn einen ansehnlichen Komplex grundherrlicher Gerechtsame bestehen, die erst der Revolution zum Opfer fielen; selbstverständlich, daß sich auch die Kirche als starke Macht erhielt, daneben blühten noch Kulturmäohte mannigfachster Quellen und immer waren auch noch vereinzelte Befugnisse der Ordnungsmacht den örtlichen Korporationen vorbehalten geblieben. Damit waren große Abschnitte des nationalen Lebens dem Eingriffe des absolutesten aller Könige entzogen, der mit mehr Recht als irgend einer seiner Vorgänger von sich sagen konnte, daß er der Staat sei.
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Die autouomeu Ordnunijsmäckte und die Lebeiisoder Kulturmächte, die neben der dominanten Macht noch wirken, leisten außer der besonderen Funktion, die sie in ihrem Bereiche vollziehen, der Gesellschaft noch einen allgemeinen Dienst, indem sie dem Übergreifen der dominanten Macht Widerstand bereiten. In der Zeit kirchlicher Vorherrschaft war in erster Linie der Staat, in der Zeit staatlicher Vorherrschaft in erster Linie die Kirche dazu berufen, diesen Dienst zu vollziehen, der für die gesellschaftliche Gesamtverfassune höchste Bedeutung hat. Wie der Druck, den das Dach eines Domes ausübt, den Widerstand der Widerlager und den Unterbau der tragenden Mauer fordert, wenn das Gebäude aufrecht bleiben soll, so fordert die lastende dominante Macht entsprechend starke Gegenmächte und tragende Mächte, wenn der gesellschaftliche Körper in Gesundheit und Kraft bestehen soll. Die Gegenmächte sind durch die autonomen herrschenden Mächte gebildet, zu den tragenden Mächten gehören insbesondere die anonymen Mächte der freien Gesellschaft. Die Bürger müssen durch sittliches Empfinden und Rechtsgefühl, durch Bildung und wirtschaftliche Kraft zu aufrechten Menschen gemacht sein, um den Bezirk ihres Hauses und Erwerbes, ihres persönlichen und privaten LebenB gegen die dominante Staatsmacht oder Kirchenmacht verteidigen zu können. Die bürgerlichen Grundrechte, die seit der denkwürdigen Erklärung der Menschenrechte ein Inventarstück jeder Verfassung geworden sind, müssen durch tragende anonyme Mächte gedeckt sein oder ihre verfassungsmäßige Verkündigung bleibt ein leeres Wort. Niemals ist die sittliche Macht zur dominanten Macht aufgewachsen, noch könnte sie dazu aufwachsen, sie ist zu innerlich, um eine Organisation zuzulassen, wie sie die dominante Macht fordert. Dennoch wäre der Politiker im schUmmsten Irrtum, der da meinte, mit ihr nicht rechnen zu müssen, denn sie ist die stärkste aller tragenden Mächte. Von ihrem Sitze im menschlichen Gewissen weist sie auffordernd und warnend alle persönlichen Handlungen auf das Ziel gesellschaftlicher Pflichterfüllung. Durch sie vor allem wird das Individuum zum gesellschaftlichen Wesen gereift, durch sie. vor allem ist daher die Gesellschaft zusammengehalten.
Im Volkscharakter fassen wir alle tragenden Mächte zusammen, die der Masse eines Volkes eigen sind. Als die Schöpfung natürlicher Begabung und geschichtlicher Erziehung ist er eine Tatsache, der sich jede Rechtsverfassung anzupassen hat. Vom Grade seiner Tragfähigkeit [108] hängt es ab, in welchem Maße das gesellschaftliche Werk eines Volkes durch organisierte und dominante Mächte gekrönt werden kann. Er ist das dauernde Fundament der Volksgesehichte.
Der Gegensatz der dominanten und herrschenden zu den tragenden Mächten gibt der Lehre von der Teilung der staatlichen Gewalten ihren tieferen Sinn. Diese Lehre war gegen den absoluten Fürsten gerichtet, welcher gesetzgebende Gewalt, richterliche Gewalt und vollziehende Gewalt in seiner Person vereinigte. Die Teilung dieser höchsten Gewalten sollte die Volksfreiheit vor der Gefahr schützen, durch die überragende fürstliche Macht erdrückt zu werden. Wenn nun der Fürst sich bereit erklärte, seine gesetzgebende Gewalt mit dem Parlamente zu teilen, so mußte, damit dieser Erklärung die tatsächliche Vollziehung folge, hinter dem Parlamente noch eine reale Macht stehen. Die bloße Festlegung der Gewaltenteilung in einer Verfassungsurkunde konnte gegenüber dem Fürsten nicht ausreichen, der über die dominante Macht verfügte. Solche reale Mächte waren in der Tat dort gegeben, wo der dominanten Fürstenmacht starke tragende Volksmächte gegenüberstanden. Im Jahrhundert der Aufklärung verfügte das Bürgertum in seiner Bildungsmacht und wirtschaftlichen Macht reichlich über solche tragende Mächte, und die Forderung der Gewaltenteilung, die ein Jahrhundert früher ein bloßes Wort geblieben wäre, hatte nun ihren guten, durch die tatsächliche Machtverteilung gedeckten Sinn. In der Demokratie — wenigstens dort, wo Bie ihren Namen verdient — sind solche besondere Bürgschaften, wie im absoluten Staate, zum Schutze der Freiheit nicht mehr erforderlich, denn die wahre Demokratie ist die Freiheit. Insoweit hat die Lehre von der Teilung der staatlichen Gewalten ihren früheren Sinn verloren, dennoch wird sie auch in der vollkommensten Demokratie ihre ganze Bedeutung behalten, wenn wir sie von den staatlichen Gewalten, für die sie zuerst erkannt worden war, auf die gesellschaftlichen Gewalten erweitern. Auch die Demokratie soll die natürlichen Schranken der Staatsgewalt wahren, die durch die geschichtlichen Erfolge des Staates bezeichnet sind, und pich der Eingriffe in die autonomen gesellschaftlichen Mächte enthalten, die sich neben dem Staate in den Bereichen von Ordnungsmacht und Kultuimacht am Erfolge herausgebildet haben. Unter der Herrschaft der Freiheit soll die dominante Staatsmacht erst recht nicht zur allbeherrschenden obersten Macht werden, sondern sie soll nun erst recht neben [109] sich alle die andern Machte gelten lassen, die aus ihren gesellschaftlichen Werken entstehen. Nur dadurch, daß diese Mächte dem nach Omnipotenz verlangenden demokratischen Übereifer Widerstand lebten, kann das gesellschaftliche Gleichgewicht gesichert werden.
Teilung der Mächte ist Vervielfältigung der Mächte und ist darin der zutreffende Ausdruck für die Vielfältigkeit der Begebungen, die in der menschlichen Natur verbunden sind. Für jede dieser Begehrungen, in denen sich eine größere Anzahl von Individuen vereinigt, schafft sie die gesellschaftliche Hilfe. Freilich mag es zwischen den geteilten Mächten wiederum zu Konflikten kommen, die im Gewissen derer, die ihnen unterworfen sind, den schmerzlichsten Widerhall wecken. Welchem der großen und kleinen Götter, vor deren Altären man sein Knie zu beugen gewohnt ist, soll man dienen, wenn sie selber in Kampf geraten? In welche schweren inneren Konflikte hat nicht der Kampf zwischen Staat und Kirche alle diejenigen verwickelt, die ihrem Glauben und ihrem Vaterlande treu bleiben wollten! In welche inneren Konflikte verwickelt nicht heute der Kampf um die Weltmacht alle diejenigen, die dem nationalen und dem Menschheitsgedanken Treue halten wollen!
Der Kampf der gesellschaftlichen Mächte ist hartnäckiger und schärfer, als der Streit der persönlichen Leidenschaften im Herzen des einzelnen, übschon auch im Herzen des einzelnen die aufgerührten Leidenschaften gegeneinander wüten, so ist der gesunde Mensch im Grunde doch eine seelische Einheit und er findet schließlich immer den Ausgleich seines Wesens. Die Gesellschaft ist keine ebenso geschlossene Einheit, sie ist durch Teilmächte beherrscht, die sich nicht ohneweiters ausgleichen wollen, nur die schwächeren von ihnen fügen sich der Symbiose, die stärkeren folgen einseitig ihrem Machterhaltungstrieb, der ihnen durch das sacrificium voluntatis und die Schwerfälligkeit der Massentechnik zu eigen ist. In den stärksten von ihnen wirkt eine Expanaionakraft, die nach dem Maximum strebt, jede von diesen hat die Tendenz in sich, als dominante Macht die andern unterzuordnen, um schließlich zur Omnipotenz aufzusteigen. Es ist insbesondere der Ehrgeiz der Führer und ihre verblendete Beschränktheit, die dahin treibt. In jedem Machtverband kommen immer diejenigen zur Geltung, die in der besonderen Richtung des Verbandes am weitesten gehen, und in erregter Zeit haben die lautesten Wortführer das Ohr der Menge und die Anwartschaft auf die Führung. Erst wenn ihr ausschweifendes [110] Vorgehen durch Mißerfolg bestraft ist, kommt in Führern und Masse das ausgleichende Streben der Natur wieder zur Geltung und dann werden diejenigen an die Spitze treten, die zwischen den streitenden Mächten den Einklang zu finden wissen. Das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Mächte ist die Frucht schwerer Kämpfe. .Je kräftiger die ruhigen tragenden Mächte, um ao eher wird es gefunden und um so dauernder wird es erhalten.
Von allen gesellschaftlichen Mächten sind es die innersten, die am eifrigsten nach friedlicher Harmonie streben. Ein reiner Glaube, der sich vom äußeren Blendwerk des Aberglaubens freigemacht hat, bindet Millionen von Menschen in Wertreligionen zusammen — um so schlimmer freilich, wenn die Uberzeugungen der Weltreligionen aufeinanderstoßen! Eine sittliche Anschauung, die bis auf den Grund des Mitgefühls zu dringen vermöchte, müßte alle fühlenden Menschen der Welt zu einem unzerstörbaren Bund vereinigen — aber freilich die innersten Mächte Rind die letzten, die in der Geschichte aufsteigen! Zuerst sind die äußeren Mächte da und unter diesen wieder die rohesten voran. Die innersten Mächte müssen die letzten sein, weil sie die tiefstgeborgenen sind, die Seelen der Menschen müssen erst der Not des Lebens entbunden sein, bis sie für ihre zarten Schwingungen empfänglich werden. Sie bringen Frieden, aber sie brauchen schon Frieden, um aus ihren Keimen emporzuwachsen.
Vorerst stehen sich die herrschenden Mächte noch in Volk und Staat, aber vollends in der Welt in schroffer Teilung gegenüber und das Gleichgewicht zwischen ihnen ist noch durchaus nicht endgültig gefunden.
Gegenüber der Tatsache der Teilung der Mächte müssen wir uns darüber klar sein, daß, wenn wir von der Gesellschaft in welchem Sinne immer, sei es von der menschlichen Gesellschaft oder von der europäischen Gesellschaft oder von der staatsbürgerlichen Gesellschait oder auch nur von der gebildeten Gesellschaft sprechen, keiner dieser Begriffe durch die. Wirklichkeit voll gedeckt ist. Überall gehen durch die Wirklichkeit des Zusammenlebens tiefe und schroffe Hisse hindurch. Die Idee der Gesellschaft, wie sie vom reinen sittlichen Gefühle gefordert ist, als Gemeinschaft der Liebe, ist nur in sehr wenigen Seelen wirklich lebendig, namentlich für die Weite der Welt versagt diese Idee fast ganz. Weltbürger hat es, von wenigen Enthusiasten abgesehen, immer nur auf dem Papier gegeben und heute gibt es kaum mehr welche auf dem Papier. An die Vereinigten Staaten der Welt denkt niemand, den meisten scheinen die Vereinigten Staaten von Europa eine unerfüllbare Forderung. Selbst die Weltreligionen, die vom Gedanken der menschlichen Gesellschaft ausgehen, haben diesen Gedanken doch nicht durchsetzen können, keine von ihnen ist in Wahrheit Weltreligion geworden, keiner ist es gelungen, die Herzen der Menschen im Ganzen der Welt zu vereinigen, und nicht wenige von ihnen waren bereit, sich der andern im Kampfe zu erwehren. Wie die Kontinente, so sind die Verbände, in denen die Menschheit geschichtlich getrennt aufgewachsen ist, bis auf die Gegenwart durch Meere der Fremdheit und des Mißtrauens oder gar des Hasses voneinander geschieden, die zu überwinden in der Regel nur der Beutelust des Eroberers, der Kühnheit des abenteuernden Entdeckers, dem Geschäftssinne des gewinngierigen Kaufmannes gelingt, welche alle bloß ihr persönliches Interesse verfolgen und neben denen nur noch der Glaubenseifer des Missionärs zu nennen ist, der dem Gedanken des Menschentums dienen soll, wenn er auch tatsächlich oft nur der Ausdehnung seiner eigenen Kirche dienen will. Real genommen bleibt vom Begriffe der menschlichen Gesellschaft fast nichts übrig, als das äußere Nebeneinander der Völkerschaften und Völker, die sich über die Erde hin berühren und dem wechselseitigen Druck ausgesetzt sind. Ohne daß sie innerlich zur Einheit verbunden wären, werden sie durch die Notwendigkeiten des Zusammenlebens dazu gedrängt, einen Gleichgewichtszustand zu suchen, den sie gewöhnlich erst im Kampfe finden und dessen Schwerpunkt zumeist von der Gewalt bestimmt wird.
Wenn man das Zusammenleben der Menschen verstehen will, wird man dennoch einen Begriff der Gesellschaft nicht entbehren können, der von allen Reibungen und Störungen des Zusammenlebens zunächst absieht. Der Soziologe muß von der Methode der Idealisierung ebenso Gebrauch machen wie der Physiker, sonst könnte er die Formengesetze de6 Lebens nicht entwickeln. Wenn man z. B. das Gesetz im Verhältnis von Führer und Masse verstehen will, so muß man dieses Verhältnis zunächst rein von allen Reibungen und Störungen auffassen, wozu man den idealisierten Begriff der Gesellschaft braucht. Man wird dies mit gutem Nutzen tun, denn man wird dann in den Stand gesetzt sein, sich auch über die Wirkungen klar zu werden, die von den Reibungen und Störungen der Wirklichkeit ausgehen. Das Gleiche gilt für alle Gesetze des Zusammenlebens. Wir werden sie an einem Forrualbegriffe der Gesellschaft entwickeln, der durch die Tatsachen nicht rem gedeckt ist.
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Die Herrschaft des Rechtes hatte zuerst nur in dem engen Kreise der Blutsgemeinschaften ihre Stätte, in dem sie das verbindende Liebesgefühl dort, wo es unsicher zu werden begann, durch feste Regeln ergänzte. Heute füllt die Herrschaft des Rechtes das Gebiet von Staat und Volk in weitem Umfange seiner gesellschaftlichen Beziehungen, und selbst in den Beziehungen der Völker zueinander zeigt sie in der Bildung des Völkerrechtes ihre Ansätze. Um zu verstehen, wodurch sie sich so ausgebreitet hat und welche Erwartung gegeben ist, daß sie sich schließlich über das Ganze der menschlichen Beziehungen ausbreiten werde, muß man sich darüber klar sein, wodurch sie überhaupt begründet ist. Man muß sich darüber klar sein, nicht nur worin sich die Herrschaft des Rechtes von der des äußeren Zwanges unterscheidet, sondern auch worin sie «ich von den näher verwandten des Brauches, des Wahxheitsund Schönheitstriebes wie der Sittlichkeit unterscheidet. Um es zunächst einmal ganz kurz zu sagen, so wird der äußere Zwang durch ein „Du mußt“ begründet, der Brauch durch ein „Man muß“, Wahrheit und Schönheit durch ein „Ich muß“, das Recht aber durch ein „Ich soll“, das einem „Ich darf“ verbunden ist. Dieses „Ich soll“ und „Ich darf“ gilt auch im Reiche der Sittlichkeit, daher Recht und Sittlichkeit am nächsten verwandt sind; so nahe sie indes verwandt sind, so zeigt die eindringende Untersuchung doch, daß auch sie in Ursprung und Wesen und darum auch in ihren Wirkungen getrennt sind.
Das Recht ist eine der großen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung und man muü es vom Grunde aus verstehen, um den Aufbau der Gesellschaft zu verstehen. Wir wollen darum die möglichste Sorgfalt darauf verwenden, den Rechtstrieb von seinen Wurzeln aus gegenüber den nächatverwandten Trieben klar zu scheiden. Vom äußeren Zwange mit seinem „Du mußt“ zu sprechen, behalten wir uns für später vor.
Der Brauch steht dem Rechte in der Dringlichkeit seiner Gebote sehr nahe. Die Gebote der äußeren Sitte sind für nicht wenig Menschen eigentlich die dringendsten gesellschaftlichen Gebote, die nächsten, auf die sie sich einzurichten suchen. Brennende Scham steigt im Gemüte der eitlen Frau und übrigens nicht minder auch in dem des eitlen Mannes auf, sobald sie an dem Spott der Umgebung merken, daß sie irgendwie gegen eines der vielen Gebote verstoßen haben, die der gute Ton [113] vorschreibt. Für die vornehme Welt hat die Einhaltung der äußeren Form die besondere Bedeutung, ihren gesellschaftlichen Rang kenntlich zu machen, und wer Anspruch darauf erhebt, in einem bestimmten Range mitgezählt zu werden, muß dessen Form sicher beherrschen. Wie beim Rechte, fehlt es auch bei der äußeren Sitte nicht an dem Richter, der die begangenen Verstöße feststellt und ahndet. In jeder gesellschaftlichen Schicht besteht das Femgericht der Genossen, in welchem die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft schon längst Sitz und Stimme haben und das die weitgehende Kompetenz besitzt, auf die empfindlichste Strafe, nämlich auf Ausschließung aus der zugehörigen gesellschaftlichen Schicht zu erkennen. Trotzdem fehlt der äußeren Sitte die Wurzel des tiefen inneren Antriebes, wie dieser dem Rechte eigen ist. So strenge die Vorschriften der Mode eingehalten zu werden pflegen, — die allerdings das Äußerlichste der äußeren Sitte darstellt — so tut die große Menge doch nicht aus Überzeugung mit, sondern sie tut mit, weil alle die andern es so tun und man sich von diesen nicht absondern will, zugleich jedoch ist man bereit, sobald die Mode sich ändert, sich ebenso willig im entgegengesetzten Sinne zu benehmen. Allerdings gibt ee immer auch Leute, die der Mode so ergeben sind, daß sie die Ausgeburten jeder Saison für die echtesten Bekenntnisse menschlichen Wesens erklären, aber das sind Leute, die eben überhaupt nicht wissen, was menschliches Wesen und was echtes Bekenntnis ist. Die äußere Sitte empfängt ihre Herrschaft über das Gemüt durch die Allgemeinheit ihres Brauches, sie gilt durch den sozialen Zwang des „Man muß“. Dabei ist es aber doch nicht der reine Herdentrieb, der in ihr wirkt; wenn ich so spreche, wie „man“ spricht, wenn ich so tue, wie „man“ tut, so handle ich doch nicht rein als gedankenloser Mitläufer, sondern ich will es vermeiden, anzustoßen, wo es nicht sein muß, und außerdem beuge ich mich in gar vielen Fällen zugleich einem Sinne, den ich unter der Hülle der allgemeinen Übung eingeschlossen fühle, wenn ich ihn auch vielleicht selber nicht recht erkenne. Auf alle Fälle ist das Ereignis des allgemeinen Brauches schon an sich ein bedeutsamer gesellschaftlicher Erfolg, dem sich der einzelne zu unterwerfen hat. Das „Man muß ' der Gesellschaft ist der Ausdruck des sacrificium voluntatis, des Opfers an Selbständigkeit, welches die Mitglieder der Gesellschaft in dem Gefühle bringen, daß die Allgemeinheit eine Macht ausströmt, die keiner von ihnen für sich allein auch nur entfernt zu erreichen vermöchte. Der soziale Zwang des „Man muß“ ist das Widerspiel des Machterlcbnisses, das man durch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft genießt. Insbesondere die Zugehörigkeit zur vornehmen Welt erhöht das gesellschaftliche Gewicht, das man [114] besitzt, und darum sind diejenigen, die zu ihr gezählt sein wollen, bereit, sich dem gesteigerten „Man muß“ zu unterwerfen, wodurch sie sich von der gemeinen Welt abzuheben sucht.
Bei der Anerkennung des Wahren und Schönen gilt nicht das „Man muß“, sondern hier ist ein bestimmtes „Ich muß“ wirksam, jene« „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, wie es Luther auf dem Reichstag zu Worms gesprochen hat. Nicht jeder kann dieses Gefühl so rein und fest in sich haben, wie ein Führer von der Stärke Luthers, die Masse braucht dazu den vorangehenden Führer und selbst noch das Mitgehen der umgebenden andern, aber dieses Vorangehen des Führers und dieses gesellschaftliche Zusammengehen hat doch immer nur den Wert einer Hilfe für das persönliche Erkennen und Empfinden, mag es vielleicht auch eine unentbehrliche Hilfe sein, weil der einzelne allein aus eigener Kraft die Erkenntnis oder Empfindung niemals hätte gewinnen können; um Erkenntnis und Empfindung echt zu besitzen, muß man sie jedoch schließlich sich durch persönliches Erleben angeeignet haben. Diejenigen, die das Erlebnis des wissenschaftlichen Erkennens oder des künstlerischen Empfindens nicht haben, wissen nicht wirklich und genießen nicht wirklich, sondern meinen nur, es zu tun, und sie werden darum in ihren Meinungen durch den nächsten Wechsel der allgemeinen Stimmung umgeworfen. Sie sind Mitläufer, die dem „Man muß“ folgen. Solche Mitläufer fehlen in keiner Bewegung, selbst nicht in den echtesten, und ihre Zahl ist oft verwirrend groß. Könnte aber eine Bewegung echt sein, die nicht im Kerne ihrer Bekenner von wirklick brennendem Erkenntnistriebe und wahrer Empfindung getragen ist ?
Das „Ich muß“ des Strebens nach Wahrheit und Schönheit vermittelt uns den Übergang zum „Ich soll“ von Recht und Sittlichkeit. Hier und dort wirkt der gleiche innere Drang unter den gleichen gesellschaftlichen Hilfen des Führers und der mitgehenden Genossen. Das Eigenartige des rechtlichen und sittlichen Sollens ist dadurch gegeben, daß es sich an den Willen wendet. Der Denker und der Künstler sagen sich nicht, daß sie erkennen und empfinden sollen, es kommt über sie wie ein inneres Schauen, wenn sie auch mitunter leidenschaftlich darnach ringen müssen, klar zu schauen. Beim rechtlichen und sittlichen Sollen erfüllt man dagegen eine Pflicht des Willens. Oft erfüllt man diese freudig, ohne einem Zwange zu gehorchen; die Mutter tut ihrer Natur nicht Gewalt an, wenn Rie für das Kind sorgt., ihre hingebende Liebe ist ihr durch den Instinkt des Blutes mitgegeben, beim Anblick fremder Leiden erwacht im empfindenden Herzen das Mitgefühl unwillkürlich [115] und der Mensch wird durch Mitleid wissend. In all diesen Fällen will der Wille ungerufen, gur oft aber muß man doch vorerst sein egoistisches Verlangen unterdrückt haben, um die Pflichten von Recht und Sittlichkeit erfüllen zu können. So oder so unterscheidet sich das rechtliche und sittliche Sollen deutlich von dem egoistischen Sollen, das durch das äußere Streben vorgezeichnet ist. Der junge Mann, der vorwärts kommen will, stellt sich Aufgaben, die über das gewöhnliche Maß und vielleicht auch über seine Kruft hinausgehen; das „Ich soll“, durch das er sich aufpeitscht, ist aus einem gereizten Verlangen nach Erfolg abgeleitet; mau würde ihm keinen Vorwurf daraus machen, falls er nicht so viel auf sich nähme, ja, man muß es ihm vielleicht zum Vorwurf machen, daß er sich zuviel zumutet. Die Wurzel des Sollens in Recht und Sittlichkeit liegt tiefer, sie Hegt im Gewissen. Man sucht nicht äußeren Erfolg, sondern innere Erfüllung. Wer den Pflichten des Rechtes und der Sittlichkeit nicht nachkommt, setzt sich der gesellschaftlichen Verurteilung, und was mehr zu bedeuten hat, den quälenden Vorwürfen seines Gewissens aus. Auf die Verstöße in Dingen der äußern Sitte antwortet der eitle Sinn mit einer Regung der Beschämung, bei den Irrungen der Erkenntnis und der künstlerischen Empfindung antwortet das prüfende Selbstbewußtsein mit dem Vorwurf der Unzulänglichkeit, auf die Verfehlungen gegen rechtliche und sittliche Pflichten antwortet es mit dem bezeichnenden Gefühl der Reue.
Das sittliche Sollen ist noch tiefer gewurzelt als das rechtliche. Dem rechtlichen Sollen mag dieser oder jener einzelne immerhin genügen, wenn er den Rechtsakt, der gefordert ist, ohne innere Teilnahme rein äußerlich vollzieht, es gilt mancher als tadellos rechtlicher Mann, der keine Spur von Rechtsgefühl hat. Ein sittlicher Akt dagegen muß, um diesen Namen zu verdienen, immer aus der teilnahmsvollen Bewegung des Herzens vollzogen sein. Wer ihn nur äußerlich um des Scheines willen vollzieht, ist ein bloßer Heuchler, dem seine Handlung nicht als Verdienst angerechnet werden kann. Ein reines sittliches Empfinden wird selbst solche schlimme Regungen der Seele anklagen und verurteilen, die gar muht bis zur Handlung gedeihen, und darunter insbesondere diejenigen, die nur durch äußere Hemmungen zurückgehalten wurden. Unter Umständen wird das sittliche Urteil den bösen Vorsatz eines ruchlosen Sinnes, der durch bloßen Zufall von der Ausführung zurückgehalten wurde, härter verdammen, als die ungehörige Handlung, die aus der Verirrung eines warmen Herzens entsprungen Ist. Nicht, als ob die Handlung als solche nicht auch im sittlichen Urteil abgewogen werden müßte! Der verhärtete Bösewicht, der im Fortschreiten der [116] Handlung mitleidlos auf seinem bösen Vorsatz beharrt und nicht ruht, bis das Übel nicht ganz vollbracht ist, wird vor dem Richteretuhle des Gewissens schlechter bestehen, als derjenige, der die Kraft zur Vollendung nicht aufzubringen vermochte.
Durch den innerlichen Ursprung der sittlichen Pflicht ist es gegeben, daß man nicht erst abzuwarten hat, bis die Erfüllung der Pflicht eingemahnt wird. Man hat dem Schwachen zu helfen, der sich nicht selber helfen kann, das Kind wird von der Mutter betreut, während es und eben weil es sich alles dessen nicht bewußt ist, was es bedarf, der Reiche hat aus seinem Überflusse dem Armen zu geben, der Gesunde hat für den Leidenden, der Erfahrene für den Unkundigen zu sorgen, ohne daß diesen Pflichten ein Anspruch des andern gegenüber stünde, der sein Recht fordern dürfte. Das reine Herz empfindet die Gemeinschaft des Menschentums und ihren Wert mit einer Stärke, daß der Wille kein Opfer dabei fühlt, sondern sich darnach drängt, «ich dem allgemeinen Wesen unterzuordnen. „Geben ist seliger als nehmen,“ in diesem Satze ist das sittliche Grundgefühl ausgedrückt. Die Pflichten, die aus diesem Grundgefühle folgen, im einzelnen aufzuzählen, geht kaum an. Der große Sittenlehrer verschmäht es, einen Sittenkodex vorzuschreiben, er gründet alles auf da« eine Gebot: „Liebe den andern wie dich selbst.“ Selbstachtung und Gleichachtung des andern ist die Summe aller Sittenlehre, nur wenige große Gebote mögen noch besonders gegeben werden, in allem übrigen bleibt es dem Gewissen im einzelnen Falle überlassen, zu entscheiden, wie das Grundgebot der Liebe auf ihn anzuwenden ist.
Das Recht hat nicht den gleich tiefen innerlichen Ursprung wie die Sittlichkeit. Das Recht gilt der Welt des Handelns, und die äußeren Beziehungen stehen daher im Vordergrund. Das Recht regelt das wechselseitige Verhalten der Menschen, wo immer sie sich mit ihren Handlungen treffen, sei es, daß sie gemeinsam vorzugehen haben, sei es, daß ihre Wege sich kreuzen. Dabei bleibt jedoch das bloß Technische ihres Verhaltens außer Betracht. So wenig es Aufgabe des Rechtes ist, das Technische des sachlichen Apparates einzurichten, der heim Handeln verwendet wird, so wenig ist es seine Aufgabe, das Technische des persönlichen Apparates einzurichten, wie dieser z. B. bei einer militärischen Truppe oder in irgend einem Betriebe erfordert ist. Zur rechtlichen Ordnung kommt es erst dadurch, daß die Menschen anders [117] als die Stoffe und Werkzeuge von ihrem Willen im Sinne ihrer Interessen geleitet sind. Dadurch wird es notwendig, für jede einzelne beteiligte Person oder für jede einzelne beteiligte Vielheit von Personen die Sphäre des Handelns abzugrenzen, um Reibungen und Kämpfe, so weit möglich, auszuschalten. In dieser Absicht stellt die Rechtsordnung die Willensbef ugnisse fest. Innerhalb des dem einzelnen oder der Vielheit freigegebenen Handlungskreisea erklärt die Rechtsordnung: „Hier kommt es dir zu, nach deinem Interesse zu handeln, du darfst“. Man darf sein Eigentum nach seinem Willen gebrauchen, vorausgesetzt, daß man damit nicht in einen besondern Handlungskreis eingreift, der von der Rechtsordnung im Interesse andrer Personen oder der Öffentlichkeit für diese abgezweigt ist. Man darf innerhalb des freigegebenen Handlungskreises mit andern Personen Vereinbarungen treffen und über die Forderungen verfügen, die aus diesen Vereinbarungen entstehen. Die Rechtspflicht steht erst in zweiter Linie, sie ist der Schatten, den der Rechtsanspruch wirft. Das „Ich darf“ des Berechtigten fordert notwendigerweise ein „Ich darf nicht“ für alle andern Außenstehenden, das sogar zu einem „Ich soll nicht“ verstärkt sein kann. Kein anderer darf in meine Rechtssphäre eingreifen, und wenn er es dennoch tut, so vergreift er sich an meinem Rechtsgute und hat für den Schaden aufzukommen, den er mir dadurch bereitet. In zahlreichen Fällen wendet sich der Anspruch des Berechtigten wider eine bestimmte Person oder eine bestimmte Mehrheit von Personen, von denen er eine Leistung fordern darf. Hier entspricht seiner Forderung eine positive Verpflichtung zur Leistung, ein „Du sollst“, das den Verpflichteten nicht nur für die Leistung verantwortlich macht, sondern auch für allen Schaden, der entsteht, wenn er in der Erfüllung seiner Rechtspflicht säumig ist.
Die Tatsache, daß das Recht sich immer auf ein äußeres Verhalten bezieht, eröffnet dem äußeren Zwange, dem die Tiefen der Sittlichkeit verschlossen sind, den ganzen Bereich des Rechtes. Immer muß es sich feststellen lassen, ob der zugestandene Willenskreis eingehalten oder überschritten, ob die übernommene Verpflichtung erfüllt ist, und damit ist dem Zwange die Gelegenheit eröffnet. Selbst dort, wo die volle Erfüllung nicht erzwungen werden kann, weil der Verpflichtete sein persönliches Zutun, auf das es zunächst abgesehen war, entschlossen verweigert, oder weil die Erfüllung durch Ablauf der Zeit oder sonst aus äußeren Gründen unmöglich geworden ist, kann man im wirtschaftlichen Bereich die Größe des Schadens zumeist in Geld abschätzen und die Ereatzverpflichtung auf eine Geldsumme stellen, auf welche [118] Exekution geführt werden kann, so weit Deckungsmittel vorhanden sind. Dadurch kann das Recht im wirtschaftlichen Bereiche, selbst wenn der direkte Zwang ausgeschlossen ist, dem Werte nach bis ans Ende gehen, und der wirtschaftliche Bereich mit seiner klaren Bestimmbarkeit der Leistungen bietet ja den Hauptstoff des Rechtes. Ungünstiger liegen die Bedingungen für das Strafrecht und hier wieder insbesondere für den Schutz der persönlichen Rechtsgüter. Wenn das persönliche Rechtsgut, auf dessen Gefährdung die Strafe gesetzt wurde, einmal zerstört ist, so kann auch der äußerste Zwang es nicht wieder herstellen, auch kann er kein Ersatzgut schaffen. Es ist dies keine geringe Schwierigkeit für den Lehrer und den Gesetzgeber, wenn sie für den Strafzwang Grund und Maß finden sollen. Auf alle Fälle ist indes klar, daß die Strafdrohung, wenn sie auch im gegebenen Falle nicht ausgereicht hat, um das Übel zu verhüten, dennoch darin wirksam sein kann, andere Bestrebungen des Übels im Keime zu ersticken, und ebenso klar ist es. daß man, wenn das Übel trotz der Strafandrohung einmal geschehen ist, nicht umhin kann, diese zu vollstrecken, will man ihren Ernst nicht im Zweifel lassen.
Von der Gelegenheit, die Erfüllung der Rechtspflichten durch Zwang zu sichern, macht der Staat und macht die Gesellschaft vollen Gebrauch. Der Staat ergänzt in dieser Absicht das „Du sollst“ der Rechtspflicht durch ein „Du mußt“ des Rechtszwanges, indem er Gerichte aufstellt und dem materiellen Rechte Vorschriften über die Gerichtsbarkeit anschließt, die Gesellschaft greift in weitestem Umfang durch das „Man muß“ des sozialen Zwanges ein. Das kundbar rechtswidrige Verhalten erregt Ärgernis bei der Masse der Menschen, die es wahrnehmen, und reizt zu Gegenhandlungen. Die gesellschaftliche Stellung dessen, der ein Unrecht begangen hat, das von der Gesellschaft als solches empfunden wird, ist bloßgestellt und er hat unliebsame Urteile und Begegnungen zu fürchten, im äußersten Fall hat er die gesellschaftliche Ächtung zu fürchten, die ihn schon empfindlich trifft, falls sie ihn aus dem Kreise der Genossen ausschließt, die ihn aber selbst aus dem Ganzen der Gesellschaft ausschließen kann.
Es gibt genug Menschen, die gerade nur so weit reehtlioh sind, daß sie sich dem „Du mußt“ des Staates und dem „Man muß“ der Gesellschaft unterwerfen. Die Zwangsform des Rechtes grenzt für sie das Recht ab. Von solcher Art ist Noras Mann, Dr. Helmer, wie ihn Ibsen zeichnet. Er ist über Noras Vorgehen außer sich, weil ihr Verurteilung und öffentliche Schande droht; sobald er jedoch erfährt, daß dies für sie nicht mehr zu befürchten ist, ist der Fall für ihn abgetan. Ob die Rechtsregel, [119] gegen die sich seine Frau vergangen hat. gut oder schlecht ist, ob ihr Vergehen sittÜch zu entschuldigen ist, ist ihm ganz gleichgültig. Ibsens satirische Zeichnung des Dr. Helmer trifft um so schärfer, weil Dr. Helmer selber Jurist ist. Mehr vielleicht noch als andere Männer vom Fach ist der Jurist geneigt, über der Form den Gehalt zu vergessen.
Wir für unsern Teil dürfen über die Frage nicht hinweggehen, die Dr. Helmer zu stellen vergißt. Wir dürfen nicht glauben, das Recht zu verstehen, solange wir nicht wissen, woher die Rechtsregeln ihren Inhalt empfangen. Es muß ein Inhalt besonderen Wertes sein, wenn Staat und Gesellschaft darin einig sind, ihm ihre Zwangsmacht zu leihen.
In der Tat ist es so. Die Regeln, die ein gesundes Recht aufstellt, haben ihre tiefe innere Begründung. Sie empfangen ihren Inhalt aus dem Sinne, aus dem Zwecke der Handlungen, die sie zu ordnen haben. In der Erscheinung des Gewohnheitsrechtes, mit der das Recht begonnen hat, ist der Ursprung des Rechtes aus seiner Zweckmäßigkeit klar erkennbar. Wir sehen, wie das Recht aus der Übung aufblüht, die sich am Erfolge der zweckvollen Handlung emporrankt. Daraus, daß das Interesse der Mächtigen den Zwecken, die sie verfolgen, besonderen Nachdruck verleiht, ist kein Einwand gegen diesen Gedanken herzuleiten; die Mächtigen sind eben die ersten dazu, in der Gesellschaft über den Erfolg zu entscheiden, und sie wissen ihren persönlichen Zwecken vor allen andern wirksamen Rechtsschutz zu sichern.
Am deutlichsten ist der Ursprung des Rechtes aua dem Rechtszweck, aus dem Erfolge beim Vermögensrechte oder Wirtschaftsrechte zu erkennen. Ein Wirtschaftsrecht, das sich aufrecht erhalten soll, muß immer die Probe des gesellschaftlichen Erfolges für sich haben. Das Privateigentum gilt dem Bürger und dem Bauern deshalb als geheiligt, weil es, solange die Erinnerung zurückreicht, die Weihe des Erfolges für sich hatte ; sollten sich die Dinge einmal so ändern, daß die Technik und Organisation des gesellschaftlichen Betriebes sich mit dem Privateigentum nicht mehr vertragen wollen, dann würde der Sozialismus den Erfolg für sich haben, seine Einrichtungen würden sich so durchsetzen, wie sie sieh eben in der Erfahrung bewähren, und sie würden auf die Länge der Zeit ebenso als geheiligt gelten, wie vor der Ausbreitung des Großbetriebes das Privateigentum. Ebenso wie im Wirtschaftsrecht wird im Rechtswesen überall die Erfahrung der kundigsten Berater, wenn auch unter allerlei Schwankungen und Irrungen, die Formen ermitteln, die dem Sinne des Lebens, wie ihn jede Zeit und jedes Volk versteht, den zutreffendsten Ausdruck geben. Das Staatsrecht [120] ist ohne Staatsklugheit nicht aufzubauen, das Verwaltungsrecht ist gOZU deutlich auf praktische Zwecke eingestellt, die Bcwcisregcln im Prozeßrecht, sie mögen plumper oder gewandter gefaßt sein, sollen immer doch dem einen Zweck dienen, die Wahrheit zu finden. Das Strafrecht ist wohl dasjenige Recht, dessen Ursprünge der Klugheit am fernsten liegen, es ist durch die zornige Aufwallung des VergeltungstriebeB geschaffen worden, der sich seines Zweckes kaum recht bewußt war. Aber ist das Strafrecht im Laufe seiner Entwicklung nicht doch auch nach Forderungen der Zweckmäßigkeit gestaltet worden, oder hätte sich die Rechtswissenschaft umsonst bemüht, wenn sie den Strafzwecken nachforschte und die Strafen nach ihnen abzumessen suchte ?
Die Rechtsregel, die auf den zweckvollen Erfolg zielt, ist eine Klugheitsregel. Dabei ist es klar, daß die Rechtsklugheit nicht die Klugheit des einzelnen Falles sein kann. Eine feste Rechtsordnung fordert feste allgemeine Rechtsregeln, die auf feste allgemeine Klugheitsregeln gegründet sein müssen. Das Recht, wenn es so sicher gehen soll, wie es will, kann nicht anders für diese oder für jene Person, kann nicht anders für heute oder für morgen sein. Der typische dauernde Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg muß ihm den Inhalt geben; soviel Typen von Erscheinungen, soviel verschiedene Rechtsregeln. Neben dem allgemeinen bürgerlichen Rechte wird das besondere Recht des Kaufmannes, der Bergmannes, der Arbeiterschaft oder andrer Gruppen sonst gelten, die ihre besonderen Regeln brauchen, weil sie in besonderen typischen Verhältnissen leben. Auch den Mächtigen im Volke mag es gelingen, iliren Fall als besonderen Typus zur Geltung zu bringen, aber innerhalb des so geschaffenen Typus muß doch wieder das gleiche Recht ohne Ansehen der Person gelten. Es gibt eine moderne Richtung, welche die Rechtslehre als bloße Formenlehre des Rechtes aufbaut, ein Gedanke, den sie geistvoll und fruchtbar durchführt; wenn sie aber so weit geht, den Zweck als ein Ziel außerhalb des Rechtes zu bezeichnen, so ist sie doch im Irrtum. Der Zweck ist das Zeugende im Recht, er gehört mit der Rechtagestalt so zusammen, wie das Austerntier mit Beiner Schale; Rechtsgestalt und Schale könnten nicht wachsen, wenn nicht die treibende Kraft des Lebendigen in ihnen eingeschlossen wäre.
Die höchste gesellschaftliche Klugheitsrcgcl ist noch immer keine Rechtsregel. Der verständige Egoist ist als solcher noch nicht der Mann des Rechtes, denn wenn er auch bereit sein sollte, auf den Vorteil des Augenblicks zu verzichten, falls er davon den größeren Vorteil für die Zukunft erwartet, so wird er sich doch kaltblütig überall dort seiner Pflicht entschlagen, wo er vermeint, die Rechtsklugheit noch überklügeln [121] zu können. Die Klugheit spricht zum Verstände, das Recht muß dem Rechtegefühle genugtun. Der rechtlich fühlende Mann sieht hinter den einzelnen Klugheiteregeln des RcchtcB die Personen, in deren Interesse die Regeln gegeben sind, und er fühlt die Verpflichtung in sich, diesen Personen die gleiche Rechteachtung zu erweisen, die er für sich selber beansprucht. Selbstachtung und Achtung des andern, sind dies aber nicht auch die Grundlagen der Sittlichkeit ? Wenn dies so ist, so ist das Rechtsgefühl das sittliche Gefühl, das auf den Rechtsinhalt bezogen wird, die Rechtsregel ist die sittlich empfundene Klughei tu rege 1. Damit int nicht gesagt, daß man sich des sittlichen Gehaltes der Rechtsregeln bei ihrer Vollziehung immer deutlieh bewußt sein muß, man hat dazu, solange man sie genau befolgt, kaum einen Anlaß, es genügt, wenn man sie als Klugheitsregeln anwendet, ja, wenn man nur dem äußeren Brauche folgt. Die einzelne Rechtsregel für sich genommen läßt einen sittlichen Gehalt vielleicht auch gar nicht erkennen — man denke z. B. an äußerliche Regeln des Verfahrens — er kommt ihr erst dadurch zu, daß ein sittliches Empfinden dem Rechtasysteme eigen ist, zu dem sie gehört. Die sittliche Empfindung des Rechtes wird aber immer lebhaft aufgerufen sein, wenn man vor der Versuchung steht, die vorgeschriebene Regel zu brechen. Vor dem Verbote: „Du sollst nicht töten“ und vor allen andern strafrechtlich geahndeten Verboten fühlt man es deutlich, daß hier der Bruch des Rechtes ein sittliches Verbrechen ist, aber auch beim bloßen bürgerlichen Unrecht, wenn man dem andern die geschuldete Leistung vorenthält, wenn man Ungehöriges von ihm fordert, wenn man die Beweismittel für die Wahrheit zurückhält, sagt jedem, der Rechtsempfindung besitzt, das Gewissen, daß er eine sittliche Pflicht verletzt, indem er der Versuchung seines persönlichen Interesses nachgibt. Umgekehrt wird man, wenn man eine schwere Rechtepflicht zu erfüllen die Kraft in sich aufbringt, durch das Gefühl gehoben, daß man einen sittlichen Sieg gewonnen hat.
In der Mehrzahl der Fälle bleibt auch die sittlich empfundene Rechtsregel mit ihren Forderungen mehr oder weniger weit hinter dem Maße zurück, das durch das große sittliche Gebot der Nächstenliebe aufgestellt ist. Nicht einmal im Innern der Familie wird dieses Maß immer ganz erreicht, zumeist aber gibt doch die Liebe der Eltern den Kindern und gibt später in dankbarer Wiedererstattung die Liebe der Kinder den Eltern über die enge Rechtsregel hinaus das sittlich Geforderte, und diejenigen Familien, in denen der Instinkt des Blutes voll lebendig ist, teilen die Güter bis aufs letzte im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit. Immer auch gibt es zahlreiche Menschen, die außerhalb ihres engeren [122] Blutkreises im Sinne ausgleichender Sittlichkeit von dem Ihrigen, ohne vom Rechte dazu verhalten zu sein, an die leihlieh oder geistig Bedürftigen abgehen, was sie können. Die Kirchen sind von jeher die Vermittler für Werke der Barmherzigkeit gewesen, in den Klöstern haben ungezählte Menschen freiwillig das Gelübde der Armut geleistet und noch auf vielen andern Wegen sind die Schärfen der Rechtsordnung durch eine mildernde Ordnung der Liebe abgeschliffen worden. Bei alledem erweist jedoch die Erfahrung aller Zeiten und aller Völker den Bestand von Rechtsordnungen, in denen nur eine eingeschränkte Sittlichkeit gilt, die oft sogar noch durch die Schlacken der Gewalt verschüttet ist, welche in den gesellschaftlichen Anfängen dem Rechte vorausging. Das Liebesgefühl, das die Masse der Menschen untereinander verbindet, ist nicht stark genug, um die strenge Rechtsordnung ganz in ausgleichende Sittlichkeit aufzulösen. In seinen schwärmerischen Anfängen hat der sozialistische Gedanke allerlei Versuche gezeitigt, die Gesellschaft wie eine große Familie einzurichten. Diese Versuche sind alle gescheitert. Wie die Rechtsregel sonst den typischen Verhältnissen Ausdruck gibt, so tut sie es auch in Beziehung auf das Maß der Rechtsachtung, das sie bei den Menschen voraussetzt, sie ist auf den typischen Grad der Nächstenliebe eingestellt. Könnte, sie auch auf anderer Grundlage Bestand haben ?
Wenn wir heute auf entfernte Zeiten zurückblicken, so erscheinen uns ihre Rechtsordnungen als unsittlich. Wir können uns in das Gefühl eingeschränkter Sittlichkeit nicht mehr zurückversetzen, wie es zu seiner Zeit jedermann eigen war, der als Herr über Sklaven gebot ; dem Mitmenschen die Freiheit vorenthalten, gilt uns als Verbrechen wider die Natur. Spätere Jahrhunderte werden auch unsere Rechtsordnung nicht mehr als sittlich empfinden können, die krasse Ungleichheit des Rechte besitze», bei der sich unser Gefühl beruhigt, wird wohl als grobe Bedrückung der Armen empfunden werden. Trotzdem hat in einer Zeit, der von früherher die Sklaverei geschichtlich überliefert war und die einen Zustand ohne Sklaverei nicht denken konnte, der Herr sein Recht auf den Sklaven nicht als unsittlich empfinden müssen, nicht als unsittlich empfinden können, so wie wir -heute die Ungleichheit des Rechtsbesitzes nicht als unsittlich empfinden, wenn sie nicht allzu schlimm ist, oder wenn sie nicht etwa gar durch brutale Gewalt geschaffen ist oder gemehrt wird. Für die sittliche Empfindung eines Zeitalters hat die [123] Auffassung kommender Geschlechter nichts zu bedeuten, sie findet ihren Maßstab der Vergleichung in der Auffassung der unmittelbar vorhergehenden Geschlechter. Ein Recht, das milder ist als dasjenige, nach welchem die Väter lebten, darf den Söhnen als ein sittliches Recht gelten. Im übrigen hat das geltende Recht immer den starken Beweisgrund der Erfahrung für sich, es ist da und kann also sein, es ist durch die Wirklichkeit seines Seins als möglich bestätigt und ist dadurch allein schon stärker als jede bloß ausgedachte Ordnung, die erst die Probe der Erfahrung zu bestehen hätte. Die Klugheitsregeln des Rechtes sind durch den Erfolg zu fest begründet, als daß sie sich vor dem Gebute der Nächstenliebe ohneweiters auflösen sollten, das ja in seinem vollen Gehalte über die gemeine menschliche Kraft hinausgeht und mehr das Ziel des Strebens als eine unmittelbare Vorschrift bedeutet. Noch aus einem andern Grunde darf man nicht sagen, daß die persönliche Ungleichheit grundsätzlich gegen das Wesen des Rechtes sei, denn das Recht erhält 9eine Gestalt nicht nur von den Personen, die es verbindet, sondern auch von den Dingen, die es zu regeln hat. Es kann sein und ist in der Tat oft so, daß der Erfolg für alle am besten dadurch erreicht wird, daß die zum Handeln verbundenen Menschen sich nach ungleichem Recht einander überordnen und unterordnen, dem Anteil entsprechend, den sie an der Bewältigung der zu erfüllenden gesellschaftlichen Werke nehmen. Wenn es so ist, so findet sich das Rechtsgefühl bereitwillig in die Ungleichheit von Recht und Rang. Es ist durchaus falsch, die Ungleichheiten, die das Recht so zahlreich aufweist, immer auf Übermacht und äußern Zwang zurückzuführen, sie sind oft und oft die folgerichtige Schöpfung der Kraft, die sieh tätig ordnet.
Dadurch daß sie sittlich empfunden wird, wird die Klugheitsregel zur sittlichen Macht erhöht. Erst das „Du Rollst“ des Gewissens steigert den Wert der Klugheitsregel des Rechtes bis zu der Höhe, auf der es gerechtfertigtist, daß das staatliche „Du mußt“ und das gesellschaftliche „Man muß“ zu ihrer Durchsetzung aufgerufen wird. Selbst das „Ich darf“, womit die Rechtsklugheit die Willenssphären gegeneinander abgrenzt, wird in jeder Rechtsordnung, in welcher der volle Rechtsgedanke nicht durch Gewalt entstellt ist, zu einem „Ich soll“ erhoben. Die alte Parömie, daß man niemanden verletzt, wenn man sein Recht gebraucht, sagt noch zu wenig; nicht nur, daß ich nicht unsittlich handle, wenn ich im Kreise meines Dürferw handle, sondern die Gesellschaft [124] erwartet sogar, daß ich den Kreis meines Dürfens ganz ausfülle, denn dieser Kreis ist durch die typische Erfahrung des Erfolges abgemessen, hinter dem kein Berechtigter zurückbleiben soll. Da das Dürfen sich eigentlich nicht gegen die Sachen richtet, an denen ich mein Recht habe, sondern gegen die Personen, die meinem Rechte verpflichtet 6ind, so handle ich auch ihnen gegenüber nicht unsittlich, wenn ich von ihnen die Erfüllung ihrer Pflichten einfordere, und ich handle im Rahmen eines gewaltlosen Rechtes sogar sittlich, wenn ich von meinem Rechte nichts nachlasse, was ich in Anspruch nehmen muß, wenn anders ich die gesellschaftliche Erwartung des Erfolges erfüllen soll. In diesem Sinne ist der Kampf ums Recht erlaubt und in den richtigen Schranken sogar geboten. Die sittliche Empfindung, die mir im Gewissen die Pflicht auferlegt, das Recht des andern zu achten, gibt mir zugleich den Anspruch darauf, mich meines eigenen Rechtes zu wehren, ich kämpfe einen guten Kampf, wenn ich mich wider einen Gegner stelle, der sich meines Rechtes anmaßt. Der Kampf ums Recht hört erst auf, gut zu sein, wenn er wider einen Gegner fortgesetzt wird, der ohne sein Verschulden nicht mehr leistungsfähig ist; einem solchen Kampfe kann die sittliche Empfindung nicht mehr zustimmen, wie sie auch dem Rechte nicht mehr zustimmen kann, das der Berechtigte gesellschaftlich ungenützt läßt oder das in einer solchen Fülle bei ihm angesammelt ist, in welcher es gesellschaftich wertvollen Gebrauch nicht mehr zuläßt.
Dadurch daß die Rechtsrcgcl niemals vom einzelnen Falle, sondern immer von den typischen allgemeinen Verhältnissen genommen ist, erhält der Kampf ums Recht, der zunächst nur zwischen zwei einzelnen Personen geführt wird, erhöhte gesellschaftliche Bedeutung. Der Zweikampf, den sie führen, wird zugleich im Interesse der Genossen, der Partei, der Klasse geführt. Mit Spannung wartet daher die Öffentlichkeit ab, auf wessen Seite sich das staatliche Gericht und das gesellschaftliche Urteil stellen. Wenn die Erregung wächst, dann treten die Genossen, die Parteien, die Klassen selber in den Kampf ums Recht ein, der dadurch erst zum vollen sittlichen Kampfe wird, weil über dem Einzelinteresse sich ein bedeutendes allgemeineres Interesse erhebt. Wer wollte daran zweifeln, daß der Freiheitskampf der Unterdrückten ein sittlicher Kampf ist! Und haben nicht auch die Verteidiger der bestehenden Mächte einen bedeutsamen Rechtsgedanken zu wahren ? Wie da« Volk einen guten Kampf kämpft, wenn es sich seiner unveräußerlichen Rechte wehrt, so auch der Fürst, wenn er die geschichtlichen Pflichten seines hohen Berufes wahrnimmt.
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Die innere Macht des Rechtes ist stärker, als die äußere, die es durch das „Du mußt“ des Staates und das ..Man muß“ der Gesellschaft empfängt. Der staatliche Zwang ist unentbehrlich, wo es notwendig ist, den der Rechtsordnung widerstrebenden Willen zu beugen, aber die staatlichen Zwangsmittel reichen doch nur aus, solange man es nur mit einer Minderheit widerstrebender Bürger zu tun hat. Gegen die ausgesprochene Mehrheit, falls sie nicht von sklavischer Untertänigkeit ist, käme der Staat nicht auf, selbst gegen eine starke Minderheit muß er schon mit den Mitteln des Standrechtes und Kriegsrechtes arbeiten, die auf die Dauer nicht gebraucht werden können, und wo er den sozialen Zwang und die Gewissen nicht für sich hat, setzt er sich überhaupt nicht vollkommen durch. Solange der soziale Zwang in den Kreisen von Militär, Adel und Studentenschaft das Duell fordert, wird sich das Duell behaupten, obwohl es der Staat als Verbrechen ahndet. Ebensowenig ist es dem Staate gelungen, die kühnen Menschen der Alpen vom Wildern abzuhalten, das ihnen in ihrem Kreise eher Ruhm als Schande bringt. Der soziale Zwang seinerseits ist dort sehr wirksam, wo die Dinge so offen liegen, daß jede Auflehnung gegen sein „Man muß“ sofort bemerkt wird und die ausgleichende Gegenwirkung nach sich zieht; auf einer Brücke mit starkem Verkehr werden Fußgänger und Wagenführer sich in ihrer Hauptmasse von selbst auf der Seite halten, auf der sich zu halten die Übung vorschreibt, die Unerfahrenen oder Störrischen werden von den Begegnenden in mehr oder minder derber Weise auf den rechten Weg gewiesen, und die Polizei kann mit einem oder ein paar Mann ausreichen, weil sie nicht mehr zu tun hat, als im äußersten Falle einzuschreiten. Wo die Dinge nicht so offen hegen, muß der soziale Zwang auch noch durch das sittliche Rechtegefühl unterstützt sein, im Gewissen selber muß das sacrificium voluntatis gebracht werden, der Wille muß sich im Innersten der sittlichen Macht einordnen, an der er seinen Anteil haben will. Wären alle Bürger des Rechtsgefühles voll, dann brauchte es überhaupt keinerlei Zwang, um die Rechteordnung aufrecht zu erhalten. Reisende, die das innere altvaterische China kennen, das noch nicht durch den Verkelir mit den Europäern in seiner Art geändert ist, berichten uns, daß Gericht und Verwaltung dort weit weniger in Anspruch genommen sind, als in irgend einem Lande europäischer Zivilisation. Das tausendjährige Alter der stillestchenden chinesischen Zivilisation hat so feste Lebensgewohnheiten ausgebildet und die Menschen äußerlich und innerlich [126] so bestimmt gerichtet, wie es in dem bewegteren europäischen Leben nicht möglich wäre, in welchem staatlicher Zwang, sozialer Zwang und Gewissenszwang zusammenwirken müssen, um dem Rechte seine Ordnung zu sichern. Wo der Gewissenszwang schwächer ist, ist auch die Ordnung des Rechtes unvollkommen, weil damit zugleich der soziale Zwang geschwächt ist und weil der Staat für sich allein eben viel zu schwach ist. Es ist nicht die bessere Polizei des Staates, die heute die Landstraßen sicherer macht, als in früheren Jahrhunderten, es ist der gesittetere friedlichere Sinn der Bürger. Warum ist die Ordnung im Steuerwesen um so viel unvollkommener, als im bürgerlichen Rechtswesen, obwohl die Strafen, die der Staat auf das Steuerunrecht setzt, um vieles höher sind, als diejenigen, die das Privatunrecht treffen ? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein: Die Steuerregeln werden von der großen Zahl der Bürger nicht in dem gleichen Grade sittlich nachempfunden, wie die Regeln des bürgerlichen Rechtes, die Steuermoral ist eben um so viel geringer als die bürgerliche Moral ; die Kirche in ihrer menschenkundigen Art nimmt daher wohlweislich davon Abstand, Verfehlungen gegen die Steuermoral nach dem Maßstabe der Verfehlungen gegen die Sittengebote des persönlichen Lebens zu verurteilen. Der Durchschnittsbürger hält dem Staate gegenüber trotz aller seiner Macht für erlaubt, was er dem einfachsten Mitbürger gegenüber nicht mehr für erlaubt hält. Mit dem Genossen, mit dem Geschäftsfreunde, mit dem Kunden verkehrt man ständig, sie sind einem persönlich bekannt, man weiß das Machterlebnis zu schätzen, das ein ungestörtes Zusammenwirken mit ihnen einbringt, man will von ihnen geachtet sein, um ihres Entgegenkommens versichert zu sein, und durch all dies sind sie einem so nahe, daß nicht nur die Klugheit mit ihnen rechnet, sondern daß auch das Gefühl eines jeden, der nicht geradezu unfein empfindet, ihnen von selbst Rechtsachtung entgegenbringt und nicht erst den Zwang abwartet, um zu leisten, was man ihnen schuldig ist. Der Staat dagegen ist ein Abstraktum, das der gemeinen Vorstellung nicht anschaulich ist und das Gefühl nicht anregt, ein Abstraktum, das dem gemeinen Wissen fremd und um so fremder dem Gewissen bleibt. Erst durch die leidenschaftliche Erregung des Volksgefühles, wie sie etwa ein volkstümlicher Krieg hervorruft, wird die Masse sich ihrer Pflicht gegen den Staat klar bewußt und dann allerdings ist sie zu den höchsten Willensopfern bereit, indem sie sich zugleich des Machterlebnisses bewußt wird, welches ihr das aufrechte Dasein des Staates bedeutet.
Das öffentliche Recht hat das Besondere an sich, daß überall, wo die widerstrebenden Interessen großer Gruppen aufeinander stoßen, [127] die innere Macht des Rechtes ausläßt. Jede Gruppe glaubt das Recht ab. Dies ist die Pforte, durch welche die Gewalt ins öffentliche Leben gerufen wird; weil die innere Macht fehlt, muü die äußere Gewalt ihr Werk tun, weil die Götter nicht sprechen, werden die Dämonen der Unterwelt losgelassen, daher die Kämpfe zwischen den Parteien, den Klassen, den Kirchen und vor allem den Nationen und den Staaten. Während innerhalb des einzelnen Staates der Zwang zumeist nur gegen eine kleine trotzige Minderheit zu üben ist, die dem Rechte den Gehorsam verweigert, muß er zwischen den Völkern, die einander die Reehtsachtung verweigern, zur immer bereiten Waffe werden.
Damit, daß die Rechtsmacht in ihrem Grunde als sittliche, als innere Macht erkannt wird, die im Gewissen des einzelnen wurzelt, ist ihr keineswegs das Wesen einer gesellschaftlichen Macht aberkannt. Die Menschen suchen auch in ihren innersten Bestrebungen die Hilfe gesellschaftlicher Bestätigung. Wie der Erkenntnisdrang und der Schönheitsdrang diese Hilfe braucht, so der Glaubensdrang und auch der sittliche Drang; überall sind hier Aufgaben zu erfüllen, die über die auf sich gestellte Kraft des einzelnen hinausgehen. Die Wahrheit wird dadurch nicht gefälscht, daß ich sie zusammen mit andern finde, sie wird dadurch um so deutlicher und sicherer. Die Menschen sind einander so verwandt, daß sie ihrem Wesen nicht untren werden, wenn sie den voraustrebenden Besten folgen und sich dabei einer an den andern anlehnen. Wenn ich mit andern zusammen unter gleichen Verhältnissen das gleiche Recht finde, so brauche ich mein Rechtsgefühl nicht zu verleugnen, im Gegenteil, ich werde ihm damit besser genug getan hallen, als wenn ich allein meinen Weg gehe. Die Allgemeinheit der Rechts Überzeugung ist die stärkste Probe des Rechtes.
Gibt es aber irgend ein Recht, das diese Probe voll bestünde ? Gibt es wirklich Rechts Überzeugungen von voller Allgemeinheit, von der sich nur die Minderheit absondert, die dem Rechtsgefühl überhaupt nicht zugänglich ist ? Kennt die Masse der Menschen wirklich das Recht, nach dem sie lebt ? Jeder einzelne in der Masse kennt es nur in seinem beschränkten Kreis, und wenn er eR übt, so tut er dies, indem er seine herkömmlichen Formen anwendet, ohne aber jenen Grad des Verständnisses zu besitzen, den wir fordern müssen, um von Überzeugung sprechen zu können. Eher noch versteht die große Masse den Sinn des Privatrechtes, dos ihre nächsten Interessen betrifft, aber fehlt ihr in den so schwer zu überblickenden Angelegenheiten des öffentlichen Wesens nicht jedes Urteil? In der Tat, der Ausdruck „ Rechtsüberzeugung“ sagt mehr, als sich von den Individuen sagen läßt, welche die Masse zusammensetzen. Die allgemeine Rechtsüberzeugung kommt nicht in der Weise zustande, daß alle Individuen in der Masse im vollen Siuue des Wortes überzeugt sind, sie kommt so zustande, wie jede gesellschaftliche Willensentscheidung sonst zustande kommt, nämlich unter Vorangehen der Führer und Nachfolge der Masse. Von der Masse darf man eben auch in den Dingen des Rechtes nicht mehr erwarten, als was ihrem Wesen zukommt, auch in den Dingen des Rechtes fällt es der Masse nur zu, das Verhalten der vorangehenden Führer durch entsprechende Nachfolge zu bestätigen. Die gesellschaftliche Rechtsfindung braucht das Vorangehen der Rechtsempfinden der Rechtsgestalter, der Rechtskämpfer. Wo wir in rechtlichen Dingen die Masse in tätiger Nachfolge auf den Wegen der Führer sehen, da tut sie ihr angemessenes Teil an der Bildung der Rechteüberzeugung und sie wird den Anteil, den sie am geltenden Rechte nimmt, durch die Kraft ihres Widerstandes erweisen, falls ihr zugemutet wird, nach einem andern, ihrem Gefühle widerstrebenden Rechte zu leben. Wo wir dagegen die Masse in dumpfer Gleichgültigkeit die Entscheidungen über sich ergehen lassen sehen, die von denen verkündet werden, welche gerade die Tribüne des öffentlichen Lebens beherrschen, dort kann von gesellschaftlicher Rechtsüberzeugung keine Rede sein und für ein Recht, das so entstanden ist, wird denn auch die Masse ihre Kraft nicht einsetzen und ein solches Recht wird daher
Auch als innere Macht bedarf das Recht der entsprechenden äußeren Form, die dadurch gefordert ist, daß es das äußere Verhalten der Menschen regeln soll. Bis zu einem gewissen Grade bedarf es der Zwangsform, denn sonst könnte man mit der widerstrebenden Minderheit nicht zu Ende kommen, aber selbst in dem Idealfalle allgemeiner und völliger Rechtswilligkeit, wo gar kein äußerer Zwang gefordert wird, ist zur vollen Rechtsmacht die Rechtsform gefordert. Auch der rechtswillige Sinn braucht noch den geschulten Richter, der die allgemeine Rechtsregel auf den einzelnen Fall anwendet, welcher ja den Zweifel offen lassen kann, und der Richter wieder, damit sein Spruch vor Willkür geschützt sei, braucht das Gesetz, das die allgemeine Rechtsregel [129] regel ausspricht. Die moderne Schule der freien Rechtsfindung, die dem so wie er sie erkennt, setzt Richter voraus, wie sie die großen römischen Juristen waren, welche den Geist des Gesetzgebers in sich hatten. Der Durchschnitt der Richter, wie sie sind, muß auf die feste Grundlage des Gesetzes gestellt werden.
Die Aufgabe des Gesetzgebers gehört zu den bedeutsamsten und schwersten Führeraufgaben in der Gesellschaft. Der große Gesetzgeber ist vom gesellschaftlichen Urteil immer in die vorderste Reihe der Führer gestellt worden. Seine Bedeutung ist dadurch nicht gemindert, daß der Rechtsinhalt, den er zu formulieren hat, durch das Wesen und Lehen des Volkes vorbereitet sein muß, auch auf jedem andern Gebiete sonst ist der große Führer immer durch den Volksgeist vorbereitet. Die besondere Aufgabe des Gesetzgebers, aus den Klugheitserfahrungen des Lebens feste Regeln abzuleiten, erfordert eine durchdringende Lebenskenntnis, die mit der höchsten Schärfe des Urteils und dem feinsten Rechtegefühle gepaart sein muß, das in einem künstlerischen Sprachgefühle seinen Ausdruck findet. Die Bedeutung des Gesetzgebers ist auch dadurch nicht gemindert, daß er der Hilfe der Rechtswissenschaft bedarf. An der Ausdehnung und Bedeutung, welche die Rechtswissenschaft bei allen Btarken Völkern gewonnen hat, können wir die Bedeutung der Rechtsform erst ganz ermessen. Sie empfängt ihren äußeren Ausdruck in der Feierlichkeit, mit der das Gesetz verkündet und das Gericht umgeben wird.
Wie der gelehrte Jurist, so liebt es auch der Gesetzgeber und der Richter, die Rechteform um ihrer selbst willen zu pflegen. Die von den Rechtegebildeten durchgeführte Rezeption des römischen Privatrechtes in der Periode von Uumanismus und Renaissance zeigt uns die Anziehungskraft, welche die Rechtsform damals auf den juristischen Geist ausübte. An der Rezeption des englischen Verfassungsrechtes in der Periode der Revolutionen war nicht nur der Freiheitsdrang der Masse, sondern auch der Formsinn der Rechtekundigen beteiligt. In beiden Fällen ist ein wohlgeformtes Recht entstanden, das gleichwohl als künstliches Recht empfunden werden mußte, weil es den Zusammenhang mit dem natürlichen Boden des Rechtes, mit dem schaffenden Rechtegefühle des Volkes entbehrte. Solch künstliches Recht ist doch nur halbes Recht und wird erst dann zu Vollrecht ausreifen, bis seine Form dem Inhalt angepaßt ist, den das heimische Rechtegefühl fordert. Man muß am Muster des fremden Rechtes gelernt haben, die eigenen Rechtebestrebungen in die ihrem Inhalt entsprechende Form zu gießen.
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Wie der Juristenstand sich dann, wenn er in lebhafter Bewegung ist, in seiner Führeratellung übernimmt, so gibt es wieder Zeiten, in denen er stehen bleibt und seine Pflicht des Vorangehens im Rechte versäumt. Das sind dio Zeiten des starren trockenen Juristenrechtes, da Rechtswissenschaft und Rechtsprechung am Buchstaben kleben bleiben und verdorren. Dann wird ein kräftiges Volk sich seine Rechtsgestalten in der formlosen Weise zu schaffen suchen, die einst dem Gewohnheitsrechte eigen waren.
Den größten Vorteil bringt die Beherrschung der Rechtsform dadurch, daß sie die ungetrübte Rechtsfolge sichert, indem man in weiser Voraussicht altes Recht in neues überleitet, bevor es aus Vernunft zu Unsinn, aus Wohltat zu Plage geworden ist.
Selbst ein ganz gesundes Volkstum gelangt erst auf der Höhe seiner Reife zur glücklichen Vereinigung von Rechtsgefühl und Rechteform und dadurch zu voller innerer Reehtsmacht, während seine Jugend und sein Verfall von Kämpfen um die äußere Macht erfüllt sind. Sogar in einem gereiften Volkstum mag es das eine oder das anderemal dazu kommen, daß die friedliche Fulge des Rechte» durch den Kampf gärender Kräfte wieder unterbrochen wird, aber man wird doch verhältnismäßig rasch zum inneren Frieden zurückfinden, in welchem die Wunden des Kampfes wider zu Recht verheilen.
Der Weg zur Rechtsmacht ist geschichtlich zu einem guten Teile über die Zwangsmacht gegangen. Immer wird der Gewalthaber das Verlangen empfinden, durch das Recht bestätigt und erhöht zu werden. Wenn er den rechtmäßigen König vom Throne gestoßen hat, so will er dessen Sitz einnehmen und mit seiner Krone geschmückt sein, er will sich nicht bei der Zwangsform bescheiden, über die er gebietet, sondern will zu ihr auch noch die ganze Rechtsform hinzubesitzen, sonst glaubt er nicht die volle Herrschaft über die Gemüter zu haben. Darum versäumt er keine Einzelheit der Rechtsform; er läßt sich durch das Gesetz als Herrscher verkünden, er setzt Richter ein und beauftragt sie, diejenigen zu bestrafen, die ihm die, Anerkennung als Herrscher verweigern. Gewinnt er dadurch aber wirklich schon in den Herzen die Macht, wie sie sein rechtmäßiger Vorgänger besaß ? Gewiß nicht. Sein Gesetz verpflichtet die Gewissen nicht, die Urteilsprüche seiner Richter werden im Volke als ungerechter Zwang empfunden. Die äußere Rechtsform, die er anwendet, ist nichts als fortgesetzte Zwangsform; nach dem [131] Kriege mit Waffen, den er gegen das feindliche Heer geführt hat, führt er nun den Krieg mit Fesseln und Galgen gegen die einzelnen Widersacher, die sich nicht mehr ins Feld wagen. Er greift sie auf, wenn sie ihm in der Öffentlichkeit die Ehrung verweigern, die er fordert, und er verfolgt Bie bis ins Innere ihrer Häuser, wenn er argwöhnt, daß sie sich dort gegen ihn verschwören. Das von ihm verkündete Gesetz ist kein Rechtegebot, sondern bloß ein Zwangsbefehl, der von ihm bestellte Richter ist nicht Richter, sondern Nachrichter. So wenig die Dragonaden Ludwig XIV. die gläubigen hugenottischen Herzen bekehren konnten, so wenig kann der Zwang des Usurpators das Treugefühl für den rechtmäßigen König unterdrücken.
Die neuen Machthaber von heute gehen ebenso begierig auf die Rechtsform aus, wie die der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende. In den Neustaaten, die nach dem Weltkrieg auf dem Boden ÖsterreichUngarns begründet wurden, wird Zwangsform unbedenklich für Rechtsform ausgegeben, jedor ist ein Hochverräter, der sich wider die neue Gewalt sträubt. Keine noch so große völkische Minderheit darf dort das nationale Urrecht der Selbstbestimmung für sich in Anspruch nehmen, das von den Siegern selbst feierlich verkündet worden war. Soll der Gewaltspruch Recht schaffen können, der dieses Urrecht zerbricht ? Der Zwangsherr braucht eben die Stütze des Rechtes so dringend, daß er sich der Selbsttäuschung nicht entziehen kann, er vermöge Zwang bloß dadurch schon in Recht zu verwandeln, daß er ihn als Recht anspricht. War etwa Wilhelm der Normanne deshalb, weil er den sächsischen König Harald auf dem blutigen Felde von Hartings besiegte und erschlug, auch in den Herzen der Sachsen als rechtmäßiger König anerkannt} König auf König mußte ihm als Zwingherr nachfolgen, solange bis endlich Normannen und Sachsen sich zu Engländern verschwistert hatten und zusammen mit der gemeinsamen Sprache durch ein gemeinsames Rechtegefühl verbunden waren. Wahre Rechtsmackt ist eine innere Macht, sie ist Nachfolge der Herzen, die de« Zwanges nicht mehr oder gerade nur mehr gegen eine Minderheit rechtloser Gemüter bedarf. Wahre Rechtsmacht ist eine tätige Macht, der in den Herzen anerkannte König findet für seine Befehle willige Nachfolge; für den Zwingherrn rührt sich keine Hand, die nicht muü, und wenn sein Zwang zu Ende ist, ist er ein ohnmächtiger Bettler, den der Haß verfolgt.
Von den Gewaltherrschaften, die geschichtlich aufgerichtet wurden, sind nur diejenigen zu wahrer Rechtsmacht gereift, die sich derart gewandelt haben, daß sie die Gemüter der Masse, welche sie zuerst durch den Schrecken der Waffen beherrschten, durch den Segen der [132] Zivilisation und Kultur für Bich gewannen. Auf dem langen Wege, der zu durchmessen war, bis sich die erzwungene Nachfolge der Massen zur rechtswilligen Nachfolge wandelte, haben die Gemüter der Masse eine buntgemischte Reihe von Übergangsstimmungen durchleben müssen, damit die Zwangsform endlich voll als Rechtsform empfunden werden konnte. Der moderne Sinn, dem der Zustand der Freiheit selbstverständlich geworden ist, vermag sich in diese Stimmungen gar nicht mehr recht hineinzufühlen, ihm scheint es nicht anders möglich, als daß der Zustand der Sklaverei immer als unerträglicher Zwang empfunden werden mußte. Sollte dies aber wirklich durch all die Jahrtausende hindurch so gewesen sein, in denen ein großer und oft der größere Teil der Bevölkerung nach Sklavenrecht lebte ? Die Herren, denen die Sklaven als ihr Eigentum zugesprochen waren, haben in diesen ganzen langen Zeiten ihr Herrenreeht als Vollrecht hetraebtet, nicht anders als das Eigentumsrecht an den Sachgütern, die ihnen gehörten, und auch auf Seite der Unfreien müssen wir annehmen, daß sie sich mit ihrem Lose, welches zu ändern 3ie in aller Regel kaum irgend eine Aussicht hatten, so weit abgefunden hatten, um ihrem Lebensgefühle doch einigermaßen genug zu tun. Bei den milderen Formen der Unfreiheit, wie sie die hörigen Bauern auf dem Lande zu tragen hatten, war das gewiß so. Für gewöhnlich, wenn nicht gerade einmal der rauhe Arm des Herrn oder seines Vertreters störend eingriff, konnte sich der Bauer der körperlichen Frische, die er der Arbeit verdankte, und in der Hauptsache auch der Früchte seiner Arbeit fast ebenso erfreuen, wie der Freibauer jener Zeit, der durch die Umstände von damals tatsächlich fast ebenso an die Scholle gebunden war, wie der unfreie von Rechts wegen. Aber auch die Massen der Unfreien, die härter gehalten waren, haben sich doch auf die Dauer, wenn auch mit dumpfer Ergebung, in ihr Schicksal finden müssen. Die Angehörigen solcher Volksstämme, deren Instinkten der Freiheitstrieb fremd war, haben sich vielleicht in der Abhängigkeit von einem Herrn, der für sie bis zu einem gewissen Grade sorgte, wohler gefühlt, als wenn sie sich selber überlassen gewesen wären. Waren nicht alle diese Stimmungen doch mit einer Art Anerkennung des Herrenrechtes verbunden ? Wenigstens für jene langen Perioden müssen wir es wohl annehmen, in denen der Geist der Menge sich ruhig fügte, ohne daß es zu Handlungen des Widerstandes anders als in vereinzelten persönlichen Ausbrüchen gekommen wäre. Wo große Sklavenaufstände ausgebrochen sind oder Bauernrevolten, von der Art der englischen oder der französischen Jacquerien oder der deutschen Bauernkriege, haben wir freilich den deutlichen Beweis vor uns, daß das Rechtsgefühl der Unterdrückten [133] sich nicht fügen wollte, und wir müssen annehmen, daß dessen Widerspruch auch dadurch nicht beseitigt war, wenn der Aufstand mit grausamem Zwange niedergeworfen wurde. “ Am Ende hat der Sinn der europäischen Völker doch alle Formen der Unfreiheit, auch die milderen, als mit ihrem Wesen unvereinbar empfunden und abgeschafft.
Die Stimmungen des Proletariates von heute, das rechtlich frei ist, aber zum guten Teile unter dem schweren Druck der Not steht, haben nahe Verwandtschaft mit den Stimmungen der Unfreien von früher. Ihnen nähern sich auch die Stimmungen der nationalen Minderheiten an, die sich in ihren Ansprüchen auf Selbstbestimmung verletzt fühlen. Die nationalen Minderheiten hatten den Mangel an Selbstbestimmung hingenommen, solange sie noch nicht weit genug entwickelt waren, um ihre eigenen Kulturwerte zu schaffen, aber wenn sie einmal so weit sind, dann empfinden sie den Mangel an Selbstbestimmung als schwer erträglichen Zwang. Am schwerstenempfinden die fremde Oberhoheit solche Völkerschaften, die sich früher im Besitze nationaler Freiheit befanden und ihrer eigenen Kultur erfreuten, aber nach unglücklichen Kriegen ihre Selbständigkeit verloren haben. Die demokratische Bewegung des 19. Jahrhunderts hat eine nicht geringe Zahl solcher Völker, die mit ihrer politischen Selbständigkeit auch ihre kulturelle schon ganz eingebüßt zu haben schienen, zu neuen Kräften und Ansprüchen erweckt.
Zum alten eingelebten Recht kommt immer wieder neues werdendes Recht hinzu, das sich zunächst noch als äußere Sitte gibt, ohne daß es schon von dem Gefühle des inneren Sollena durchdrungen wäre, welches zum Rechtscharakter gehört; in ihm ist vielleicht der Eifer der Nachfolge besonders rege, aber er ist noch nicht zu fester Pflicht verhärtet. Die streitbare, abenteuerlustige Jugend, die unter dem Befehle eines berühmten Führers zum Heerzug in die Fremde ausfährt, unterwirft sich willig der harten Zucht, die er aufrecht erhält, indem er mehr seinen stürmischen Willen und seinen gewaltigen Arm gebieten läßt, als daß er genau abgewogene Vorschriften herausgäbe. Die Anordnungen, die er seiner Gefolgschaft erteilt und die vom Eifer seiner Leute befolgt werden, sind werdendes Kriegsrecht; aus solchen Anordnungen, nachdem sie durch den Erfolg ausgelesen und bestätigt wurden, sind die Kriegsgesetze herausgewachsen, die in den europäischen Armeen Geltung erhielten. Falls der Heerzug in Staatengründung mündet und sein Kriegsrecht sich mit ergänzendem Friedensrecht umgibt, so erhält es die Weihe des Volksrechtes, des Vollrechtes; falls aber der Beutezug nicht über das Maß von Räuberzügen hinauskommt, so wird sein Recht das Sonderrecht einer kleinen Gruppe von Menschen, die wie Räuber außerhalb des [134] allgemeinen Gesetzes leben. Räuberrecht kann nie Vollrecht werden, mag es sich auch in seinem Kreise durch Furcht und Schrecken behaupten oder dem Sinne eines Karl Moor selbst als reines Recht gelten. Nicht nur, daß sich im Kreise gesetzloser Menschen kaum die gesunden moralischen Triebe finden dürften, um auch nur den kameradschaftlichen Geist innerhalb des Kreises zu ausdauerndem Pflichtgefühl zu erhöhen, so setzt sich das Räuberrecht mit dem gesamten Rechte eines Volkes notwendigerweise in Widerspruch und kann daher nicht wahres Recht sein, denn wahres Recht muß sich in allen seinen Bezirken berühren als Teil einer allgemeinen Ordnung, die alle einzelnen Regeln zu einem Ganzen zusammenfaßt.
Die ersten Rechtsformen waren starr typisch, sie lassen sich mit den starr typischen Gestaltungen der frühesten Kunst vergleichen. Nach und nach erat lernt der Gesetzgeber den mannigfaltigen Rechtsgcstaltungen des Lebens Ausdruck zu geben. Dem römischen Gesetzgeber ist darin der römische Richter vorangegangen, der zum Werke der Rechtsgestaltung noch dadurch besonders befähigt war, daß er zugleich der wissenschaftlich geschulte Kenner des Rechtes gewesen ist.
Auch bei den Völkern stärkster Rechtsbegabung bleibt die Kunst der Formbildung zeitlich meist hinter der Entwicklung des Rechtsinhaltes zurück. Diese Kunst braucht eben, wie jede Kunst, ihre gemessene Zeit. Den Mächtigen im Lande ist es vor allem darum zu tun, für ihre persönliche Macht die Sanktion der Rechtsform zu gewinnen, und darum bilden sie zunächst nur für sich eiu geformtes Recht aus, neben dem das Recht des Volkes gewissermaßen wild aufwächst. Dabei wissen indes die Mächtigen im Lande recht gut, daß sie ihr geformtes Recht mit einer weitgehenden Duldung für das wildwachsende Rocht des Volkes vereinigen müssen.
Das Recht der geschichtlichen Anfänge war ganz einseitig auf die Person des Herrschers geformt, aber dabei von den tatsächlichen Mächten umwuchert, die der Herrscher gewähren lassen mußte. In dem schönen Buche von Erman-Ranke über Ägypten ist dieser Zustand auf das treffendste in dem Kapitel geschildert, in welchem der König und sein Hof beschrieben ist. Wir wollen die einschlägige Stelle wörtlich zitieren. Sie lautet folgendermaßen :
„Die Idee des Staates, die uns aus der geistigen Hinterlassenschaft der Griechen und Römer in Fleisch und Blut übergegangen ist, war den [135] Völkern des alten Morgenlandes ebenso fremd, wie Bie es noch jetzt den meisten Orientalen ist. Im Orient herrschte und herrscht noch heute vielfach die Anschauung, daß die ganze Staatsmasohinc nur um des Herrschers willen arbeitet; die Steuer wird gezahlt, um seinen Schatz zu füllen, zu seinem Ruhme wird der Krieg geführt und um seiner Ehre willen werden die großen Bauten unternommen. Alles Land und alles Gut ist sein Eigentum, und wenn er auch andern einen Anteil daran läßt, so ist das eigentlich nur er jeden Augenblick widerrufen kann. Auch die Untertanen selbst gehören ihm und er kann mit ihrem Leben schalten wie er will.“
„Natürlich ist das nur die offizielle Anschauung; in der Wirklichkeit sehen auch hier die Dinge sehr anders aus und der König, der wie ein Gott alles zu lenken scheint, ist meist sehr wenig Reibständig. Neben ihm stehen ja die alten Räte, die schon seinem Vater gedient haben und denen das Heer der Schreiber und Beamten unbedingten Gehorsam zu erweisen gewohnt ist, und neben ihm stehen die Generale mit ihren blind gehorchenden Soldaten und die Priesterschaften mit ihrer unumschränkten Macht über die niedern Klassen. In den einzelnen Staaten aber sind reichbegüterte Adelsfamilien ansässig, die der Bevölkerung ihrer Heimat näherstehen als der Herrscher, der in der fernen Hauptstadt wohnt. Mit keinem dieser Mächtigen darf es der König verderben. Er muß die Empfindlichkeit der Minister schonen, er muß dem Ehrgeiz der Feldherrn ungefährliche Bahnen öffnen, er muß ängstlich darüber wachen, daß seine Beamten nie dem Adel zu nahe treten, und vor allen Dingen, er muß sich mit der Priesterschaft gut zu stellen wissen. Nur wenn er allen diesen Ansprüchen gerecht zu werden weiß und es gleichzeitig versteht, jeden dieser Faktoren durch die andern einzuschränken und lahmzulegen, hat er Aussicht auf eine lauge und segensreiche Regierung.“
Was hier für das alte Ägypten geschildert ist, gilt für jede Zeit und jedes Volk, wo die geltenden Rechtsmächte noch nicht voll in Rechtsform gefaßt sind. In diesem Sinne werden wir die vielberufene Rede richtig deuten: „Und der König absolut, wenn er unsern Willen tut“, die den konservativen Junkern in den Mund gelegt wird. Sie ist kein bloßes Witzwort, als welches man sie gewöhnlich nimmt, sondern sie ist der genaue Ausdruck einer zutreffenden Beobachtung. Der Junker gibt zu, daß das Königsrecht das einzige geformte Recht ist und auch das einzige geformte Recht bleiben soll; er verlangt nicht die ausdrückliche Anerkennung seines Standesrechtes neben dem Absoluten Rechte des Königs, das er selber in seiner Stärke aufrechterhalten [136] wünscht, um Rieh hinter ihm gpgen die Untertanen zu decken, er ist damit zufrieden, wenn er die tatsächliche Duldung für seine Machtinteressen erhält, die ihm der König seinerseits gerne gewährt, weil dieser wiederum die Nachfolge der Junker braucht, da er allein doch zu schwach wäre, um gegen die ganze Masse des Volkes aufzukommen.
Das moderne Verfassungsrecht hat die Eigentümlichkeit, daß seine Formen sehr häufig dem Leben nicht unmittelbar nachgebildet sind, sondern durch die Vorstellungen bestimmt werden, die man sich vom öffentlichen Leben macht; ein Satz, der auch vom wirtschaftlichen Verfasaungsrecht gilt, dessen Ziele heute fast mehr von den Ideen über Individualismus und Sozialismus als von den tatsächlichen Erfolgen dieser Ideen gewiesen werden. Das private Leben ist enger begrenzt und übersichtlicher, seine Gestalten sind rechtlich leichter faßbar, das öffentliche Leben dagegen ist in seiner Weite und seinem stürmischen Treiben vom Blicke des Beobachters kaum zu überschauen. Statt die Wirklichkeiten des öffentlichen Lebens nachzubilden, hält man sich im Verfassungsrechte darum leicht an die gangbaren Vorstellungen, in deren Sinn Machtbegierde und idealisierendes Denken den Staat gebaut wünschen. So war das erste Königsrecht dem idealen Königsgedanken nachgebildet, die Rechte des Königs waren so ausgeteilt, wie sie der vollkommene Fürst brauchte, um sein Größtes zu leisten. Schwache Nachfolger wußten dann das Übermaß ihrer Rechte nicht ganz auszuschöpfen, oder aber sie haben es, was der häufigere Fall war, im Übermut der Macht mißbraucht. So konnte es kommen, daß der schwache Füret entweder von Geschöpfen seiner Laune, von seinen Günstlingen und seinen Maitressen oder aber von den kraftvollen Personen seiner Umgebung beherrscht wurde, die ihm als unentbehrliche Helfer dienten. Er hatte bloß den Namen und die äußeren Ehren der Macht, während jene andern deren Fülle auskosteten. Gerade an solchen Fällen erweist sich die Bedeutung der Rechtsform. Der allgewaltige gründe halten, denn sie waren durch die Rechtsform nicht gedeckt, die im Volke galt: was geschah, mußte im Namen des Königs geschehen, und die Masse draußen hat überhaupt nicht recht erfahren, in wessen Kopf ihre Geschicke beschlossen wurden, nur die Eingeweihten des Hofes wußten es und nützten es. Selbst kraftvolle, staatskluge Minister, wie Richelieu oder Mazarin hätten nicht in den Vordergrund [137] treten dürfen, es wäre mit ihrer Macht zu Ende gewesen, falls sie sich nicht auf das Werk der Macht beschränkt, sondern auch ihre äußere Anerkennung gefordert hätten. Um die Merowinger zu stürzen, mußten die karolingischen Hausmeier sich schon lange als die tatsächlichen Leiter des Staates hervorgetan haben, bis sie endüch den Anspruch auf den königlichen Titel durchsetzen konnten. Hat dieses Übergewicht der Rechtsform nicht seine große Bedeutung? Es hütet die friedliche Rechtsfolge, während der tatsächhehen Kraft doch auch ihr Spielraum gewahrt bleibt. Freilich muß ein Königtum, das durch zu lange Zeit des starken Vertreters entbehrt, am Ende doch abbröckeln und zerfallen. Die Geschichte der Merowinger bietet ein Beispiel. In tragischer Weise hat Ludwig XVI. die Schuld seiner Vörgänger gebüßt.
Auch der wirtschaftliche Liberalismus ist von idealisierenden Vorstellungen ausgegangen, die der Widerspruch gegen die Bevormundung der merkantilißtischen Regierungen gezeitigt hatte. Man gefiel »ich in übertreibenden Annahmen über den Beruf des Individuums zur Freiheit und über die gesellschaftliche Wirkung des Wettbewerbes. Man empfand die Rechtsformen, die der Merkantilismus eingerichtet hatte, größtenteils als Zwangsformen und forderte ihre Abschaffung, die Volkswirtschaft sollte in der Hauptsache von Eingriffen des Staates freibleiben. Am rechten Platze hat die wirtschaftliche Freiheit in der Tat große und größte Erfolge gebracht, aber es gab genug Gebiete, wo sie nicht am Platze war und in diesen Gebieten wuchsen starke Zwangsmächte auf. Die kapitalistische Macht, die durch die Ausdehnung der Volkswirtschaft ins Große auch ihrerseits großgezogen wurde, konnte bis zur Übermacht aufwachsen, sobald der Staat sie frei gewähren ließ, die schwächeren Schichten des Volkes wurden arg bedrückt und zurückgeworfen, soweit sie nicht Gegenmittel der Selbsthilfe fanden. Nun kamen die proletarischen Denker mit ihren idealisierenden Vorstellungen vom Wirtschaftsstaate und forderten die äußerste Zwangsform der Wirtschaft als Rechteform. Welche Verwirrung ist dadurch nicht in das moderne Rechtsleben gebracht worden ! Es war die Gefahr da, daß die Rechtsmacht ihre reine Beziehung zum Erfolge verliere, von dem sie ihren Ursprung haben soll. Statt des Erfolges der Tatsachen sollte es auf den Erfolg ankommen, den die Idee in den Köpfen der Menschen hatte. Viel Unheil ist dadurch schon über die Völker gekommen und Ärgeres scheint noch zu drohen, die Besonnenheit ist auf eine schwere Probe gestellt.
Die demokratische Bewegung unserer Zeit nimmt in naiver Glaubens Seligkeit die demokratische Verfassungsform gerade so idealisierend [138] auf, wie dies früher bei der absolutistischen Form geschehen ißt. Wie diese den idealen König voraussetzte, setzt sie dos ideale Volk voraus. Man glaubt im allgemeinen gleichen Wahlrecht die unfehlbare Rechtsform zu besitzen, welche die Besten des Volkes zur Leitung beruft. Indes die Auswahl der Besten aus dem Volke ist keine so einfache Sache, wie sie scheint. Nur in den älteren geschichtlich erprobten Demokratien findet sich in der Reife des Volkes die notwendige Voraussetzung für gute Wahlen, die jungen Demokratien sind meist noch nicht so weit. Wir werden davon spater noch zu sprechen haben.
Die Kulturmäohte bereichern das Leben mit inneren Werten, die für den empfänglichen Geist beglückender sind, als die größten äußeren Schätze. Sie haben aber nicht bloß dadurch Bedeutung, daß sie das Leben schmücken und krönen, sondern sie haben auch höchste bindende Kraft. Allerdings müssen die Menschen erst durch den ehernen Druck der Gewalt zusammengeführt und durch Ordnungsmächte erzogen sein, bis sie für die bindende Kraft der Kulturmächte empfänglich werden, aber wenn diese einmal zu wirken begonnen haben, dann erweisen sie sich als die überlegenen Mächte. Man kann sie mit andern Menschen teilen, ohne daß sie in ihrem Gehalte gemindert werden, ja sie werden durch gemeinsamen Besitz sogar gesteigert und es geht daher nicht Kampf, sondern Frieden von ihnen aus. Dazu sind sie in ihrem Wesen beständig; während die Weltreiche, in denen die Weltreligionen entstanden, längst zusammengestürzt sind, haben eich die letzteren erhalten.
Unter allen großen Religionen hat das Christentum die stärkste bindende Kraft bewährt, es hat, was keine andere vermochte, sich durch seine Kraft zu binden und zu lösen über die weltliche Herrschaft erhoben. Die Herrschaft der Kirche gibt uns das bedeutendste Beispiel dafür, welche Macht der Glaube in den Gemütern erlangen kann. Die Geschichtschreiber haben ihr Studium lange vernachlässigt, es verdient aber mindestens so viel Aufmerksamkeit, als die Geschichte der Waffenmacht.
Der Glaube an einen einigen Gott, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, verbindet die Seelen, die sich ihm mit Inbrunst hingeben, [139] zu einer unverbrüchlichen Gemeinschaft. Ein Gott, eine Kirche! Der gläubige Sinn kann es nicht anders denken, und die christliche Kirche hat sich darum von allem Anfang an als Gemeinschaft der Gläubigen empfunden und schon in dem ersten Bekenntnis ihres Glaubens als katholische oder allgemeine Kirche bezeichnet. Für sie ist in Wahrheit zugetroffen, was die Bolschewisten für sich in Anspruch nehmen, daß ihre Botschaft „an alle“ ging. Wie die Apostel und Jünger, so ziehen heute noch ihre Missionäre in die Welt hinaus, um die Botschaft des Heilea zu verkünden. In den Zeiten der Glaubenssehnsucht, wie sie die Menschheit beim Ausgang der antiken Welt erfüllte, wurde diese Botschaft von der Masse der Menschen mit ganzem Gemüt aufgenommen, von den starken Geistern nicht minder wie von den Armen im Geiste. Die starken Geister stellten sich nicht nur gläubig, sie waren es auch, sie waren die Führer der andern zum Glauben, die Armen im Geiste, so roh ihr Glaube sein mochte, folgten nicht bloß mit der Gebärde nach, sondern mit der Seele, die im Glauben ihren TroBt fand. Da der alimächtige Gott zugleich der allweise und der allgütige ist, so ist mit dem Glauben zugleich die Liebe Gottes in die Seele gepflanzt, und da Gott die Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so ist mit der Gottesliebe auch die Nächstenliebe gefordert, die das oberste Sittengesetz ist, in welchem alle übrigen Forderungen der Sittlichkeit eingeschlossen sind. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist daher nicht nur als solche, sondern sie ist zugleich als sittliche Lebensgemeinschaft verbunden.
Die Beziehung zum Leben hatte allerdings für die Anfänge des Christentums geringere Bedeutung, weil dieses wie der Buddhismus seinen Trost in der Abkehr vom Diesseits suchte, mehr und mehr hat sich aber die Kirche der Lebenskraft der frischen abendländischen Völker darin angepaßt, daß sie die Vorstellung des Diesseits mit der des Jenseits zu vereinigen wußte. Die römische Kirche wurde ihren Gläubigen die Führerin auch in der Welt des Diesseits, sie wurde insbesondere die Führerin einer geistigen Kultur. Wie später die protestantischen Schwärmer im bilderstürmenden Drang die Gotteshäuser reinigten, so hatte die orientalische Kirche, noch viel weiter ausgreifend, die Welt von den Schlacken der antiken Kultur zu reinigen versucht, und auch die römische Kirche ist ihr darin einigermaßen gefolgt ; herrliche Schätze der antiken Kultur wurden damals zerstört. Sobald aber die Kirche dem Diesseits sein Recht gegeben hatte, wurde sie die Schöpferin einer neuen Bildung. An dem dunklen metaphysischen Problem, das den gläubigen Sinn bedrängte, bildete sich die Schärfe des [140] scholastischen Denkens aus, dessen Schwerfälligkeit durch »eine Ehrlichkeit wettgemacht wurde und das sich in seiner Weise auch den übrigen Geisteswissenschaften und der Naturforschung zuwendete. Es war nicht Anmaßung, wenn sich die Theologie als Herrin der dienenden Wissenschaften bezeichnete, sie wies ihnen in Wahrheit die Wege. Seinen triumphierenden Ausdruck fand das Glaubensgefühl in der großen Kunst. In der ehrwürdigen Nacht des gewölbten Gotteshauses symbolisierte die kirchliche Kunst die Andacht des Glaubens, in der überragenden Höhe, zu der sie die Gotteshäuser türmte, symbolisierte sie den gottsuchenden Eifer de* Glaubens, die Hunderte von himuielwürtestrebenden Domen von Stadt zu Stadt bezeugen die allgegenwärtige Energie des Glaubens, die verklärenden Bilder, mit denen sie geschmückt sind, bezeugen seine Fülle. Dürfte man die Stärke des Lebensgefühles eines Zeitalters an seinen künstlerischen Schöpfungen messen, so müßte uns die Gegenwart gegenüber der Ära der kirchlichen Vorherrschaft arm an Lebensmut erscheinen.
Nimmt man dazu, was die Kirche für die wirtschaftliche Entwicklung und was sie als Verwalterin des Gemeinwesens in Schule, Recht, Pflegschaft und sonst noch getan hat, so erhält man das Bild einer umfassenden Kulturmacht, wie vorher keine war und nachher keine gekommen ist. Wie für alle, so wollte die Kirche die Führerin für alles sein. Keine äußere Macht, was immer sie an Waffen zur Verfügung hatte, konnte der inneren Macht der Kirche das Gleichgewicht halten, selbst von dem Reichtum abgesehen, der sich bei ihr aufhäufte; gegenüber der universellen Macht der Kirche konnte sich jede äußere Macht nur als Teilmacht zur Geltung bringen. Jeder Fürst gebot nur in seinem Gebiete, für die kirchliche Macht galten die staatlichen Grenzen nicht. Die Herrschaft der Waffen wechselte in unaufhörlichen Kämpfen und gab keinen ausreichenden Schutz gegen die Gefahren, die Leben und Eigentum von allen Seiten bedrohten; was der Staat nicht vermochte, vermochte die Kirche zu geben, sie eröffnete in der ausgleichenden Gerechtigkeit des Jenseits die Aussicht auf den endgültigen Sieg des Guten und schuf dem Gläubigen inmitten aller umringenden Übel ein gesichertes Lebensgefühl mit dem unverrückbaren Ziel der Seligkeit für den Frommen.
Die Hierarchie der kirchlichen Führung gab das feste Gerüste für die Ordnung auf Erden. Für die gemeinsame Übung und Lehre, die der gemeinsame Glaube forderte, war jeder Dorfgemeinde das Gotteshaus gebaut und der Seelenhirt bestellt, die Pfarrer waren unter den Bischöfen, die Bischöfe unter dem Papste geeint, eine unvergleichliche Weltorganisation [141] war geschaffen, die jede staatliche Organisation in den Schatten stellte. Darum konnte sich die Kirche, wenn auch nicht ohne harten Kampf, schließlich als die dominante Macht der Zeit durchsetzen, sie überwuchs die Staaten, sie bestimmte die Grenzen zwischen ihrer und der staatlichen Herrschaft und sie war so stark, daß sie selbst innerhalb der staatlichen Sphäre ihr Interesse nachdrücklichst zu wahren wußte.
Nachdem die Macht der römischen Kirche durch ein Jahrtausend hindurch trotz der schlimmsten äußeren und inneren Zerrüttungen, die sie von Zeit zu Zeit heimsuchten, sich immer wieder erneuert hatte, wurde sie endlich durch die allmähliche Entwicklung des staatlichen Wesens beschränkt, das große Lebensgebiete an sich zog, nachdem einmal die Staaten zu innerer Ordnung gekommen waren und die selbständige Laienbildung, die neben der kirchlichen Bildung aufgekommen war. ihnen statt des geistlichen Beraters den weltlichen Beamten gab. Wie an die staatliche Verwaltung verlor die Kirche auch an die gesellschaftliche Selbstverwaltung große Lebensgebiete, die früher ihrer Pflege anvertraut waren. Dieses Zurückweichen in Staat und Gesellschaft steht im engen Zusammenhang mit der religiösen Spaltung, die infolge der Reformation eintrat. Seitdem war die Gemeinschaft der Gläubigen zerrissen und keine der einzelnen Glaubensgemeinschaften konnte mehr den Nimbus haben, wie ihn die frühere Gemeinschaft aller Gläubigen hatte. Wenn man sie alle zusammenzählte, so kam man rechnerisch auf die gleiche Menge der Mitglieder, aber der Einfluß, der von der Summe der Teile geübt werden konnte, war entfernt nicht so groß wie vordem der Einfluß des ungeteilten Ganzen. Die katholische Kirche war den Staaten überlegen gewesen, nun war der Staat den Kirchen überlegen, die auf seinem Gebiete bestanden. Der Staat nützte seine Überlegenheit dazu aus, daß er es für sich in Anspruch nahm, die Religion für seine Untertanen zu bestimmen. Die Religion wurde ein Politikum, die Staatsklugheit wollte keine fremde Macht innerhalb ihrer Grenzen dulden. Durch das Gebot „cuius regio eius religio“ erreichte es der Landesherr, daß er seine Hoheit über die Untertanen durch die kirchliche Hoheit über die Gläubigen mehrte. Der protestantische Landesfürst hatte als Haupt der Landeskirche eine besonders günstige Stellung, aber auch der katholische Landesfürst mußte sich dadurch gestärkt fühlen, wenn er die katholische Kirche als Staatskirche gewähren ließ, die ihm dafür mit ihrer Macht zur Seite stand.
Erst nach langer Entwicklung wurde mit der politischen Freiheit auch die religiöse Freiheit erreicht. In einer Zahl von Ländern behielt [142] die Staatskirche gegenüber andern Religionsgesellschaften immer noch die bevorzugte Stellung, in den Ländern rein demokratischer Richtung wurde die Religion als Privatsache erklärt.
Zum Siege der Toleranz hat in nicht geringem Grade die Übermüdung beigetragen, mit der die langwierigen Glaubenskriege schlössen, in einem noch größeren Grade hat der Zweifel beigetragen, der durch die Entfaltung der modernen Wissenschaft aufgerührt wurde. Während die Erstarkung des Staates der Kirche doch nur solche Gebiete entzog, die jenseits des Glaubens lagen, während die Glaubensspaltung die Völker und Länder, die sie der katholischen Kirche entzog, dem Protestantismus gewann, so hat der Glaubenszweifel allen Kirchen, den neuen protestantischen wie der alten katholischen, im eigensten Gebiete des Glaubens viele Millionen von Seelen entfremdet. Die moderne Wissenschaft lernte an der Naturbeobachtung ihre gesicherte empirische Methode, sie schüttelte die unfruchtbar gewordene scholastische Weise ab, und nachdem sich dann auch noch die Geisteswissenschaften im modernen Sinne gerichtet hatten, hörte die wissenschaftliche Erkenntnis auf, der Theologie zu dienen. Die Magd kündete der Herrin den Gehorsam, ja noch mehr, sie sagte ihr die Fehde an. Klaren Blickes enthüllte der wissenschaftliche Geist den kindliehen Aberglauben, der mit im Glauben verborgen lag, vor seinem durchdringenden Urteil verschwand das Wunder, „des Glaubens liebstes Kind“. Hatten die modernen Denker es zunächst nur auf die Reinigung des Glaubens abgesehen, so stellte sich, ohne daß man darauf ausging, eine viel tiefergreifende Wirkung ein. Wissenschaftliches Erkennen und Glaube stellen an unsere Natur Anforderungen, die im höchsten Sinne nur von Menschen der stärksten geistigen Konstitution zugleich erfüllt werden können; wer an das helle Licht des Denkens gewöhnt ist, verliert sehr rasch die Fähigkeit, auch im mystischen Dunkel des Glaubens noch zu sehen. Bei der gröberen Masse der Menschen wird außerdem der Drang des Glaubens durch das intensive Interesse gemindert, das bei der großartigen Entfaltung der Wirtschaft den materiellen Werten zuteil wird. So hat denn der Glaube aufgehört, die vorherrschende Macht über die Gemüter zu sein. Das klassenbewußte Proletariat ist den Kircheu zum großen Teil verlorengegangen, die Bauernschaft, die ihnen Treue bewahrt, hängt mehr ihren Formen, als ihren Lehren an, innerhalb der gebildeten Schicht ist die Zahl der Gläubigen in den protestantischen Ländern noch etwas größer, in der katholischen Kirche gibt es doch nur wenige, die Wissen und Glauben zu vereinigen vermögen.
Immerhin darf die gesellschaftliche Macht der christlichen Kirchen [143] auch heute nicht gering geschätzt werden. Die statistische Ziffer derer, die sich zu ihnen bekennen, macht in allen Kulturländern noch immer fast die ganze Summe der Bevölkerung aus. Freilich darf diese Ziffer so wie viele andere, die uns die Statistik liefert, nicht nach ihrem vollen Ziffernwerte genommen werden. Der Statistiker kann sich hier wie sonst nur an ein äußerlich faßbares Merkmal halten, wie er es im Bekenntnisse findet, über das innere Erlebnis des Glaubens vermag er nichts zu erfahren. Man muß indes zugeben, daß auch die Tatsache des äußerlichen Bekenntnisses ihre innere Bedeutung besitzt. Solange die Menschen, die im Glauben gleichgültig geworden sind, sich gleichwohl nicht entschließen können, aus der Kirche auszutreten, geben sie damit zu erkennen, daß die Zugehörigkeit zur Kirche für sie noch immer ihren Wert hat, und man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß es nicht bloß der Wert der Konvention, sondern daß es auch noch ein Rest von Überzeugungswert ist, der sie im kirchlichen Verbände festhält. Sic können nicht mehr recht glauben, aber ohne es sieh vielleicht zu gestehen, möchten sie immer noch gerne glauben, wenn sie es nur könnten, und in diesem Gefühle wird es ihnen unmöglich, sich zur formellen Erklärung des Unglaubens zu entschließen, die ein Sprung ins Leere ist. Diejenigen, die nicht mehr gläubig sind, so groß ihre Zahl sein mag, haben nichts, was sie untereinander verbindet und was sie der kirchlichen Organisation entgegenstellen könnten, das Christentum dagegen hat das Zeugnis von fast zwei Jahrtausenden für sich und hat heute noch so viele überzeugte Anhänger, daß nur ein ganz entschlossener Sinn sich dem Gewichte dieser Tatsache entziehen kann.
Bei den Menschen, die sich einfach auf den Staat zurückziehen, geht Gemüt und Einbildungskraft fast leer aus. Wo immer die Herzen am tiefsten bewegt sind, bei Geburt, Hochzeit und Tod hat in aller Regel der geistliche Redner das Wort, und wenn es der staatliche Redner ergreift, so gibt seine nüchterne Art. der Weihe der Gelegenheit nicht den erwarteten Ausdruck. Wahrlich, die Organisation der Glaubensmacht ist die menschenkundigste von allen, die bestehen! Selbst in ihren einfachsten Formen ist die Wirkung auf das Gemüt der Massen noch immer bestrickend, welche die Einrichtungen der katholischen Kirche an Gotteshäusern, Ämtern, Hierarchie und Zeremonien, au Prunk und Erhabenheit ausüben. Auch in den Ländern, in denen sich der Zweifel am tiefsten eingenistet hat, ist die Macht immer noch imposant, die der Glaube nicht nur über die Gläubigen, sondern zugleich auch über die nur noch Halbgläubigen, aber doch Glaubensgewohnten oder Glauben8begicrigen, über die Abergläubischen und [144] selbst über nicht wenige Glaubenszweifler ausübt. Immer noch bindet der Glaube große Gruppen von Menschen zu Gemeinschaften zusammen, die über die Gewissen Macht haben. Es gibt Menschen stärksten Glaubensbedürfnissea, die sich von den Kirchen absondern und ihren Gott für sich suchen, aber die Zahl dieser selbständigen Geister kann nicht anders als gering sein.
Wenn der Staat die Religion als Privatsache erklärt, so kann dies nur heißen, daß er ihr den erhöhten Schutz entzieht, den er früher gewährte; aber e* kann die Herrschaft nicht mindern, die sie über die Gemüter besitzt. Diene Herrschaft ist überall noch offenbar, noch nirgends ist die Religion in dem Sinne Privatsache geworden, daß sie eine rein persönliche Angelegenheit der Individuen wäre, die sich in der Öffentlichkeit nicht weiter l>emerkbar machte. Darum wird auch ein solcher Staat, der religiöse Freiheit und Gleichheit zugestanden hat, der religiösen Sphäre eine ungleich höhere Geltung einräumen, als der rein privaten Sphäre der Individuen. Überall ist heute der Glaube durch die Mause der Menschen, die er in seinem Baun hält, und durch die gebietende Haltung, mit der er sie im Bann hält, eine öffentliche Macht, die geringzuschätzen selbst der mächtigste Staat sich bedenken wird. So wie das Papsttum auch nach dem Verluste der weltlichen Herrschaft den Staatsgewalten völkerrechtlich als ebenbürtig und unantastbar gilt, so gilt jedes kirchliche Gebäude und gilt noch mehr das ganze Kirehentum dem öffentlichen Empfinden, wo es noch der Ehrfurcht fähig ist, als unberührbar und überpersönlich.
Das hohe Ziel, welchem das wissenschaftliche Denken zustrebte, war eine fest begründete Weltanschauung, welche die unbeweisbare Weltanschauung des Glaubens ersetzen sollte. Man hatte aber bald Gelegenheit, zu erkennen, daß die große Menge zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung nimmermehr bekehrt werden konnte, die über ihr Fassungsvermögen hinausgehen mußte. Wenn man des Volkes sicher sein wollte, so mußte man ihm seine Kirche lassen. Damit war die eine Gemeinschaft der Gläubigen, die bis dahin bestanden hatte, in die zwei Lager der Glaubenden und der Wissenden zerrissen. Auf die Dauer erwies es sich jedoch, daß die neue Weltanschauung auch im Lager der Wissenden ihrer Herrschaft nicht froh werden konnte. Die Ankündigung des Weltunterganges, wie sie die Naturwissenschaft lehrt, erschreckte die furchtsamen Gemüter, und die materialistische Wendung [145] welche die Obermacht zu gewinnen schien, stieß die Empfindsamen ab. Nur wenige Geister waren stark genug, um sich unter Verzicht auf die Forderungen des Gemütes nach der hohen Weisung Spinoza* am Erkennen als solchem genügen zu lassen. Gerade der Erkenntnisdrang wurde aber zuletzt in seinem Innersten getroffen, als man sich der Ansicht beugen mußte, „daß wir nichts Rechtes wissen können“. Eine strenge Kritik wies dem menschlichen Geiste seine endgültigen Schranken, „Ignoramus, ignorabimus“, so lautet der wissenschaftlichen Weisheit letzter Schluß; der menschliche Geist, so mußte man sich bescheiden, vermag in das Wesen der Erscheinungen nicht einzudringen und er wird es niemals vermögen. Vor den letzten Dingen, die das Gemüt bewegen, wird die Kraft des Geistes zunichte, bei ihrer äußersten Anstrengung bleibt sie ebenso ohnmächtig, dieBe zu erhellen, wie selbst die stärkste von menschlicher Hand entzündete Lichtquelle ohnmächtig ist, das Dunkel des Weltalls zu durchdringen. Um Tausende und Tausende von Kenntnissen bereichert, die nicht nur unabsehbaren Nutzen stiften, sondern auch den Geist erheben und, rein erfaßt, den reinsten Genuß geben, ist die Menschheit durch die Wissenschaft doch darin ärmer geworden, daß ihr der Sinn des Lebens verlorengegangen ist, an den der Glaube glaubte, während er sich wissenschaftlich nicht ausdenken Heß.
Vor ihren letzten Zielen versagend, ist die Wissenschaft dennoch zu einem Machtfaktor höchsten Ranges aufgewachsen. Die Wissenschaft hat den modernen Typus der Bildung geschaffen, die Wissensbildung, die eine der rlurchgreif enden gesellschaftlichen Mächte geworden ist; sie ist es, auf die sich der Satz bezieht, daß Wissen Macht ist. Heute revolutioniert die wissenschaftliche Technik den Staat und die Gesellschaft. Die Wissensbildung ist heute die wichtigste Waffo im Lebenskampfe, wichtiger als der Besitz, der allerdings das eine voraus hat, daß er auch dem Minderbefähigten die Mittel gibt, sich Bildung zu erwerben und sich übrigens auch ohne sonderliche Bildung so ziemlich zu behaupten. Indessen wird schließlich Besitz ohne Bildung doch immer zerfallen, während Bildung auch ohne Besitz aufsteigt und letzten Endes Besitz erwirbt. Die übliche Einteilung der Gesellschaft in die besitzende und besitzlose Klasse hat ihre Namen, wie die Sprache dieses so gerne tut, nach den auffälligen äußeren Tatsachen gewählt. Mit ihrem vollständigen Namen sollte die besitzende Klasse zugleich als die gebildete, die besitzlose Klasse als die ungebildete bezeichnet werden. Der besitzenden Klasse gehören immer zahlreiche Männer an — und sie zählen zu den stärksten Vertretern der Klasse — die [146] ausschließlich durch die Kraft ihres Geistes aus niedriger Armut emporkommen und damit enden, daß sie hohes Einkoramen gewinnen und selbst hohes Vermögen ansammeln. Da« Bürgertum verdankt seinen Aufstieg der Tatsache, daß es der Hauptträger der modernen Wissensbildung geworden ist. Weil Wissen Macht ist, hat die bürgerliche Revolution gesiegt, und hat der 1 Liberalismus seine große Zeit gehabt. Auch für das Proletariat ist das Wissen Macht geworden, so enge der Bildungskreis auch ist, der ihm zugänglich wurde. Das Proletariat hätte seinen Anteil an der gesellschaftlichen Macht niemals erreicht, wenn es nicht, von Führern aus dem Kreise der Gebildeten geleitet und nicht wenigstens elementarer Bildung teilhaftig geworden wäre. Ohne die Volksschule als Pflichtsehule wäre das Proletariat, nicht zu seiner Presse angt und hätte es sich nicht zu organisieren vermocht. Der Aufbau der Wisaensmaeht unterscheidet sieh in wesentlichen Zügen von dem der Glaubensmacht. Die Glaubensgemeinschaft muß um vieles inniger sein als die Wissensgemeinschaft, denn der Glaube ist einfach, das Wissen aber vielfach, und zugleich ist der einfache Inhalt des Glaubens so ins Dunkel gestellt, daß der gottsuchende Glaube die Übereinstimmung der vielen braucht, um nicht durch Zweifel l>eirrt zu werden, während das Wissen, sofern es nicht auf die letzten Dinge zurückgreifen will, zu voller Sicherheit gedeihen kann. Der Wissende wird den Unwissenden oder Irrenden durch seine Beweismittel widerlegen, für den Gläubigen ist das Dasein des Andersgläubigen oder Ungläubigen ein Ärgernis im Gemüte, das ihn mit. Haß erfüllt und zum Kampf aufregt. Der Glaube hat den uiibezwinglichen Drang zur Einheit in sich, das Wissen baut sich in weiten Kreisen und im ruhigen Wachstum von all den zahlreichen Ansatzpunkten her auf, an denen sich Erfahrung und Überlegung sammeln, erst im nachhinein meldet sich das Verlangen, das vielfache Wissen zur Einheit zu ordnen. Die Glaubensverfassung fordert vom Beginn Zentralisation, das Reieh des Wissens ist als Gelehrtenrepublik eingerichtet, als ein freier Bund selbständiger Geister.
Sollten im Reiche des Wissens die größten Geister nicht auch die höchsten Machthaber sein ? Ein rascher Überblick schon belehrt uns, daß sie es nicht sind, oder wenigstens nicht in dem Sinne sind, daß sie unmittelbar die Herrschaft, über die Massen besäßen. Die allgemeinen zusammenfassenden Gedanken, welche die größten Geister vorangehend finden, sind so weit ins Ahstrakte erhoben, daß sie von der Masse nicht unmittelbar aufgenommen werden können, es bedarf der vernultclndeu Geister, welche die Verbindung herstellen, indem sie die allgemeinen [147] Gedanken den besonderen Einzelkreisen des Wissens nutzbar machen. Für alle wirklich großen Gedanken bedarf es einer Reihe von Vermittlern und einer länger andauernden Erziehung, bis die Massen zur Kachfolge bereitgemacht sind. Vollends wo das Wissen auf Werke angewendet wird, in denen es sich mit fremder Kraft zu verbinden hat, wird der wissenschaftliche Lehrer bei der Masse durch diejenigen Führer verdunkelt, die seine Arbeit praktisch abschließend nutzbar zu machen haben. Aristoteles konnte der Lehrer Alexanders, aber er konnte nicht selber Alexander sein, und die ausgedehnteste Wirkung war den Lehren von Aristoteles erst beschieden, nachdem die griechische Welt längst vergangen war und die römische Kirche sodann die Geister auf ihren Schulen naeh seinem Sinne bildete. Kant und Darwin haben das menschliche Denken mächtig beeinflußt, aber die Menge kennt sie selber nicht, sondern nur ihre letzten Schüler. Selbst Rousseau und Marx, denen es um die Rechte der Masse zu tun war, haben erst durch ihre handelnden Nachfolger Macht über die Masse erworben, Rousseau hat nicht den Triumph der Demokratie und Marx nicht den des Proletariates erlebt, Robespierre erst hat durch die Formel der Volkssouveränität Frankreich beherrscht, so wie heute die Mittelmäßigkeit proletarischer Demagogen auf die Masse mit den großen Worten wirkt, die von Marx gefunden wurden. Volta und Ampere sind die Ahnherrn der Elektrizitätsindustrie, ihre Namen sind heute im Munde jedes Monteurs, ihnen selber ist aber nichts von den Erträgnissen und der gesellschaftlichen Macht zugute gekommen, welche die Frucht ihrer Gedanken waren, sie mußten sich damit begnügen, ihre Gedanken unter den Physikern ihrer Zeit zu verbreiten, die Technik mußte erst durch weitere wissenschaftliche Fortschritte und durch praktische Erfahrung dazu befähigt werden, sie für die Verwendung im Leben auszunützen, das Kapital, das für die technischen Anlagen und die Betriebsführung erfordert war, mußte erst gesammelt sein, die organisierenden Unternehmer mußten sich erst herangebildet und ans Werk gemacht haben. Der entscheidende Gewinn und die höchste Macht über die Massen fällt demjenigen zu, der in der begünstigten Lage ist, praktisch zu vollenden, was andere und Größere geistig vorbereiteten.
Bis in die Tiefen der Masse dringt das Wissen niemals ganz ein und darum dringt auch die Macht nicht ganz ein, die es im Gefolge hat. Die Lernzeit und die Lornkosten der Bildung sind zu groß, ab daß die Masse sie erübrigen könnte, nur die ganz großen Begabungen kommen über diese Hemmnngen hinweg. Die breite Masse muß sich mit elementarer Bildung und mit der Widerstandsmacht bescheiden, die diese zubringt. [148] Solange sich die Masse in wirtschaftlichen Verhältnissen befindet, die ihre Kraft für die Arbeit ums tägliche Brot in Anspruch nehmen, wird die Spaltung der Gesellschaft in die zwei Klassen der Gebildeten und der Ungebildeten die notwendige Folge sein. Man muß außerdem noch mit der Selbstsucht der gebildeten Klasse rechnen, die ihren Vorteil an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht davon hat, daß sie das Monopol der Bildung weiter behält. Zwar wird das Wissen dadurch, daß man es andern mitteilt, in seinem Gehalt nicht geringer, es wird durch die Zustimmung, die es findet, noch besser gesichert, und die Menschen haben es ja auch in sich, sich an der Belehrung andrer zu erfreuen, aber der Drang des Wissens zu belehren ist doch um vieles schwächer als der Drang des Glaubens zu bekehren und er wird leicht durch die selbstsüchtige Überlegung gehemmt, daß man sich durch die Verbreitung des Wissens eines Machtvorteiles begibt. Tn den Kreisen der Besitzenden hört man es oft beklagen, daß die untersten Volksschichten nicht in dem Stande der Unwissenheit belassen wurden, worin sie sich früher befanden, man hört da sagen, daß das Wissen die Massen nur irreführe und zu einer Gefahr für die Gesellschaft mache. Der wahre Grund dor Klage, den man nicht eingestehen will, ist der, daß man mit der geminderten Widerstandsmacht der ungebildeten Masse leichter fertig zu werden erwartet. In einem gewissen Grade tritt zum Egoismus der Wissensmacht noch ihr Hochmut hinzu, man ist auf seine überlegene Bildung stolz und mochte dieses Gefühl weiter genießen. Ein nicht geringer Teil der Bildungsforderungen ist von da aus eingegeben. Von den Einrichtungen der chinesischen Schule weiß der Europäer recht gut, daß sie einen Wall aufrichten sollten, um die Masse abzuhalten; bei voller Aufrichtigkeit wird er eingestehen müssen, daß auch die europäischen Einrichtungen nicht frei von dem gleichen Wunsche sind. Der gemeine Mann fühlt die Selbstsucht und den Hochmut ganz gut heraus, mit dem der Gebildete sich über ihn stellen will, und er antwortet darauf mit einem trotzigen Haß, der die Kluft, welche die beiden Klassen trennt, auch von seiner Seite aus erweitert. Shakespeare, der die menschliche Natur durch und durch kennt, hat auch diesen Zug beobachtet und dargestellt. Die Szene in Heinrich VI., wo der von John Cade geführte revoltierende Pöbel den Lehrer erschlägt, weil er lehren kann, und den Lord Say erschlägt, weil er gar lateinisch kann,ist dem Leben naturwahr entnommen.
Die Wissensmacht, darüber müssen wir uns klar sein, ist nicht in gleicher Weise von Sittlichkeit getragen wie die Glaubensmacht. Im Glaubensgesetz ist das Sittengesetz mitgefordert, das Wissen dagegen [149] ist amoralisch, soweit es nicht alR Weltanschauung zur Höhe des Glaubens strebt. Der Mensch wird in seinem sittlichen Wesen dadurch nicht gesteigert, daß er seine Kenntnisse über die Natur und über sinh selber mehrt, die Überlegenheit des Wissens, die den Gebildeten auszeichnet, macht ihn nicht wohlwollender, als er von Herzen ist, nie macht ihn eher hochmütig und abweisend. Daß ein Komenius und ein Pestalozzi es in sich hatten, die Kinder des Volkes zu belehren, kam nicht davon, daß ihr Wissen sie dazu drängte, sondern es war der hebende Sinn, der sie die Wege suchen Heß, auf denen dem Unbelehrten die Wohltat des Unterrichtes am wirksamsten zugebracht werden könnte.
Noch ein letzter Zug ist zu nennen, welcher Glaubensmacht und Wissensmacht in ihrem Aufbau scheidet. Während die Glaubeneniacht für ihre enge Gemeinschaft die feste Organisation braucht und bildet, zersplittert sich die Macht des Wissens in der Vielfältigkeit ihrer Teilgebiete. Jede der beiden Klassen, sowohl die gebildete, als die ungebildete, ist durch ihr Klassengefühl zusammengehalten, ohne daß sie aber zu einem festen Verbände mit wohlabgestufter Führerhierarchie geordnet wäre, wie die Kirchen es sind; es sind anonyme Mächte, welche die Klassen in sich binden. Die Proletarier sind wenigstens zu einer politischen Gesamtorganisation und die gewerblichen Arbeiter insbesondere zu einer wirtschaftlichen Kampforganisation gelangt, die gebildete Klasse entbehrt überall der politischen Zusammenfassung.
Dem Satze „Wissen ist Macht“ kann der Satz „Kunst ist Macht“ nicht in dem gleichen Sinne an die Seite gestellt werden. Während auf die geschichtüchen Zeitalter der Waffenmacht und der Glaubensmacht ein solches der Wissensmacht folgt, kann man von einem geschichtlichen Zeitalter der Kunstmacht nicht sprechen. Auch in den großen Zeitaltern der Kunst waren Phidias und Praxiteles, Raffael und Michelangelo, Shakespeare und Cervantes, Bach, Beethoven und Mozart nicht Gebieter über die Völker, so gewaltig sie auf die Seelen einwirkten, und auch für die Überlegenheit der gebildeten Klassen ist es nicht die Kunst, die den Ausschlag gibt. Das Wissen steigert durch Mehrung der Erkenntnis die Herrschaft des Menschen über die Natur und bis zu einem gewissen, freilich nicht allzu weiten Grade auch über sich selbst, für die Kunst gilt nicht das gleiche, sie erweitert den Herrschaftebereich des Menschen nicht. Kein Geringerer als Goethe hat erklärt, daß „die Muse zu begleiten, doch zu leiten nicht versteht“, und damit ist das [150] Treffendste gesagt, was über das gesellschaftliche Werk der Kunst zu sagen ist. /'Sie begleitet das Leben, indem sie seine Gefühlswerte betont, soweit sie der Einbildungskraft zugänglich sind. Der Gewinn, den Rie uns bringt, besteht darin, daß sie uns diese Werte ganz zu eigen macht und durch ihren beseeligenden Atem das Gefühl für sie steigert. Alle Kunst ist Renaissance, ist Wiedergeburt des Lebens, ist gesteigerte Entfaltung der Lebensgestalten aus der Seele, die sich ihrer selbst und der Welt der Erscheinungen bewußt wird. Die Macht der Kunst ist aus den Lebensmächten abgeleitet, die sie begleitend wiedergibt, aber indem die Kunst sie gesteigert entfaltet, wächst ihre Macht strahlend über sie hinaus, die Seelen im Innersten erwärmend. Dem Dichter, dem ein Gott gab zu sagen, was er leide, wandelt sich der Schmerz zu Erhebung — „ Glück und Unglück wird Gesang“.
Die Gefühlswerte des Lebens erfaßt die Einbildungskraft, indem sie den Lebensgestalten folgt, die uns in der Natur umgeben oder durch das menschliche Wesen selber geschaffen sind. Die Kunst gibt nicht nur das Schöne wieder, sie beschränkt sich nicht auf das WohJgefallende oder gar nur auf das Gefällige, sie strebt vielmehr alles Gefühlsbcdcutende zu ergreifen, das durch die Einbildungskraft beherrscht werden kann, neben dem heilig Erhabenen auch das Gewaltige bis zum tragisch Ergreifenden und selbst bis zum Furchtbaren, wenn es nur den Menschen wiedergibt, wie ihn seine Natur zwingt sich zu geben, hineingestellt in die Übermacht der umgebenden Welt mit all der Bosheit, Niedrigkeit, Torheit, Narrheit, die auf ihn eindringt.
Jede Zeit sieht im Menschen andere Lebensgestalten und sieht durch das Medium des menschlichen Gefühles andere auch in der Natur, weil jede Zeit ein anderes gesellschaftliches Werk schafft und andere Gefühle aufruft. Die Entwicklung der Kunst ist die Resonanz des Fortschrittes der Geschichte. In der Zeit der gewaltigen Machtanhäufungen und Machtkämpfe entstand die Machtkunst mit dem massigen Bauwerk der Pyramiden und den andern stolzen Königsbauten, in der Dichtkunst äußerte sich die Machtkunst als heroisch epische Dichtung. Im Zeitalter des Glaubens wurde die religiöse Kunst groß mit ihren Tempeln, Moscheen und Domen, mit ihren Götterfiguren, Madonnen, Jesuskindern und heiligen Verklärungen. Das behagliche Bürgertum der Niederländer gefiel sich in einer derb intimen Kunst. In Werthers Leiden wie im Wilhelm Meister hat Goethe Stimmungen niedergelegt, die er mit der Zeit teilte. Das Zeitalter der Revolution, das in ungestümem Freiheitsdrang die geschichtlichen Mächte des Staates zersetzte, hat in weiterer Folge in den verhöhnenden Anklagen [151] eines Ibsen, Strindberg und ihrer Nachmänner sich wider die überkommenen Gefühlswerte der Gesellschaft gekehrt, um ihre konventionellen Typen aus den freien Tiefen der Seele zu erneuem, freilich nur zu oft sich damit zufriedengebend, aus ihrem Zwange in wüst« Ausgelassenheit auszuarten. Der Kunstforscher von heute weiß es, daß er in der Kunstgeschichte Zeitgeschichte und Volksgeschichte zu schreiben hat.
Wir sind dadurch des Amtes enthoben, noch weiter ins einzelne der Beziehungen von Kunst und gesellschaftlichem Werk einzugehen, nur von der Kunst der Musik haben wir noch besonders zu sprechen. Wir dürfen es schon deshalb nicht unterlassen, weil sie. die einzige moderne Kunst ist, welche an Herrlichkeit der Leistung den Künsten der Antike und Renaissance gleichkommt, wir müssen aber auch da«* besondere Verhältnis klarstellen, in welchem sie zu den Lebensgestalteu steht. Auch die Musik geht von gewissen Lehensgestalten aus, ihr Werk ist indes darin besonders geartet, daß sie dem Lebensgefühle seinen Ausdruck um so vollkommener gibt, je mehr sie. sich über die einzelnen Lehensgestalten erhebt. Sie übernimmt den Rhythmus des Schrittes und des Tanzes oder die Rufe der Jagd und des Kampfes wie den jubelnden "oder schmerzlichen Ausbruch, den Lust oder Leid der menschlichen Brust unwillkürlich entreißen. Dies alles erhebt sie zu künstlerischer Form, wie sie auch die Laute der Natur zum Waldweben und Feuerzauber steigert, ihre Hohe aber erreicht sie, wenn sie die einzelnen Lebensgestalten überwindend der Empfindung ihren tiefsten Ausdruck gibt. So meint es der bekannte Vers Schillers: „Doch die Seele spricht nur Polyhymnia aus.“ Daß die Musik als die letzte der Künste groß geworden ist, erklärt sich daraus, daß sie die innerlichste aller Künste ist. Alle unsere inneren Kräfte werden erst frei und grüß, bis die äußeren ihr geschichtliches Werk getan haben, so daß das Tiefste unseres Wesens nicht mehr von dem Lebensdruck belastet ist, der es vorher hemmte. Wie Goethes Werther sich dem schmerzlichen Genießen seiner Empfindsamkeit voll hingeben konnte, weil das Tagesgeschäft des Mannes nicht mehr der Kampf war, so war auch für die volle Empfindung der großen Musik die Zeit erst gekommen, bis die Menschen ho weit waren, daß sie den Innerlichkeiten ihrer Seele ungestört lauschen durften. Weil das religiöse Gefühl das erste war, das sieh durchrang, so hat die große Musik mit der religiösen Musik begonnen. Je freier die Seelen wurden, desto reicher der musikalische Ausdruck.
Der Künstler, obwohl er das Leben nicht leitet sondern nur begleitet, geht dennoch, wenn er groß ist, in den allerersten Reihen [152] der Führer mit. Wie oft ist er nicht Herold der neuen Bewegungen des Lebens, denen sein Ruf die Anhänger wirbt! Früher vielleicht als der Denker hat der Dichter die Fühlung für die neuen Stimmungen in der Masse, und unter den Denkern selbst werden diejenigen vorangehen, die dem Dichter in der Erregbarkeit von Gefühl und Einbildungskraft verwandt sind. Niemals jedoch wird der Dichter oder der Künstler überhaupt wirken können, wenn er für sich allein voranginge, er muß die Führer des Gedankens und der Tat an seiner Seite haben, die ihrerseits ihr Werk recht wohl ohne ihn tun können und es oftmals ohne ihn getan haben, wo dann die Kunst ihren Ruhm erst nachfolgend verkündete und ihre Aufgabe darin erkannte, ihr Gedächtnis der Einbildungskraft lebendig zu erhalten. Der Kunst können neue Aufgaben immer nur durch neue Lebenswerke gestellt sein, die sich in neuen Lebensgestalten entfalten. Wäre den Menschen nicht das Wachstum ihrer Lebenskraft mitgegeben, so würde mit dem Leben die Kunst stille stehen.
Durch die Steigerung des Gefühles, die zu ihrem Wesen gehört, ist die Kunst dem Glauben näher als die kühl sammelnde und ordnende Wissenschaft. Die hohe Kunst versenkt sich in ihren Gegenstand mit einer Innigkeit, die der des Gläubigen nahe kommt, die wissenschaftUche Kritik, die den Glauben tötet, rührt nicht an die Kunst, man hört es darum oft sagen, daß dem modernen Menschen die Kunst den Glauben ersetze. Schafft sie ihm nicht in der Tat Weltentrücktheit und Weltversöhnung, wie sie dem Gläubigen sein Glaube gibt ? Von den Zuhörern, die sich am Parsifal erbauen, mögen viele von einem Gefühle getragen sein, wie der fromme Beter es in der Kirche findet. Ist aber auch die Kraft zum Leben, die sie aus dem Theater mitbringen, die gleiche, wie es der Gläubige aus der Kirche mitbringt? Dem Gläubigen sagt sein Glaube, daß im Jenseits ein Richter ist, der die Ungerechtigkeit des Lebens ausgleicht, und daß er über alles Unheil des Lebens erhaben ist, wenn er seine Kraft nach dem Willen des höchsten Richters anwendet. Er weiß übrigens, daß er mit seinem Glauben nicht allein ist, sondern daß viele mit ihm gehen und daß die Gemeinschaft der Kirche ihn schirmt. Dem glaubensstarken Sinne gilt in dem Kraftgefühle, das die Gemeinschaft ihm gibt, das Jenseits als gesichert, und dadurch hat auch das Diesseits seine Sicherheit, weil es den Zugang zum Jenseits öffnet. Die Seligkeit des Glaubens wird daher als Wirklichkeit empfunden. Das Bühnenweihfestspiel des Parsifal kann dem hingehendsten Zuhörer nur unter der Voraussetzung die selige Sicherheit des Glaubens schaffen, wenn es für ihn kein bloßes Spiel, sondern der künstlerisch erhebende [153] Ausdruck der Wirklichkeit ist, er muß im Gralswunder das Meßwunder miterleben, er muß gläubig sein. Wäre es nicht so, so wäre der hohe künstlerische Genuß, dem er sich hingegeben hat, nur wie ein vorübergehender schöner Traum, dem die Ernüchterung der rauhen Wirklichkeit folgen muß. Unter dem Eindruck von Bachs Passionen und Kantaten wird der Gläubige sein Glaubensgefühl gesteigert empfinden, den Ungläubigen jedoch kann die höchste Kunst nicht gläubig machen, sie könnte ihm höchstens für kurze Zeit das Glück des Glaubens vortäuschen. Wer die Kunst für Glauben nimmt, weiß nicht, was Glaul>eii heißt. Grillparzer sagt von der Religion, daß sie die Poesie der Unpoetischen sei, man könnte umgekehrt von der Poesie und der Kunst überhaupt sagen, daß sie die Religion der Irreligiösen sei.
Schafft die Kunst ihr Werk wie der Glaube für das ganze Volk oder schafft sie es wie das Wissen in der Hauptsache nur für die Gebildeten ? Heute sind weite Schichten des Volkes aller Kunst entfremdet, und die Gebildeten hüten ihre Kunstwerte mit der ängstlichen Besorgnis, daß sie nicht durch den rohen Angriff des Pöbels zerstört werden. Der Ästhet fordert Kunst für die Kunst, Tolstoi seinerseits hat in seinem Alter die Kunst der Gebildeten verworfen und nur die Kunst für das Volk gelten lassen wollen. Sicherlich ist Tolstoi mit der Schroffheit im Unrecht, mit der er die Kunst der Gebildeten ablehnt ; das Leben der Gebildeten forderte und fordert noch immer wie alles Leben seinen begleitenden künstlerischen Ausdruck und es war und ist noch immer so reich, daß es der Kunst weite Aufgaben stellt. Dabei muß man aber doch zugeben, daß die Kunst der Gebildeten heute Gefahr läuft, sich zu verkünsteln, und Tolstoi konnte auf gar manche Äußerungen hinweisen, die sich als Kunst geben wollen und es nicht mehr sind. Die verkünstelte Kunst der Gebildeten kann den Rückweg zur Natur, deren Spiegel sie sein soll, doch nur mit Hilfe der Kunst des Volkes finden, und glücklich daher die Gesellschaft, in der die Masse des Volkes noch nicht so tief (Tniedrigt ist, daß sie jeglicher Kunst verlustig wäre. Hat sich die deutsche Poesie nicht an den Stimmen der Völker wieder erneuert, die Herder gesammelt hat? Es ist das Verdienst des Volkes, das Lied, das der Dichtermund in der Zeit gesunder Volkskraft gesungen, der Zukunft aufbewahrt zu haben, nachdem es vom verbildeten Sinn der Gebildeten längst vergessen war. Im Boden des Volkes hat es seine Wurzeln frisch ■ erhalten und ist, als seine Zeit wiedergekommen war, zu neuen Trieben großgezogen worden. Alle Kunst, die lebendig bleiben soll, muß im Volke verwurzelt sein, in dessen Lebensgestalten sie ihre Vorbilder findet.
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Im Kampfe von Glauben und Wissen ißt es derzeit vorläufig zu einer Waffenruhe gekommen. Die Führungen der beiden Parteien sind an den gelegentlichen Zusammenstößen nicht beteiligt, wie der Affenprozeß“ von Tennessee einer war, in welchem von Staatsanwälten und Advokaten vor einem Auditorium von kleinen Bürgern und Farmern das Verhältnis von Entwicklungslehre und Glaubenslehre auseinandergesetzt wurde. Es war dies ein Einzelgefecht, das von Freischaren geführt wurde, während die großen Parteien ihre Zeit abwarten. Die wissenschaftliche Partei hat den Kampf in einer Stellung abgebrochen, in der sie sich ihres Sieges sicher wähnte. Sie meinte erwiesen zu haben, daß aller Glaube Aberglaube bleibe und daß der Geist, sobald er sich ans Licht der Wissenschaft gehoben, ins Dunkel des Glaubens nicht mehr zurückbegehre; das Zeitalter des Glaubens, so meinte man, dem sich die Menschen zunächst ergeben hätten, aei für immer vom Zeitalter des Wissens überwunden. Man ließ sich auch dadurch nicht beirren, daß der Versuch mißglückte, eine wissenschaftliche Weltanschauung mit der Macht eines neuen Glaubens aufzurichten. Indem man sich von allem Metaphysischen gleichgültig abwandte, fand man sein Genügen an der Bearbeitung der konkreten wissenschaftlichen Probleme, die ja nicht Kleinarbeit ist, sondern höchste geistige Kraft beschäftigt. Ihrerseits hoben die Kirchen die Verbote auf, durch die sie versucht hatten, der wissenschaftlichen Arbeit Schranken zu setzen, sie gaben die wissenschaftliche Arbeit nicht nur frei, sondern um den Vorwurf der Unbelehrtheit abzutun, der sie vor dem wissenschaftlich geschulten Geist bloßstellte, suchten sie sich deren Ergebnisse selber anzueignen und taten zuletzt noch den weitern Schritt, daß sie sich am wissenschaftlichen Werke mitbeteiligten, um seine Ergebnisse in einem Sinne auslegen zu können, der mit dem Glauben vereinbar war.
Zu Zeiten des großen Aufschwunges der Wissenschaft hatte es geschienen, als ob die christlichen Kirchen sich nur noch durch die Macht der Konvention aufrecht erhielten, während sie ihren Halt in den Geistern ganz verloren hätten, am Ende aber schien es doch wieder möglich, daß sie sich an einem innersten 1-iebenspunkte behaupteten, vor dem das wissenschaftliche Denken seine Ohnmacht empfindet. Mit sehnsüchtiger Erwartung wenden sich viele Herzen dem Glauben wieder zu und die kühnsten unter den glaubensbedürftigen Geistern sind heute voll Zuversicht, daß es einem gereinigten Glauben beschieden sei, im Innersten der Menschen die Lebensbejahung zu erwecken, welche das [155] Gemüt fordert und die Wissenschft nicht geben kann. Sie erhoffen eine volle Läuterung des Glaubens in dem Sinne, daß er dem Wissen beläßt, was des Wissens ist, und sich auf das dem Wissen unzugängliche innerste Gebiet zurückzieht, das de» Glaubens bleiben muß. Da indes der Prophet noch nicht da ist, der durch seine Heilsbotschaft Glaube und Wissen zu versöhnen wüßte, so ist der Kampf zwischen Glaube und Wissen vorläufig zu beiderseitigem Verlust abgebrochen und der Thron der geistigen Weltherrschaft ist unbesetzt geblieben.
Die kirchliche Kultur war einheitlich, ihre Alleinherrschaft war durch kein fremdes Kulturprinzip bestritten. Im Leben selber wirkten genug feindliehe Gewalten, die Leidenschaften waren zu ungebandigt, als daß sie sich dem Kulturgebot hätten widerspruchslos fügen wollen, dennoch brachte der Bestand der Kirche und ihrer Kultur in die Wildheit des Lebens seinen versöhnenden Sinn hinein. Wie der einzelne nach einem Leben der Sünde im Asyl des Klosters Zuflucht und Sühne fand, so hatte man in Staat und Gesellschaft das tröstliche Gefühl, daß man in der Kirche die HeUsanstalt besitze, die für alles, was man verbrochen, Absolution zu erteilen vermöchte. Gab sich der Ruchlose um so leichtfertiger den Versuchungen der Leidenschaft hin, so konnte die Kirche doch die Schwankenden befestigen und ihre gesammelte Macht zur Bekämpfung des Bösen einsetzen. Der Gegensatz der modernen zur kirchlichen Kultur geht im Grunde darauf zurück, daß diese gesammelte versöhnende Einheit verloren gegangen ist. Um was die moderne Kultur durch ihre Freiheit reicher geworden sein mag, um das ist sie verworrener geworden. Diese Verwirrung der Kultur ist es, die wir heute als ihre Krise empfinden.
Am wenigsten ist dadurch die Wissenschaft betroffen. Für sie hat die Freiheit in der Tat zu Reichtum ausgeschlagen, solange es nur um ihre Arbeit im einzelnen geht. Indem sie selber über ihre Methode entscheidet, sind ihr alle Wege geöffnet, die zur Erkenntnis führen. Unabsehbar was sie geleistet hat! Und sie kann sich dabei der Erwartung hingeben, daß die gesammelte Erkenntnis sich schließlich doch zu einer großen Einheit werde vereinigen lassen, wie sie es ja auch an Bemühungen nicht fehlen läßt, zu ordnen was heute schon geordnet werden kann. Wo das Ziel ist, an dem sich alle Erkenntnis vereinigt, darüber braucht sie sich vorläufig noch nicht klar zu werden, sie ist mit gegenwärtiger Arbeit voll beschäftigt, das übrige mag der Zukunft vorbehalten werden.
Um die Moral ist es schlimmer bestellt, sie darf nicht auf die Zukunft verweisen, sie muß der Gegenwart genügen. Das Moralgesetz der Christenvölker hatte, wie bisher alle großen Moralgesetze, seinen Halt im [155] Glauben gehabt, und noch heute ist dem geistlichen Lehrer in der Schule und auf der Kanzel das Amt des Sittenlehren? übertragen. Kann aber auf die Dauer eine Sittenlehre augreichen, die auf einem Glauben beruht, von dem so große Gruppen der Gesellschaft abgefallen sind ? Die gesellschaftliche Sittlichkeit muß auf einem Boden aufgebaut sein, der für die ganze Gesellschaft gemeinsam ist. Diesen Boden abzustecken ist die Wissenschaft außerstande, die sittlichen Triebe können selbst durch die stärkste wissenschaftliche Bemühung nicht eingepflanzt werden, sie sind dem Menschen ursprünglich eingegeben oder sie sind überhaupt nicht gegeben. Die moderne ethische Bewegung hat es sich zur Aufgabe gestellt, das Sittengesetz vom Glaubensgesetz loszulösen und selbständig zu entwickeln, sie hat aber bisher nur eine kleine Gemeinde zu sammeln gewußt. Alles in allem ist das sittliche Wesen heute durch ein Herkommen geregelt, das von den kirchlichen Vorschriften ausgegangen ist, und ist im übrigen den freien Bewegungen des Lebens überantwortet, die durch die in der modernen Gesellschaft wirkenden Kräfte aufgeregt sind und denen die verschiedensten Führer nach den verschiedensten Richtungen ihre Ziele weisen. Ein höchst verworrener Zustand, dem die staatliche Strafgesetzgebung doch nur bei den auffälligsten Gefährdungen und übrigens mit kaum zulänglichen Mitteln steuern kann. Nach dem Urteil besonnener und besorgter Männer sind die sittlichen Grundlagen der Kultur überdies auf das schwerste durch das brutale Vordringen des Strebens nach Bereicherung erschüttert, das durch die wundersame Entwicklung der wirtschaftlichen Möglichkeiten groß gezogen worden sei und an den Katastrophen von Weltkrieg und Umsturz die eigentliche Schuld habe. Man hört sogar die Behauptung aussprechen, daß der europäisch-amerikanische Westen sich hoffnungslos in Selbstsucht verzehre und daß die Welt nur noch von dem unverdorbenen Osten Rettung erwarten könne.
Die Kunst als dio treue Begleiterin des Lebens, spiegelt die Krise unserer Kultur deutlich wieder. Wenn man die Leistung der Baukurvst als den Ausdruck für die aufbauende Kraft des Menschentums nehmen dürfte, so fiele das Urteil über die Kultur unserer Zeit beschämend aus, deren nüchterner Sinn außerstande ist, der Größe der kirchlichen Kunst nahezukommen, in der die Völker des Mittelalters wetteiferten, oder auch nur das abgerundete Bild der malerischen bürgerlichen Stadtquarticrc von früher oder des behaglichen Dorfes wiederzugeben. Aber auch die Dichtkunst unserer Zeit läßt den reinen idealistischen Zug vermissen, der die große Dichtung aller Zeiten ausgezeichnet hat, und wenn auch nicht übersehen werden darf, daß in ihr ein starker und berechtigter [157] Trieb nach Wahrheit seine Erfüllung sucht, so ist dieser doch mit vielen andern Trieben, die ins Widrige und Leere gehen, in befremdender Weise vermengt. In der Kunst wie im Leben gehen die Bestrebungen der Zeit wirr widereinander, die Krise wird erst überwunden, Gesundheit wird erst wieder gewonnen sein, bis man wieder zur gesammelten Einheit der Kultur gelangt ist. Ob die Kulturwelt nicht doch auf dem Wege dazu ist, ob nicht insbesondere die Verwirrung unserer Moral der Ausdruck dafür ist, daß sie ihren Weg für die erweiterten gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart zu suchen im Begriffe ist ? Das sind Fragen, auf die wir erst antworten wollen, bis wir uns über die geschichtliche Entwicklung genügende Rechenschaft gegeben haben.
Hier wollen wir nur feststellen, daß bei jedem Volke für sich ein Sammelpunkt dadurch geschaffen ist, daß alle seine Kulturkräfte zur Nationalkultur zusammengefaßt sind. Freilich kann damit allein die allgemeine Krise noch nicht als überwunden gelten, die Nationalkultur kann nicht der Höhepunkt aller Kultur sein, denn das hieße auf die MenBchheit8kultur verzichten, auch sind ja in den nationalen Kulturen die Konflikte von Glauben und Wissen und die andern verwirrenden Gegensätze der modernen Kultur ganz und gar nicht aufgelöst. Ihr Halt ist ihnen durch den Egoismus des Nationalgefühles gegeben, das sich mit Stolz des weitausgedehnten Kulturwerkes bewußt wird, auf welches jede Nation hinzuweisen vermag und dem sich die einzelnen Kulturmächte, so sehr sie sich untereinander widerstreben, doch zu gemeinsamem Dienste unterordnen. Sowenig darum die nationalen Kulturen, so wie sie heute angelegt sind, dem menschlichen Kulturstreben die letzte Befriedigung geben können, so muß die gesellschaftliche Betrachtung doch bei ihnen verweilen. Sie nehmen auf die Wege der Macht in der Gegenwart ihren tiefgreifenden Einfluß und wir werden daher auf sie zurückzukommen haben, wenn wir im letzten Teile dieses Buches von diesen
Wenn eine Rotte von Jungen einen bösen Streich verübt hat und dafür zur Rechenschaft gezogen wird, so will es in aller Regel „keiner gewesen sein“, jeder schiebt die Schuld auf „die andern“. Das ist [158] nicht schlechthin eine faule Ausrede, wie man gewöhnlich meint, sondern es trifft so ziemlich das Wesen der Sache. Hier ist einer der Fälle, wo der Satz zutrifft oder fast zutrifft, daß der Kindermund die Wahrheit spricht. Gewiß hat jeder von den Jungen seinen Anteil an dem Streich gehabt, aber der Anteil des einzelnen ist zumeist ganz gering im Vergleich zu dem der übrigen Rotte, und darum geben „die andern“ den Ausschlag. Nur selten ist ein gebietender Führer da, der die ganze Masse, wie groß sie auch sei, so überragt, daß er seinen Willen unverkümmert durchsetzt. Hitler soll in der Schule ein solcher gebietender Führer gewesen sein, er wollte es später auch im deutschen Volksleben sein, indes dazu reichte seine Kraft doch nicht aus. Im Großen des Volkslebens sind die gebietenden Führer noch viel seltener als in der Schule, das deutsche Volk hat seit Bismarck keinen besessen. Im Gegensatz zum gebietenden Führer wird der Durchschnittsführer auch durch „die andern“ mitbestimmt. Am Beispiel des Jungenstreiches können wir deutlich erkennen, wie dies geschieht. Die Rädelsführer des Streiches, wenn sie eben bloße Durchschnittsführer sind, würden auf den bösen Einfall vielleicht gar nicht gekommen sein, falls sie sich nicht vor „den andern“ hätten wichtig machen wollen, und sie würden sich an seine Ausführung gar nicht gewagt haben, falls sie nicht die Gelegenheit wahrgenommen hatten, „die andern“ ins Feuer zu schicken ; vielleicht dachten sie selbst in dem Augenblick, in welchem sie ihren unbesonnenen Vorschlag machten, noch gar nicht daran, daß er ausgeführt werden könnte, denn sie wußten nicht, was gar viele von den Erwachsenen auch nicht wissen, daß ein Gedanke dadurch schon halb getan ist, daß er einmal mit Entschiedenheit ausgesprochen wird. Falls er keck genug vorgebracht wird, werden nur die wenigen Urteilsfähigen unter den Zuhörern selbständig genug sein, um zu bezweifeln, daß die Sache auch getan werden könne, die große Masse behält den Zweifel, den sie etwa fühlt, bei sich und überbietet sich wohl noch in zuversichtlichen Äußerungen, die am Ende kein Zurückweichen mehr erlauben und das leichtsinnig ausgesprochene Wort zum Ernst machen. So wird zuletzt das, was keiner recht will, von allen zusammen getan, weil „die andern“ es wollen.
Wie beim Jungenstreich, so liegt bei jeder gesellschaftlichen Handlung der nächste seelische Halt in dem Reiz des Miteinandergehens, des Zusammengehens mit „andern“. Nicht nur die Masse gibt sich diesem Reiz hin, wenn sie dem Führer nachfolgt., sondern der Führer selber, einzig die wirklich großen Seelenführer ausgenommen, verspürt ihn, wenn er die Nachfolge der Masse erwartet, und die nachfolgende Masse verspürt ihn übrigens nicht nur dem Führer gegenüber, [159] dem sie nachfolgt, sondern jeder einzelne in ihr verspürt ihn auch „den andern"' gegenüber, von denen ihm seine Fühlung sagt, daß sie mit ihm nachfolgen werden und seine Mitfolgo erwarten. Niemals wurde es sich ereignen können, daß der einzelne Soldat für sich aus dem deckenden Schützengraben aufspringt, ins mörderische Feuer des Feindes hinein, wenn er nicht den Führer vor sich wüßte und wenn er nicht außerdem die Fühlung hätte, daß „die andern“ mit ihm gehen werden. Der Sturm ins feindliche Feuer hinaus ist für die persönliche Willensbestimmung des vereinzelten Mannes unvollziehbar, nur die gesellschaftliche Willensbestimmung, bei der „die andern“ den Ausschlag geben, kann ihn zum Ereignis machen.
Wie der Sturm ins feindliche Feuer wäre die Entschließung zum Krieg aus dem Gesichtskreis der einzelnen Bürger unvollziehbar, nur die gesellschaftliche Willensbestimmung der aufgeregten Volksgesamtheit kaiui sie zum Ereignis machen. Was vum persönlichen Standpunkt unfaßbar ist, kann gesellschaftlich unabwendbar werden. In jedem Akt gesellschaftlicher Willensbestimmung steckt, wenn auch im einzelnen Falle vielleicht kaum merkbar, etwas persönlich Unerklärbares, um nicht zu sagen Irrationales, das erst durch die Tatsache des Miteinandergehens zum sinnvollen Ereignis wird.
Selbst bei den großen gebietenden Seelenführern kommt die Tatsache „der andern“ zur Geltung. Hier geschieht es jedoch in einer ganz mindert, sondern nur noch steigert. Wenn der große Führer aus seiner Seele heraus handelt, so handelt er nicht nur im persönlichen, sondern zugleich im allgemeinen Sinne, weil seine Seele auf die Weite des Allgemeinen ausgespannt ist. Ein Michel Angelo oder Beethoven, der sich selber genug tut, tut damit dem höchsten künstlerischen Drange des nationalen Geistes genug, ein Prophet, der das Glaubenswort sucht, welches seine innerste Sehnsucht befriedigen soll, befriedigt damit die Sehnsucht der gottsuchenden Menschheit. Damit daß die Masse dem großen Führer folgt, ist die reinste gesellschaftliche Bestimmung erreicht, der kein irrationaler Rest zugesellt ist, doch auch in ihr ist etwas persönlich Unerklärliches, denn sie erhebt sich zu einer Höhe, die dem Sinne der Masse als solcher unerreichbar ist und die ihr nur dadurch zugänglich wird, daß ihr Gefühl durch das Vorbild des großen Führers und das allgemeine Zusammengehen weit über sein eigenes Maß gehoben ist.
Der große Seelenführer erkennt alle andern mit, indem er sich erkennt, die Führer minderer Größe und vollends die Masse der Menschen brauchen die andern, um sich selber zu [160] erkennen. Durch das Tun der andern, das sich deutlich vor ihren Augen abspielt, wird ihr eigenes Wesen geweckt, ihr Handeln erhält sein Ziel, ihre Kraft wird gesteigert. Im Zusammensein der Menschen wirkt Gefühl auf Gefühl, in wechselseitiger Fühlung erregen sich die Reize, im Austausch der Meinungen bilden und festigen sich die Vorstellungen und zum Schluß werden die Willen in gemeinsame Bahnen geleitet. So entsteht die gesellschaftliche WilleiLsbcstimmung als die Willensbestimmung einer Vielheit von Personen, die in wechselseitiger Fühlung vollzogen wird.
Damit ist jedoch noch nicht das Ganze der gesellschaftlichen Willensbestimmung erfaßt. „Der andere“ hat für unser Gefühl eine doppelte Bedeutung: dem einsamen Menschen, der sich hilflos und schwach fühlt, ist er der freudig begrüßte Freund, mit dem als Genossen zusammenzugehen man den herzlichen Wunsch hat, dem Menschen aber, der bereits im Verbände seiner Genossen steht, der sich in diesem stark ftthlt und Miinefl Wesens sicher geworden ist, ist „der andere“ der Andersartige, der Fremde und auf sich Bedachte, den man mißtrauisch abweist, weil man von ihm Beeinträchtigung des eigenen Wesens fürchtet. Die Beobachtung zeigt uns daher, wie das Miteinandergehen, so das Gegeneinaudergehen der Menschen, sie zeigt uns, daß die Menschen, wie sie bereit sind, mit ihresgleichen zusammenzuhalten, anderseits dort, wo sie durch Mißtrauen und Furcht abgeschreckt sind, sich in feindüche Gruppen trennen, die widereinander zu Abwehr und Angriff bereit sind. Daß die Gewalt in der Geschichte ihr Werk tut, ist hieraus zu erklären. Man glaubt sich des andern, dem man mißtraut und den man fürchtet, im Kampf erwehren zu müssen, der Kampf, der mit Abwehr beginnt, geht unversehens in Angriff über, und gegenüber dem Besiegten, den man nicht als seinesgleichen erkennt, sondern als fremdartig geringschätzt oder verabscheut, wird der Siegor durch kein Gefühl der Teilnahme abgehalten, bis zum Äußersten der Vernichtung zu gehen. Wenn er sein Leben schont, so tut er ea nur, um ihn mitleidlos auszubeuten.
Zur gesellschaftliehen Willensbestimmung gehört darum vom Anbeginn an auch die Willeusbestimmung durch Kampf und Zwang, ja sie ist in den gesellschaftlichen Anfängen die weitaus überwiegende Art der Willensbestimmung. Die Menschen erkennen sich zunächst nur in ganz kleinen Kreisen als zusammengehörige Genossen, die großen Massen sind sich fremd und feindlich. Wenn sie miteinander zu gesellschaftlichen Einheiten verbunden werden sollen, so kann es nur durch Kampf und Sieg geschehen. Das Wachstum der Gesellschaft ins Große sprießt aus der bitteren Wurzel des Zwanges.
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Nach dem bekannten Wort des Aristoteles gilt uns der Mensch als gesellschaftliches Wesen. Ein gutes Wort, nur muß man es auch recht verstehen. Die Menschen sind zur Gesellschaft berufen, ohne die sie ihr Wesen nicht erfüllen könnten, sie brauchen wechselseitige Hilfe, um ihre Kräfte zu wecken und wirksam zu nutzen. Sobald sie jedoch durch wechselseitige Hilfe einigermaßen zur Nutzung ihrer Kräfte gelangt sind, so fühlen sie ihren gesellschaftlichen Beruf fürs nächste befriedigt und weisen die Verbindung mit andern, die außerhalb ihrer ursprünglichen Verbände stehen, feindselig zurück. Der den Menschen von Natur mitgegebene gesellschaftliche Beruf ist in seiner ersten Anlage nicht schon stark genug, daß sie ohne Rückhalt ganz ineinander aufgehen wollten. Selbst auf der Kulturhöhe von heute ist der liedanke der allumfassenden menschlichen Gesellschaft nur ein schöner Traum, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Die Menschen sind auch auf der Höhe, die sie heute erreicht haben, noch nicht zu einer großen Friedensgesellschaft verbunden, sondern sie sind in kampfbereite Gesellschaften getrennt und selbst innerhalb der einzelnen Gesellschaften herrscht immer noch ein Rest von Zwang, der in inneren Krieg auszubrechen droht. Die große Masse „der andern“ gilt dem Gefühle noch immer nicht als Brüder und Mitmenschen, es ist viel erreicht, wenn man sie gleichgültig gehen und gewähren läßt, wie oft aber sind sie uns nicht Gegner und Feinde!
Der Sprachgebrauch erlaubt es, die gesellschaftlichen Vielheiten, mögen sie nun festgefügt oder auch nur lockerer verbunden sein, als Einheiten anzusprechen. Der Staat wird als Einheit ausgesagt und ebenso das Volk und die Kirche oder der Stand, die Klasse, die Partei oder auch die Gesellschaft, das Publikum, oder selbst die Menge, die sich irgendwo zusammengefunden hat die Rciho dieser Sammelnamen ließe sich noch weiter und weiter fortsetzen. Der Sprachgebrauch erlaubt es überdies, indem er die gesellschaftlichen Einheiten personifiziert, alles, was sich auf ihr Handeln bezieht, so auszusagen, als ob es eine Einzelperson anginge; man spricht vom Staatswillen, vom Volksgeist, vom Fortschritt der Gesellschaft, von der öffentlichen Meinung, von der allgemeinen Rechtsüberzeugung, vom nationalen Gefühl — auch die Reihe dieser personifizierenden Wendungen ließe sich noch weiter und weiter fortsetzen. Recht verstanden, sind alle diese Wendungen willkommene Bebelfe, um in eindrucksvoller Kürze das Ergebnis zusammenzufassen, [162] welches dadurch entsteht, daß die Tausende und Millionen der in den gesellschaftlichen Vielheiten vereinigten Personen sich mit ihrem Gefühl, ihren Anschauungen, ihren Urteilen, ihren Willensentschließungen treffen. Die Gefahr des Mißverständnisses ist jedoch nicht gering. Die personifizierende Form der Aussage legt die Vermutung nahe, daß das gesellschaftliche Handeln, wenn auch in außerordentlich erweiterten Verhältnissen, doch in allem Wesentlichen im gleichon Sinne ablaufe wie das persönliche Handeln. Wenn man von der öffentlichen Meinung spricht, so liegt die Vermutung nahe, daß man sie als das übereinstimmende Bekenntnis aller Geister zu verstehen habe, während gar oft eine große Zahl, vielleicht die größte Zahl der Bürger, an ihr kein Teil hat und viele, vielleicht die meisten von denen, die sie aussprechen, sie nur mit den Lippen bekennen und vielleicht nur ganz wenige wortgewandte Redner oder Tagesschreiber sie der Öffentlichkeit aufdrängen. Wenn man vom nationalen Geist spricht, so liegt die Vermutung nahe, daß man ihn als den einmütigen Besitz der ganzen Nation zu verstehen habe, während er vielleicht nur von einer dünnen Schicht getragen ist. unter der eine dumpfe Masse gleichgültig dahinlebt. Wenn man vom Volkswillen spricht, so liegt die Vermutung nahe, daß man ihn als die genaue Snmme der Willen der Tausende oder Millionen des Volkes zu verstehen habe und daß er alle diese Willen so voll in sich aufnehme wie der Strom das Wasser seiner Zuflüsse vereinigt. So verhält es sich aber in aller Regel nicht. Bei der Bildung de» sogenannten Volks willens verbinden und steigern sich nicht nur, sondern reiben sich auch und kreuzen sich, tmmen und erdrücken sich, verschieben und verwerfen sich die Willen r Tausende und Millionen in aller Regel unter ungeheuren Verlusten t Kraft und weitgehenden Verfehlungen oder Verfälschungen der Ziele. Die Ideologen, auf deren Anschauungen die Irrungen zurückgehen, welche das moderne Verfassungswesen verwirren, haben dem souveränen Volke die volle Kraft des Willens zugemessen. Für sie war der Volks wille ein gesteigerter Einzelwille, noch klarer und fester auf sein Ziel gerichtet als dieser und ihm durch Wucht und Majestät weit überlegen. Ein Irrtum von verhängnisvoller Tragweite! Während die Verfassungen der alten Zeit, da man sich noch keine rechten Ideen über den Staat machte, den gegebenen Verhältnissen und damit freilich auch den gegebenen Gewaltverhältnissen wie ein Naturselbstabdruck angepaßt waren, sind die modernen Verfassungen auf eine solche Größe zugeschnitten, daß die ungereiften Völker die Verfassungen nicht auszufüllen vermögen, die sie sich anfertigen oder von ihren realpolitisch ungeschulten Führern anfertigen lassen. Die Verfassungen sitzen [163] ihnen nicht und erschweren darum oder verzerren ihre Entschließung. Die Ärzte, die an den Verfassungen kurieren, wenn diese ihren Dienst nicht leisten wollen, wissen in aller Regel nicht, wo der Sitz des Übels ist. Wenn man klar sehen will, muß man sich entschließen, bis auf den Grund zu dringen und den Prozeß der gesellschaftlichen Willensbestimmung einmal von Anfang an in seinem ganzen wesentlichen Verlaufe genau zu verfolgen.
Bis zu einem gewissen Grade haben wir dieser Aufgabe bereits vorgearbeitet. Bei ihrer Lösung wird uns alles zugute kommen, was wir über das Verhältnis von Führer und Masse, über Machtpsychologie und über die Teilung der gesellschaftlichen Mächte an Erkenntnissen gefunden haben. Indem wir die Ergebnisse dieser Erörterungen zusammenfassen, wollen wir sie noch mit dem Gedanken verbinden, den wir eben entwickelt haben, daß bei der gesellschaftlichen Willensbestimmung „die andern“ den Ausschlag geben. Sei es, daß man in wechselseitiger Fühlung miteinander gehe, sei es, daß man im Kampf sich gegeneinander stelle und zwinge, so wird immer die gesellschaftliche Willensbestimmung bis zu einem gewissen Grade gefährdet. Die Dazwischenkunft „der andern“ bringt es mit sich, daß die klare Beziehung von Zweck und Kraft getrübt wird, die der persönlichen Willensbestimmung ihre Sicherheit gibt.
Auch der persönliche Wille ist nicht schlechthin zweckbestimmt. Nicht nur, daß er gar oft, durch Irrtum oder Leidenschaft mißleitet, sein Ziel verfehlt, so ist die Kraft schon gegeben und schon in Bewegung, bevor die Ziele gesetzt sind, die sie erst sucht oder die sie vorerst noch nicht einmal sucht, indem sie zunächst an sich selber ihr Genügen finde -. Erst im Reifen des Willens verbinden sich Kraft und Zweck durch das Mittel der Überlegung oder der Übung. Beim gereiften Manne sind Kraft und Zweck sinnvoll ineinander verflochten, der Wille ist zugleich kraftbestimmt und zweckbestimmt.
Im Völkerleben sind die wirksamen Kräfte auf eine verwirrend große Zahl von Personen aufgeteilt und sie sind nach Maß und Richtung höchst ungleich. Es darf uns nicht wundernehmen, wenn sie in aller Regel nicht entfernt so enge zusammengefaßt und beherrscht sind, wie im Einzelleben. Gereiften Männern begegnen wir überall, gereifte Völker weist die Geschichte nur auf seltenen Höhen. Kraft und Zweck verfehlen sich darum nur zu oft im Völkerleben, der gesellschaftliche Wille ist alles in allem noch viel mehr kraftbestimmt als zweckbestimmt. Da die Kraft in der Gesellschaft ihre Wirkung auf die Gemüter als Macht übt, so werden wir es verstehen, wenn der gesellschaftliche Wille eher machtbestimmt als zweckbestimmt ist. Freilich baut sich die Macht [164] auf dein Erfolge auf, der im Zwecke wieder aufgenommen wird, woraus »ich der Schluß ergibt, daß Macht und Zweck doch zueinander streben. Der machtbeatimmte Wille muß daher immer auch in gewissem Maße zweckbestimmt sein, aber erst bei voller Reife der Macht wird er rein z weckbestimmt werden.
Bei der gesellschaftlichen Willensbeatimmung durch Zwang ist ganz deutlioh ein Mißverhältnis von Macht und Zweck wahrzunehmen. Die gesellschaftliche Willensbestimmung durch Zwang ist auf die Zwecke der Zwingherren gerichtet, die unterworfene Masse hat nicht das Recht, den eigenen Zwecken zu leben, der Zwingherr verfügt über sie und unterwirft sie nach Maß seiner Gewalt seinen persönlichen Zwecken. So weit er aie für sich ausnützt, hören die Handlungen der Masse auf, persönlich zweckbestimmt zu sein, sie sind zwang3bestimmt.
Bei friedlichem Zusammengehen müssen grundsätzlich die Lebenszwecke aller Genossen in gleichem Maße gelten. Wo die Lebenszwecke der einzelnen sich widerstreiten, muß der Wille der Minderheit dem der Mehrheit weichen. Auch hier ist also Unterwerfung gefordert, sie wird jedoch freiwillig zugestanden. Die Minderheit findet Bich dazu bereit, weil sie den gesteigerten Machterfolg erkennt und genießen will, den sie dadurch gewinnt, daß sie sich in eine große Gesamtheit einordnet. Die Entschließung der Minderheit ist machtbestimmt, sie hört deshalb jedoch nicht auf, zweckbestimmt zu sein, man opfert einen geringeren Zweck dem höheren Machtzweck.
Das sacrificiuin voluntatis, das die zustimmende Minderheit bringti ist das deutlichste, aber keineswegs das einzige Willensopfcr, das in der friedlichen Gesellschaft gefordert wird. Das gesellschaftliche Zusammengehen fordert unausgesetzt an allen Punkten die wechselseitige Willensanpassung der einzelnen, die auseinander streben müßten, wenn jedermann sich selber freien Lauf ließe. Ohne diese Willensanpassung würde die Mehrheit selber, der sich die Minderheit fügt, nicht zusammengeschlossen sein und auch die Minderheit käme ohne sie nicht zur Einigung. Man vollzieht die Anpassung durchaus nicht immer in klarer Überlegung und Entschließung, zumeist gibt man unwillkürlich dem Reize nach, den man von der Umgebung her fühlt. Nietzsche, der es nicht lassen kann, die Masse zu höhnen, und viele andere nach ihm sprechen vom menschlichen Herdentrieb. Die Bezeichnung paßt auf die Fälle der Panik und andere derartige Fälle, wo die Masse sich rein durch den animalischen Instinkt des Zusammengehens fortreißen läßt, der noch wirksam bleibt, auch wenn man nicht mehr die Kraft übrig hat, sich genauer zu besinnen. Wären die Menschen bei ihrem Zusammengehen [165] bloß durch den Herdentrieb geleitet, so würden die gesellschaftlichen Handlungen gerade nur so weit zweckbestimmt sein, als im Instinkte der Gattungszweck zum Ausdruck kommt. Es heißt den gesellschaftlichen Dienst der Masse arg verkennen, wenn man ihre Nachfolge nur als Herdentrieb gelten läßt. Das Zusammengehen mit den andern hat beim tüchtigen Mann seine guten Gründe, deren er sich, wenn auch oft nur gefühlsmäßig, wohl bewußt ist. Durch ihre tätige Nachfolge, ob sie nach klarer Überlegung beschlossen oder mehr gefühlsmäßig begründet sei, bestätigt die Masse den Führer, sie gibt ihm das Zeugnis, daß sein Vorgehen zweckbestimmt ist, und durch den Eindruck, den die Nachfolge der tüchtigen Männer auf die Gemüter der übrigen ausübt, wirkt sie auch auf diese machtbestimmend.
Von den sogenannten Mitläufern, die man bei gesellschaftlichen Bewegungen so häufig antrifft, kann man in einer Reihe von Fällen zugeben, daß sie in einer Art Herdentrieb folgen. Der gemeine Mann ist gegenüber dem Druck der Macht sehr nachgiebig. Er will sich nicht dem Tadel, dem Spott, der Ablehnung aussetzen, die er von „den andern“ zu befürchten hat, wenn er ihnen entgegentritt. Um nicht aufzufallen, tut er bei den allgemeinen Bewegungen sogar dann mit, wenn er innerlich zu ihnen keine Beziehung fühlt und von ihnen für sich nichts zu erwarten hat. Es gibt indes auch Mitläufer besseren Grundes. Bei jeder Wahl fallen den großen Parteien Mitläufer aus den Lagern schwächerer Parteien zu oder aus Lagern, in denen man sich noch nicht parteimäßig organisiert hat. Die Mitläufer bringen dadurch ihre persönlichen Zwecke bis zu einem gewissen und mitunter recht weiten Grad den Zwecken der Partei zum Opfer, der sie sich anschließen, und sie müssen es dulden, daß die Partei, der sie mit zur Macht verhelfen, manches tue, was ihnen nicht genehm ist, aber sie setzen doch, wenn sie sich nicht ganz geirrt haben, mehr von ihrem Willen durch, als sie durchzusetzen vermöchten, falls sie sich ganz auf sich selber zurückzögen. Sie folgen jener Macht, die ihnen eben am nächsten steht. Ihr Wille wird machtbestimmt, weil er dadurch einigermaßen zweckbestimmt wird.
Über den Mitläufern stehen diejenigen, und auch ihre Zahl ist groß, die zwar zu schwach sind, um der Macht offen Widerstand zu leisten, aber sich wiederum auch nicht dazu entschließen mögen, ihr Folge zu geben, sondern die sie still gewähren lassen. Es gehört Mut dazu, den die wenigsten aufbringen, wo man auf sich allein angewiesen ist, sich einer allgemeinen Bewegung entgegenzustellen, auch wenn man ihr in seinem Gefühle sehr lebhaft widerstrebt. Erst wenn man sich mit mehreren Gleichgesinnten zusammenfindet, steigert sich das [166] Widerstreben zum Widerstand. Bis dahin hält man sich untätig abseits und läßt geschehon, was man nicht hindern kann. Weil der gesellschaftliche Wille machtbestimmt ist. müssen alle diejenigen auf gesellschaftliche Willensäußerung verzichten, die nicht so weit sind, daß sie ihren Zwecken Macht zugesellen könnten.
Vermöchte man bei den Mächten, die sich vom allgemeinen Willen getragen geben, immer die ganze Zahl der Mitläufer sowie derjenigen abzustreichen, die nicht zu Wort kommen können, und außerdem noch derjenigen, die aus Trägheit und Unentschlossenheit abseits bleiben, so würde sich nicht selten finden, daß die Menge der Willensstarken, die zweckbewnßt mittun, viel geringer ist, als die des übrigen Restes, der sich der Macht fügt.
Auch die Willensstarken, die zweckbeatimmt mittun, müssen ein Opfer ihres Willens bringen. Im Zusammenleben vollzieht pich in wechselseitiger Fühlung ein Prozeß der Abschlcifung des persönlich Eigentümlichen, der im einzelnen oft fast unmerklich abläuft, aber am Schlüsse die ganze Erscheinung ändern mag. Die Ecken und Kanten des Besonderen am Individuum werden abgerieben oder auch abgebrochen, man uniformiert sieh. Selbst wenn man gewisse Unbequemlichkeiten in den Kauf nehmen muß, paßt man sich dem allgemeinen Wesen an, weil man sich dabei, alles in allem, schließlieh wohler fühlt, wenn man die allgemeine Weise annimmt, statt ganz nach seinem Sinn zu leben. Man nimmt den Typus der Nachbarschaft, der Landsmannschaft, der zugehörigen Lebensschicht, der Klasse, der Nation an, weil man fühlt, daß man so mit den andern am besten herauskommt und daß man am Ende auch in seinem eigenen Wesen gesteigert wird. Der uniforme Zweck ist der allgemeine Zweck, der dadurch zum Machtzweck wird. Erst wenn man in seinem Typus fest geworden ist und sodann auf den andersartigen Typus einer fremden Umgebung stößt, verweigert man die weitere Anpassung, weil man nun das Fremde als Widerspruch zum eigenen Wesen empfindet. Die Auflösung dieses Widerspruchs durch das Zusammenfühlen von Gruppen, die bisher getrennt waren, erweitert den Machtkreis reibungsloser Zweckbestimmung.
Was eben gesagt wurde, gilt nicht bloß von der Masse, es gilt auch von den Führern. Der Prozeß der wechselseitigen Einfühlung fordert selber seine Führer. Schon die Aufrechterhaltung der guten Sitte braucht das Beispiel der starken Menschen, die Erschließung neuer Sitte, die Überbriickung der überlieferten Gegensätze braucht Führer von besonderer Kraft.
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In manchen Fällen wird das persönliche Opfer, das man der allgemeinen Sache bringt, größer als der Vorteil, den man davon zu erwarten hat, daß man sich der gegebenen Macht unterwirft. In dieeen Fällen weicht die persönliche Zweckbestimmung der Machtbestimmung. Der Bürger bringt zur Verteidigung des Vaterlandes in freiwilliger Hingebung das Blutopfer dar, er gibt, den Selbsterhaltungstrieb überwindend, sein Leben preis, weil sein staatliches Treugefühl es so von ihm fordert. Um den Staat in seiner Macht zu erhalten, ist er bereit, sich selber aufzuopfern, weil er erkennt, daß der Staat sich gegen den kriegerischen Feind nicht behaupten könnte, wenn er nicht das Leben einer gewissen Zahl seiner Bürger daran wagen wollte. Ebenso unterwerfen sich die Arbeiter, die des genossenschaftlichen Sinnes voll sind, der Politik der Gewerkschaft, auch wenn diese ihre persönlichenlnteressen empfindlich verletzt. Der bessere Arbeiter unterwirft sich einem Lohnaystem, daa dem durchschnittlichen Arbeiter entspricht, aber ihn selber schädigt; der wohlgestellte Arbeiter, der für sich persönlich nichts zu fordern hätte, unterwirft sich dem Streikbeschluß, auch wenn er gegen ihn gestimmt hat; sogar die Arbeiter, die außerhalb der Gewerkschaft stehen, unterwerfen sich der Macht des Solidaritätsgcfühles und wagen es nicht, den Streik zu brechen, so sehr dies durch ihr nächstes Interesse gefordert wäre. In allen solchen Fällen wird die Willensentschließung in der Gesellschaft, ohne daß sie durch äußeren Zwang bestimmt wäre, dennoch, weil sie machtbestimmt ist, aufhören, persönlich zweckbestimmt zu sein.
Wie die Masse und mehr noch als sie muß auch der Führer bereit sein, sich für die allgemeine Sache hinzugeben. Im Kampfe muß der Führer der erste sein, der sein Leben einsetzt. Er könnte nicht der Führer zur Macht sein, wenn er nicht auch in der Aufopferung voranginge, die ein aufbauendes Element der Macht ist.
Der gesellschaftliche Wille braucht die Beschwerung durch die Macht, um vollwichtig zu sein und seine Zwecke zu erreichen. Er würde sonst der Trägheit und Unentschlossenheit, die überall in der Gesellschaft nistet, nicht Herr werden, er würde an den Kanten und Ecken des persönlichen Wesens allzuviel von seinem Trieb verlieren, er würde selbst die Willigen nicht so mit sich ziehen und sogar die vorangehenden Führer nicht so antreiben, wie es geschehen muß, um die höchste Kraft einzusetzen, und er muß ja auch noch mit dem Widerstande der Unwilligen fertig werden, die nur ihr eigenes enges Interesse im Sinne haben und die gesellschaftliche Ordnung mißachten. Der nicht machtbeschwerte Wille ist für seine gesellschaftliche Aufgabe zu schwach, [168] er ist ohnmächtig, die persönlichen Zwecke durchzusetzen, die ihm aufgegeben sind. Der Machtzweck geht den einzelnen persönlichen Zwecken vor, die er fördern soll, er darf sich freilich nicht auf sich selbst beschränken, er darf es durchaus nicht unterlassen, sie zu fördern, denn um ihretwillen ist er ja da. Soferne es jedoch nicht anders sein kann, so müssen ihm unbedenklich diese oder jene einzelnen persönlichen Zwecke zum Opfer gebracht werden, damit er wenigstens in der Hauptsache durchdringe.
Freilich verliert der gesellschaftliche Wille, weil er machtbeschwert ist, die leichtere Beweglichkeit, die der persönliche Wille besitzt. Er ist schwerfällig und daraus entsteht unter Umständen, wie dies nun gezeigt werden soll, die schlimme Folge, daß er auch den gesellschaftlichen Zweck verfehlt. Wie oft macht man nicht die Erfahrung, daß das Mittel, welches um des Zweckes willen geschaffen ist, den Zweck beherrscht! Dies gilt auch für das Mittel der Macht. Der Macht zweck reiht sich unter die Zwecke, denen er dienen soll, als selbständiger Zweck ein, ja er ordnet sich ihnen über.
Bei keinem Volke, selbst beim entwickeltsten nicht, sind die gesellschaftlichen Mächte, den gesellschaftlichen Zwecken ganz harmonisch angepaßt, und unter dem Gewicht der stark ausgebildeten Mächte müssen darum diejenigen Zwecke beeinträchtigt werden, zu deren Schutz nur schwächere Mächte bereit stehen. Selbst wenn einmal jede Herrenmacht ausgelöscht wäre, würden Macht und Zweck deshalb allein noch nicht vollkommen gegeneinander ausgeglichen sein. Da« gesellschaftliche Handeln ist keineswegs vom Grunde aus nach einem einheitlichen Plane so ins Gleichgewicht gebracht, wie. der tüchtige, wohl erfahrene Mann sich seinen Lebensplan ausbaut, worin 6eine Kräfte auf seine Zwecke nach deren Wert weislich aufgeteilt sind. Bisher ist die gesellschaftliche Willensbestimmung noch niemals und nirgends zu solcher Einheit gediehen, wie die persönliche Willensbestimmung, und niemals und nirgends noch ist sie daher so in den Dienst der höchsten gesellschaftlichen Wohlfahrt gestellt, wie die persönliche Willensbestimmung in den Dienst der persönlichen Lebenserhaltung und Lcbensentfaltung. Das gesellschaftliche Handeln vollzieht sich ja überhaupt nicht in klarer Überlegung, sondern es hat sich aus dem allmählichen Zusammenfühlen von Kraft und Erfolg aufgebaut. Es ist nicht von oben aus einem [169] leitenden Grundsatz höchsten gesellschaftlichen Nutzens entwickelt, sondern von unten aus den Erfahrungen aufgewachsen, die man mit den einzelnen Teilkräften gemacht hat. Die gesellschaftliche Macht ist nicht einheitlich gegeben, so daß sie den einzelnen Zwecken zugewogen werden könnte, sondern immer ist eine Fülle von Teilmachten nebeneinander in Bewegung, die gegeneinander ringen und im besten Falle sich auszugleichen streben, ohno sich doch ganz ausgleichen zu können. Das Zusammenfühlen arbeitet zu langsam. Die Bildung jeder einzelnen Teilmacht ist dadurch zurückgehalten, daß das Gefühl erst die Belehrung durch den Erfolg braucht, um der aufkeimenden Macht Herrschaft über die Gemüter zu erobern. Wie die einzelnen Mächte nur allmählich aufwachsen, so bröckeln sie auch nur allmählich ab. Der erste Mißerfolg genügt nicht ohneweiters dazu, um sie abzutun oder vielleicht auch nur zu mindern, vielleicht regt er sogar zu erhöhten Anstrengungen auf. Die Mißerfolge müssen sich wiederholen und andauern, um den Bann zu brechen, den che bestehenden Mächte über die Gemüter üben. Jede Macht, die einmal besteht, hat es in sich, daß sie weiterbestehen will. Die ihr unterworfenen Individuen haben immer damit zu rechnen, daß „die andern“ noch im Banne der Macht stehen, und da sie nicht auf sich allein angewiesen sein wollen, bleiben sie daher auch noch in deren Bann. Es muß unter den der Macht ergebenen Gemütern erst die wechselseitige Fühlung dafür aufkommen, daß die andern auch nicht länger dabei 6ein wollen. Wir verstehen den Machttrieb erst dann ganz, wenn wir erkennen, daß der Selbsterhaltungstrieb der Macht mit. zu seinem Wesen gehört.. Jede Teilmacht hat den Trieb der Selbsterhaltung in sich, sie will weiter wirken, auch wenn sie ihren Zwecken nicht mehr recht zu dienen vermag. Der gesellschaftliche Wille bleibt machtbestimmt, auch wenn er nicht mehr recht gesellschaftlich zweckbestimmt sein sollte, und es bedarf zuletzt vielleicht schweren Kampfes, um den unnütz oder schädlich gewordenen Willen zu überwältigen.
Er kann nicht überwältigt werden, wenn nicht neue, den gesellschaftlichen Zwecken besser angepaßte Mächte aufkommen, die aber unter dem Widerstand der alten Mächte so rasch nicht aufkommen können. Der Auftrieb der neuen Kräfte muß so stark sein, daß diese, den Widerstand der alten Mächte überwindend, sich selber in Macht umsetzen können. Der Entfaltungstrieb der Kräfte muß zum Selbsterhaltungstrieb der Mächte im Gleichgewicht sein. Mitunter sind die alten Mächte geschichtlich so stark eingelebt, daß sie überhaupt nicht mehr erschüttert werden können, selbst wenn sie keine neuen Erfolge [170] mehr hervorbringen können. Erschöpfte Völker bleiben darum in ihrer Entwicklung stehen, sie kommen über die Schranken der alten Mächte nicht mehr hinüber. Nur die lebensfrischen Völker bringen es immer wieder dabin, Machttriebe zu entwickeln, die in der Richtung gesteigerter und höchster gesellschaftlicher Wohlfahrt tätig sind. Damit sind anderseits gerade die starken Völker und ebenso die starken Parteien der schweren Gefahr aasgesetzt, daß sie sich an ihrem Machterhaltungstriebe verbluten, denn sie setzen ihr Äußerstes daran, ihre geschichtlich überlieferte Macht, die ihnen bisher immer Erfolg brachte, zu behaupten, und bezahlen ihren Machtwillen zuletzt vielleicht mit ihrer Selbstvernichtung. In solchem Falle kehrt sich das Gesetz des Erfolges um und der machtbestimmte Wille streitet wider den höchsten Zweck der gesellschaftlichen Selbsterhaltung.
Wie in der Masse und starker noch alH in ihr, wirkt der Machterhaltungstrieb im Führer. Die großen Führer sind selten, die das Ganze der Volkszwecke überblicken und im Sinne hegen. Die Zeiten ihres Wirkens sind die Höhezeiten der Geschichte, in denen eich die gegeneinander ringenden Bestrebungen ausgleichen und wechselseitig ergänzen, sich neu befruchtend. In der Regel ist der Führer eingeschränkteren Sinnes als der einzelne Bürger, er ist seinem besonderen Zwecke ganz hingegeben, für diesen bildet er sich aus, ihm widmet er sein ganzes Sein, alles andere vergessend und zurücksetzend. So kommt es, daß der Führer so oft ganz Soldat oder ganz Politiker oder ganz Denker oder ganz Künstler ist. Dadurch kann der Führer bei der Überlegenheit, die er auf seinem Felde besitzt, eine gesellschaftliche Gefahr werden. Seiner Sache ganz hingegeben und für sie alle Macht einsetzend, die er zu sammeln vermag, droht er die Einheit des gesellschaftlichen Wesens zu zerreißen, die ohnedies nur locker gefügt ist. Zum Ausgleich ist es notwendig, daß ihm in andern Führern die ergänzenden Gegenspieler entgegentreten, und zuletzt ist das Lebensgefühl des tüchtigen Bürgers, das Lebensgefühl der gesunden Masse dazu berufen, zwischen den Führern, die um die Macht ringen, die Auslese zutreffen, um die richtig abgewogene Linie des Lebens zu sichern.
Die öffentliche Meinung nimmt unter den gesellschaftlichen Mächten eine eigenartige Stellung ein. Sie formuliert das Gesetz für diejenigen
[171] Mächte, die das gesellschaftliche Handeln unmittelbar leiten. Den Inhalt des Gesetzes empfängt sie von den Mächten des Handelns, wo sich diese voll bewähren, und in diesem Falle verstärkt sie konservativ die bestehceden Mächte, indem sie den Sinn der Erfahrung in festen Sätzen sammelt, welche Gemeingut der Gesellschaft werden. Dagegen bildet sie dort, wo die Mächte des Handelns wider das gesellschaftliche Gefühl streiten, neue Ideen aus, welche die bestehende Ordnung auflosen und eine neue vorbereiten sollen.
An der Bildung der öffentlichen Meinung wirken nicht immer alle Personen mit, die am gesellschaftlichen Handeln beteiligt sind. Es ist klar, daß diejonigen, welche die Gelegenheit haben, die öffentliche Meinung zu bilden, dadurch einen großen Vorteil vor den andern empfangen, die dem Sinne ihres Handelns in der Öffentlichkeit nicht Ausdruck zu geben vermögen. Die Schöpfer der öffentlichen Meinung werden die Träger ihrer eigentümlichen Macht. Wo die Mächte des Handelns ihrem persönlichen Interesse dienen, während sie die der übrigen Gesellschaft verletzen, dort werden sie die öffentliche Meinung so fassen, daß sie die bestehende Ordnung gut heißt und kräftigt, und anderseits werden sie der öffentlichen Meinung dort, wo ihr persönliches Interesse es fordert, die Richtung gegen die bestehende Ordnung geben. Solange der männliche Geist die gesellschaftlichen Ideen bildet, wird er dadurch die Herrschaft des Mannes verstärken, der Aufstieg der Frau läßt sich daran ermessen, in welchem Grade es ihr gelingt, die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, daß sie sich ihrem Denken und Fühlen anpasse.
Diejenige Partei, welche die öffentliche Meinung bildet, wird auf die gesellschaftliche Willens bestimmung einen Einfluß üben können, der weit über ihre sonstigen Machtmittel hinausgeht. Die französische Revolution hätte den Sieg nioht gewonnen, wenn sie nicht die öffentliche Meinung für sich gehabt hätte; Bauernaufstände und Pöbelunruhen hat es in Frankreich vorher oft genug gegeben, es war jedoch den Königen ein Leichtes, sie mit ihrer militärischen Macht niederzuwerfen, nun aber bot der König vergobens seine Soldaten auf, ihre Reihen lösten sich vor der höheren Macht der öffentlichen Meinung, die mit den Massen war. In der Periode des Liberalismus ist es der gebildeten Klasse zugute gekommen, daß sie damals die öffentliche Meinung diktierte, sie dachte die neuen Gedanken aus, sie hatte das Monopol der Literatur und der Presse, um sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten., allerdings war sie, während sie ihr eigenes Interesse vertrat, zugleich in weitem Sinne der Anwalt der ganzen übrigen Masse. Mit dem selbständigen Hervortreten des Proletariates ging ihr ein gutes Stück ihrer Vormacht [172] in der öffentlichen Meinung verloren. Es hat dies im Grunde nicht anders sein können, aber man muß sagen, daß das Bürgertum überdies durch die Art und Weise, wie es seine Vormacht verwaltete, dem Proletariat zu seinen geistigen Waffen mit verholfen hat. Die liberale. Doktrin ist im Eifer ihres Denkens :'.u weit gegangen, sie hat mehr bewiesen, als für das bürgerliche Intern^e notwendig und gut war. Aufmerksamen Blickes haben die proletarischen Denker dieses Mehr erkannt und für das Interesse ihrer Klasse genützt. Die Lehre der liberalen Ökonomen, daß der wirtschaftliche Wert auf der Arbeit beruhe, lieferte den proletarischen Ökonomen die Unterlage für ihre Lehre von der Ausbeutung der Arbeiter und vom Mehrwert; ebenso wurde der Gedanke der Volkssouveränität, den die bürgerlichen Aufklärer wider die Fürstengewalt aufriefen, von den proletarischen Denkern zugunsten der von ihnen vertretenen großen Massen gewendet. War es ihnen damit nicht in den Mund gelegt, zu sagen, daß diese Massen es sind, die das Volk ausmachen ? Der Liberale, der das Volk in den Vordergrund stellte, hatte kaum mehr ein Argument gegen das allgemeine Wahlrecht, das seine politische Macht bedrohte. Der liberale Gedanke war stärker geworden als das Uberale Interesse.
Damit hängt es zusammen, daß die gebildete Klasse heute die öffentliche Meinung nicht mehr so gelten lassen will, wie sie es früher getan hat. Der Intellektuelle mißtraut heute der öffentlichen Meinung und bekrittelt sie überall, wo er sie nicht mehr beherrscht, und darum vor allem im politischen Leben. Vor einem gebildeten Publikum darf man sich auf die öffentliche Meinung nicht mehr ohneweitere berufen, man muß den Lesern oder Hörern erat klargemacht haben, daß man es mit gutem Grund tun dürfe. Es genügt aber nicht, dies im einzelnen Falle zu tun. Wer es mit dem Denken über gesellschaftliche Dinge ehrlich nimmt, muß sich selber einmal grundsätzlich über die Bedeutung der öffentlichen Meinung klar werden, was gar keine einfache Sache ist. In der öffentlichen Meinung ist gesunder und verdorbener Sinn bunt gemischt, sie ist durch die Art ihrer Bildung der Gefahr arger Verfälschung ausgesetzt, und dies gilt ganz besonders für die politische öffentliche Meinung, wie sie sich in der Zeit der Massenbewegung bildet.
Gesunde öffentliche Meinung entsteht am frühesten dort, wo die nahen persönlichen Interessen der Individuen in Frage kommen, welche die Gesellschaft bilden. In den Angelegenheiten der Familie oder der [173] Wirtschaft wird eich kraft der Erfahrungen des Lebens stets diejenige Meinung zur Geltung bringen, die den gegebenen Anlagen und den gegebenen Umständen angemessen ist. Von der hohen Warte fortgeschrittener Entwicklung gesehen, mag diese Meinung von späteren Geschlechtern als roh und abträglich bezeichnet werden, bei einem gesunden Volke wird sie gleichwohl gesund sein, weil sie Leben und Entwicklung zuläßt. Die Tüchtigsten werden als anonyme Führer den übrigen das Beispiel geben, das diese nachahmen und das sich durch den allgemeinen Erfolg bewährt. So bewährt, erlangt die Meinung, in der man sich einigt, Macht über die Gemüter. Da das Familienleben wie das wirtschaftliche Leben alle ohne Ausnahme berührt, so ist die öffentliche Meinung, die als Unterlage des allgemeinen Handelns entsteht, die allgemeine Meinung. Nicht jeder kann sie aussprechen, vielleicht können dies nur ganz wenige, aber alle sind ihrem Sinne ergeben. So entstehen allgemeine Rechtsüberzeugungen von bindender Kraft, denen höchstens eine übelgesinnte Minderheit widerstrebt. In dem Maße, in welchem das gesellschaftliche Leben sich steigert, weiten sich die Lebensgebiete aus, in denen durchgreifende öffentliche Meinungen entstehen. Autoritäre Führer treten auf und erheben die Gemüter, indem sie einen gereinigten Glauben verkünden, eine höhere Sittlichkeit predigen oder als Forscher und Denker, als Dichter, als Künstler ins Große wirken. Neue und edlere Kräfte werden in der Gesellschaft geweckt, man schreitet in der Beherrschung der Wohlfahrtsmittel vor, aber vor allem in der Erhöhung der Lebensziele. Indem die Menge die Weisungen der Führer in ihren Handlungen erprobt, wachsen neben den Lebensmächten die Kulturmächte auf, die wie diese auf der gebietenden Kraft der öffentlichen Meinung beruhen. Hier wie dort ist die öffentliche Meinung die durch den Erfolg bewährte Meinung, durch die das gesellschaftliche Handeln geleitet wird. Sie ist die im gesellschaftlichen Handeln bestätigte und zur Überzeugung erhobene Meinung.
Jeder kluge Fürst rechnet mit der öffentlichen Meinung, die sich in Lebensraächten und Kulturmächten zu erkennen gibt, selbst der Despot weiß sich volksbekebt zu machen, indem er sie schonend gewähren läßt. Die kleine Zahl würde es nicht vermögen, einem kräftigen Volke das Gesetz zu geben, wenn ihr Machtwille nicht vor der Macht der verbreiteten Lebensund Kulturmeinungen haltmachen wollte. Machiavelli stellt in seinem „Principe“ die Kegel auf, daß der Fürst die Lebenssitte und die materiellen Interessen der Bürgerschaft respektieren müsse. Religiösen Bewegungen, die seine eigene Macht zu mindern drohten, hat sich der Staat in ihren Anfängen oft mit seinen strengsten Gewaltmitteln [174] entgegengestellt, aber sobald er erkannte, daß er die Herrschaft nicht zu brechen vermochte, die sie über die Gemüter ausübten, hat er seinen Frieden mit ihnen geschlossen und sich ihnen verbunden. Am Ende hat es jede Regierung, die auf der Höhe ihrer Aufgabe stand, für ihre Pflicht gehalten, die öffentliche Meinung, die in den Lebensmächten und Kulturmächten zum tätigen Ausdruck kam, als rechtsverbindend anzuerkennen und ihr durch gesetzgeberische Akte ihre klare Ordnung zu geben. Man hat bürgerliche Gesetzbücher und Strafgesetze geschaffen, der Staat hat der Kirche ihr Recht gegeben, und als die protestantischen Bekenntnisse sich von der katholischen Mutterkirche abtrennten, haben die katholischen Staaten endlich auch ihnen ihr Recht gegeben, nachdem sie sich in harten Kämpfen davon überzeugen mußten, daß sie gegen die Herrschaft ihrer Glaubensmeinungen nicht aufzukommen vermochten.
Zuletzt eroberte sich die öffentliche Meinung auch den Staat selbst. Es konnte nicht sein, daß die fortschreitende Aufklärung, die alles zu erforschen und zu bessern suchte, den Staat beiseite ließ, in dessen Hand die wichtigsten allgemeinen Interessen gegeben waren. Reichtum und Bildung des Bürgertums waren so gewachsen, daß es nicht länger die Vormundschaft der alten Mächte dulden wollte und zu dulden brauchte, die aus ihrem engen Gesichtekreise von früher urteilten und vor allem um die Aufrechterhaltung ihrer Macht besorgt waren. Die Not, in der «ich die bäuerlichen und sodann die proletarischen Schichten befanden, erregte auch diese zum Kampf gegen die alten Mächte. Die Losung „Brot und die Verfassung“, unter der in einer der Phasen der französischen Revolution sich die Pariser Vororte erhoben, ist für die ganze moderne Massenbewegung bezeichnend. Um ihrer dringenden Lebensinteressen willen verlangten die Massen die poli tische Neuordnung. So sehr der Druck der Massennot überall zur politischen Neuordnung beigetragen hat, so hat er aber doch nirgends für sich allein die Entscheidung gebracht. Die bürgerliche Revolution hat letzten Grundes deshalb gesiegt, weil sie die öffentliche Meinung für sich hatte, und die Fort schritte der proletarischen Bewegung entsprechen der steigenden Geltung, welche die demokratische Idee in der öffentlichen Meinung gewonnen hat.
Seither hat sich in den bürgerlichen Kreisen die öffentliche Meinung, wenn man so sagen darf, gegen die öffentliche Meinung gewendet. Während die Großväter und etwa noch die Väter in ihrer [175] Jugend sich an Schillers Marquis Posa begeisterten, dessen Worte an König Philipp: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ aus ihren Herzen gesprochen waren, lesen die Söhne die geißelnde Schrift Le Bons über die Psychologie der Massen und ergötzen sich an seiner Behauptung, daß auch die gescheiten Leute zu Toren werden, wenn sie in Masse beisammen sind. Die Entschlosseneren unter den jungen Leuten rufen nach der starken Hand, die wieder Ordnung schaffen soll, die weichmütigeren Schwärmer sehnen sich nach dem Ideal der Romantik zurück. Was kann es indca helfen, sich in Zustände zurückzuträumen, die ein für allemal vorüber sind! Hie Welt lebt heute im Zeichen der Masse. In der Postkutsche durchs Land zu fahren, mag idyllischer sein, in der Zeit des Massen Verkehres muß man sich der Eisenbahn bedienen. Die Masse hat ihren Anteil am politischen Leben und muß daher auch am politischen Denken ihren Anteil erhalten. Daß sie dabei schwerste Irrungen begeht, unter denen das ganze öffentliche Wesen leidet, sieht heute jeder Besonnene ein. Man ist über den politischen Kindcrglauben hinweggekommen, der da meint, der Sinn des Volkes treffe von selber das Rechte, sobald er nicht mehr durch Gewalt gehemmt werde. Ebensowenig geht es aber an, zu erklären, daß er immer ins Unrechte abirre. Man muß das Echte vom Unechten zu scheiden wissen. Dazu kann die Theorie das Ihrige beitragen, indem sie zunächst einmal zeigt, wo die Irrungen der politischen Maesenvorstellungen von heute ihren Ursprung haben.
Wenn wir aufmerksam zusehen, so finden wir bei der Bildung der politischen öffentlichen Meinung unserer Zeit ein Element der Verleitung wirksam, das auch sonst vorhanden ist, wo Massen ohne feste Führung sich selber überlassen sind, das aber nirgends sonst so nachhaltig wirksam wird. Dieses Element tritt uns besonders deutlich bei der Bildung der Gerüchte entgegen, die wir übrigens nicht als Äußerungen der öffentlichen Meinung anzusprechen haben. Man weiß seit je, daß die Masse bereit ist, den ungeheuerlichsten Gerüchten Glauben zu schenken. Um ihrer geradezu sinnlosen Wirkungen willen hat ein römischer Autor in einer vielberufenen Stelle die Fama als ein furchtbares Ungetüm geschildert, ungestalt, riesenhaft und des Augenlichtes beraubt. Innerhalb dessen, was überhaupt noch glaubhaft ist, ist nichts zu toll, als daß es sich nicht im Gerücht verbreiten könnte, wo der besonnene Mann fehlt, der die Autorität besitzt, um es in sein Nichts aufzulösen. Wo sind die Quellen, die dem Gerücht seine Nahrung geben ? Eine bekannte Erzählung berichtet, daß sich in einem Seebade, in dessen Nachbarschaft Haifische beobachtet worden waren, ein paar von den [176] Badebesuchern den Scherz erlaubten, die Nachricht auszusprengen, daß sich auch im Bade selbst Haifische gezeigt hatten; sie taten es, um sich vor „den andern“ hervorzutun, wenn diese nicht mehr baden kamen und sie die einzigen waren, die den Mut hatten, ins Meer hinaus zu schwimmen. Sie genossen indes ihren Triumph nur kurze Zeit, denn nach und nach waren im Munde der Leute die Nachrichten über die Haifischgefahr ho bestimmt und so drohend ausgeschmückt worden, daß die Urheber des Gerüchtes ihnen selber glaubten und auch auf dem sicheren Lande verblieben; ao und so viel andere hatten die schrecklichen Tiere gesehen oder sie wußten von noch andern zu erzählen, die sie gewiß gesehen hätten. Auf solche Weise entstehen und wachsen Gerüchte, sie werden durch das Bestreben erzeugt, sich vor „den andern“ wichtig zu machen, durch Nachrichten, die man dick auftragen muß, um mit ihnen Sensation zu erwecken, sie werden beim Weiterverbreiten immer noch gesteigert, und aller Unwahrscheinhchkeit zum Trotz erhalten sie Gewißheit durch die Autorität, die man der Rede „der andern“ beimißt, wenn sie einmal im Mund einer größeren Anzahl von Leuten laut geworden ist.
Ähnlich verhält es sich mit den Urteilen, die durch die Menge gehen. Das stärkste Argument für die Richtigkeit einer Ansicht ist in der Öffentlichkeit stets die Berufung auf die vielen „andern“, die sie bereits ausgesprochen haben. Die Öffentlichkeit läßt nur solche Ansichten gelten, die von „den andern“ leicht aufgenommen werden können. Wahrheiten, die einer genaueren Prüfung bedürfen und besondere Kenntnisse voraussetzen, sind nicht recht umlaufsfähig. Darum werden von der Menge die verbreiteten Wahrheiten von gestern weiter geglaubt, auch wenn sich die Umstände wesentlich geändert haben, während die jungen Wahrheiten von heute das Geheimnis der wenigen selbständigen Köpfe sind. Ebenso läßt die Öffentlichkeit mit Vorliebe gelten, was den allgemainen Wünschen oder Bedürfnissen entgegenkommt oder den verbreiteten Sentimentalitäten oder sonst den Regungen auf der Oberfläche des Gefühles. An den strengen Ernst der Wirklichkeit glaubt man nicht gerne, falls nicht gerade eine Katastrophe die Gemüter in Furcht versetzt, in welchem Falle man es liebt, sich den ärgsten Übertreibungen hinzugeben. Es gehört zum Wesen dieser im Umlaufen gebildeten Meinung, daß sie sich dem besseren Wissen verschließt, welches der einzelne in seinem besonderen Falle durch Überlegung und Erfahrung gewinnt und worauf er sein Handeln einrichtet. Dieses stille bessere Wissen, wie es Goethe nennt, muß jeder für sich behalten, es findet in den Geistern der Menge keinen Eingang. Die [177] Meinung der Menge verbindet sich lieber dem bloßen Worte, das ohneweiters kursieren kann, als dem Sinne, der die genaue Unterlage der Tatsachen braucht, um verstanden zu werden. So erklärt sich die Herrschaft der Phrase in der Öffentlichkeit, des leeren, aber klingenden Wortes, des Wortes, an das sich kein überlegtes Tun schließen kann, das jedoch ausschweifende Bilder und Erwartungen weckt. Der Redner in der Öffentlichkeit, der sein Publikum kennt, weiß sehr gut, daß es sich an der Phrase nicht ersättigt und daß er ihm nicht oft genug die Schlagworte des Tages vorsetzen kann, die ihm bedeutend scheinen und die in ihrer Bedeutung einzuschätzen es mit Stolz erfüllt, wobei der allgemeine Beifall, den sie herausfordern, die Äußerungen derjenigen, die es bei sich besser wissen, zurückhält, weil sie den Eindruck empfangen, daß sie gegen das Zusammengehen der andern doch nicht aufkommen können, so daß sie schließlich vielleicht an sich selber irre werden. Auf allen Gebieten gesellschaftlichen Lebens trifft man konventionelle Meinungen, welche die große Menge nachspricht, während sie kein Verständiger glaubt, und trifft man selbst konventionelle Lügen, zu denen sich jeder bekennen muß, der in der Gesellschaft Zulaß haben will. In allen solchen Fällen ist die öffentliche Meinung als diejenige Meinung zu definieren, die man in der Öffentlichkeit äußert, sie ist die Meinung, mit der man in der öffentlichen Rede Erfolg hat, während sie zum Erfolg des gesellschaftlichen Handelns nichts beiträgt oder ihn sogar gefährdet. Vielleicht nimmt man sie beim Handeln nicht ernst — dies ist noch der beste Fall — oft jedoch ist ihre Macht so groß, daß sidas Handeln hemmt oder mißleitet, so daß der Tüchtige sich erst durch den Erfolg durchsetzen muß, den er im Kampfe gegen sie gewinnt.
Mehr als auf allen übrigen Gebieten gesellschaftlichen Lebens hat sich diese Abart der öffentlichen Meinung im politischen Leben breit gemacht, seit die demokratische Bewegung die Massen hereingeführt hat. Nicht, als ob die politische Meinung der demokratischen Massen deren eigenes haltloses Erzeugnis wäre! Zur Bildung der öffentlichen Meinung brauchen und finden die Massen immer ihre Führer und nicht anders hat es sich auch bei der demokratischen Bewegung verhalten. Die politische Meinung der demokratischen Massen ist das Ergebnis fortgesetzter eindringender Bemühungen großer Führer. Man würde die Geister, welche die modernen Ideen über Staat und Gesellschaft erdacht haben, auf las ungerechteste beurteilen, wenn man sie beschuldigen [178] wollte, sie hätten ihre Ideen einfach daraufhin gestaltet, ihnen die größte Umlaufefähigkeit zu geben. Sie waren von innerster Überzeugung geleitet, sie glaubten, daß es in Staat und Gesellschaft nicht weiter so bleiben dürfe, wie es geschichtlich geworden war, sondern daß die Dinge vom Grund aus neu eingerichtet werden müßten. Ihr Werk war ein echtes, ein großes Führerwerk. Welcher Mut und welche Weite des Geistes hat nicht dazu gehört, um sich von den festüberlieferten Anschauungen freizumachen, um sie der allmächtigen Regierung zum Trotz zu bekämpfen und unerhört Neues an ihre Stelle zu setzen ! Was diese Männer in Staat und Gesellschaft als Kritiker und Erwecker geleistet haben, wird seine unvergängliche Nachwirkung üben. In ihren gestaltenden Ideen allerdings haben sie vielfach geirrt und zum Teil sohwer geirrt. Sie haben es unternommen, Staat und Gesellschaft aus der Idee heraus neu aufzubauen, und das mußte über ihre Kraft gehen. Jede Idee über die öffentlichen Dinge bedarf immer der Erprobung am Erfolg, die Neuerer waren aber nicht in der Stellung, um ihre Ideen fortlaufend im einzelnen nachzuprüfen, und an ihnen hat sich denn auch das alte Wort erwiesen, daß Probieren über Studieren geht. Sie mußten ihre Systeme im Kopfe fertig machen und mußten es der Zukunft überlassen, sich an ihnen zu versuchen. Damm teilten sie das Schicksal aller Ideologen, daß sie ihre Ideen bis zu den äußersten denkbaren Folgerungen ausdachten, ohne die Widerstände zu würdigen, die von den widerstrebenden Tatsachen der Wirklichkeit bereitet werden. Nach ihrer Meinung sollten alle Übel, unter denen die Masse leidet, damit zu Ende sein, daß die geschichtlichen Mächte abgeräumt wurden, denen die Masse unterworfen war. Sie erkannten nicht, daß diese Mächte auch ihre gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen hatten und daß die Masse dadurch allein, daß sie sich von den übergeordneten Mächten befreite, noch nicht dazu befähigt war, diese Aufgaben besser oder überhaupt zu erfüllen. Dabei wollten die ersten großen Führer den Massen keineswegs schmeioheln, wie es demagogische Führer tun, nichts lag ihnen ferner, sie stellten vielmehr die stärksten Anforderungen an die Massen, deren Kraft sie eben weit überschätzten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, sich der kümmerlichen Aufnahnisfähigkeit des Spießbürgers oder des niedern Volkes anzupassen. Wenn man Rousseaus „Contrat social“ oder Marxens „Kapital“ liest, so wundert man sich, daß diese Bücher, die an den Leser die höchsten Anforderungen stellen, überhaupt in die Masse haben eindringen können. Die ersten hundert Seiten des Kapitals von Marx sind so ziemlich das schwierigste, was in der ökonomischen Literatur geschrieben wurde, man muß sich vom [179] Anfang an auf die Seite des Proletariates gestellt haben, um den kühnen Sprüngen folgen zu können, mit denen hier die Unterlagen für die Theorie des Mehrwertes entwickelt werden; ein Leser, der nicht voreingenommen ist, wird immer wieder haltmachen müssen, um sich nicht in dem Knäuel von Irrtümern hoffnungslos zu verstricken, in denen Marx befangen war und die er mit allen Künsten des Vortrages vor sich selber verhüllte. Der eifrige bürgerliche Leser hat Rousseau, der eifrige proletarische Leser hat Marx so gelesen, wie der Gläubige die Bibel liest. Man hat sich an den hohen Worten erhoben, gerade weil man sie nicht ganz zu fassen vermochte, wobei freilich der Unterschied bestehen bleibt, daß die Bibel in eine mystische Sphäre hinüberweiBt, die der strengen Beweisbarkeit entrückt ist, während Ausführungen über Gesellschaft und Volkswirtschaft sich selber verurteilen, wenn sie nicht mehr klar verstanden werden können. Trotzdem hat die demokratische Bewegung ihnen Heere von Anhängern zugeführt, weil sie im Interesse der Masse geschrieben waren. Sie gewannen die schwärmenden Geister für sich, die unter ihrer Leitung in das Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge einzudringen hofften, und sie gewannen auch die große übrige Menge für sich, die schon durch ihre Absicht befriedigt, war, wenn sie sie auch nicht verstehen konnte. Ohne nach ihrer Anlage umlaufsfähig zu sein, sind sie durch die Macht der Umstände doch in Umlauf gekommen und haben jene unverstandene öffentliche Meinung erzeugt, die sich ans Wort hält. Die großen Worte der Freiheit, der Volkssouveränität, des vollen Arbeitsertrages, der Ausbeutung, des Mehrwertes, so ernst sie von ihren Urhebern gemeint waren, sind in der öffentlichen Meinung alle zu Schlagworten herabgewürdigt worden, die der demagogische Redner gebraucht, weil er ihres Erfolges sicher ist. Wieviel Streikbeschlüsse mögen nicht dadurch, zustande gekommen sein, daß diese Schlagwort« in die Versammlung geworfen wurden, worauf der einmütige Beifall, den sie entfesselten, jede weitere Überlegung abschnitt und das stille bessere Wissen der einzelnen zum Schweigen brachte! Wenn sich die Arbeiter, die den Beifall geteilt hatten, auf dem Heimweg fragten, warum sie es getan, so werden sie gar oft die Antwort nicht haben finden können. Sie sind eben an der Klippe „der andern“ gescheitert, die bloßzulegen auch der ernste theoretische Denker die größte Schwierigkeit hat. Wie die gesellschaftliche Willensbestimmung, ist auch die öffentliche Meinung für die Masse nicht die Frucht klarer Überlegung, sie wird zusammengefühlt. Die persönliche Meinung ordnet sich, wenn vielleicht auch nur widerstrebend, dem Gefühle unter, das man von der Meinung der andern hat. Um Irrtümer der öffentlichen [180] Meinung auszutilgen, bedarf es des Argumentes des Mißerfolges, welches das einzige ist, dem die irregeleiteten Massen sich beugen.
Die politische öffentliche Meinung der Gegenwart enthält eine ganze Reihe von Sätzen, die von Führern besten Willens im Interesse der Masse gelehrt und von der Masse begierig aufgenommen wurden, bevor sie noch die Probe des Erfolges bestanden hatten und die durch den Mißerfolg noch nicht endgültig widerlegt sind. Soweit dies der Fall ist, gehört sie zu jener verwirrenden Art der öffentlichen Meinung, zu der man sich in der Öffentlichkeit mit Worten bekennt, ohne daß sie die Unterlage erfolgreichen gesellschaftlichen Handelns werden könnte. Die Verworrenheit der öffentlichen Zustände, die heute in so vielen Ländern besteht, hat zum guten Teil darin ihren Grund, daß man bei der Einrichtung des Staates sich von dieser öffentlichen Meinung leiten ließ, die sich aus Wort hielt, ohne den Sinn zu treffen.
Man sagt, daß in der öffentlichen Meinung die ausschweifendsten Ideen immer den Sieg gewinnen. Der Satz kann für die gesunde öffentliche Meinung nicht gelten, denn in ihr gewinnen diejenigen Ideen den Sieg, denen der stärkste Erfolg beschieden ist, und das werden kaum die ausschweifendsten, sondern es werden die besonnenen, ins Mittel treffenden Ideen sein. Der Satz gilt für jene öffentliche Meinung, die vom Worte kommt. Das überlaute Wort wird das minder laute übertönen. Daß der Satz ausgesprochen werden konnte und Beifall gefunden hat, ist ein Beweis dafür, wie stark heute jene öffentliche Meinung gilt, die vom Worte kommt. In diesem Satz ist eine Erfahrung ausgesprochen, die der Zeit der sich überstürzenden Massenbewegung eigentümlich ist und im Sturm der Revolutionen insbesondere hervortreten mußte. Sobald die Ideologien unserer Zeit an den Tatsachen der Erfahrung durchgeprüft sein werden, werden die radikalen Ausschwingungen zur Ruhe kommen.
Die Gesundung unserer politischen öffentlichen Meinung muß von den Führern ausgehen. Mehr als jeder andere Abschnitt der gesellschaftlichen Willensbestimmung ist die Überlegung Sache des Führers. Die Bedürfnisse melden sich von selbst in den Gemütern, zum Vorstoß der Tat finden sich unter dem Druck von Not und Leidenschaft die Arme der vielen leicht zusammen, das Geschäft der Überlegung jedoch braucht eine ruhige Sammlung, deren eine Vielheit von [181] Köpfen niemals fähig ist. Gewiß wird auch der Führer oft genug in seinen Überlegungen irren und seine Torheiten werden für die Gesellschaft verhängnisvoll sein, aber endlich wird der rechte Führer doch zum richtigen Schluß kommen, was die Masse als solche niemals kann. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Masse an der gesellschaftlichen Überlegung überhaupt keinen Anteil haben solle, auch sie hat auf ihre Weise zur richtigen Erkenntnis beizutragen. Ihr fällt es zu, den Gedanken durch den Druck, den ihre Bedürfnisse ausüben, die Richtung auf das allgemeine Wohl zu geben, und ihr fällt es zu, die Erkenntnis des Führers durch ihr prüfendes Handeln zu bestätigen. Das Gewicht der Masse muß stark genug sein, um den Schwerpunkt zu weisen, um welchen die zu treffenden Entscheidungen oszillieren, der Führer muß den klaren Blick haben, den Schwerpunkt zu erkennen, und den unbeugsamen Willen, sich von der Richtung auf ihn nicht ablenken zu lassen. Die Läuterung der öffentlichen Meinung wird das Werk einer realpolitischen Führung sein, welche die Kraft der Masse richtig einschätzt und die Führerbefugnisse entschlossen wahrt. Der lebenserfahrene Führer sucht es so zu wenden, daß die entscheidenden Beratungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgehalten und daß die Entscheidungen im engen Kreise so vorbereitet werden, daß der Masse kaum etwas übrig bleibt, als ihnen beizutreten. Auch der tüchtige demokratische Führer pflegt die Wahl der Taktik für sich in Anspruch zu nehmen, er fordert, daß die Masse ihm vertraue, daß er die richtigen Mittel zur Erreichung der angestrebten Ziele auswählen werde. Der demagogische Führer findet sich in der Weise ab, daß er vor der Menge die üblichen Schlagworte gebraucht, über die er sich, wenn er mit seinesgleichen beisammen ist, so wie die Auguren aller Zeiten lächelnd hinwegsetzt, wo man den Notwendigkeiten des Handelns Rechnung tragen muß. Der echte Führer wird es anders halten. Er wird sich nicht scheuen, der öffentlichen Meinung entschlossen entgegenzutreten, wenn er sie dem Gemeinwohl für abträglich hält. Dabei wird er jedoch die gesunde öffentliche Meinung als festeste Stütze seines Handelns erkennen und gebrauchen. So hat Bismarck mit dem preußischen Abgeordnetenhause den Militärkonflikt durchgekämpft, weil er eine Politik von Blut und Eisen notwendig fand, um das große nationale Ziel des Deutschen Reiches zu gewinnen, zugleich hat er, so feindlich ihm die öffentliche Meinung gegen übertrat, mit vollem Vertrauen darauf gerechnet, daß der preußische Landwehrmann dem Rufe des Königs zu den Fahnen folgen werde.
Das Zaubermittel, das der starke Führer zur Verfügung hat, um sich gegen die öffentliche Meinung durchzukämpfen, ist der Erfolg. Indem [182] er Erfolg an Erfolg reiht, wird ihm endlich die politische Erziehung seines Volkes gelingen. Wenn er dabei die Befugnisse der Masse einschränkt, dort, wo sie über ihre Kraft gingen, so wird er sie dadurch versöhnen, daß er mit sicherem Griff in die Tiefe ihrer wahren Bedürfnisse trifft, die unbefriedigt bleiben mußten und vielleicht nicht einmal erkannt waren, solange man auf die falschen Führer und ihre betörenden Meinungen horchte. Die Masse wiederum von der politischen Bühne zu verdrängen, auf der sie heute überall Fuß gefaßt hat, wird der große Führer nicht versuchen. Er wird vielmehr unausgesetzt daran arbeiten, sie für die Rolle zu erziehen, die ihr im eigenen und allgemeinen Interesse zufällt.
Der öffentÜchen Meinung der jungen Demokratien gilt es als ausgemacht, daß alle heutigen europäischen Völker und vielleicht auch alle übrigen, die sich Kultur oder auch nur Halbkultur erworben haben, der Selbstbestimmung fähig seien und also die Eignung besitzen, ihr Geschick ohne übergeordnete Gewalt aus eigenem Willen zutreffend zu leiten. In der Idee der Selbstbestimmung liegt es, daß ihr keine andern Schranken gesetzt sein dürfen, als diejenigen, die aus den Notwendigkeiten der Massentechnik folgen. Es geht selbstverständlich nicht an, daß ein Volk seine Beschlüsse in Urversammlungen fasse, in denen seine ganze unabsehbare Zahl zusammenzutreten hätte — über diesen Irrtum der unmittelbaren Demokratie ist man jetzt hinweggekommen — nur in ganz besondern Fällen mag der Volksentscheid zugelassen sein, für die Regel muß man sich zur Beschlußfassung des Organes der Volksvertreter und Volksbeauftragten bedienen. Zwar können diese nicht durch imperative Mandate gebunden werden, die zu erteilen ein Akt der unmittelbaren Demokratie wäre, der ausgeschlossen bleiben muß, aber man meint, daß durch das Mittel der Wahl die Vertreter und die Beauftragten doch dem Willen des Volkes unterworfen seien, das sie kontrolliere und je nach ihrer Leistung zu ihren Stellungen berufe oder fallen lasse. Man meint ferner, daß, da das Volk aus seinen Bürgern bestehe, alle Bürger zur Wahl zugelassen werden müßten, um den Volkswillen zutreffend zum Ausdruck zu bringen. Damit daß alle großjährigen und handlungsfähigen Volksgenossen beiderlei Geschlechtes, die ihr Bürgerrecht nicht verwirkt haben, in gleichem Sinne wahlberechtigt [183] erklärt werden, sei der untrügliche Weg der Selbstbestimmung des Volkes gefunden.
Dem überzeugten Demokraten ist die Selbstbestimmung der natürliche Zustand des Volkes. In den Zeitaltern der Unfreiheit, die der Demokratisierung vorausgegangen sind, war seiner Meinung nach der Natur des Volkes Gewalt angetan, die Verkündung der Selbstbestimmung ist ihm wie die Verkündung der Menschenrechte Rückkehr zur Natur. Indem der idealisierende Demokrat den Begriff des Staates von den ungehörigen Beimischungen der Gewalt reinigt, erscheint ihm der Staat als ein Verein aufrechter Menschen zur Erfüllung der besonderen Staatszwecke. Könnte dem Staatsverein, so folgert er nun weiter, eine andere Form der Organisation angemessen sein, ab dem Vereine sonst ? Man habe nur dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Zahl der Staatsgenossen ungleich größer ist, als die der Genossen im gewöhnlichen Verein und daß die Urversammlungen der Bürger zu ausgedehnt sind, als daß sie noch dazu geeignet wären, so wie die Generalversammlungen Beratungen zu pflegen und Beschlüsse zu fassen. Während den Vereinsgenossen in der Generalversammlung gewisse Befugnisse der unmittelbaren Demokratie zugestanden werden können, müßten daher die Staatsbürger im wesentlichen auf das Wahlrecht beschränkt bleiben. Durch diese Einschränkung, die aus den Notwendigkeiten der Massentechnik folgt, sei jedoch das Wesen des Staatsvereines nicht berührt.
So die idealisierende demokratische Auffassung vom Staate. Sie hat mit dem Staate der Wirklichkeit nichts zu tun. Der Staat der Wirklichkeit ist nicht eine Schöpfung des freien Vertrags willens wie der Verein, sondern er ist eine geschichtliche Schöpfung des Machtwillens. Die Aufgaben des Vereines sind so enge abgegrenzt, daß sie der Überlegung und dem Entschluß zugänglich sind : es ist ein Einzelzweck, zu dem man sich vereinigt, oder im äußersten Falle eine Reihe nahe zusammenhängender Einzelzwecke; auch die Mittel, die aufgebracht werden müssen, hegen im Gesichtskreis der Mitglieder, und die Mitglieder fühlen sich, weil durch ihre gemeinsamen Aufgaben verbunden, in der Tat als Genossen, nichts ist zwischen ihnen auf Kampf gestellt; dem Vorstand sind keine weitreichenden Befugnisse einzuräumen, der Machtbegierde ist keine Gelegenheit gegeben, kaum dem Ehrgeiz, höchstens einer harmlosen Eitelkeit. Der Staat dagegen ist geschichtlich entstanden, man weiß gar nicht woher, und wenn er sich ausdehnt, geschieht es in aller Regel durch [184] Gewalt. Staatsbürger wird man in den seltensten FäUen aus freiem Willen, man wird dazu geboren oder man wird dem Staate gewaltsam einverleibt. Wenn der Arbeiter den Namen des Genossen aus seiner Gewerkschaft auf den Staat überträgt, den er erobern will, so fälscht er den Namen. Bis auf die jüngste Zeit haben sich Staaten erhalten, denen Massen von widerstrebenden Bürgern angehörten; vor gar nicht langer Zeit erst haben sich Schweden und Norwegen getrennt, jüngst erat ist die österreichisch-ungarische Monarchie auseinandergefallen, selbst vom freien England trachten sich die Iren abzusondern. Die Staatszwecke lassen sich etwa wissenschaftlich definieren, praktisch müssen immer weite Möglichkeiten offen gehalten sein, die Führer müssen weiteVollmachten haben. Immer ist die Macht aufgerufen, die bloße Zweckbestimmung reicht nicht aus, die Machtbestimmung muß durchgreifen. Sie muß es schon im Innern des Staates, selbst wenn die Bürger durch Gemeinsinn geeinigt sind, und sie muß es im vollsten Maße nach außen, wo der gesellschaftliche Gedanke des Miteinandergehens noch nicht Boden gefaßt hat, sondern die Bestrebungen schroff gegeneinander gehen. Welche Versuchungen sind nicht dem Ehrgeiz und der Machtbegierde gestellt und nicht nur für die Führer, sondern für das Volk selber gestellt!
Nur ein ganz starkes Volk kann sicher sein, den Weg der Selbstbestimmung aufrecht zu gehen. Die Masse der Menschen weiß ihn nicht einmal in den einfacheren Verhältnissen des gesellschaftlichen Zusammengehens zu finden, wie sie im Vereinswesen gegeben sind. Es sind immer nur recht wenig Mitglieder, welche die Statuten kennen oder sie auch nur gelesen haben, bei den Wahlen entscheidet zumeist der Einfluß einer kleinen Clique, oft genug muß der Vorstand dafür sorgen, daß die Wahlen überhaupt Zustandekommen, wie er auch oft genug dafür zu sorgen hat, daß zu den Versammlungen die beschlußfähige Zahl von Mitgliedern zusammengebracht werde. Darf man annehmen, daß die Menschen, die für den Verein nicht recht reif sind, es für den Staat sein werden ? Auf keinen Fall kann die lockere Vereinsform für den Staat genügen. Die Natur baut den Löwen mächtiger als die Stubenfliege, und so müssen auch die Organe des Staates, wenn sie für ihren Machtdienst leistungsfähig sein sollen, mit stärkerem Knochengerüste, mit reicherer Blutzufuhr, mit mehr Nerv ausgestattet sein als die des Vereines. Die alten Demokratien, die ihre Verfassung nicht nach einem ideologischen Rezept konstruiert, sondern durch die Vorschreibung der Geschichte empfangen haben, begnügen sich denn auch nicht mit der reinen demokratischen Form. England hat noch immer seinen König [185] und sein Oberhaus und hat vor allem Beine geschichtliche Parteiverfassung mit den festen Stützpunkten ihrer kraftvollen Führungen.
Die Aktiengesellschaft ist ein Erwerbsverein, und doch hat sich nicht einmal für sie die einfache Vereinsverfassung in Geltung erhalten können, weil in ihr der Machttrieb schon zu stark aufgeregt wird und ihr Gehäuse darum fester gefügt sein muß. Um die großen Kapitalien aufzubringen, wie sie die Aktienunternehmung fordert, müssen zahlreiche Teilnehmer angeworben werden, die bloß ihr Kapital einlegen, ohne im Betrieb Arbeit leisten zu können oder überhaupt geschäftskundig zu sein. Diesen Mitgliedern gegenüber, zu denen nicht nur die Masse der kleinen Aktionäre gehört, erhalten Gründer und Vorstand eine überragende Führerstellung mit Macht und Übermacht, die der Ausbeutung reiche Gelegenheit gibt. Der verwegene Gründer fürchtet die Kontrolle der Aktionäre nicht und braucht sie nicht zu fürchten, wenn er sich an die unerfahrenen Kreise des Publikums wendet und die Gewinnsucht zu ködern versteht. Man folgt seiner Führung vertrauensvoll, solange man bemerkt, daß ihr auch .,die andern“ folgen, und diese folgen, solange die Kurse steigen. Der Kurs ist das einzige Argument, auf das man achtet. Auch wenn man sich sagen muß, daß er unvernünftig hoch und daß das Unternehmen überhaupt ungesund sei, so kauft man immer noch, solange die Tendenz der Kurssteigerung erwarten läßt, daß man wiederum Käufer finden werde, an die man mit Gewinn weiterverkaufen kann; bis eines Tages die Hausse zusammenbricht und die Zweifler Eecht behalten, nachdem es zu spät geworden ist. Den Aktionären, die sich nicht selber schützen können, muß der Staat zu Hilfe kommen, indem er die Macht von Gründer und Vorstand in irgend welchen Formen durch seine Macht beschränkt. Erst bis das Publikum für die Aktiengesellschaft reif geworden ist, wird es ohne Schaden seiner vollen Selbstbestimmung in der freien Vereinsform überlassen werden können.
Bei den Völkern sind die Abstände der persönlichen Kräfte unvergleichlich größer, als zwischen Gründer und Publikum, und wo man . noch nicht zur Selbstbestimmung gereift ist, sind die Gelegenheiten zur Übermacht, die Versuchungen, sie zu mißbrauchen, ungleich ausgedehnter, als im Aktienwesen. Vielleicht war es bei den ersten Völkerschaften, die in die Geschichte eintraten, anders, vielleicht waren damals die Menschen gegeneinander ausgeglichener und dadurch vor Übermacht gesichert. Wenn es wirklich so gewesen sein sollte, so ist dieser Anfangszustand [186] geschichtlich längst verschüttet. In den Kämpfen, welche die Völkerschaften zu Völkern einigten, ist Gleichheit und Freiheit verlorengegangen. Die eigentliche Völkergeschichte beginnt mit Zwang und Zwangsführung, mit Überschichtung und Unterwerfung. Der Aufstieg zur Freiheit, der den gereiften Völkern endlich auf ihrer Höhe gelingt, ist nicht Rückkehr zur Natur, die Selbstbestimmung des ge reiften Volkes ist ein spät und in harter Mühe erworbener Entwicklungszustand. Man darf sich die Gewalt, unter deren Joch die Völker so lange standen, nicht bloß von außen gekommen denken, das Wesen der Völker selber hat mit dazu Veranlassung gegeben, daß sie sich ausbreiten konnte. Selbst von Völkern, die einem fremden Eroberer unterlegen sind, könnte man vielleicht sagen, daß sie zur Selbständigkeit zu schwach waren, gewiß aber trifft dieses Wort dort zu, wo die Übermächte im Staate selber aufwuchsen. Wenn die Römer den Patriziern und wenn die Germanen dem Fürsten und Adel untergeordnet waren, so waren diese Völker bei all ihrer rauhen Kraft eben doch nicht imstande, den Aufgaben, welche die Zeit stellte, in freier Selbstbestimmung zu entsprechen. Die Zeit forderte den Krieg, und der Krieg erhob die Herren. In der Induktionsreihe der Geschichte zeugen die Jahrtausende für die Zwangsbestimmung, und nur Jahrzehnte, die sich auch bei den stärksten Völkern kaum zu Jahrhunderten summieren, zeugen für die Selbstbestimmung. Man kann die Volksgeschichte nicht erst von 1789 oder von 1848 oder gar von 1917 und 1918 datieren. Alles was sich innerhalb eines Volkes vor den Jahren zugetragen hat, in denen es sich schheßlich zur Freiheit wendete, ist aus seinem Wesen herausgewachsen oder mindestens durch sein . Wesen mitbestimmt. Die Gcwaltzeit gehört zu seiner Entwicklungsgeschichte, aus der man sie so wenig streichen kann, wie die Eiszeit aus der Entwicklungsgeschichte der Erde. Nicht nur, daß von den Phasen der Entwicklung wie in den Erdschichtungen so auch in den Volksschichtungen untilgbare Spuren zurückgeblieben sind, so kann uns einzig die Entwicklung Einblick in das Wesen geben, das sich in ihr entfaltct. Welcher Geologe wollte hoffen, den Bau der Erde zu verstehen, ohne sein Werden zu verfolgen ? So kann auch kein Staatsmann sein Volk verstehen, der nicht seine Geschichte versteht, welche ihm die Volkskräfte und Volksschwächen enthüllt.
Die bloße Tatsache, daß ein Volk das Joch der alten Gewalten abgeschüttelt hat, darf noch nicht als vollgültiger Beweis dafür genommen werden, daß es zu den vollen Jahren seiner Mannheit gekommen ist. Nachdem die Spanier die maurischen Eroberer aus dem Lande vertrieben [187] hatten, sind sie dem kaum milderen Joche ihrer Könige untertänig geworden; nachdem die Russen vom zaristischen Regiment frei geworden waren, sind sie dem weit härteren Bolschewismus verfallen. Auch die Tatsache, daß ein Volk durch seine Vertretungen sich zur demokratischen Rechtsform bekannt hat, sichert ihm noch nicht wirkliche Selbstbestimmung. Die wirtschaftliche Freiheit, die der Liberalismus verkündete, ist dem räuberischen Gründer wider das unerfahrene Publikum, ist dem wuchernden Gläubiger wider den hilflosen Schuldner, ist dem ausbeutenden Unternehmer wider den ohnmächtigen Arbeiter zugute gekommen, und die Staatsgewalt mußte erst einschreiten, um die wirtschaftlich Schwachen vor den wirtschaftlich Starken zu schützen. Nicht andere muß die politische Freiheit, wo sie die Demokratie vorzeitig verkündet, den Starken im Volke wider die Schwachen zugute kommen, wo noch dazu die übergeordnete ausgleichende Instanz fehlt, welche die Schwachen schützen könnte. Im Volke, das noch nicht zur Selbstbestimmung reif geworden ist und das doch die Form der Selbstbestimmung angenommen hat, werden die Übermächte, die im Volksboden ihre Keime haben, unbehindert in die Höhe schießen und unbekümmert darum, daß ihnen der Buchstabe des Gesetzes im Wege steht, sich als wildwachsende Mächte ausbreiten, bis endlich die zur Vollkraft gediehene Gewalt sich auch noch mit der Krone des Rechtes schmückt. Vielleicht werden sich die Übermächte wechselseitig bekämpfen und bis zur Ohnmacht schwächen. Zwischen der Szylla der Gewalt und der Charybdis der Ohnmacht wird ein Volk, das auf dem Wege zur Reife ist, seinen Kurs am besten finden, wenn es sich dem tüchtigsten Steuermann anvertraut, den der Erfolg krönt. So haben es in den schweren Zeitaltern der Geschichte die Vorfahren derjenigen Völker getan, die heute bis zur Selbstbestimmung gereift sind, und sie haben damit ihren Nachfahren wirksamer zur Mündigkeit verholfen, als wenn sie sich selbst vorzeitig mündig erklärt hätten.
Daraus, daß die geschichtliche Induktionsreihe bisher ganz überwiegend gegen die Selbstbestimmung zeugt, zieht der konservative Sinn den Schluß, daß die Selbstbestimmung dem Wesen des Volkes widerspreche. Er begeht bei dieser Deutung einen ebenso schlimmen Irrtum, wie der demokratische Sinn, der die geschichtliche Erfahrung mißachtet. Die geschichtliche Induktionsreihe ist eine Entwicklungsreihe, und durch die Tatsache, daß die Entwicklung trotz ihrer überaus langen Dauer bisher nur wenige wahre Reifezustände gezeitigt hat, ist nichts weiter bewiesen, als daß das Werk der geschichtlichen Entwicklung bis zur Vollendung der Völkerreife nur sehr langsam [188] vorwärtsgeht. Gut Ding braucht Weile. Die Entwicklung der Millionen kann keine einfache Sache sein, wenn der erste Akt darin besteht, daß eine herrschende Minderzahl die Masse herabdrückt, welche erst wieder zu Kraft und menschlicher Würde emporgehoben werden soll.
Wann ist jener Grad der politischen Reife erreicht, der zur Selbstbestimmung des Volkes erforderlich ist ? Es wäre um die Aussichten der Selbstbestimmung schlecht bestellt, wenn es dazu notwendig wäre, die Furchungen der Geschichte völlig auszugleichen, und wenn das Volk wirklich zu einem Verein aufrechter und engverbundener Genossen aufgewachsen sein müßte, wie ihn die idealisierende demokratische Auffassung denkt. Auch das englische Volk, das seine Selbstbestimmung hat und mit Kraft übt, ist so weit nicht gekommen. Niemals können die Unebenheiten ganz ausgeglichen werden, welche die gesellschaftliche Willensbestimmung von der persönlichen unterscheiden, wohl aber müssen sie und können sie so weit überwunden sein, daß das Volk sich als Einheit fühlt. Selbstbestimmung des Volkes setzt als erstes ein Volk voraus, das sich selber als solches fühlt und durch wechselseitige Anziehung zu einem festen Ganzen zusammengehalten ist, ohne daß eine übergeordnete Macht es um ihrer selbst willen zusammenzupressen hätte. Parteiungen des Nebeneinander und selbst Schichtungen des Übereinander an Bildung, Besitz und Einfluß werden immer da sein, aber sie dürfen den Zusammenhang nicht sprengen, sondern müssen so weit ins Gleichgewicht gebracht sein, daß keine Kraft die andere hemmt, vielmehr eine die andere fördert. Von der Selbstbestimmung des Volkes kann nicht die Rede sein, solange die Parteien rücksichtslos auf ihrer Selbstbestimmung beharren, was auf die Selbstverleugnung des Volkes hinausläuft. Das Volk muß bezüglich aller seiner Kräfte so weit durchorganisiert sein, daß nirgends das Übergewicht organisierter Gruppen die andern zurückdränge, die staatliche Organisation muß der Abschluß einer durchgehenden gesellschaftlichen Organisation sein.
Anhangsweise wollen wir noch in gedrängtester Kürze die Frage der gesellschaftlichen Schuld erörtern.
Kann der gesellschaftliche Wille schuldig werden ? Im Sinne des [189] geltenden Sprachgebrauches muß man die Frage unbedenklich bejahen. Man spricht von der Schuld der Parteien, der Völker, der Staaten, der Regierungen, der Massen und klagt sie alle wegen ihres bösen Willens oder ihrer Fahrlässigkeit nicht anders an, als den einzelnen Übeltäter. So weit darf man indessen mit der Personifikation des gesellschaftlichen Willens gewiß nicht gehen. Nach der Art, wie er gebildet wird, ist für ihn der Begriff der Schuld aufgehoben.
Der einzelne wird schuldig, wenn er und weil er seinen persönlichen Willen der übergeordneten allgemeinen Regel trotzig entgegenstellt oder versäumt, ihr Gebot zu erfüllen. Ohne Zweifel kann in diesem Sinne auch eine Mehrheit von Personen schuldig werden, eine Bande von Dieben oder Räubern oder eine militärische Truppe, die ihre Pflicht verletzt, oder irgend eine Ansammlung von Menschen, welche die Ordnung bricht, Eigentum zerstört oder sonst aufrührerische Akte begeht. Bei den Vergehungen einer größeren Zahl von Menschen kommt indes ein neuer Gesichtspunkt auf. Man unterscheidet den Grad ihres Verschuldens, man erkennt die Anführer als die Schuldigsten oder vielleicht sogar als die allein Schuldigen. Man bestraft die Masse daher leichter oder man läßt sie sogar straflos. Vielleicht entschließt man sich zu solcher Milde nur deshalb, weil man die ganze große Zahl gar nicht strafen kann, der Befehlshaber einer Truppe, die vor dem Feinde nicht standgehalten hat, läßt nur jeden zehnten Mann hinrichten oder Spießruten laufen, weil er doch nicht alle ihr Vergehen mit ihrem Leibe büßen lassen kann. Aber wirkt nicht noch ein anderer Grund mit ? Liegt es nicht so, daß man so viele gar nicht strafen will, weil man es für unangemessen erachtet? Hier treffen wir auf ein Motiv, von dem aus Licht auf die Frage der gesellschaftlichen Schuld fällt. Der einzelne in der Menge ist dadurch einigermaßen und vielleicht sogar ganz entschuldigt, weil er eben nur einer unter vielen ist, gegen die er nicht aufkommen kann. Unter gehöriger Führung und in bessere Umgebung gestellt, werden dieselben Soldaten, die eben erst versagten, ihre volle Pflicht tun.
Von hier aus finden wir den Übergang zu den Fällen, bei denen von gesellschaftlicher Schuld gesprochen wird. Bei diesem Worte ist vorausgesetzt, daß diejenigen, die wider die allgemeine Regel verstoßen, sich ab eine besondere gesellschaftliche Einheit fühlen. Sie vereinigen sich in einer neuen Regel, die gegen die herrschende Regel gerichtet ist. Die Bewegung des Proletariates stellt der bürgerlichen Rechtsauffassung ihre klassenempfundene Auffassung gegenüber; nicht anders war es bei den Bewegungen der Schuldner, der Sklaven oder der Bauern gegen ihre hartherzigen Gläubiger oder Herren, bei der Bewegung [190] der Sektierer gegen die alleinseligmachende Kirche, bei der Bewegung der Freiheitsschwärmer gegen den Fürstenstaat. In jeder dieser Bewegungen hat die herrschende Macht ein schweres Verschulden erkennen wollen, einen strafbaren Bruch des geltenden Rechtes. Von Seite der Unterdrückten gesehen, ist ihr Aufstand ein Protest des menschlichen Gefühles gegen brutalen Übermut, gegen grausame Verknechtung, gegen verderblichen Geistesdruck. Die eifernden Neuerer fühlen sich als die wahre Gesellschaft, als die Vertreter der Menschheit, sie verehren, wenn sie unterhegen, ihre Märtyrer als die Opfer eines großen Gedankens und erheben sie, wenn der neue Gedanke endlich siegt, zu ihren Helden, an deren Taten sie sich begeistern.
Der Jurist, der das Recht im Sinne der bestehenden Mächte zu formulieren hat, wird solchen Überzeugungen das Zugeständnis machen, daß er ihre revolutionären Taten nicht mehr, wie es in rohester Zeit geschehen ist, den gemeinen Verbrechen zuzählt, sondern als politische Straftaten besonders stellt, indem er sie von den Ehrenstrafen des gemeinen Verbrechens freihält, indem er ihnen eine weniger drückende Form der Haft zubilligt und sie vielleicht auch in den Strafsätzen milder behandelt. Er wird dazu wenigstens dann bereit sein, wenn sie im engeren Sinne wider die politische Verfassung gerichtet sind, während er vielleicht mit größerer Strenge vorgeht, wenn sie tiefer dringend die ganze soziale Verfassung aufrühren wollen.
Anders der Soziologe. Er ist nicht durch das geltende Recht gebunden. Er sieht in den gegeneinander ringenden Parteien die Vertreter zweier Ordnungen, über die erst der schlicßliche Ausgang das auslesende Urteil der Geschichte sprechen wird. In allen großen Volksbewegungen wirkt etwas, was schon als bloße Kraft geachtet werden muß und was jenseits von Gut und Böse, von Wahr und Falsch liegt, nicht anders, als in den großen Bewegungen der Natur. „Ströme irren nicht, sie gehen“, sagt von ihnen mit einem treffenden Worte der alte Giboyerin Augiers Schauspiel „Ein Pelikan“ zu seinem Sohne, da er diesem die Summe seiner in einem langen Leben erworbenen politischen Weisheit eröffnet. Nicht, als ob der Soziologe die Rechtsmacht nicht auch zu den großen gesellschaftlichen Mächten zu zählen hätte, aber er weiß, daß, was eine Partei gegen die andere unter dem Titel der Sühne des verletzten Rechtes tut, zunächst bloße Anwendung ihrer Machtmittel Zusicherung des eigenen Interesses ist, von dem es sich erst in der Folge bewähren wird, ob es auch das wahre gesellschaftliche Interesse ist. Vielleicht, und das ist ja wohl die Regel, hat jeder von den beiden Teilen ein gewisses Recht auf seiner Seite und ist mit allem, was darüber hinausgeht, [191] im Unrecht, wo denn das neue geläuterte Recht erst aus der Ausgleichung der gegeneinander ringenden Ordnungen entstehen wird. Die äußere Rechtsform kann jeder Gewaltherr aufrichten, wie Geßlers Hut, die innere Rechtsmacht schließt sich erst aus der Fühlung der Gewissen auf.
Vollends zwischen den Völkern gibt es heute noch kein klares übergeordnetes Recht. Was wir Völkerrecht nennen, ist im höchsten Falle werdendes Recht oder ist eine sittliche Forderung aus der Höhe menschlicher Empfindung, für die noch kein oberster Richter bestellt ist und die durch das Staatsnotrecht im weitesten Maße entkräftet wird. Am sogenannten Volkswillen ist oft eine große Zahl der Bürger, vielleicht sogar die Mehrheit, nicht mitbeteiligt, das unfreie Volk wird überhaupt nicht gefragt und selbst im freien Volke werden viele und vielleicht die meisten ohne eigenen Willen mitgerissen oder halten sich still zurück. Alle diese Personen müssen doch von Schuld freigesprochen werden, selbst diejenigen müssen es, die ganz offen mittun, denn es fehlt auch bei ihnen die eigene Willensentschließung, die doch die Voraussetzung der Schuld ist. In einer Btarken Volksbewegung tut jeder, was „die andern“ tun, er kann nicht anders, er handelt unter dem unwiderstehlichen Zwang einer hinreißenden allgemeinen Strömung und wohl gar im Hochgefühl der treuen Aufopferung für das Vaterland. Wenn aber bei keinem der Millionen des Volkes von Schuld gesprochen werden kann, wie kann man vom Volk im ganzen, das doch nur in seinen Bürgern besteht, die Schuld behaupten ? Ein anderes ist es oder scheint es mit der Schuld der Führer. Sind aber nicht auch die Führer der großen Bewegungen durch die unwiderstehliche Strömung der Massen mitentschuldigt ? Sie werden nur dann schuldig, wenn sie diese selber aus bösem Willen aufgeregt haben sollten. Ist der russische Zar am Weltkrieg schuldig? Er hat die allgemeine Mobilisierung verfügt, welche die Kriegserklärung zur notwendigen Folge haben mußte — war diese Verfügung aber wirklich ein Akt seines Willens oder war sie ihm nicht durch den übermächtigen Zwang der Umstände abgerungen ? Was übrigens den Krieg anbelangt, wo ist die Rechtsregel, gegen welche eine Kriegserklärung sich versündigt ? Für jedes Volk ist der gerechte Krieg erlaubt. Aber da jedes Volk nach dem Völkerrecht, wie es bis zum Weltkrieg bestand, für sich darüber zu entscheiden hatte, ob sein Krieg gerecht sei, so hat bisher jedem Volke jeder Krieg als erlaubt gegolten. Niemals noch hat ein Volk einen Krieg geführt, für den es nicht die überzeugendsten Gründe gefühlt hätte.
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Will man ein Volk für seine Kriege verantwortlich machen, so kann man dies nicht unter dem Gesichtspunkt der Schuld, sondern nur unter dem der Gefährdung tun. Ein kriegerisch gesinntes und leicht erregbares Volk ist ohne Zweifel eine Gefahr für die Nachbarn und vielleicht für die Welt. Die Nachbarn und die Welt sind im Recht, wenn sie alles tun, um sich gegen ein solches Volk ausreichende Sicherungen zu schaffen. Gegen Zimbern und Teutonen muß man sich vorsehen. Freilich, was ist damit gegen die Leute gewonnen, für welche die Deutschen von heute nichts anderes als Zimbern und Teutonen sind ? Diesen Leuten wird die Verschiebung des Beweisthemas von der Frage der Volksschuld auf die der Volksgefährlichkeit nur willkommen sein. Sie werden aus dem Gesichtspunkte der Gefahr und Sicherung einen noch weitergehenden Zwang gegen das Volk der Zimbern und Teutonen fordern, als aus dem der Schuld und Strafe. Der besonnene Geist jedoch weiß es besser, wo für die modernen Nationen die Kriegsgefahr verborgen liegt. Unter den europäischen Nationen gibt es keine Zimbern und Teutonen mehr, sie alle sind mit ihren Bestrebungen eifrig ihren Friedenswerken hingegeben, nur verfolgt jede mit dem besorgtesten Mißtrauen die Bestrebungen der andern, die sie umgeben, und ist voller Entschlossenheit, ihre Selbständigkeit bis aufs äußerste zu wahren. Sobald der Ruf zur Rettung des Vaterlandes von den Wächtern auf den Türmen der nationalen Bollwerke ausgegeben ist, erheben sich in jeder selbstbewußten Nation alle Bürger wie ein Mann und werden mit eins von der gewaltigen Kraft ihres Zusammengehens überwältigt, die sie unwiderstehlich fortreißt. Nun heißt es „es muß sein“ und nun gibt es kein Zurückhalten mehr, ein Feigling und Verräter ist, wer nicht mitgeht. Um einen neuen Weltkrieg zu verhüten, gilt es. diejenigen Sicherungen einzurichten und zwar bei allen Kulturnationen einzurichten, welche diese vor den Überraschungen ihres Mißtrauens und vor den jähen Aufwallungen des nationalen Kampffiebers bewahren sollen.
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Der Faust in seiner ersten Fassung, der sogenannte Urfaust, wurde vom 26jährigen Goethe in der kurzen Zeit zwischen Oktober 1774 und Anfang 1775 und sodann in einem wiederholten Schaffensschwung im Spätsommer und Herbst 1775 niedergeschrieben. In diesen knappen Wochen höchsten schöpferischen Schauens hat der junge Goethe die Steigerung der Kraft erlebt, die es ihm möglich machte, dem Faustschen Drange, der seine Seele erfaßt hatte, seinen dichterischen Ausdruck zu geben und die Gestalten von Faust und Gretchen, von Mephisto und Wagner zu schaffen, von denen Brandes sagt, daß sie hinter den berühmtesten Figuren der Dichtung der Welt nicht zurückstehen. Mit diesem ersten Ausbruch indes hatte Goethe das Faustproblem noch lange nicht bewältigt, er mußte zum Manne gereift sein, bevor er sich darüber soweit Rechenschaft geben konnte, um das Vorspiel im Himmel zu schreiben, das in der Wette, die Mephisto dem Herrn vorschlägt, den Plan des Werkes entwickelt. In langen Pausen schlössen sich ihm die Szenen de« ersten Teiles zusammen, aber erst dem Greise Goethe wurde, wie er in seinem Tagebuch schreibt, der Faust der „Hauptgegenstand“, dem er seine tägliche Kraft widmete. Nun stellte er sich die Aufgabe, das Werk zu vollenden. Hätte er sich diese Aufgabe von Anfang an gestellt, so wäre der Faust niemals der Faust geworden. Der Faust konnte nur [194] werden, was er ist, weil im Anfang die Kraft da war, die nach Äußerung drängte, ohne durch eine Aufgabe gebunden zu sein. Die Aufgabe stellte sich ein, als es galt, die sinkende Kraft zu sammeln. Im zweiten Teil sind ganz auf der Höhe des ersten Teiles doch nur diejenigen Stellen, die nicht in Erfüllung einer dichterischen Pflicht niedergeschrieben wurden, sondern wo die Stimmungen aus der empfänglichen Jugend noch stark genug waren, um die schwankenden Gestalten festzuhalten, „die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“.
Weniger noch als die persönliche Entwicklung wird die eines Volkes unter dem Gesichtspunkt der Aufgabe vollzogen. Der Sinn eines Volkes ist auf unzählbar viele Köpfe verteilt, die nebeneinander und nacheinander als Führer vorzudenken suchen und als Masse nachzufolgen bereit sind. Von all den Plänen, wie sie der Ehrgeiz, der Übermut, die Leidenschaft, die Verblendung und die Beschränktheit der Führer entwirft, umwirft und neugestaltet, setzen sich nur diejenigen durch, für welche im Volk die Kräfte gegeben sind und die nicht von Kräften der umgebenden Völker zunichte gemacht werden. Diejenigen, für welche die Kräfte gegeben sind, wachsen mit den wachsenden Kräften nach und nach weit über den Gesichtskreis der ersten Führer hinaus, die immer nur auf das nächste bedacht sein konnten, ohne daß sie die erstaunlichen Wendungen hätten voraussehen können, welche die Zukunft bringen sollte. Im Sinne des alten römischen Bauernvolkes konnte der Gedanke der Weltherrschaft vernünftigerweise nicht Raum haben. Dieses Volk wäre nicht so tüchtig gewesen, als es war, wenn es sich nicht ganz auf die Gegebenheiten seines geschichtlichen Zustandes eingestellt hätte. Die Zukunft war ihm dadurch gesichert, daß es, jeder Bedrängnis gewachsen, immer noch einen Überschuß von Kraft in sich übrig hatte, um weiteren Bedrängnissen zu begegnen. Seit der Gründung der Stadt mußten sieben Jahrhunderte vergangen sein, bis ein Cäsar daran gehen konnte, der römischen Weltherrschaft ihre Einrichtung zu geben. Die nationalen Kräfte, die angesammelt werden mußten, damit nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges und nach der Zerreißung durch den Westfälischen Frieden das Deutsche Reich wieder begründet werden konnte, haben sich unter Verhältnissen emporgerungen, die so zerfahren waren, daß selbst der beste Deutsche nicht daran denken durfte, sich mit der Aufgabe der Wiederbegründung des Reiches zu befassen. Alles, was damals in deutschen Landen Einfluß besaß, hat sich damit beschäftigt, die letzten Reste, die vom alten Reich noch übrig geblieben waren, zu verkümmern und ein bis ins äußerste zersplittertes Wesen von Kleinstaaterei an seine Stelle zu setzen, dem nur die fürstliche [195] Machtpolitik Österreichs und Preußens widerstrebte. Die Zersplitterung Deutschlands ist gegen den Willen der deutschen Fürsten und des deutschen Volkes, das seinen Fürsten unterwürfig anhing, wieder gutgemacht worden; Napoleon, der fremde Gewaltmensch, hat weit mehr dazu beigetragen, die Kleinstaaterei zu überwinden, als irgend ein Deutscher bis auf die Zeit Bismarcks. Dennoch war die Periode äußerster staatlicher Schwäche, die dem Dreißigjährigen Kriege folgte, politisch nicht verloren, die Besten des deutschen Volkes trugen in stiller Kulturarbeit die Bausteine des modernen deutschen Kulturwerkes zusammen, das endlich doch politisch gekrönt werden sollte. Zwar die nächsten Jahre nach dem furchtbaren Kriege verliefen in geistiger Stille, nichts schien mehr von der Kraft übrig zu sein, aus der die Reformation geboren war. Erst die aus der Seele eingegebenen Klänge einer reinen und ernsten Musik verrieten, daß der Geist der Nation sich in der Ruhe nach dem Brausen des Krieges gesammelt hatte. Dann ist er mit einem Male in innerem Sturm und Drang losgebrochen und nun wurde Baustein auf Baustein des Kulturwerkes bearbeitet und zusammengetragen. Goethes Faust war einer der grundlegenden Bausteine. So wenig Goethe mit seinem Faust an ein politisches Ziel gedacht hat, so wenig haben die vielen andern daran gedacht, die, von ihrer Kraft gedrängt, Bausteine zum Kulturwerk herbeitrugen. Erst die Männer in der Paulskirche, die Vertreter der deutschen Kultur um die Mitte des 19. Jahrhunderts, waren so weit, daß sie sich in dem Streben finden konnten, das Reich wieder aufzubauen. Nun waren die Vorarbeiten genügend vorgeschritten, daß diese Aufgabe gestellt werden konnte, den Männern in der Paulskirche fehlte aber allerdings — abgesehen davon, daß sie in wichtigen Bestimmungen bezüglich des Zieles uneinig waren — auch noch das Verständnis für die Technik des Aufbaues. Dazu war der politische Fachmann notwendig, der zugleich die militärischen Mittel zu lenken wußte, um die geschichtlichen Hindernisse zu beseitigen, die der Vollendung des Baues noch im Wege standen. In Bismarck hat das Schicksal dem deutschen Volke den Werkmeister gegeben, der sich die Aufgabe stellen durfte, die verfügbaren Kräfte zum letzten Zweck zusammenzufassen, eine Aufgabe, die er mit überlegener Meisterschaft erfüllte. Vor Goethe und Schiller hätte er sich diese Aufgabe nicht stellen dürfen. Das Deutsche Reich konnte erst eingerichtet werden, nachdem es in den Kulturkräften des deutschen Volkes die noch fehlenden Elemente seiner Bildung gewonnen hatte.
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Diese Ausführungen geben uns die Unterlage, um den Begriff der geschichtlichen Bildung von dem der gesellschaftlichen Einrichtung abzuheben und in seinem Wesen darzustellen.
Gesellschaftliche Einrichtungen werden von den Regierungen oder anderen ordnenden“ Gewalten in bestimmter Absicht nach einem überlegten Plane geschaffen. Man ruft sie um des Sinnes willen ins Leben, den man im Interesse der Gesamtheit oder auch nur in dem der eigenen Macht mit ihnen verfolgt, und man ändert sie um oder schafft sie ab, wenn man meint, daß der Sinn es so fordere; die Formen der Einrichtungen sind überaus mannigfach, Ämter und Anstalten und Werke der verschiedensten Art begegnen uns in solcher Menge, daß es schwer fällt, sie vollständig aufzuzählen. Geschichtliche Bildungen dagegen wachsen auf, ohne daß man eines bestimmten Schöpfers gewahr werden könnte. Sie sind Ergebnisse geschichtlicher Entwicklung, aus den Kräften geboren, die aus den Tiefen der Gesellschaft aufsteigen und sich am Erfolge bewähren, die Menschen fortreißend und beherrschend, statt daß sie von ihnen beherrscht würden. Alle die Verbände, von der Familie und Horde angefangen, bis zu Staat, Volk, Nation und zur Gesellschaft selbst, sind geschichtliche Bildungen. Neben diesen persönlichen gibt es aber auch noch gegenständliche Bildungen, die keineswegs planmäßige Einrichtungen, sondern am Erfolg aufgewachsene Ergebnisse geschichtlicher Entwicklung sind; derart ist zum Beispiel das Geld in seiner vom Staate noch nicht regulierten Urgestalt. Immerhin fühlt man solche gegenständliche Bildungen den planmäßigen Einrichtungen näher und bezeichnet sie daher wohl auch als „Gebilde“, welcher Name sie halb und halb als Schöpfungen des menschlichen Willens gelten läßt. Wir werden aber besser tun, sie im Namen von den persönlichen Bildungen nicht zu trennen, es ließe sich kaum eine klare Unterscheidung festhalten. Oft und oft mischt sich Persönliches und Gegenständliches, eine feste Grenze läuft nur zwischen Bildungen und Einrichtungen und wir wollen es daher bei diesen beiden Namen und Begriffen bewenden lassen. Wir erkennen in den geschichtlichen Bildungen die Ergebnisse der suchenden, ihres Gehaltes noch nicht klaren, drängenden, irrenden und sich wiederfindenden Kraft, in den gesellschaftlichen Einrichtungen dagegen die Erfüllungen von Aufgaben, die sich der ordnende Wille stellt, um den gegebenen Zwecken nachzukommen.
Näher oder entfernter ruhen alle gesellschaftlichen Einrichtungen [197] auf der Grundlage geschichtlicher Bildungen. Die Marktordnung setzt den Markt voraus, wie er durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage geschaffen ist; die besondere Ordnung des Geldwesens eines Landes ist über der allgemeinen Erscheinung des Geldes aufgebaut, das auf Wegen, welche auch heute von der Theorie kaum vollständig ergründet sind, sich aus den Verschlingungen des Verkehres gebildet hat; das Militärwesen eines Staates empfängt seine geordnete Einrichtung durch einen starken Fürsten oder Kriegsmann, aber es geht in seinen geschichtlichen Vorbereitungen auf die freiwilligen Gestaltungen der Kampfkraft zurück. Bei allen Einrichtungen ist es deutlich zu erkennen, wie sie in ihrer Wirkung immer davon abhängig sind, daß sie dem Wesen der geschichtlichen Bildungen richtig angepaßt werden, die ihnen zur Grundlage dienen. Eine Marktordnung, die im Widerspruche zum Gesetze von Angebot und Nachfrage steht, wird sich nicht durchsetzen, ebensowenig eine Geldordnung, die einen Geldwert zu behaupten sucht, der durch die Übermenge der Geldzeichen unhaltbar geworden ist, welche der Staat ausgibt. Niemals auch wird es gelingen, durch noch so scharfe Vorschriften militärischer Zucht eine Truppe mit wahrem Kampfgeist zu erfüllen, die aus einem erschlafften Volke rekrutiert ist. Jede wirksame Einrichtung empfängt die Grundlinien ihrer Ordnung aus dem inneren Gesetze der geschichtlichen Bildung, auf der sie beruht.
Der gewöhnliche Bürger allerdings ist immer der Meinung, daß jede gute Regierung es ganz in ihrer Macht habe, die Dinge nach ihrem Willen zu führen, und er wird darum die Regierung unnachsichtlich anklagen, wo immer die Dinge nicht nach seinem Wunsche gehen. Er sieht nicht tief genug, um zu erkennen, daß dasjenige, was von der Regierung vorgeschrieben wird und ohne Zweifel bis zu gewissen Grenzen vorgeschrieben werden kann und vorgeschrieben werden muß, sein inneres Gesetz immer von Kräften empfängt, die sich nichts vorschreiben lassen und die so genommen werden müssen, wie sie eben sind. Die höchste Staatsweisheit könnte durch ihre fördernden oder hemmenden Maßnahmen die Dinge im Staat nicht im Gleichgewicht halten, geschweige denn vorwärtsbringen, wenn sie ihre Einrichtungen nicht auf geschichtliche Bildungen aufzubauen vermöchte, die sich selber im Gleichgewicht halten und es in sich haben, zu gedeihen. Die höchste Kunst des Staatsmannes besteht darin, daß er die Fühlung für die treibenden Kräfte hat, die dem Volke seine optimistische Zuversicht geben, es muß ihm klar sein, welche gesellschaftlichen Einrichtungen durch die gegebenen geschichtlichen Bildungen gefordert werden und wo das innere [198] Gesetz der letzteren die Grenzen zieht, bis zu denen er mit seinen Einrichtungen zu gehen hat.
Für den Staatsmann ist es ohne Belang, ob er gesellschaftliche Einrichtungen und geschichtliche Bildungen begrifflich zu scheiden wisse, er braucht sie nicht einmal im Namen zu unterscheiden. Seine Sache ist es, im einzelnen Falle zu ermessen, bis wieweit der unverrückbare Untergrund reicht, über dem er seine Schöpfungen aufzurichten gedenkt. Dem Theoretiker obliegt es, aus der Summe der einzelnen Fälle die allgemeine Erkenntnis abzuleiten, so wie er sie braucht, um den großen Lauf der Geschichte zu erklären. Und wie denn klare Begriffe an deutlichen Namen hängen, so muß er damit beginnen, auf die Namen zu achten, unter denen er die Begriffe von Bildung und Einrichtung einführt. Warum haben wir die Bildungen, von denen wir sprechen, als geschichtlich, die Einrichtungen als gesellschaftlich zu bezeichnen? Es hat seinen guten Grund, und indem wir diesem Grunde nachgehen, stoßen wir sofort auf das wesentliche Problem, das in Rücksicht auf die geschichtlichen Bildungen zu lösen ist. Der Name der gesellschaftlichen Einrichtungen sagt uns, daß sie mit der Richtung auf bestimmte gesellschaftliche Zwecke durch bestimmte Urheber getroffen sind, die als solche bekannt werden, der Name der geschichtlichen Bildungen dagegen weist ins Dunkel der Geschichte zurück. Man weiß über ihre Ursprünge nichts weiter, als daß sie von alters her da sind, und wenn man sich sodann ins Dunkel der Geschichte vertieft, um einen bestimmten Urheber festzustellen, so wird man erkennen, daß sich für sie ein solcher nicht feststellen läßt, und zwar nicht etwa deshalb, weil die geschichtlichen Quellen versagen, sondern aus dem tieferen Grunde, weil die Urheberschaft hier niemals einer bestimmten Persönlichkeit zufällt.
Wie anders aber ließe sich ihr Ursprung verstehen ?
Seit langem schon hat sich bei gewissen, besonders auffälligen geschichtlichen Bildungen das wissenschaftliche Nachdenken damit beschäftigt, ihren Ursprung aufzuklären, mit dem ja ihr Wesen und inneres Gesetz zusammenhängt. Die Erscheinungen des Geldes und des Staates bieten die Hauptbeispiele. Ist es nicht verwunderlich, daß der einfachste Mann aus dem Volke sich des Geldes bei geordneter! Verhältnissen mit gutem Sinne zu bedienen weiß, während die scharfsinnigsten theoretischen Köpfe sich in einer langen Reihe wissenschaftlicher Generationen, die bis auf die antiken Denker zurückgeht, vergebens daran abgemüht haben, den Ursprung und das Wesen des Geldes zu erklären ? Ist es nicht verwunderlich, daß das Geld Menschen enge [199] miteinander verbindet, die einander ferne sind und nichts voneinander wissen ? Der Staat steht im hellsten Lichte des Lebens, seine Bürger geben sich für ihn hin, aber die Gelehrten aller Staaten sind noch immer nicht darüber einig, wie er entstanden ist und welchen inneren Gesetzen sein Wesen folgt. Bei allen geschichtlichen Bildungen ohne Ausnahme besteht der gleiche Gegensatz der praktischen Wirksamkeit und der wissenschaftlichen Problematik, bei ihnen allen liegt die Herkunft und mit der Herkunft das Wesen im Dunkel : sie alle sind menschliches Werk, ohne daß die Menschen das Gesetz ihres eigenen Wirkens zu durchschauen vermöchten.
Die Wissenschaft hat sich mit dem Problem der geschichtlichen Bildungen zunächst in der Weise abgefunden, daß sie im Vergleiche oder Bilde anschaulich zu machen sucht, was sie begrifflich nicht einzuordnen wußte. Die geschichtlichen Bildungen werden uns, um nur die geläufigsten Veranschaulichungen zu erwähnen, als kunstvolle Bauwerke geschildert, mit Fundamenten und Krönungen, oder als geologische Bildungen, mit Überund Unterordnung ihrer Schichten, am häufigsten wird wohl das Bild der organischen Lebewesen gebraucht, der Organismen mit all ihren Organen und Lebensfunktionen. Solche Vergleichungen drängen sich unwillkürlich auf, keine Darstellung, auch nicht die exakteste, wird sie vermeiden, wenn sie Eindruck machen will, denn jede dieser Vergleichungen rückt irgend eine der Beziehungen, um die es sich handelt, in gutes Licht. Dafür bringen sie alle die Gefahr mit sich, daß man sie auch dort, wo sie nicht mehr zutreffen, noch weiter fortsetzt, weil man der verführenden Wirkung der Assoziationen unterliegt, die sich mit ihnen von selber einstellen. Unvermerkt nimmt man das Bild für Wirklichkeit. So bringt das Bild des Bauwerkes, indem es das Sinnvolle der geschichtlichen Bildungen vergegenwärtigt, die unzulässige Vorstellung eines Baumeisters mit sich, der Vergleich mit den geologischen Bildungen gibt der Länge der Zeiträume, die für die geschichtlichen Bildungen erfordert sind, sowie der Gewalt des Druckes, unter dem sie entstehen, starken Ausdruck, aber sie läßt dafür die Idee der Entwicklung verloren gehen, die nur dem organischen Leben eigen ist. Der Vergleich mit den organischen Lebewesen, der durch die Idee der Entwicklung besonders nahegelegt wird, ist der gefährlichste unter allen. Er trifft in so vielen Punkten zu, daß ihn viele Erklärer gar nicht mehr als Vergleich ansehen, sondern geradezu als Erklärung gelten [200] lassen, ohne zu erkennen, wie viele wesenswidrige Elemente sie durch die Macht der Assoziationen hereinbringen. Es gibt geistvolle gesellschaftliche Denker, welche die Analogie zu Tode gehetzt haben und für jede Lebensfunktion des menschlichen Körpers in Staat und Gesellschaft die Parallelen suchen und finden. Der Staat wird in vollstem Ernst als ein Lebewesen aufgefaßt, das ebenso einheitlich wie der Mensch aufgebaut ist, mit Bewußtheit, Vernunft und Willen ausgestattet und mit allen Organen versehen, die im menschlichen Körper ihren Dienst verrichten. Man kann die Wahrheit nicht schlimmer verdunkeln. Das Problem der geschichtlichen Bildungen besteht in dem Zusammenklange vieler persönlicher Bewußtheiten, die ihre Selbständigkeit bis zu einem gewissen Grade aufgeben, ohne daß doch eine höhere zusammenfassende Bewußtheit an ihre Stelle träte. Der Organismus des Menschen bietet dieses Problem nicht, in ihm wirkt die übergeordnete Bewußtheit des Geistes, während die Teile, aus denen der Organismus zusammengesetzt ist, die Organe oder Zellen, ihrerseits keine volle Bewußtheit besitzen. Die Bewußtheit, die man von der Organseele oder Zellenseele aussagen darf, ist ganz untergeordneten Grades, und es kann keine Rede davon sein, daß sich die Organe oder Zellen im Körper so selbständig verhalten, wie die Individuen in der Gesellschaft, oder, um es umgekehrt zu sagen, daß die Individuen in der Gesellschaft so unselbständig einem Zentralorgan untergeordnet sind wie die Organe oder Zellen im Körper. Der Gehorsam, mit dem der Soldat den Befehl des Vorgesetzten zu erfüllen hat, soll nur darin blind sein, daß er auf das nicht zu achten hat, was der Vorgesetzte unbeachtet haben will, um so heller muß die Aufmerksamkeit für das sein, worauf der Vorgesetzte hinweist. Die Armee dankt ihre Wucht dem Zusammenklange all der Tausende von Bewußtheiten der Kämpfer — woher dieser Zusammenklang, darüber gibt der Vergleich mit dem Organismus keinen Aufschluß. Der Vergleich der geschichtlichen Bildungen mit den Organismen versagt in dem wesentlichen Punkte, bei dem das Problem beginnt.
Die individualistische Deutung der geschichtlichen Bildungen ist ernster zu nehmen. Sie versucht eine wirkliche Erklärung und beginnt sie in logischer Reinlichkeit. Sie vermeidet es, fremdes Wesen heranzuziehen, indem sie vom Individuum ausgeht, das in der Tat ein Element der Gesellschaft ist, aber sie verdirbt alles dadurch, daß sie das Individuum anders nimmt, als es sich in der Gesellschaft betätigt. Die individualistische Erklärung nimmt das Individuum in der Gesellschaft so, als ob es unabhängig auf seine persönliche Kraft [201] gestellt wäre, sie nimmt es als ein Wesen, das durchaus mit genauer Abwägung seines Vorteils bedacht und entschlossen vorgeht. In Wahrheit steht selbst der kräftigste Mann in der Gesellschaft so stark unter fremder Einwirkung, daß dadurch die Äußerungen seiner Kraft wesentlich geändert werden müssen, sei es, daß sie gesteigert, sei es, daß sie herabgedrückt oder gehemmt werden. Die individualistische Auffassung hat für die Entstehung der geschichtlichen Bildungen keine andere Erklärung als dieselbe, die sich in der persönlichen Sphäre für die Beziehungen zwischen den Individuen darbietet. So wie die Ehe oder die private Erwerbsgesellschaft oder das Tauschverhältnis auf Vertrag beruhen, so soll auch das Geld oder der Staat durch private Verträge beschlossen sein. Für das Element des Zwanges oder Befehles, ohne das der Staat nicht entstehen noch bestehen könnte, und das auch im Gelde deutlich nachzuweisen ist, hat man keine Erklärung. Einem Vertragsstaate, von dem sich jeder einzelne nach seinem Belieben lösen könnte, oder einem bloßen Vertragsgelde, dessen Annahme man nach seinem Beheben verweigern könnte, müßte die zwingende Kraft mangeln, die von Staat und Geld nicht, zu trennen ist. Die individualistische Erklärung der geschichtlichen Bildungen besteht die Probe der Wirklichkeit nicht, die persönliche Kraft, auf die sie sich beruft, ist zu schwach, als daß sie die beherrschende Mächtigkeit der geschichtlichen Bildungen verständlich machen könnte.
Von dieser Überlegung aus sind eine Reihe von Schriftstellern, die für die Größe der geschichtlichen Bildungen den vollen Blick hatten, zu einer kollektivistischen Erklärung übergegangen. Sie berufen die Volksseele oder Massenseele als die schäffende Kraft in der Gesellschaft. In diesen Worten hat man einen höchst wirksamen rhetorischen Ausdruck, um die Einmütigkeit zu betonen, mit der die vielen Seelen in der Masse oder im Volke sich in den großen Bewegungen zusammenfinden, als ob sie von einer einzigen Seele geleitet wären. Hat man aber damit eine Erklärung dafür, wie es kommt, daß sie sich so einmütig zusammenfinden ? Wie wir schon gelegentlich unserer Erörterungen über die Machtpsychologie auseinanderzusetzen hatten, gibt es in Wahrheit keine Volksseele, keine Massenseele, wenn man diese, wie es der Name sagen will, zwar in gesteigerter Kraft, aber doch in gleicher Wesenheit wie die Einzelseele denkt. Anders aber läßt sie sich nicht denken, sie bleibt ein leeres Wort, falls man sie anders denken wollte. Im Grunde führt die kollektivistische Erklärung auf einem Umweg zur individualistischen Erklärung zurück, sie nimmt das Volk oder die Masse als ein gesteigertes Individuum.
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Jede der genannten Erklärungen beruft sich auf ein bestimmtes einzelnes Element, sie ist monistisch, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Da die monistischen Erklärungen versagen, sollte man es nicht mit einer dualistischen versuchen, die mit zwei verschiedenen Elementen operiert ? Man hat dies in der Tat getan, indem man die beiden Elemente des Subjektiven und des Objektiven einführte. Man glaubte, mit dem subjektiven Element den persönlichen oder individuellen Einflüssen gerecht werden zu können, und mit dem objektiven denjenigen Einflüssen, die über das Persönliche oder Individuelle hinausgehen; nur mußte man auch den Weg finden, die beiden Elemente logisch fest miteinander zu verbinden. Über diese Schwierigkeit, der die dualistische Deutung überhaupt begegnet, sind die meisten Erklärer auch rücksichtlich der geschichtlichen Bildungen nicht hinweggekommen.
Die Unterscheidung des subjektiven und objektiven Tauschwertes, wie sie die klassische Nationalökonomie aufgestellt hat, gibt uns die erwünschte Gelegenheit, an einem verhältnismäßig einfachen Falle das Mißverständnis bloßzulegen, dessen sich die dualistische Erklärung schuldig zu machen pflegt. Die Sprache des Marktes sagt von den Gütern, die in Verkehr kommen, einen Tauschwert aus, der genau ihren Marktpreisen entspricht und für alle Personen der Volkswirtschaft gleich groß sein soll; von einem Gute, das einen Marktpreis von 100 Geldeinheiten hat, sagt man, daß es für jedermann ohne Ausnahme 100 Geldeinheiten wert sei. 'Von diesem Sprachgebrauche aus hat die klassische Nationalökonomie den Begriff des objektiven Tauschwertes gebildet, den sie im Gegensatz zum subjektiven Gebrauchswert stellt; jener sei der volkswirtschaftlich entscheidende Wert, dieser gelte für die einzelnen Privatwirtschaften, jener sei objektiv einheitlich, dieser sei subjektiv wechselnd. Demgegenüber hat die neuere Theorie klargemacht, daß es einen objektiven Wert nicht gebe und nicht geben könne, daß vielmehr auch der von den Gütern ausgesagte objektive Tauschwert immer der Ausdruck eines persönlichen Werterlebnisses sei. Der sogenannte objektive Tauschwert gilt durchaus nicht objektiv für jedermann ; auf Seite der Nachfrage gilt er nur für diejenigen, die den laufenden Preis bezahlen können, das heißt für diejenigen, denen die Erwerbung des Gutes ein Wertcrlebnis zubringt, das mindestens jenes Werterlebnis aufwiegt, dessen sie sich mit der Hingabe des Preises begeben, ebenso gilt er auf Seite des Angebotes nur für diejenigen, denen der erzielbare Preis ein genügendes Werterlebnis zubringt, um das Opfer der Entäußerung ihres Besitzes aufzuwiegen. [203] Der gleiche objektive Marktpreis gebietet den einen, daß sie kaufen, er gebietet andern, daß sie verkaufen, und allen übrigen gebietet er, daß sie sich vom Markte fernhalten, er gebietet unter denen, die er auf den Markt weist, den einen, daß sie mehr, den andern, daß sie weniger kaufen oder verkaufen. Selbst denen aber, die den Tauschwert anerkennen, gibt der objektiv bestimmte Preis nur die nächste Unterlage und nicht auch das letzte Maß der Bewertung, denn die gleiche Geldmenge bedeutet ein ganz verschiedenes Werterlebnis für den Armen und den Reichen, für den Bedürftigen und den Bedürfnislosen oder Wohlversorgten. Der sogenannte objektive Tauschwert ist der auf dem gleichen Preise beruhende subjektive Tauschwert aller am Tausche beteiligten Personen. Er ist auf die objektiv gleiche Unterlage des Preises gerichtet, aber in seinem Ergebnisse im übrigen ebenso subjektiv bestimmt wie der persönliche Gebrauchswert des einzelnen Falles. Richtig verstanden wandelt sich der Gegensatz des objektiven Tauschwertes und des subjektiven Gebrauchswertes in den Gegensatz einer Vielheit gleichgerichteter subjektiver Fälle gegenüber dem vereinzelten Falle.
Die in Deutschland verbreitete Diltheysche Lehre vom „objektiven Geist“ in der Gesellschaft ist dadurch ausgezeichnet, daß sie den Gegensatz des Objektiven und Subjektiven in zutreffendem Sinne einführt. Dilthey versteht den objektiven Geist als Äußerung einer gleichgerichteten Vielheit von Menschen und erkennt den Grund dafür, daß es in der Gesellschaft zu Äußerungen gleichgerichteter Vielheiten komme, mit Recht darin, daß die Menschen einander artverwandt sind. Von dieser Erkenntnis aus ergibt sich in Beziehung auf den Zusammenhang des gesellschaftlichen Wesens ein überaus wichtiger Schluß, es wird klar, daß die menschlichen Vielheiten ihre gleichgerichteten Lebensäußerungen wechselseitig zu verstehen vermögen. Durch uns verstehen wir die andern, „wir lesen,“ — so lehrt, Dilthey folgend, Freyer in seiner „Theorie des objektiven Geistes“ — „was sie geschrieben, wir sehen, was sie gemalt, wir finden, was sie gebaut haben, ein Stück Erde ist durch das Werk ihres Geistes mitgestaltet worden . . . Indem der Lauf der Welt uns die Niederschläge dieses Werkes in Überresten überliefert hat, steht nun über Zeiten und Bäume hinweg Geist dem Geiste gegenüber . . . Weil wir selbst von Gefühlen bewegt werden, Trieben folgen, zwecktätig handeln, Vorstellungen verbinden, Begriffe schmieden [204] und dieser seelische Strukturzusammenhang als unser eigenstes Wesen in unser Erlebnis fällt, darum können wir uns in Auswirkungen fremden Menschentums hineinversetzen und, was in ihnen an seelischem Gehalt ist, nachschöpferisch bilden . . . Das Fremde wird uns ein Wegweiser, dem wir zu folgen vermögen, selbst wenn er uns nicht in eine einfach bestimmte Richtung leitet, sondern zu einer Fülle heterogener Wirklichkeiten: Sprachen, Schrifttümer, Staaten, Bauformen, Kirchen, Sitten, Künste und Systeme der Wissenschaften“.
Wie wir später sehen werden, geht eine solche Einschätzung des wechselseitigen geistigen Verständnisses der Menschen viel zu weit. Goethes Wort vom Geist der Geschichte und den sieben Siegeln vergangener Zeiten hat seinen guten Grund, ob es schon nicht in der ganzen Strenge zutrifft, in der es Faust in seinem Weltunmut meint. Indes nicht das ist es, was wir an dieser Auseinandersetzung in erster Linie abzulehnen haben, wir müssen sie im Gegenteil deshalb bekämpfen, weil sie die Macht des gesellschaftlichen Zusammenhanges nicht voll ausschöpft. Das geschichtlich vorgetanc Werk des eigenen Volkes, das wir fortsetzen, ist für uns mehr als ein bloßer Wegweiser, dem wir folgen können oder auch nicht zu folgen brauchen, es ist, wo es uns mit seiner vollen lebendigen Kraft ergreift, wie eine Strömung, der wir uns willig hingeben, weil wir ihre tragende Kraft verspüren, und deren übermächtiger Gewalt wir uns unter Umständen gar nicht zu entziehen vermögen, selbst wenn wir zu unserem Erschrecken gewahren, daß sie uns dem Abgrund entgegentreibt. Die Lehre vom objektiven Geist, wenn sie ihrer Aufgabe genügen soll, muß uns das Zwingende der geschichtlichen Bildungen erklären können. Dazu kommt sie aber nicht und kann sie nicht kommen, weil sie die Kraft nicht voll würdigt, mit welcher der Geist seine „Objektivationen“ zu beleben vermag. Für Dilthey steht es fest, daß die Tatsache des objektiven Geistes sich gegen die Sphäre des aktuell Seelischen abgrenze, indem das „Innere“, das den Staaten, Kirchen, Sitten, Büchern, Kunstwerken innewohne, nichts Seelisches sei; er meint, es sei ein geistiges Gebilde von einer „eigenartigen“ Struktur und Gesetzlichkeit ; es sei der Geist eines bestimmten Rechtes, einer
Kunst, der in dem äußeren Apparat der Objektivationen sein Dasein habe. Sprangers scharfer Blick nimmt aufs deutlichste die zarten Fäden wahr, die von den individuellen Wertgebungen zu den gesellschaftlichen Bildungen und von diesen wieder zurück in die individuelle Sphäre führen, aber er kommt zuletzt doch dahin, das Dasein eines objektiven Geistes zu behaupten, „der sich von der [205] Einzelseele weitgehend losgelöst hat, der sie umfängt und überdauert“.
Unsererseits müssen wir darauf bestehen, daß die Objektivationen des Geistes ihre bindende Wirkung nur durch den Geist haben, der sie schafft und empfindet. Wenn es wirklich wahr sein sollte, daß der „objektive Geist“ die aktuell seelische Sphäre verläßt, daß er sich von der Einzelseele loslost, so wäre es um seine bindende Wirkung geschehen. Was objektiv erstarrt ist, hört auf als geistiges Band zu wirken. Ein Kirchenbau ist für den gleichgültigen Beschauer ein bloßes Gefiige von Stein, Mörtel, Holz, Eisen und allerlei sonstigen Zutaten, ein Gefüge, das er vielleicht abbricht, um die Stoffe anders zu verwenden. Für den betrachtenden Kunstfreund mag der Kirchenbau je nach seinem künstlerischen Werte ein Gegenstand genießenden Schauens sein und für den Bauverständigen eine mehr oder weniger beachtenswerte technische Leistung; für den leidenschaftlichen Anhänger einer feindlichen Religion ist er ein Gegenstand des Hasses, wert, zerstört zu werden, für den frommen Gläubigen allein ist er die Kirche, die ihn zum Gebete stimmt. Dadurch, daß die ganze Vielheit der Gläubigen in ihrer religiösen Überzeugung übereinkommt, ist sie zum festen kirchlichen Verbände geschlossen, wie die Nation durch den nationalen Sinn, die Armee durch den militärischen Geist, die Klasse durch das Solidaritätsgefühl gebunden ist. Die Tatsache, daß die bindende Kraft geschichtlicher Bildungen unter Umständen so gesteigert ist, daß sie die Individuen zerdrückt, die sie bindet, darf uns in der Erkenntnis nicht irre machen, daß sie aus dem Geiste der verbundenen Individuen geboren ist. Der Trieb, sich der umgebenden Vielheit gleichzurichten, die Unmacht, sich ihr zu entziehen, ist eben unter Umständen im Individuum so groß, daß Handlungen motiviert werden, die wider das eigenste persönliche Interesse gehen und erst bei der individuellen Vernichtung endigen; ja unter Umständen ist dieser Trieb und diese Unmacht sogar so gesteigert, daß es zu der Folge kommt, daß die ganze Vielheit zusammenbricht.
Diese Überlegungen sind uns nicht neu, wir haben uns mit ihnen bereits beschäftigt, als wir uns über die Wirklichkeiten der Machtpsychologie und die gesellschaftliche Willensbestimmung klar zu werden suchten und dabei das Thema des Überindividuellen und des Antiindividuellen der Macht zu besprechen hatten. Wenn diese unsere [206] Ausführungen richtig waren, dann erhält der aufmerksame Leser nunmehr den Lohn für die Geduld, mit der er ihnen folgte, denn er hat damit den Zugang offen, um das Problem des Ursprungs und Wesens der geschichtlichen Bildungen zu lösen. Alle geschichtlichen Bildungen sind Machtbildungen. Wenn man den Ursprung der Macht versteht, so ist das Geheimnis erhellt, das den Ursprung der geschichtlichen Bildungen umgibt. Die zutreffende Theorie der Macht ist zugleich die zutreffende Theorie der geschichtlichen Bildungen, die wir eben als Machtbildungen anzusprechen haben. Als Machtbildungen wachsen sie am Erfolge der gegebenen Kräfte auf, durch den sie die Herrschaft über die Gemüter gewinnen, sie wachsen am Erfolge der gegebenen Kräfte auf, ohne daß diese in den Dienst von planmäßig vollzogenen Aufgaben gestellt werden, sie wachsen nicht rein zweckbestimmt, sondern machtbestimmt auf, unter Vorangehen offener oder anonymer Führer und unter Nachfolge der Masse, als Bildungen von Lebensmächten, von Ordnungsmächten und von Kulturmächten sowie von tragenden, herrschenden, dominanten Mächten und als Teilbildungen, die sich einerseits hemmen, bekämpfen und zu überbieten suchen, anderseits aber auch fördern und in Symbiose vereinigen. Haben wir bei der Theorie der Macht vielleicht allzulange verweilt, so können wir dafür die Theorie der geschichtlichen Bildungen mit dieser kurzen Verweisung abtun.
Nur ein besonderer Punkt soll noch mit ein paar Worten besprochen werden. Er betrifft den Einfluß der Führung, der anders bei den gesellschaftlichen Einrichtungen und anders bei den geschichtlichen Bildungen zur Geltung kommt. Jede gesellschaftliche Einrichtung fordert offene, persönliche Führung; sie fordert sie bei der Ausarbeitung des Entwurfes, sie fordert sie bei der Durchsetzung und Ausgestaltung, sie fordert sie bei der Verwaltung der Einrichtungen; bei ausgedehnten Einrichtungen ist wohl ein ganzer Führungsapparat gefordert, und es müssen für die vielfachen Interessen, die durch sie befriedigt werden sollen, besondere Führungen tätig sein, die sich ergänzen, indem sie gegeneinander ringen und einander ablösen. Es kann sogar sein, daß an großen Einrichtungen eine ganze Reihe von Führern miteinander und nacheinander tätig ist; dabei wird man aber die maßgebenden Führer immer wahrzunehmen imstande sein und unter ihnen denjenigen oder diejenigen unterscheiden können, denen das Wesentliche der Einrichtung zukommt. Die geschichtlichen Bildungen dagegen sind alle ohne Ausnahme nach ihrer ganzen Anlage und schon nach Raum und Zeit ihres Werdens von einer so gewaltigen Ausdehnung, daß vor ihnen selbst die größten Führergestalten zurücktreten. Jedes Volkstum [207] beruht auf dem Grunde der Volkskraft, für welche die großen Führer nur die überragenden Vertreter sind, um die sich die Masse schart. Wenn wir die ganze Reihe der großen Namen der römischen Volksgeschichte aufzählen, so ist durch sie allein die Entwicklung des römischen Volkstums doch keineswegs gedeckt. Der Stifter des Christentums hat unter allen, die an der Bildung des Christentums beteiligt sind, ganz ohne Zweifel die weitaus überragende Leistung getan, weil er die Idee des Christentums als der erste in Worten verkündete, die in den Seelen nicht mehr verhallen sollten, aber damit das Christentum sich entfalten, damit es die Welt durchdringen konnte, mußte schon Paulus die Lehre gesammelter fassen und mußten ungezählte folgende Führer und mußten die unzählbaren Massen der Gläubigen durch die Jahrhunderte und Jahrhunderte mit am Werke sein. Eine geschichtliche Bildung ist nicht schon durch ihre Idee verwirklicht, die Idee muß überall im gesellschaftlichen Körper in Leben umgesetzt und lebendig erhalten werden. Gewiß ist das Dichterwort wahr, „Daß sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände“, aber die tausend Hände müssen sich eben mitregen, dem vorwärtsweisenden Führer muß sich die unermüdliche Bereitschaft der Nachfolge gesellen. Wenn nun das Werk gar so groß ist, daß es von Volk zu Volk weiter dringt und durch geschichtliche Zeiten hindurch wächst, so nimmt es immer neue Gestalten an, gleich einer Pflanze, die überall begehrt, überallhin versetzt wird und sich nun von Land zu Land akklimatisieren muß und von der wechselnden Kunst der Gärtner je nach ihrem Verständnisse weiter gezogen wird, wo dann überall besondere Führerschulen auftreten, die sich auf die Massenstimmung einrichten. Auch hierin gibt uns das Christentum ein deutliches Beispiel; der eine Name des Christentums begreift viele aufeinanderfolgende Sekten, ja trotz aller äußerlichen Ähnlichkeiten vielleicht vielerlei Religionen. Darum werden wir selbst dort, wo das Wachstum der geschichtlichen Bildungen sich im hellen Lichte der Geschichte vollzieht, niemals imstande sein, ihre Schöpfer aufzuzählen. Ihre Schöpfung ist das Werk des Ganzen von Führung und Masse, die größten Führer, selbst die gebietenden Seelenführcr, sind mit durch die Strömungen der Kräfte bewegt, deren Ergebnisse die geschichtlichen Bildungen sind.
Nach Freyers Meinung dienen uns die Reste von den Werken alter Völker, die wir auffinden, als „Wegweiser“, weil sich in ihnen „über [208] Zeiten und Räume hinweg Geist dem Geiste“ zu erkennen gibt. In der Tat, insofern die gefundenen Überreste Geist von unserem Geiste sind, werden wir sie wenigstens in Gedanken wieder aufbauen können. Für den modernen Architekten ist es eine schöne Aufgabe, die Herrlichkeiten der Akropolis von Athen zu rekonstruieren, und dank der unausgesetzten Bemühungen, in die Feinheiten griechischer Kunst einzudringen, ist der Künstler von heute so geschult, daß es ihm gelingen dürfte, die Rekonstruktion auf dem Papier fehlerfrei niederzulegen, wenn er auch nicht hoffen darf, die Form von Phidias' Meisterhand in gleicher Vollkommenheit in Marmor nachzubilden. Die Hand keines der späteren Bildhauer war vom griechischen Geiste geführt, schon die Wiederholungen der Römerzeit erreichen die Originale nicht mehr, die großen Künstler der Renaissance, die sich an den Griechen gebildet hatten, waren von dem besondern Geiste ihrer eigenen Zeit bewegt, und als man sich später wiederum der Antike anzunähern versuchte, hat man zunächst nicht mehr erreicht, als daß man nüchternen Sinnes ihre leere Form kopierte. Ein Wegweiser hilft doch nur dem, der ihn lesen kann, und um einen Wegweiser zu lesen, der den großen Kulturzusammenhang leiten soll, genügt es nicht, die Worte abzulesen, die etwa auf ihm aufgeschrieben sind, sondern man muß auch den Sinn dieser Worte in sich lebendig machen können. Dem Gelehrten, der die Keilschrift entziffern lernt, war damit nicht auch schon das assyrische Lebensgefühl aufgeschlossen, aus Hainmurabis Gesetz wird uns heute doch nur dasjenige deutlich, was im Leben der Gegenwart ebenso oder wenigstens ähnlich gestaltet ist, alles andere wird uns dunkel bleiben. Mark Twain hat ein Buch voll köstlichen Humors geschrieben, worin ein Yankee geschildert ist, der an den Hof von König Artus verschlagen wird; das Buch ist in der Absicht geschrieben, die derbe Wirklichkeit bloßzulegen, die durch den romantischen Zauber verhüllt ist, mit welchem die Dichtung die Helden und Heldinnen der Tafelrunde umgeben hat, das Buch ist aber zugleich ein Beweis dafür, daß der Geist des Yankees und auch der Geist von Mark Twain selbst, so feinsinnig er ist, sich in das Lebensgefühl nicht zurückfinden kann, aus dem heraus die Sagen von König Artus entstanden sind, und daß er deshalb gerade das Lebensvollste der Wirklichkeit von damals nicht begreifen kann. Die moderne Kultur dankt der römischen Kirche und dem Humanismus die Erhaltung und Wiedererweckung kostbarer Geistesschätze der Antike, ohne die unsere Bildung ganz andere Wege gegangen wäre, als sie gegangen ist, deshalb müssen wir aber doch sagen, daß der moderne Mensch nicht imstande ist und das auch der härtere Mensch der Renaissance nicht imstande war, sich ganz in das Lebensgefühl [209] der antiken Herrenvölker zurückzuversetzen, und daß uns daher ausgedehnte Gebiete antiken Wesens unverständlich sind und für immer unverständlich bleiben werden. Aus dem Munde von Sokrates sind uns Lehren aufbewahrt, die wie eine Vorausverkündigung christlicher Lehren anmuten — wie können wir es mit der abgeklärten Gesinnung dieser Lehren vereinigen, daß ein Xenophon, der Verfasser der Erinnerungen an Sokrates, es mit den Vorschriften seines Meisters vereinbar gefunden hat, nach dem Rückzug der Zehntausend einen reichen Perser samt seiner Familie abzufangen und auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen, damit er doch die gefährliche Reise nicht umsonst gemacht habe ? In der Zeit, als Cicero seine philosophischen Abhandlungen schrieb, an denen sich die Humanisten erbauten, waren Gladiatorenkämpfe und andere noch wildere Zirkusspicle an der Tagesordnung, vor denen sich der moderne Zuschauer mit Entsetzen abwenden müßte.
Auch wir modernen Menschen sind mit vielen und vielen argen Gewohnheiten belastet, die wir ohne Gewissensbeschwerde üben, während sie das Seelenleben späterer Generationen, das im Fortschritt des Menschengeschlechtes reiner abgestimmt sein wird, aus dem Gleichgewicht bringen müßten. Für jede Zeit und für jedes Volk besteht ein besonders abgestimmtes Gleichgewicht des Lebensgefühles, dem nur wenige von denen widerstreben, welche der Zeit und dem Volke angehören, während die große Masse, zu der in diesem Falle auch die überwiegende Zahl der Führer zählt, sich bei ihm beruhigt findet und sich ganz darauf einstellt.
Die rohen Völker sind bloß durch die Erziehung, die das Leben gibt, in ihr Gleichgewicht gebracht, bei den Kulturvölkern wirkt überdies die Erziehung der Schule dazu mit.
Die Erziehung der Schule hat die zwei Aufgaben der allgemeinen Bildung und der Fachbildung.
Das Ziel der Fachbildung ist leicht zu verstehen, jede Fachschule belehrt die Schüler über bestimmte gesellschaftliche Einrichtungen und unterweist sie in den Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie brauchen, um die Einrichtungen zu nutzen. Die Kriegsschule gilt den militärischen Einrichtungen, die technische Schule den technischen, die geistüche Schule den kirchlichen, die Rechtsschule den Einrichtungen des Rechtes. Wenn diese Schulen ihr Ziel erreichen sollen, so müssen sie ihre Schüler aber auch mit dem Sinn der geschichtlichen Bildungen vertraut machen, über denen die betreffenden Einrichtungen aufgebaut sind, ein Ziel, das nur zu oft verabsäumt wird, indem der Lehrer sich auf das Äußerüche des Gegenstandes beschränkt, das leichter zu beschreiben [210] ist, wenn es auch ohne den Sinn in seinem Wesen nicht zu fassen ist. Bei der ärztlichen Schule wird es deutlich, daß sie sich nicht darauf beschränken darf, den Apparat gebrauchen zu lernen, mit dem sich der Arzt einzurichten hat, sondern daß sie auch über die Gesetze der Bildungen des menschlichen Körpers Aufschluß zu bringen hat, wie der Naturforscher über die der mannigfachen Bildungen der Natur außerhalb des Menschen.
Der Unterricht in den Fachschulen wird durch die Elementarschule und die dieser folgenden höheren Schulen vorbereitet, die sich damit beschäftigen, allgemeine Bildung zu geben. Die allgemeine Bildung ist nicht auf bestimmte gesellschaftliche Einrichtungen bezogen, sie soll die grundlegenden Kenntnisse vermitteln und jene Fähigkeiten entwickeln, die man anzuwenden hat, wenn man aus dem Engsten des Lebens heraus will, in ihren höheren und höchsten Graden soll sie die Kenntnisse vermitteln und die Fähigkeiten entwickeln, die man braucht, um gegenüber den höheren und höchsten Lebensproblemen seine Stellung zu finden. Der Wert der allgemeinen Bildung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, nur muß man sich klar machen, daß die Schule zunächst doch nur die Regeln gibt, die zu befolgen sind, während sie nicht auch immer dazu gelangt, die Schüler in der Anwendung der Regeln sicher zu machen. Der Unterricht der Schule wird darin erst durch die Erziehung des Lebens vollendet, und sobald diese ihren Dienst getan hat, werden die Regeln der Schule als nicht weiter notwendig zumeist vergessen. [Mitunter sind die Schulregeln in der Trockenheit, in der sie dem Geiste eingedrillt werden, sogar ein Hemmnis, um die bunten Gestalten des Lebens zu begreifen, von denen es dem Neuling dünken will, daß sie jeder Regel spotten. Der junge Mensch, der in der Schule lesen, schreiben und rechnen gelernt hat, erhält damit den Schlüssel zu den Vorhöfen des Lebens, in denen er sich aber, nachdem er eingetreten ist, doch erst bewegen lernen muß, wie der Reisende, der die fremde Sprache gelernt hat, das Land erst kennen lernen muß und auf dem fremden Markt seine Kenntnisse des Rechnens erst verwerten kann, bis er auch die Preise kennt, die auf diesem Markt gelten. Die Erziehung der Schule erzieht bloß den Verstand und das Gedächtnis, sie ist Unterricht, dem die durchgreifende Erziehung des Lebens folgen muß.
Die Erziehung des Lebens beginnt im Eltemhause damit, daß das Kind seine Nahrung nimmt, schauen und greifen lernt und die ersten Laute der Muttersprache stammelnd nachbildet, und sie endet mit dem Tode. Im Elternhause sind Mutter und Vater die liebevollen Lehrer, sie erwecken das beruhigende Gefühl, daß der Mensch nicht aUein ist, [211] sondern fördernde Hilfe findet; Geschwister und Kameraden in Spiel und Schule sind die ersten, die uns ins genossenschaftliche Wesen einführen. Ihr Einfluß ist größer, als Eltern und Lehrer gerne zugeben wollen, denn das Kind versteht das Kind am besten, weil es ihm gleichgeartet ist, und im Kinde erwacht der Ehrgeiz, es den andern gleichzutun und sie zu überholen. Was dann draußen im Leben an erziehenden Einflüssen sich geltend macht, brauchen wir nicht im einzelnen zu verfolgen, noch an Beispielen deutlich zu machen, es läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Zu einem Teile wirkt es dahin, die Menschen in die gesellschaftlichen Einrichtungen einzuführen, zum andern Teile paßt es die Menschen den Machtbildungen an. Die Macht ist die eigentliche Erzieherin des Lebens. War es im Elternhause und in Schule und Spiel die Macht der Liebe und des genossenschaftlichen Sinnes, so sind es dann draußen neben fördernden Mächten, die ganz zu entbehren nur dem Allerunglücklichsten auferlegt ist, noch allerlei rauhere und feindliche Mächte. Die Mächte, die dem Menschen im Leben begegnen, sind nicht nur jene, die wir als Lebensmächte zu bezeichnen haben, es sind auch Ordnungsmächte und Kulturmächte. Für sie alle bekommt man die Fühlung einerseits durch die Vorteile, die man gewinnt, wo man sich ihnen einordnet, anderseits durch die Stöße, die man empfängt, wo man an sie anrennt. Man wird in der Psychologie des „Man“ geübt und lernt durch sie, sich in die allgemeinen Bahnen einstellen und sich mit den andern gleichrichten, man lernt die Gelegenheiten kennen, wo noch Raum gegeben ist, um sich selbständig zu bewegen, wo man Genossen findet, um gegen drängende Gewalten Widerstand zu leisten, und wo Führer, um ihnen auf neuen Wegen zu folgen. Es ist ein unendliches Ausmaß von Kenntnissen und Geschicklichkeiten, die durch die Erziehung der Macht selbst dem unbedeutendsten Individuum beigebracht werden, wenn es nur den Gebrauch der Vernunft besitzt. Die Macht als Erzieherin dient dem einfachen Manne als untrüglicher Wegweiser, damit er den Platz im Volke einnehme, der ihm nach seinen Verhältnissen zukomme. Der Gelehrte, der ein Jahrtausend später die überlieferten Geschichtswerke liest, wird sich in gar vielem nicht zurechtzufinden wissen, was dem ungclehrtesten Manne der Zeit als selbstverständlich galt, weil er dafür erzogen war.
Die Masse der Individuen wird nur für die enge Sphäre erzogen, die ihnen in der arbeitsteiligen Gliederung und Schichtung der Gesellschaft zugemessen ist; in das Spiel der großen Mächte von Staat und Volk erhalten sie keinen Einblick, sie werden nur durch die Erfahrung über die Gelegenheiten belehrt, wo sie mit ihnen zusammenstoßen, und über die [212] Art und Weise, wie sie sich ihnen zu fügen haben. Die Menschen von größerem Wirkungskreise haben ein weiter ausgedehntes Gesichtsfeld, doch gibt es niemand, dem das Ganze der geschichtlichen Bildungen auch nur eines einzelnen Staates und Volkes geläufig wäre. Es bedarf immer des Zusammenwirkens der vielen, um das Ganze im Gange zu halten. Obwohl kein einzelner den vollen Zusammenhang erkennt, ist dieses Zusammenwirken doch dadurch ermöglicht, daß jeder sich mit seiner Umgebung in der gewohnten Weise zurechtfindet. Auf diese Weise ist die Kette der Verbindungen überall geschlossen, und das Zusammenwirken der menschenreichsten Vielheiten mit allen ihren unendlichen Verwicklungen kann fast reibungslos ablaufen, solange man sich in den geschichtlich eingefahrnen Bahnen bewegt, und es ist sogar ohne allzuschwere Reibungen tunlich, die gegebenen Bahnen zu erweitern, solange die Entwicklung nicht allzu rasch ins Unbegangene weiterstrebt. Auch der Blick der Führer ist immer eingeschränkt, auch sie sind durch geschichtliche Erziehung wie belehrt so gebunden. Die meisten von ihnen begnügen sich ja an Aufgaben, deren Ziel die Verbesserung der bestehenden Einrichtungen ist, und hiefür reicht es aus, wenn sie der Masse im Gebrauche der Mittel überlegen sind, die den Einrichtungen dienen. Es sind nur verhältnismäßig wenige, die mehr tun wollen und als Führer neuer Kräfte vorangehen, indessen auch diese großen und größten Führer schließen an das geschichtlich Gegebene an, und zwar selbst dann, wenn sie es von Grund auf neu gestalten wollen. Für den Erfolg ihrer Führung ist es am Ende immer entscheidend, daß sie für die von ihnen aufgerufenen Kräfte die Nachfolge der Masse gewinnen, und diese ist ganz außerhalb des geschichtlichen Zusammenhanges nicht zu gewinnen.
Die Anhänger der bestehenden Gewalten können es nicht anders denken, als daß das Bestehende eben dadurch, daß es besteht, seinen Sinn rechtfertige ; für sie bedeutet das Alte die Stetigkeit, die Ordnung, die Kraft, während das Neue die Unruhe, den Zusammenbruch, die Ohnmacht bedeutet. Die Neuerer wieder leugnen jeden Sinn des Alten, das seinen Bestand nur der äußeren Gewalt verdanke, und sie nehmen [213] allen Sinn ausschließlich für die Forderungen in Anspruch, zu denen sie durch die Bewegungen des tätigen Lebens hingeführt werden, für die sie jedoch freilich das Maß gerne aus dem luftigen Reiche der bloßen Idee nehmen. Für sie ist das Bestehende Hemmung, Stillstand, Verdummung, Verarmung, Knechtschaft der Massen, das Neue ist der, geistige und materielle Fortschritt, die Freiheit, das allgemeine Wohl. Dabei geht jede Partei im guten Glauben vor, denn der Eifer, mit dem jede sich für berufen hält, jene gesellschaftlichen Werte zu schützen, für die ihr das Interesse die Augen öffnet, macht sie zugleich blind für alles, was außerhalb des Strahlenkegels ihres Interesses liegt. Der Theoretiker steht beiden Parteien unvoreingenommen gegenüber, sie gelten ihm beide als Vertreter von Funktionen, die im Leben der Gesellschaft nicht entbehrt werden können. Wenn in der Gesellschaft nicht ein Trieb der Erhaltung der Macht bestünde, so hätte sie keine innere Festigkeit und wäre von Tag zu Tag dem Verfalle preisgegeben. Und wenn daneben nicht ein Trieb nach Erneuerung der Macht bestünde, so würde sie erstarren.
Von den Aufgaben, die sich dem Theoretiker darbieten, wenn er das Gegenspiel der beiden Triebe verfolgt, soll die erste, die wir vornehmen, eine möglichst eindringliche Untersuchung der geschichtlichen Macht sein:
Von geschichtlicher Macht haben wir zu sprechen, wenn wir eine Macht vor uns haben, der die Zeit gegönnt war, andauernd Herrschaft über die Gemüter zu üben und dadurch an Stärke zu, zunehmen. In der geschichtlichen Macht ist der Niederschlag von Kräften gesammelt, die lange Zeit hindurch tätig sind und dadurch zu gewaltiger Wirkung erhöht werden, mag auch die einzelne Kraft nur ganz unmerklich ihr Werk tun. Willig oder widerstrebend beugt sich der geschichtlichen Macht alle Welt, jeder große Staatsmann nimmt sie, so wie er sie vor sich sieht, in seinen Kalkül auf. Nur die Ideologen bemerken sie nicht früher, als bis ihre ausschweifenden Gedanken vor ihr zu schänden werden. Gesellschaftslelire und Geschichtschreibung haben sich viel zu wenig mit ihr befaßt, die Historiker haben zwar fort und fort über ihr Wirken zu berichten, doch ihr Wesen ist ihnen so gut wie fremd geblieben. Eine Geschichtschreibung, die das Gesetz der geschichtlichen Macht nicht kennt, vermag ihren Gegenstand so wenig zu meistern wie eine Geologie, welche die Wirkung der Zeit nicht berücksichtigt. Darf die Wissenschaft vom zeitlichen Geschehen die Macht der Zeit unbeachtet lassen ?
Es gibt zwei große Formen der geschichtlichen Macht, die geschichtlich [214] eingelebte und die geschichtlich wachsende Macht. Alles geschichtlich Eingelebte hat schon deshalb erhöhte Macht, weil die Menschen sich mit ihrem Sinne und ihren Einrichtungen darauf einstellen; es wird mit zahlreichen andern Bildungen auf das engste verflochten, so daß es durch diese mit seinen Halt empfängt. Noch ergiebiger muß der Machtzuwachs für jene gesellschaftlichen Kräfte sein, die mit der Dauer ihres Bestandes selber an Wirksamkeit wachsen. So wie der gesunde Baum im Laufe der Jahre und Jahrhunderte zu stattlicher, ja zu gebietender Höhe aufwachsen kann, so können sich aus bescheidenen gesellschaftlichen Anfängen im Laufe der Zeiten stattÜche und gebietende geschichtliche Bildungen erheben. Und so wie der Stamm des Baumes, selbst wenn seine Lebenskraft verdorrt ist, durch das feste Gefüge von Holz und Rinde noch lange Zeit aufrecht erhalten bleiben kann, so kann geschichtliche Macht, die einmal erworben ist, selbst in erstarrten Bildungen sich noch lange aufrechterhalten, wenn auch die zeugende Kraft nicht mehr wirkt, die ihr den Ursprung gab.
Wenn man, wie es häufig geschieht, eine gesellschaftliche Macht der Gewohnheit, des Herkommens, der Überlieferung gelten läßt, so sind alle diese Namen zu klein, als daß sie die große Erscheinung decken könnten, von der wir jetzt zu sprechen haben. Diese Namen legen die Vorstellung nahe, daß die Macht der Massengewohnheit das bloße Vielfache der Macht der persönlichen Gewohnheit sei. Das ist aber nicht so, die Massengewohnheit hat zwar ein gewisses Element mit der persönlichen Gewohnheit gemeinsam, aber sie ist durch ein anderes Element weit über sie gesteigert, so weit, daß wir sie nicht mehr als deren bloßes Vielfaches, sondern eher als ihre Potenz anzusehen haben. Die persönliche Gewohnheit behauptet sich dadurch, daß sie die Willensanstrengung erspart, wie man sie beim freien Entschluß aufbringen muß, die Massengewohnheit behauptet sich aber nicht allein dadurch, daß sie allen Beteiligten die Erleichterung gibt , in der einmal eingeschlagenen Willensbahn zu verbleiben, sondern es kommt als weiteres und viel gewichtigeres Element die Erkenntnis hinzu, daß jeder in seiner Bahn verbleiben muß, sobald diese einmal zur allgemeinen Bahn geworden ist. Wenn man mit andern beisammenbleiben will, wie es in gesellschaftlichen Dingen selbst der freieste Geist bis zu einem weiten Grade tun muß, so darf man nicht ganz abseits von der Heerstraße des Fühlens, des Denkens, des Handelns bleiben, und soweit man sie zu gehen hat, soweit muß man sich denn [215] auch ihren Ordnungen fügen, die in den Massengewohnheiten bindend niedergelegt sind. Die Massengewohnheit bindet die Individuen dadurch, daß jederman damit zu rechnen hat, daß auch alle „andern“ sich durch sie gebunden fühlen; selbst wenn man seine persönliche Weise ändern wollte, muß man doch bei ihr bleiben, solange die andern in hergebrachter Weise weitergehen, und weil dies ein jeder von den andern so denkt, so sind alle gebunden. Der Wille jedes einzelnen ist ohnmächtig gegenüber dem allgemeinen Willen. Es müßten alle oder doch die meisten zugleich ihren Willen ändern, um die Macht der Massengewohnheit zu brechen.
Gerade das ist aber durch das Wesen der Masse, durch das Gesetz der Massentechnik ausgeschlossen. Die Masse als solche kann nicht in der Weise Beschlüsse fassen oder sich verständigen, wie das innerhalb eines kleinen Kreises von Menschen möglich ist; ein paar Nachbarn mögen sich darüber verständigen, gewisse Gebräuche zu ändern, die zwischen ihnen üblich waren, man kann sich aber nicht mehr auf solche Weise verständigen, sobald es sich nicht bloß um eine Übung handelt, die einige Nachbarn allein angeht, sondern um einen Brauch des ganzen Landes oder selbst nur um einen Brauch des ganzen Dorfes. Was einmal «ingelebt ist, gilt fürs nächste weiter, weil es eben da ist; fast möchte man von einem gesellschaftlichen Gesetz der Trägheit sprechen, das die bestehenden Ordnungen des Lebens überall aufrecht erhält, wo nicht durch neue Anstöße die Masse unter neuen Führern zu neuen Richtungen des Handelns getrieben wird. Das einmal eingebürgerte Gute ist der Feind des Bessern, und selbst das minder Gute der Feind des Guten. Diese Beobachtung bietet sich immer wieder zum Erstaunen und zum Ärger derjenigen dar, die stets alles auf das beste haben wollen und denen es das einfachste Ding von der Welt scheint, die Gedanken der Millionen unter einen Hut zu bringen. Man sollte im Gegenteil immer darüber verwundert sein, wenn man das Werk der wechselseitigen Verständigung von Millionen oder auch nur von Hunderttausenden oder Tausenden irgendwo vollendet findet, ohne daß den Millionen oder Hunderttausenden oder Tausenden die Möglichkeit gegeben war, sich über ihr Vorgehen untereinander zu beraten und ausdrücklich zu einigen. Dem öffentlichen Urteil ist es heute ganz geläufig, daß jeder wirtschaftliche Produktionsprozeß sein Gesetz habe und daß man auf gar manche wirtschaftliche Erfolge verzichten müsse, weil die Technik die entgegenstehenden Hemmungen überhaupt nicht oder nicht ohne zu große Kosten überwinden kann — daß auch die Massentechnik ihr Gesetz hat, wollen gerade unsere Techniker am wenigsten begreifen. Die Massentechnik [216] erlaubt den Menschen nur die eine Art der Einigung, daß sie alle, und zwar jeder für sich, denselben Vorbildern nachfolgen, ein mühsames, schwerfälliges Verfahren, bei dem es dahingestellt bleiben muß, ob wirklich der beste Weg gefunden wird, und bei dem derjenige Weg, der einmal den Vorsprung der Zeit für sich hat, dadurch, daß er allgemein benützt wird, vielleicht jeden andern verlegt. Die Verhältnisse müssen sich von Grund aus ändern, die bisher geübte Ordnung muß geradezu als unerträglich empfunden werden, bis eine neue Ordnung sich dadurch bildet, daß die Masse, wie wir es eben sagten, durch neue Anstöße unter neuen Führern zu neuen Richtungen des Handelns getrieben wird, während die alte Übung abbröckelt.
Die Massentechnik arbeitet mit den zwei Elementen des Sinnes und der Übung oder des Brauches. Der Laie ist der Meinung, daß der Sinn schlechthin entscheiden müsse, das ist aber keineswegs so der Fall, es kommt ganz darauf an, ob der größere Erfolg — denn die gesellschaftlichen Entscheidungen hängen stets am Erfolg — durch den Sinn oder durch den Brauch erreicht wird. Der Sinn steht in deutlicher Beziehung zum Erfolg, er ist die erkannte Zweckmäßigkeit, der als befriedigend erkannte Erfolg. Nicht so deutlich wahrnehmbar ist der Erfolg, den der Brauch vermittelt, und der ihm seine Macht gibt; er liegt nicht im Gegenstande des Brauches, wo man ihn zunächst sucht, sondern er hegt in der im Laufe der Zeit erworbenen Einheitlichkeit der Übung. Eine Übung, die den höchsten Sinn ihres Gegenstandes nicht trifft, wird doch aus ihrer Einheitlichkeit den besondern Sinn schöpfen, daß ihre Befolgung die Reibungen und Störungen erspart, welche jede bloß persönliche Lösung mit sich bringen müßte.
Die Macht der Übung zeigt sich am deutlichsten bei der Geltung des Konventionellen in der Gesellschaft. Darunter hat man alles das zu verstehen, was durch seinen Gebrauch gilt, aber eben dadurch so fest gilt, als ob es durch eine bindende Konvention festgelegt wäre. Daß man über das Konventionelle durch eine förmliche Konvention übereingekommen sei, davon kann natürlich nicht die Rede sein. So wenig Staat, Sprache, Geld durch Vertrag entstanden sein können, so wenig kann dies bei den Regeln der äußeren Sitte oder bei irgendeinem andern Gegenstand konventioneller Ordnung der Fall sein. In aller Regel wird das Konventionelle unter dem unmerklichen Einfluß anonymer Führung aufgewachsen sein, in manchem Falle mag es vielleicht auf die Anordnung [217] irgendwelcher organisierten Gewalt zurückgehen, indes für seine Geltung kommt es auf die Art seiner Entstehung gar nicht mehr an. Auch auf seinen Sinn kommt es nicht so sehr an; freilich darf das Konventionelle nicht sinnwidrig sein, ein Längenmaß muß irgendwie den Verhältnissen der Länge angepaßt sein, mit deren Messung man es praktisch zu tun hat. Innerhalb dieses Spielraumes gibt es indes eine ganze Reihe von Möglichkeiten, und das Konventionelle ist immer nur eine der möglichen Lösungen, und oft nicht einmal die beste.
Nehmen wir z. B. die übliche Einteilung des Jahres in Monate und Wochen. Sie hat sich keineswegs dadurch eingebürgert, daß sie die sinnvollste unter allen möglichen Einteilungen wäre. Im Gegenteil, sie ist so unpraktisch , daß wohl die Mehrzahl der Menschen immer noch nicht darin sicher werden konnte, welche Monate 30 und welche 31 Tage zählen. Der Geschichtskundige weiß zu sagen, wie diese Einteilung entstanden ist, welche andern Einteilungen ihr vorbereitend vorausgegangen Bind und welche weltliche oder geistliche Obrigkeit die letzte Ordnung getroffen hat ; für die Masse der Menschen kommt indes hierauf gar nichts an, für sie ist es eben die geschichtliche Macht, die den hergebrachten Kalender in Geltung hält. Der naive Mensch ordnet sich dieser geschichtlichen Macht so vollständig unter, daß er die geltenden Namen der Wochentage nicht für Namen, sondern schlechthin als die Sache selber nimmt. Der Sonntag ist für ihn nicht jener Wochentag, den man Sonntag nennt, sondern e r ist der Sonntag, der ihm durch die besondere Sitte dieses Tages und durch das besondere Sonntagsgefühl deutlich ausgezeichnet ist. Der Kalender, den die Gesetzgebung der französischen Revolution auszirkelte, war mit seinen wohlgewählten Bezeichnungen und seiner bis auf eine kleine Unterbrechung regelmäßigen Folge der Dekaden ohne Zweifel sinnreicher angelegt als der altübliche Kalender, dennoch war seine Verkündung ein Irrtum. Der revolutionäre Drang der Zeit, der Glaube des französischen Volkes, oder genauer, seiner revolutionären Führer, an die siegreiche Kraft der Vernunft ermöglichte es zwar der Gesetzgebung — wozu kein absoluter König den Mut gefunden hätte — den neuen Kalender im amtlichen Gebrauch einzuführen, aber in den Gemütern des Volkes dürfte er der geschichtlichen Macht des alten Kalenders kaum Herr geworden sein. Wenigstens berichtet ein geistreicher Beobachter jener Zeit, daß die Dekaden sich gegen die „Macht des weißen Hemdes“ nicht durchzusetzen vermochten, auf das zu verzichten dem Arbeiter sein Sonntagsgefühl nicht erlaubte. Jedenfalls besaß die französische Republik nicht die Kraft, ihren Kalender der übrigen Welt aufzuzwingen, und so blieb zuletzt [218] nichts übrig, als wieder zur allgemeinen Übung zurückzukehren, falls man sich nicht auf seine nationale Welt beschränken wollte.
Das Konventionelle hat sich zunächst immer in verhältnismäßig engen örtlichen Bezirken ausgebildet, erst mit zunehmendem Verkehr hat sich für weitere Gebiete eine einheitliche Ordnung durchgesetzt, die am ehesten von der Ordnung desjenigen Bezirkes ausging, welcher den Verkehr beherrschte. Tn vielen Fällen hat es staatlicher oder kirchlicher Nachhilfe bedurft, um die alten örtlichen Verschiedenheiten ganz auszutilgen. Dabei mußten Staat und Kirche wohl ihre ganze Macht einsetzen, um die Widerstände zu überwinden, die ihnen die geschichtliche Macht des Eingelebten bereitete. Um die wissenschaftlich unanfechtbare Gregorianische Kalenderreform durchzusetzen, bedurfte es in der katholischen Welt der ganzen Autorität der Kirche, die durch ihre Organisation in den Stand gesetzt war, die päpstliche Anordnung von allen Kanzeln zu verkünden. Es brauchte einige Zeit, bis sich die protestantische Welt dem guten Sinn der Reform fügte ; in der Welt der griechisch-orientalischen Kirche leistet die geschichtliche Macht des alten Kalenders immer noch Widerstand, obwohl die zunehmende Bedeutung des Weltverkehres immer mehr nach einer einheitlichen Ordnung für die ganze gebildete Welt verlangt. Selbst eine verhältnismäßig so eingeschränkte Aufgabe wie die Änderung des Geldwesens oder der Maßund Gewichtsordnung begegnet im Brauch des Volkes außerordentlichen Widerständen und es müssen ganz besondere Interessen daran hängen, bis sich die Regierung dazu entschließt, den Kampf mit diesen Widerständen aufzunehmen. Trotz seiner überzeugenden Vorzüge hat sich das metrische System bisher in der Welt noch nicht vollends durchgesetzt und ein einheitliches Weltgeld hat vollends vorläufig noch gar keine Aussicht, durchgesetzt zu werden.
Alle großen Lebensmächte haben einen starken konventionellen Einschlag. Ihre Formen sind voll eingelebt und sie empfangen daher schon aus dem bloßen Gebrauch eine geschichtliche Macht, durch die sie sich aufrechterhalten könnten, selbst wenn sie keinen weiteren Halt hätten. Auch für die höchsten Kulturmächte gilt dasselbe. Der Glaube wirkt auf die große Menge immer auch durch das Ritual der Glaubensübung und jede Kirche weiß sich dieses Mittels der Wirkung zu bedienen ; an dem religiösen Gefühl der Menge hat die Pietät für die überlieferte Glaubensübung reichlich so viel Anteil als die religiöse Überzeugung. [219] Ebenso haben Sittlichkeit, Recht, Kunst und Wissenschaft immer auch ihre äußeren Regeln und diese Regeln haben ihr Leben für sich und gelten bei den späteren Geschlechtern durch die bloße Überlieferung weiter, auch wenn diese nicht mehr recht verstehen, warum sie gelten, ja sie können durch gewisse Zeit noch weiter befolgt werden, auch nachdem sie ihre innere Geltung eigentüch verloren haben. Im letzten Grunde entscheidet bei den Kulturmächten aber doch immer die innere Geltung, im letzten Grunde beruht jede Kulturmacht auf ihrem Sinne, und die Übung wird sich auf die Dauer immer nur behaupten können, wenn sie durch den Sinn bestätigt ist. Freilich gilt immer nur derjenige Sinn, den die Menge begreift, und es ist dies in den Anfängen des Kulturlebens selbst der begabtesten Völker ein rauher, fast brutaler und daneben wieder ein kindlicher, fast einfältiger Sinn. Der Sinn vollends, wie ihn die unbegabten, keiner Entwicklung fähigen Volksstämme begreifen, ist für eine gereifte Anschauung geradezu Unsinn, ihr Glaube ist für diese dumpfester Aberglaube, ihre Moral verbrecherische Roheit, ihr Recht Gewalttätigkeit, ihr Wissen Torheit, ihre Kunst ein bloßes Stammeln, und doch spricht ein solcher kaum entwickelter und schon in seinen Anfängen mißbildeter Sinn zu den Menschen dieser Stufe überzeugend und er verleiht den Lebensmächten zu der Geltung, die sie durch den äußeren Gebrauch haben, noch eine innere Geltung hinzu, die ihnen feste Herrschaft über die Gemüter gibt. Der Kult eines wilden Stammes hat keine Beziehung zu einem gütigen gerechten Gott, den der rohe Sinn nicht zu begreifen vermag, er hat nur eine Beziehung zu Dämonen oder irgendwelchen andern Ausgestaltungen der Lebensfurcht, aber schon durch diese Beziehung ist er mit den Seelen verwachsen und ein Eingriff in den Kult wird nicht nur dem Widerstand der Gewohnheit, sondern er wird dem ungleich stärkeren Widerstand begegnen, mit dem der Instinkt sich gegen alles wehrt, was wider die Natur des Menschen gefühlt wird. Den gleichen Widerstand setzt der Geist eines niedrigen Volkes allem entgegen, was für ihn zu hohen Sinnes ist. Mit Erbitterung weist er jeden Versuch zurück, der gemacht wird, ihn aufzurichten, er gleicht dem Knieholz, das sich nicht vom Boden erheben kann und das man bricht, wenn man es zum Baum aufrichten wollte. Die dichtverwachsene Macchia der Unkultur zurückgebliebener Völker ist selbst in ihrer Niedrigkeit, ihrer Schwäche, ihrer Ohnmacht eine geschichtliche Macht. Bei Völkern höherer Entwicklung verbinden sich die Kulturmächte dem Innern auf das innigste. Die ganze Fülle des Sinnes, den reiner Glaube, gesundes Recht, eindringende Erkenntnis, hohe Kunst ausströmen, wird von den aufnahmsfähigen Seelen begierig aufgenommen und verwächst [220] mit ihnen zu erhöhtem Leben. Jeder Eingriff von außen wird wie ein schmerzhafter Schnitt ins Lebendige gespürt und erweckt die heftigsten Kräfte der Abwehr. Ein Glaube, der in wirklicher Überzeugung wurzelt, verteidigt sich mit der ganzen Stärke des Selbsterhaltungstriebes.
Im Wachstum der geschichtlichen Macht bewährt sich die Kraft des Sinnes. Die geschichtliche Macht der Konvention scheint größer, weil ihre Bildungen der Zeit oft in unveränderlicher Gestalt trotzen. Diese Anlage zur Dauerhaftigkeit gereicht der Gesellschaft zum Vorteil, wo es auf den Sinn nicht weiter ankommt ; wo aber lebendiger Sinn wirken soll, wäre Unveränderlichkeit Erstarrung, und dort ist daher im Interesse der Gesellschaft an Stelle der starr eingelebten die lebende, die wachsende geschichtliche Macht gefordert, die zerstört, indem sie schafft, aber auch schafft, indem sie zerstört.
In jedem entwickelten Volkswesen bestehen und wachsen immer eine große Anzahl geschichtlicher Mächte nebeneinander, mit geteilten Aufgaben und in mannigfach abgestufter Stärke. Oft ist ihre Entwicklung von hartnäckigen Kämpfen begleitet, indem jede von ihnen den andern als Vormacht vorangehen möchte, zwischen den stärksten entbrennt der Kampf um die dominante Stellung. So war es zwischen Staat und Kirche. Wir können aber auch beobachten, daß Mächte, die lange miteinander in Streit waren, sich später im Bündnis zusammenfinden, sobald neue Mächte aufkommen, gegen die sie sich nur zu behaupten vermögen, wenn sie gemeinsam gegen sie Front machen. So haben sich Staat und Kirche, Fürst und Adel gegen das aufsteigende Bürgertum und schließlich mit dem Bürgertum zusammen gegen das aufsteigende Proletariat verbündet. In solchen Fällen haben wir eine äußere Vereinigung geschichtlicher Mächte vor uns, die in der Not des Kampfes sehr enge werden kann, die aber vielleicht unter geänderten Verhältnissen bald wieder auseinanderfallen wird. Die Kirche wird sich der sinkenden Monarchie nicht bis ans Ende verbunden fühlen, um mit ihr unterzugehen, sondern sie wird gemäß ihrem Grundsatz, die bestehenden Mächte anzuerkennen, sich den republikanischen und selbst den sozialistischen Gewalten anzupassen wissen, falls diese ihr nicht ihrerseits den Krieg aufs Messer erklären. Es gibt jedoch Verbindungen von geschichtlichen Mächten, die viel enger ineinander verwachsen, als diejenigen, die durch bloßes Bündnis zusammengefügt sind. Man kann geradezu von geschichtlichen Symbiosen sprechen, bei denen jede der [221] verbundenen Mächte in ihrer Existenz davon abhängig ist, daß sie mit einer oder mehreren andern zusammengeht. Wenn der Grundherr die kriegerische Arbeit auf sich nimmt, durch die er den Bauern gegen den äußeren Feind verteidigt, und wenn der Bauer umgekehrt dem Grundherrn wirtschaftliche Leistungen abgibt, die diesem die Haushaltung ermöglichen, so liegt echte Symbiose vor, beiderseitige Lebensabhängigkeit zu beiderseitigem Nutzen, aus dem Erfolge gewachsen. Übrigens mag auch eine solche Symbiose ihre Geltung nicht für immer behaupten, denn in der Geschichte ist alles in ununterbrochenem Werden, und sie mag am Ende ihren Charakter ganz und gar verlieren, wenn der Erfolg auableibt.
Die vielfältigste Symbiose finden wir heute wohl im Verhältnis des Staates zu den Staatsgliedern. Der Staat gibt seinen Mitgliedern nicht nur Waffenschutz und Rechtschutz, sondern außerdem noch die mannigfaltigste Hilfe überall dort, wo die gemeine Kraft eingreifen muß, weil die Einzelkraft nicht mehr zureicht. Anderseits empfängt er von seinen Bürgern auf unübersehbar vielen Wegen die Mittel zu seiner machtvollen Existenz. All die Fäden, die zwischen ihm und den Bürgern hin und wider laufen, sind geschichtlich gesponnen und geknotet, und der Staat hat dadurch eine geschichtliche Macht erworben, welche die Gemüter von allen Seiten her beherrscht, während er seinerseits die Fühlung dafür hat, daß er die geschichtlich erworbene Stellung seiner Bürger ebenso nach allen Seiten hin achten muß.
Der Leser möge nun gestatten, an einem besonders ' deutlichen Beispiel zu zeigen, wie die geschichtliche Macht sich durch den Brauch erhält und wie sie zugleich an ihrem Sinne aufwächst und mit ihm schwindet, und wie sie endlich ihre Geltung durch Symbiose steigert. Wir wählen dazu die Entwicklung der Volkssprache. Es ist dies ein Problem, das viel weniger beachtet wird als das viel untersuchte Problem des Ursprungs der Sprache ; dem Soziologen liegt es eigentlich viel besser, denn der Ursprung der Sprache führt in das geheimnisvolle Dunkel der Anfänge zurück, in denen die Instinkte den Ausschlag geben, während die Gesellschaftslehre den Zusammenhängen im helleren Bewußtsein des gesellschaftlichen Lebens nachgeht. Die Entwicklung der Sprache vollzieht sich in diesem helleren Bewußtsein.
Eine lebende Sprache hat ihre geschichtliche Macht aus beiden Quellen, die wir erkannt haben. Was die Formen ihres Ausdrucks betrifft, [222] vor allem die Worte der Sprache, so sind diese in der Hauptsache konventionelle Bildungen, deren Geltung auf dem allgemeinen Brauch beruht, der allerdings seinen Grund wieder in instinktiven Regungen der menschlichen Natur haben mag; so gibt es in jeder Sprache gewisse Worte, die in ihrem Klang gewissen Naturlauten nachgeahmt sind und dadurch einen eigenen Klangsinn haben. Was dagegen den Inhalt betrifft, den die Sprache auszusagen hat, so ist dieser durch den angesammelten Reichtum von Anschauungen, Empfindungen, Gedanken gegeben, die nach sprachlicher Mitteilung drängen.
In jeder lebenden Sprache sind Form und Inhalt auf das innigste verbunden. Keinem, der die Muttersprache braucht, ist es mehr bewußt, daß er konventionelle Formen gebraucht, für ihn sind Wort und Wortsinn untrennbar verbunden ; nur der Fremde, der die Sprache noch nicht beherrscht, muß sich durch das Wort zum Sinn durchringen, so wie der Fremde, der die Preise des Landes nicht kennt, sich erst auf den Wert der Geldsummen besinnen muß, die man ihm bietet oder von ihm fordert. Die Sprachform ist durch den Brauch eingelebt und sie ist, weil sie eingelebt ist, so festgelegt, daß sie sich aus sich kaum verändern würde. Der Sprachinhalt dagegen wächst und verfällt mit dem geschichtlichen Werden und Vergehen des Reichtums an Lebensinhalten, die bei einer Nation nach Mitteilung drängen. Wiederum kann uns der Vergleich mit dem Gelde die deutlichste Anschauung geben ; wie die Masse der Geldzeichen, die der Verkehr braucht, durch den Reichtum an wirtschaftlichen Werten bedingt ist, die in Umlauf kommen, so müssen bei zunehmendem Reichtum des Mitteilenswerten immer mehr Wortzeichen gebildet oder, wie man ja sagt, geprägt werden. Ein primitives Volk reicht mit ganz wenig groben Wortmünzen aus, eine große Nation hat einen reichen Wortschatz im täglichen Gebrauch, und ihre sprach gewaltigen Dichter, Schriftsteller und Redner wissen diesen Schatz durch ihre gestaltende Kraft oder auch aus den verborgenen Tiefen des Volksbesitzes auf das köstlichste zu mehren und im buntwechselnden Glänze schimmernd zu machen. Die deutschen Bauernkolonisten, die ohne Verbindung mit der Heimat im fernen Rußland angesiedelt sind und dort ihr einförmiges Bauernleben weiterführen, haben sich das einfache Deutsch aus der Zeit ihrer Wanderung bewahrt, dagegen brauchte der neue reiche Kulturinhalt, den sich das deutsche Muttervolk nach und nach gewonnen hatte, erweiterte Ausdrucksmittel, wie sie die Dialekte nicht bieten konnten, die bis dabin von Gau zu Gau gesprochen wurden. Dasselbe gilt für alle Kulturvölker; überall mußte mit wachsender Kultur eine bereicherte und verfeinerte Sprache geschaffen werden, die [223] nicht nur für die anschaulichen Erscheinungen und Ereignisse des einfachen Lebens, sondern auch für die neuen zusammengesetzten Lebensgestalten und für die begleitenden Gedanken den Ausdruck gab. Der Rohstoff der Dialekte mußte zu diesem Zweck abgeklärt und zugleich in der Logik seiner Form, in seiner Grammatik klarer und beweglicher werden, namentlich mußte die neue Sprache das trennende Besondere der Dialekte abstreifen, denn sie mußte zum ganzen Volke sprechen, weil der Schatz des Sinnes, den sie auszusagen hatte, im ganzen Volke gewachsen war und weiter wachsen sollte. Auf dem engen Gebiete eines einzelnen Stammes, selbst des begabtesten, konnte das neue Kulturwerk nicht gelingen, die Führerkraft des ganzen Volkes mußte ihr Bestes tun, um die ungeheure Aufgabe zu bewältigen. Immer zwar hat ein besonderer Stamm, ein besonderes Gebiet, eine besondere Stadt die Führung übernommen und hat, weil der kulturreichste Teil des Volkes, als erster das Wort ergriffen, durch die Fülle des Sinnes gedrängt, von dem das Herz voll war. Indem die andern Volksteile das Neue, das dieser Teil des Volkes zu sagen hatte, begierig aufnahmen, wurde mit dem Inhalt zugleich sein Dialekt, den er zur Schriftsprache zu meistern vermocht hatte, nationaler Besitz, der sich sodann aus den Beiträgen mehrte und veredelte, die von allen Seiten zuströmten. Auf diese Weise ist das Florentinische die Grundlage des modernen Italienischen geworden, aber schließlich mußten doch alle guten Geister Italiens zusammenwirken, aus dem Norden wie aus dem Süden, um mit der italienischen Kultur die italienische Kultursprache zu vollenden. Für Frankreich, England, Deutschland und jede andere Kulturnation gilt das gleiche. Für sie alle hat das Wunder, daß die Millionen einer Nation mit der gleichen Sprache reden, nur dadurch Ereignis werden können, daß die führenden Geister der ganzen Nation vom gleichen Streben bewegt die Sprache schufen, in der sie zueinander sprachen, und daß die Massen, die ihnen auf ihren Kulturwegen folgten, die neue Schriftsprache als die Nationalsprache bestätigten.
Bei den Völkern Mittelund Westeuropas hat das Aufkommen der neuen Nationalsprachen ein besonders lehrreiches Gegenstück in dem Absterben des Lateinischen, das bis dahin die Kultursprache des Abendlandes gewesen war und dessen lebendigen Sinn sie aufsaugten, so daß es selber zur toten Sprache wurde. Bis dahin war das mittelalterliche Latein ohne Staat und ohne Volk gleichwohl eine lebende Weltsprache gewesen, die man nicht entbehren konnte, weil in den barbarischen Volkssprachen von damals der Kulturinhalt der damaligen Welt, so dürftig er war, nicht hätte ausgesagt werden können. [224] Zur Zeit des Tiefstandes des mittelalterlichen Kulturlebens ein verdorbenes Latein, erhob es sich im Bildungsschwung des Humanismus wiederum zu großartiger Reinheit, mit dem Zusammenbruch des Humanismus wird es zur toten Sprache. Nachdem die Humanisten das Werk vollbracht hatten, die klassische Bildung, für die das Abendland erst jetzt ganz reif geworden war, bis auf den Grund auszuschöpfen, war das Fundament der nationalen Kultur in einer Breite gelegt, daß diese sich nun von selber aufbauen konnte. Neben der geistlichen Bildung war eine moderne Laienbildung aufgekommen, die sie bald überwuchs und die ihre lebendige Kraft wesentlich daraus ableitete, daß sie sich der nationalen Kultursprache bediente und daher nicht mehr auf einen engen abgetrennten Zirkel von Menschen eingestellt war, sondern, zum Ganzen des Volkes sprechend, sich aus der Übung des Volkes lebendig erhalten und aus dem wachsenden Sinne der Volkskultur ergänzen konnte. Überall sind die ganzen gebildeten Schichten und, durch Schule und Leben zunehmend, auch große Stufen der ungebildeten Schichten nach Form und Sinn der Schriftsprache zugeführt worden, die in nie ruhender Mitteilung von einer Generation zu den folgenden übertragen wird. Heute ist es ein unausdenkbarer Gedanke, daß jemals eine Kraft emporkommen könnte, die stark genug wäre, alle weitverzweigten Wurzelfasern einer lebenden Kultursprache auszujäten. Eine lebende Kultursprache kann nur mit der Volkskultur zusammen versinken, mit der sie in weitverzweigter Symbiose verbunden ist. Solange die Nation in lebendiger Kraft bleibt, bleibt sie es auch. Im Zeitalter des Nationalismus ist die geschichtliche Macht der Nationalsprache unbesieglich.
Die Bedeutung, welche die Erkenntnis der geschichtlichen Macht für dns Verständnis von Geschichte und Gesellschaft hat, erweist sich deutlich daran, daß sie uns den Schlüssel gibt, um die befremdliche Tatsache zu erklären, die uns so oft entgegentritt, daß die wenigen die Herrschaft über die vielen behaupten können. Es ist das Problem des Gesetzes der kleinen Zahl, wie wir es an einer früheren Stelle genannt haben. Der Volksmann hat für dieses Problem keine andere Erklärung als die Gewalt. Woher sollte aber der eine Herrscher die Gewalt aufbringen, um der Gesamtheit seinen Willen aufzuzwingen ? Er kann gegen das materielle Übergewicht der Masse nur aufkommen, wenn er neben den Gewaltmitteln, über die er etwa verfügt, noch irgendein [225] moralisches Element in die Wagschale werfen kann. Dieses moralische Element ist seine geschichtliche Macht, wie sie ihm als persönliche und mehr noch als dynastische Macht zuwächst. Ebenso zieht eine Adelsherrschaft oder die Herrschaft eines Herrenvolkes immer einen wesentlichen Teil der Herrschaft, die sie über die Gemüter besitzt, aus ihrer im Laufe der Geschichte gewachsenen Macht.
In das Wachstum der geschichtlichen Macht bietet uns die Geschichte keines Volkes einen so klaren Einblick als die des Römervolkes, welches das stärkste Herrenvolk der Antike und wohl der Geschichte überhaupt gewesen ist. Wir wollen darum den Prozeß des Wachstums der geschichtlichen Macht Roms in seinen Hauptzügen verfolgen, um an diesem großen Beispiel das Gesetz der kleinen Zahl zu entwickeln.
Das Römervolk hätte seinen Siegeszug über die Welt nicht machen können, falls es nicht jedem einzelnen der Völker überlegen gewesen wäre, mit denen es sich in der Folge der Jahrhunderte zu messen hatte, selbstverständlich aber konnte die Kraft, mit der es in die Geschichte eintrat, nicht groß genug sein, um allen Völkern auf einmal die Spitze zu bieten, die es sich nach und nach unterworfen hat. Zuerst war es gegenüber seinen nördlichen Nachbarn, den mächtigen Etruskern, sogar im schweren Nachteile und selbst gegenüber den stammverwandten Latinern, die im Osten und Süden seine Nachbarn waren, befand es sich nicht im klaren Vorteil. Es bedurfte jahrhundertlanger schwerer und wechselvoller Kämpfe, bevor sich die Römer der Etrusker erwehrt und die Latincr und sodann den tapfersten der Stämme Mittelitaliens, die Samniter, unterworfen hatten. Erst als nach weiteren Kämpfen, in denen die Entscheidung auf der Schneide des Messers stand, der karthagische Nebenbuhler aus dem Wege geräumt war, folgten die späteren Eroberungen im Weiten der Welt einander leichter und rascher, denn nun erst war die römische Überlegenheit klar geworden. Die Stadt war der Mittelpunkt eines großen Staates geworden, immer mehr äußere Machtmittel wurden bei ihr als der Weltsiegerin versammelt, immer mehr Bundesgenossen und unterworfene Völker standen zu ihrer Verfügung, und sie konnte ihre Kräfte zunehmend wirksamer an den Reichtümern ausbilden, die ringsumher Könige und freie Staaten angehäuft hatten und nun der siegenden Stadt überlassen mußten. Entscheidend ist jedoch die Tatsache gewesen, daß das römische Volk die Gabe mitbekommen hatte, mit der Größe seiner Verhältnisse selber zu wachsen. Es ist kein bloßes Kriegervolk geblieben, wie die meisten Siegervölker sonst, sondern es wußte sich und, bei aller Willkür vieler seiner Statthalter, doch auch seinen Untertanen eine bewunderungswürdige rechtliche [226] Ordnung zu geben. In der ununterbrochenen Folge der Siege wuchs die römische Herrennatur zu einem Herrenwillen auf, der sich die höchsten Ziele setzen durfte, und erwarb sich neben der militärischen eine politische Meisterschaft, die den Sinn der Herrschaft auf das vollständigste ausschöpfte. Hat es jemals eine politische Körperschaft gegeben, in der so viele Erfahrung und neben unbedenklichster Rücksichtslosigkeit wieder so viel Voraussicht und Klugheit vereinigt war, wie im römischen Senat ? Gewaltig mußte auch die Wirkung der Siege ohne Zahl auf die Lage und den Sinn der unterworfenen Völker sein. Während das große Rom immer mächtiger anwuchs, waren sie entwaffnet, verarmt und, was am meisten ins Gewicht fiel, ihrer Organisation, ihrer Führung und ihres Selbstvertrauens beraubt. Wer durfte noch hoffen, gegen die Weltsieger aufzukommen ? Ab und zu empörte sich da oder dort ein Stamm oder eine Landschaft, aber die Römer konnten gegen jeden Empörer außer ihrer eigenen Kraft immer noch die des ganzen Reiches einsetzen. Die Römer hatten sich nach und nach so viele Länder unterworfen, daß sie innerhalb ihres Herrschaftsgebietes nur die ausgesprochene Minderheit gegen eine übergroße Mehrheit waren; ein Bündnis, in welchem sich alle Unterworfenen geeinigt hätten, hätte sie mit Leichtigkeit niederwerfen können, indes zu einem solchen Bündnisse fehlten alle geschichtlichen Voraussetzungen, es fehlte jede Überlieferung eines solchen Bündnisses, es fehlte jede Gesinnung, die eine Überlieferung hätte schaffen können; unter den besiegten Völkern gab es kaum mehr ein Volksbewußtsein, noch weniger gab es eine Verbindung von Volk zu Volk. Wie in dem großartigen Straßennetze des Reiches Rom der Mittelpunkt war, nach welchem alle Wege führten, so war Rom auch für die Gemüter der Welt der Mittelpunkt, nach welchem sich alles in Unterwürfigkeit neigte. Das Wort des römischen Dichters „vos non vobis“ hat, ihm selbst unbewußt, seine Anwendung auf Roms Untertanen: „Ihr müht euch mit eurer Kraft, aber ihr müht euch nicht für euch, ihr müht euch, für eure Herren “ Sie alle dienten mit ihrer Kraft machtmehrend dem Sieger, der sich den Löwenanteil des gemeinsam errungenen Erfolges in Krieg und Frieden zurechnen durfte. Nach dem äußeren Kalkül der Volksziffern waren die Römer in ihrem Reiche eine verschwindende Minderheit gegen eine überwältigende Mehrheit, nach dem moralischen Kalkül, der politisch entscheidet, besaßen sie die unbedingte Überlegenheit. Auf seiner Höhe war das kaiserliche Rom den Völkern des Mittelmeerbeckens weit überlegener als das ursprüngliche Rom der Könige seinen Nachbarn, es hatte geschichtliche Macht sondergleichen [227] hinzugewonnen. Solange diese geschichtliche Macht aufrecht blieb, solange mußte das Gesetz der kleinen Zahl gelten.
Je mehr die geschichtliche Macht des Römertums aufwuchs, umsomehr wuchs auch die Führermacht innerhalb des Römertums. Mit der Größe der Verhältnisse steigerte sich die Bedeutung der militärischen und politischen Führung gegenüber der Leistung der Masse, die Führer waren es, bei denen sich die politische Erfahrung zur Meisterschaft ausbildete, sie allein verstanden den Sinn des politischen Spieles und sie waren es daher, die das große Spiel spielten, die einfachen Bürger wurden die Würfel in ihrer Hand. Die Gewinne, die im Spiel gemacht wurden, fielen immer ergiebiger aus, je weiter die Macht Roms sich in die Länder alten Reichtums ausdehnte, und von den großen Gewinnen vermochten die Führer immer mehr für sich zurückzubehalten. Während die Masse der Bürger in den Kriegen ohne Ende verdarb, wuchs bei den Führern der Herrenwille umso stärker empor. Schließlich gaben sich die Bürger damit zufrieden, daß sie sich am Glänze mitberauschen konnten und im übrigen für ihres Lebens Notdurft gedeckt waren. Von da an galt bei den Römern — und dies wiederholt sich bei jedem Siegervolke, das denselben Lauf der Dinge erlebt — der moralische Kalkül, wie wir ihn eben für das Sieger volk gegenüber den Besiegten nachzurechnen hatten, für den Adel gegenüber der Masse, welcher der Adel in der Folge der Siege die Führer stellte. Auf diesem Wege lernt auch das Führervolk den schweren Sinn des „vos non vobis“ mit seiner die Führer vorausbegünstigenden Zurechnung und das Gesetz der kleinen Zahl zu seinem Nachteil erkennen. Anfangs behält es noch eine bevorzugte Stellung gegenüber den Unterworfenen, aber wenn es einmal die Vorstellung seiner inneren Zusammengehörigkeit verliert und sich nur durch das Mittel seiner Führer zusammenfindet, so versinkt es mit in die Tiefe der Unterworfenen und wird mit diesen zusammen von der Adclsschicht beherrscht, die durch ihre geschichtliche Macht befähigt ist, das Gesetz der kleinen Zahl für sioh geltend zu machen.
In gleicher Weise ist die Herrschaft zu konstruieren, die von der Minderheit einer wirtschaftlichen Führerklasse ausgeübt wird.
Die monarchische Herrschaft ist die Vollendung des Gesetzes der kleinen Zahl. Der überragende militärische und politische Führer, der alle Mächte aus dem Felde zu schlagen vermochte, sowohl die der äußeren Feinde wie die der inneren Gegner, wird zum Alleinherrscher, weil alle Gemüter dazu erzogen sind, sich vor ihm zu beugen, und weil niemand es anders weiß, als daß alle Macht bei ihm vereinigt ist. Das so oft zitierte Wort, das Ludwig XIV., ob mit Recht oder Unrecht, in den Mund [228] gelegt wird: „Der Staat bin ich“ gibt den kürzesten und genauesten Auadruck der Tatsachen des monarchischen Staates. Alle Fäden der Verbindung im Volke laufen beim Monarchen zusammen und darum ist alle Macht sein. Einer hört es vom andern, daß er alles in der Hand habe und daß niemand gegen seine Übermacht aufkommen könne. Die Kräfte aller dienen ihm gegen alle und werden im allgemeinen Urteil seiner Macht zugerechnet. Er ist der absolute Herrscher, weil er der unbeschränkte Herr über die Gemüter ist.
Nun können wir auch das Problem der kirchlichen Herrschaft endgültig lösen, das noch schwerer zugänglich scheint als das der weltlichen Herrschaft der kleinen Zahl. Der Leser möge verzeihen, wenn wir bei dieser Gelegenheit auf manches noch einmal zu sprechen kommen, was wir schon im Abschnitt über die Kulturmächte zu erwähnen hatten. Der Gegenstand ist so groß, daß er es verdient und verlangt, von mehreren Seiten belichtet zu werden. Ist es nicht erstaunlich, daß die waffenlose Kirche für gewisse Zeit den Sieg über die weltliche Gewalt gewann ? Die verbreitete volkstümliche Deutung kann sich hier nicht auf die überlegene Gewalt berufen; sie behilft sich, indem sie ihre Erklärung von dem Betrüge herholt, den die Kirche an den arglosen Gemütern der Menge geübt habe. Eine Deutung, bei der wir uns unmöglich beruhigen können und die wir wohl auch nicht zu widerlegen brauchen. Neben allen Künsten der Irreführung und des moralischen Mißbrauches, deren sie sich unter Umständen bediente, hat die Kirche wahrhafter und überwältigender moralischer Kraft bedurft, um die ihr entgegenstehenden gewichtigen materiellen Kräfte zu besiegen. Wir werden bei aufmerksamer Betrachtung der Entwicklung sehen, daß der Kirche in der Tat eine solche überwältigende moralische Kraft von Anfang an mitgegeben war und daß diese Kraft es überdies in sich hatte, die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung durch weit mehr als ein Jahrtausend in fortwälzendem Wachstum zu führen. Die Kirche zeigt uns das größte Beispiel einer wachsenden geschichtlichen Macht. Durch die ungemeine Größe der Verhältnisse ist die Macht der Kirche freilich ein Fall für sich, der keineswegs den allgemeinen Typus darstellt. Wir werden an keinem anderen Falle die sämtlichen Züge wieder vereinigt finden, die wir an der Kirche wahrnehmen, wir werden vielleicht keinen einzelnen dieser Züge anderswo wiederum so deutlich sehen, wie er sich hier gleichsam unter dem Vergrößerungsglase der Geschichte darstellt. Wir [229] müssen darum alle Vorsicht gebrauchen, wenn wir die hier gefundenen Erkenntnisse anderwärts verwenden wollen, aber wir werden dennoch am Falle der Kirche für das Verständnis geschichtlicher Macht mehr gewinnen, als an irgend einem andern.
Wir müssen davon ausgehen, daß die Macht des Gehrauches oder der Konvention, so sehr sich die Kirche später auf sie stützte, doch beim Aufbau ihrer geschichtlichen Macht erst in zweiter Reihe steht, der Sinn ist der Felsen, auf dem die Kirche gebaut wurde, aus dem Sinn erst hat sich der Gebrauch abgeleitet, und sobald wir die Kirche im Verfalle sehen, so erkennen wir, daß sie eben deshalb in Verfall gerät, weil der Felsen des Sinnes abbröckelt, dem der leere Gebrauch keinen dauernden Halt geben kann.
Die Kirche hat ihren Sinn durch den Gedanken vom Jenseits und vom Reich Gottes im Jenseits empfangen, den Christus gelehrt hatte. Niemals hat ein neuer Gedanke das menschliche Gemüt so im Innersten getroffen, den Seelen war eine neue Welt eröffnet, an deren unergründlichen Werten sie sich nicht ersättigen konnte und vor der aller Glanz und Reichtum der sinnlichen Welt zunichte wurde. Als der Stifter der christlichen Religion der Verfolgung zum Opfer gefallen war, lebte seine Lehre nur in einem ganz kleinen Kreise armer und einfacher Menschen in einem Winkel des Römerreiches weiter. Der Gedanke vom Reiche Gottes hatte jedoch die Seelen der Jünger so erfaßt, daß er in ihnen lebendig bleiben konnte, ob auch der Führer tot war, und daß er sie selber zu Führern weckte und durch sie und neben ihnen neue Führer weckte, darunter den gewaltigsten aller Apostel, den zu Paulus bekehrten Saulus. Dabei ist diese tiefe Ergriffenheit der Seelen nicht wie eine der Ekstasen, die manchmal über die Völker kommen, rasch wieder vorübergegangen, sondern sie ist ein dauernder Zustand geworden, der, wenn auch zuweilen in Ermattung nachlassend, in den Tiefen der Seelen, in die sie eindrang, reichste Kräfte erweckte. Vor allem schöpfte die Kirche aus ihr die Kraft, sich gegen die Verfolgungen des allmächtigen kaiserlichen Rom zu behaupten, bis sie zum Schlüsse die kaiserliche Anerkennung gewann und, stärker als der Staat, selbst den Zusammenbruch des Reiches überdauerte. Das Werk des Ausbaues ihrer Dogmen und ihres Ritus beschäftigte die Geister der Menschen unausgesetzt durch Jahrhunderte und Jahrhunderte, und das Werk ihrer Ausbreitung beschäftigte sie weiter und weiter in einer Stärke, die wir am besten an der Volksbewegung der Kreuzzüge ermessen können. In einer denkwürdigen Wandlung hat sich das den weltlichen Dingen zuerst ganz abgewendete Christentum diesen später zugewendet, seine Macht [230] über die Gemüter wurde dadurch jedoch nicht geringer, denn ea fand nun seinen Ausgleich auch mit den materiellen Lebenswerten, und indem es diese zu vergeistigen wußte, gewann es neue Macht über die Seelen. Aus dem Sinne seines Zieles im Jenseits gewann es einen Sinn für das Leben im Diesseits, der den Menschen die Kraft gab, die Verzweiflung des Zusammenbruches der alten Welt, die sich drängenden Katastrophen der Völkerwanderung, die Verwirrung der endlosen Kämpfe des staatlichen Neuaufbaues zu überwinden. Der neugefundene Sinn des Lebens erhielt seinen strahlendsten Ausdruck in der mittelalterlichen Kunst, es gab indes keine Richtung des Lebens, die er nicht erfüllt hätte. Die Kirche war die Führerin im Reiche der Sittlichkeit wie der äußeren Lebenssitte, im Reiche des Rechtes wie der pfleglichen Verwaltung, im Reiche der Wissenschaft wie in dem der Wirtschaft. Keine äußere Kraft konnte so wandlungsfähig und so fruchtbar sein, wie die innere Kraft, aus der das Christentum geboren war, die aus der Tiefe der Seelen heraus alle Wege der Seelen beherrschte. Alle Bildungen mit denen sich das Leben der Völker füllte, waren Schöpfungen der Kirche oder waren unter dem Schutze ihrer segnenden Hand entstanden, selbst für das Werk des Krieges mußte sie die Gunst des Himmels herabflehen. Es hat niemals eine Macht gegeben, welche die Gemüter vollständiger beherrscht hätte und in reicherer Symbiose mit den Gestaltungen des Lebens verbunden gewesen wäre.
Jedes Wachstum des Lebens bedeutete darum ein Wachstum der kirchlichen Macht. Gegen die Allgegenwart ihrer Macht kam die äußere Macht nicht auf, welche die weltlichen Herrscher durch die Schrecken ihrer Waffen ausübten. Über sie alle erhielt die Kirche dadurch das entscheidende Übergewicht, daß sie die allgemeine Kirche war, die Weltkirche, die über die Staatsgrenzen hinweg für alle Völker des Abendlandes galt, als ein weltumfassender Verband, der durch seine Allgemeinheit schon die Bestätigung seiner göttlichen Einsetzung zu bringen schien. Darum stand ihr der weltliche Arm zu Diensten, so daß sie ihre Macht auch auf seine Zwangsmittel stützen konnte. Im Kampfe mit dem mittelalterlichen Kaisertum blieb sie die Siegerin, denn sie blieb aufrecht und wuchs, während das Kaisertum nach manchen Demütigungen verdorrte. Nimmt man hinzu, was die Kirche aus den Gaben der Frommen an Reichtümern zu sammeln vermochte, so versteht man, daß ihr die Fähigkeit gegeben war, sich bloß durch ihre geschichtliche Macht noch durch eine gewisse Zeit aufrechtzuerhalten, selbst wenn ihr alle innere Macht verloren gegangen wäre. Dazu ist es aber bisher nie gekommen, denn bei aller Entartung, welche die Folge einer [231] fast schrankenlosen Macht sein mußte, gab es selbst in den schlimmsten Zeiten in Geistlichkeit und Laienwelt immer noch weit verbreitet eine blind ergebene Gläubigkeit, mochte auch den reinen Quellen des Glaubens noch soviel dumpfer Aberglaube beigemischt sein. Wenn von Zeit zu Zeit die Bewegung zu verebben drohte, so brach immer wieder aus der Tiefe der Seelen eine neue Regung jener Ergriffenheit hervor, die vom Urchristentum her noch nicht zur Ruhe gekommen war. Der heilige Franz von Assisi, der mehr als ein Jahrtausend nach Christus den Geist der Frömmigkeit aufs neue erweckte, ist dem Schöpfer des Christentums näher verwandt, als irgend einer der Heiligen, die bis dahin aufgetreten waren. Mit einer Kunst der Organisation, in der wir wohl das Erbe der römischen Staatskunst erblicken dürfen, hat die Kirche die immer wiederholten Bewegungen des religiösen Sinnes für ihr festes hierarchisches Wesen nutzbar zu machen gewußt, indem sie den Weltpriestern das Mönchstum in immer neuen Gestalten beigesellte. Die zu weit gehenden Schwärmer stieß sie als Sektierer ab, und da sie erkannte, daß ihre Einheit ihr festestes Bollwerk war, so säumte sie nicht, gegen sie neben den Mitteln des geistlichen Schreckens auch noch die des weltlichen Armes auf das grausamste anzuwenden.
Die Macht der Kirche verfiel, sobald die Kraft, mit der sie die Gemüter beherrschte, die Entfaltung der Kulturkräfte nicht mehr mitzumachen vermochte. Zuerst wurden ihr die Gemüter durch die Entartung des geistlichen Lebens und insbesondere durch die Wüstheit entfremdet, mit der das Papsttum die Gewalt seines hohen Amtes mißbrauchte. Der Protestantismus war zunächst ein sittlicher Protest, er war aber doch noch mehr, denn sonst hätte die Kirche, wie sie es schon des öftern getan hatte, sich durch innere Läuterung die Gemüter zurückgewinnen können. An Bemühung dazu hat sie es damals nicht fehlen lassen, sie hat an Haupt und Gliedern, in Lehre und Sitte sich selber einer Reformation unterworfen, wie niemals zuvor, doch die Wirkung blieb aus, sie vermochte den protestantischen Norden nicht mehr auf ihre Wege zurückzuleiten. Die germanischen Völker im Norden waren damals aus dem Sinne des Lebens herausgewachsen, wie die Kirche ihn gedeutet hatte, und sie besaß ihrerseits nicht mehr die Kraft, den neuen Sinn mitzuleben. Sie hörte auf, eine wachsende geschichtliche Macht zu sein und mußte sich von nun an dabei bescheiden, eine eingelebte geschichtliche Macht zu bleiben. Der protestantische Geist zerriß die Symbiose, in der die Kirche Glauben und Leben verbunden hatte, er reinigte den Glauben, zugleich aber ließ er die Energien des Lebens freier gewähren, [232] obschon auch er noch aus dem Glauben Ziel und Sinn des Lebens ableitete. Von nun an mußte sich die katholische Kirche in der Herrschaft über die Gemüter mit den protestantischen Kirchen teilen, wie sie sich früher schon mit der griechischen Kirche hatte teilen müssen, nur daß die neue Teilung um vieles empfindlicher wirkte, weil sie die Völker des Abendlandes betraf, bei denen allein die Kraft der Entwicklung war. Soviel der katholischen Kirche dabei an Kraft verloren ging, so darf man nicht übersehen, daß das Christentum durch die protestantischen Kirchen sich den Zugang zum Geiste von Völkern erhielt, deren Entwicklung es sonst nicht weiter zu folgen vermocht hätte.
Erst viel später ist eine neue gegnerische Kraft aufgestanden, die, wenn auch im minderen Grade, zugleich die protestantischen Kirchen bedrohte, das ist die Kraft des modernen wissenschaftlichen Denkens. Unter dem Einfluß dieser neuen inneren Kraft hat die geschichtliche Macht der katholischen Kirche empfindlicheren Abbruch erfahren, als unter den schwersten Angriffen, denen sie vorher ausgesetzt war. Es ist klar, daß die Macht, welche Galilei und mit ihm zugleich dem modernen wissenschaftlichen Denken den Prozeß machte, mit der Zeit nicht mehr Schritt halten konnte. Auch die protestantischen Kirchen konnten es nicht, wenn sie auch dem Wissen freiere Bahn ließen. Wer vermag es jedoch zu beurteilen, ob nicht von jener ersten Ergriffenheit der Seelen noch eine Regung geblieben ist, von der aus ein gereinigter Glaube noch einmal die Herrschaft über die Gemüter der Welt gewinnen könnte ? Die Größe der geschichtlichen Macht, welche die christlichen Kirchen trotz aller Einbuße heute noch besitzen, gibt ihnen jedenfalls in den Gemütern zu einem neuen Anstieg eine Vorbereitung sondergleichen.
Ein Volk, das zu geschichtlicher Macht gekommen ist, liebt es, seiner Erfolge und der Männer zu gedenken, die es zu seinen Erfolgen geführt haben. Die Geschichtschrcibung, die ihm von seinen Siegen und seinen Heroen berichtet, beugt sich damit vor der Größe der geschichtlichen Macht, wenn sie auch deren Wesen nicht erkennen sollte. Völker, die nach einer Zeit machtvoller Selbständigkeit in Abhängigkeit versunken sind, bewahren sich in ihren geschichtlichen Erinnerungen einen letzten Rest der alten geschichtlichen Macht auf, der ihnen eine starke Hilfe werden kann, wenn sie in besserer Zeit sich wieder zur Freiheit aufzurichten streben. Den Irländern, den Polen, den Tschechen, den Magyaren, den Serben hat der Königsgedanke, [233] der noch seine geschichtliche Herrschaft über die Gemüter der Massen bewahrt hatte, das Ziel zu neuen Wegen nationaler Macht gewiesen. Der Ehrgeiz der Führer war durch die Überlieferungen vergangener Größe aufgeregt und die Aufgabe, die Massen zur Nachfolge auf ihren Wegen mitzureißen, war ihnen dadurch erleichtert, daß diese Wege den Massen wenigstens in der Erinnerung vertraut waren. Je tiefer gewurzelt und je verbreiteter die Erinnerung, um so williger die Nachfolgebereitschaft der Massen.
So wie sich der Mensch im Fortschritte von der Kindheit bis zur Vollendung des körperlichen und geistigen Wachstums wandelt, so kann man von jeder lebendigen wachsenden Macht sagen, daß sie sich im Wachstum wandle, denn indem sie neue Kräfte hinzugewinnt, verändert sie sich in Erscheinung und Gehalt; bei verfallenden Mächten könnte man auch von einem rückbildenden Prozeß der Wandlung sprechen, welcher der rückbildenden Wandlung entspricht, wie sie der Mensch im hohen Lebensalter durchmacht, wo seine körperlichen und geistigen Kräfte schwinden. Im stärksten Sinne hat man von geschichtlicher Wandlung dann zu sprechen, wenn sich im Wachstum zugleich der ganze Charakter einer geschichtlichen Bildung ändert, indem sich neben den Mitteln, über die sie verfügt, auch die Ziele wandeln, nach denen sie strebt. Von dieser Art ist die Wandlung der wilden Kampf Völker zu friedlich beruhigten Arbeitsvölkern. In den romanischen und germanischen Kulturvölkern wird man nicht so leicht die Nachfaliren der Barbaren erkennen, die von den Galliern des Brennus und von den Zimbern und Teutonen angefangen die römische Welt in Schrecken setzten, dennoch ist aber auch diese Entwicklung in einer strengen Folge der Wandlung verlaufen und im Grunde war die reine Kraft, die endlich strahlend erglänzte, schon von Anfang an in den Seelen vorbereitet, wie im tollen Prinzen Heinz die Lebenskräfte überschäumten, durch welche König Heinrich V. den Triumph von Azincourt gewann.
Die Wandlung der Macht im Volke vollzieht sich häufig in der Art, daß neu emporsteigende Schichten neue Führungen in die Höhe bringen. So hat der Aufstieg des Bürgertums wie der des Proletariats neue Führungen in die Höhe gebracht, andere Menschen aus andern Kreisen, die ihre Macht unter neuen Freiheitsformen ausübten. Hiebei kann es sein, daß die alten Führungsmächte noch eine Zeitlang in ihrer äußeren Erscheinung aufrecht bleiben, während sie doch schon ihre Herrschaft [234] über die Gemüter eingebüßt haben, die sich den neuen erfolgreicheren Führungen zuwenden. Die entkräftete Dynastie der Merowinger hat noch durch einige Generationen hindurch den Königsthron eingenommen, indes die aufsteigenden Hausmeier das Werk des Herrscheramtes erfüllten, bis sie zuletzt auch seiner äußeren Würde teilhaftig wurden. Nicht selten bleibt auch der Buchstabe des Rechtes noch durch gewisse Zeit aufrecht, indes der Sinn, in welchem man ihn deutet, ein andrer wird, weil er auf andere Tatbestände des Lebens unter andern Verteilungen der Kräfte angewendet wird. Auf diese Weise vollzieht sich die Verfassungswandlung, auf die ein bekannter Lehrer des öffentlichen Rechtes aufmerksam gemacht hat. Auch der Inhalt von Glaubensund Moralgesetzen wandelt sich unter dem Einfluß neuer Lebensinhalte nach Intensität und Richtung, indes der Buchstabe des Gesetzes der gleiche bleibt.
Von besonderer Wichtigkeit für das geschichtliche Verständnis ist diejenige Wandlung der Führermacht, bei der die alten Machthaber im Besitze der Macht verbleiben, aber sich auf die neuen Kräfte umstellen, die im Leben hervorkommen. Die bestehende Führung hat dadurch, daß sie an der Macht ist, die günstige Gelegenheit, die neu hervorkommenden Kräfte an sich zu ziehen, sie hat den Vorsprung der Zeit für sich, sie ist vor den jungen Führungen am Platze, und die neuen Kraftgruppen, sofern sie nicht geradezu gegen das Bestehende gerichtet sind, wenden sich in ihrem wohlverstandenen Interesse zunächst an sie als die Macht der Zeit, um sich an sie zu lehnen und ihren Schutz gegen die vielen Widerstände zu empfangen, die allem Neuen bereitet sind. Am Hofe Ludwigs XV. hat der königliche Leibarzt Quesnay die phyaiokratische Wirtschaftslehre verkündet, die eine der Wurzeln für die liberale und sogar für die sozialistische Wirtschaftslehre geworden ist. Die Päpste haben die Universitäten gegründet und beschirmt, die später die Sitze der freien Wissenschaft werden sollten. Der Machthaber, der die richtige Witterung für das Kommende hat, wird die Gelegenheit benützen, um sich beizeiten darauf einzurichten. Als die Volkskräfte in Wirtschaft und Bildung aufblühten, hat der verständige Fürst erkannt, daß das Fürstentum nicht länger wider das Volk gerichtet sein dürfe. Vor die Wahl gestellt, entweder die überlieferte volksbedrückende Regierungsweise beizubehalten und damit seine Macht zu gefährden, oder aber die Richtung zu ändern und sich zum Führer der neuen Bestrebungen zu machen, hat das europäische Fürstentum beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit früher oder später, entgegenkommender oder zurückhaltender, innerlich mitgehend oder [235] widerwillig gedrängt in einer bedeutungsvollen Wandlung so gut wie überall den konstitutionellen Weg eingeschlagen. Wo die Beschränktheit, der Übermut, die Trägheit der Fürsten es versäumte, die günstige Gelegenheit zur Wandlung wahrzunehmen, mußten sie es am Ende damit büßen, daß der Aufstieg der Masse über ihre Köpfe gemacht wurde. Die Wüstheit, mit der Ludwig XV. das geschichtlich angesammelte Kapital der französischen Könige verpraßte, hat die stürmisch wachsenden Kräfte des modernen Frankreich den revolutionären Führungen ausgeliefert. Das Papsttum hat seinen Aufstieg zur Weltherrschaft der denkwürdigen Wandlung zu verdanken, von der wir schon an einer früheren Stelle ausführlich zu sprechen hatten, durch welche die römische Kirche im Gegensatz zur beschaulicheren Art der orientalischen Kirche ihre Ziele vom Jenseits auf ein durchgeistigtes Diesseits umstellte, wodurch sie es vermochte, als oberste Führerin der abendländischen Völker durch die Jahrhunderte hindurch zu wirken, in denen diese begannen, ihre geistigen Energien zu entfalten. Ist es nicht auch bei den radikalen und selbst bei den revolutionären Schichten deutlich zu sehen, wenn sie einmal an die Macht gelangt sind, daß sie eine Wandlung erleben, um ihre Übertreibungen abzustoßen und sich die beharrenden Kräfte des Volkes zu versöhnen, die sie in den neuen Zustand mit herübernehmen müssen? Der Sozialist, der das Kapital als Werkzeug der Ausbeutung angegriffen hat, solange der Kapitalist an der Macht war, wird zum Schutzherrn des Kapitales gewandelt, wenn er, zur Macht gelangt, in diesem das unentbehrliche Werkzeug des volkswirtschaftlichen Erfolges erkennt.
Man liebt es, das geschichtliche Werden auf Evolution und Revolution zurückzuführen. Die Wandlung, wie wir sie verstehen, umfaßt etwas mehr als die bloße Evolution, die doch nur das Wachstum aussagt, wie es im Laufe der Entwicklung vor sich geht. Die Wandlung sagt zugleich die Anpassung aus, mit der sich die alten Kräfte gegenüber den neuen umstellen und mit der sich auch die neuen Kräfte auf die alten einrichten, eine wechselseitige Anpassung der Kräfte, die viel wichtiger ist als die vielbesprochene Anpassung an das geographische oder sonstige äußere Milieu. Zur Revolution kommt es, wo die Träger der alten oder der neuen Kräfte zu uneinsichtig oder zu starrsinnig sind, um sich zur anpassenden Wandlung der Macht zu entschließen.
Die anpassende Wandlung der Macht sichert die Kontinuität des geschichtlichen Werdens. Der Übergang von den Gewaltzuständen der Anfänge zum späteren Kulturstand hat sich zum Glück für die [236] Menschheit zu einem guten Teile durch anpassende Wandlung der Macht vollzogen, die rohen äußeren Zwangsmächte, die in den Anfängen vorherrechen, haben sich zum guten Teil in friedlicher Wandlung den aufstrebenden inneren Mächten verbunden. Selbst in den Revolutionen haben nicht die Gewaltsamkeiten, von deneu sie begleitet waren, den Ausschlag gegeben, sondern der dauernde Erfolg war immer nur durch eine echte Wandlung zu erringen, durch die sich die aufeinander prallenden Parteien nach schweren Reibungen zuletzt in ihrem Sinne wiederum zusammenfanden.
Die Kämpfe im Staate wühlen keineswegs stets die ganze Masse des Volkes auf, sehr oft gehen sie nur zwischen den Führungen mit ihrem nächsten Anhang hin und her, während die große Masse an ihnen nicht beteiligt ist und nicht einmal in allen Fällen unter ihnen zu leiden braucht. In seinen „Six Centuries of Work and Wages“ erzählt Rogers, daß die jahrzehntelangen Kämpfe zwischen der roten und der weißen Rose die Periode gewesen seien, in der sich die englische Bauernschaft des höchsten Wohlstandes erfreut habe; die kämpfenden Parteien hätten sich sorgfältig gehütet, ihr Schaden anzutun, und das Haus Lancaster hätte es schwer büßen müssen, als die burgundischen Söldner der Königin Margarete sich auf dem Lande Ausschreitungen herausnahmen, die zur Folge hatten, daß die Bauern sich nun für das Haus York einsetzten. Wenn die Masse an den Kämpfen auch nicht beteiligt war, fügte sie sich jedoch willig der Entscheidung auf dem Schlachtfelde und war dem siegenden Hause York ebenso untertänig als vorher dem Hause Lancaster und später dem Hause Tudor. Durch alle Zeitalter der Herrenmacht begegnen wir dem gleichen Zug der Nachfolgebereitschaft der Masse gegenüber den wechselnden Inhabern der Herrenmacht, wobei wir allerdings von den Regungen des Ungehorsams und des Wideretandes abzusehen haben, die sie ab und zu unterbrechen. Sie ist die geschichtliche Folge des Druckes, den die Herrenmacht beim Werke der Staatsgründung ausübte, während bei den kleinen freiheitsstarken Völkerschaften der Frühzeit die Masse sehr empfindlich gegen die Gewalt reagiert hatte ; erst auf der Höhe der Entwicklung begegnet uns wiederum der Freiheitssinn der Demokratien, welcher durch die auftreibende [237] Kraft der Massenbewegung neu geweckt ist. Bei ganz erschlafften Völkern ist die Nachfolgebereitschaft der Masse bis zur vollen Massenunterwürfigkeit gesteigert. Das tägliche Zusammentreffen mit all den „andern“, die sich den Machthabern unterordnen, läßt selbst im starken Geiste das Streben nach Freiheit nicht recht aufkommen. Wenn die Neigung zur Unterordnung einmal in der Menge ist, wirkt sie durch gesellschaftliche Autosuggestion weiter, indem sie durch Selbstintoxikation das Gift der Unselbständigkeit im gesellschaftlichen Körper verbreitet.
Während die englischen Bauern bereit waren, dem siegenden Zweige des angestammten Hauses der Plantagenet nachzufolgen, würden sie einem Usurpator, der nichts vom Blute dieses Hauses hatte, oder einem fremden Eroberer entschlossenen Widerstand geleistet haben. Dasselbe gilt für die Nachfolgebereitschaft aller Völker, die nicht bis zur vollen Unterwürfigkeit herabgesunken sind. Geschichtlich bedingt wie sie ist, kommt sie immer nur den geschichtlichen Führungen entgegen.
Die geschichtlichen Herrenführungen sind dadurch emporgehoben worden, daß in der Periode der Staatengründung das Werk des Kampfes, an dem ursprünglich die Freien des Volkes alle mitbeteiligt waren, nach und nach Sache des Adels und seiner Dienstmannen geworden ist, während für das politische Geschäft die Kirche dem Fürsten die Ratgeber stellte. Die Masse der Freien war durch das Werk der wirtschaftlichen Arbeit nach und nach immer mehr in Anspruch genommen, dem sie sich nicht entziehen durfte, ohne ihre Existenz zu gefährden. Darum spielten sich die staatlichen Kämpfe und Entscheidungen ganz in der Führungsschicht ab und die Masse mußte hinnehmen, was sie an Folgen davon zu tragen hatte, so wie sie sich dareinfügen mußte, ob ihr der Himmel Sonnenschein oder Regen bescherte. Innerhalb der geschichtlichen Führungsschicht mochte dann die persönliche Führung sich durchsetzen oder es mochte sich die geschichtliche Macht der Dynastie durchsetzen, die Entscheidungen mochten im persönlichen Kampfe oder im Gruppenkampfe fallen oder in friedlicher Regelung gefunden werden — immer war die Masse in gleicher Weise zur Nachfolge bereit, falls nicht ganz neue Wendungen hervorkamen, die ihre Interessen oder Gewohnheiten zu empfindlich berührten. Die Nachfolgebereitschaft der Masse war jedem Führer gesichert, der sich innerhalb der geschichtlichen Führungsschicht zur Geltung brachte. Bei der geschichtlichen Führung geht der persönlichen Auslese des Führers die Auslese der Führungsschicht voraus.
Innerhalb der geschichtlichen Führungsschicht mochte auch eine [238] ganz bestimmte Einrichtung der Führung geschichtlich bestimmt sein, ohne daß die Masse darauf Einfluß zu nehmen hatte. Das römische Patriziat, dem sich nach und nach die kapitalistische Ritterschaft zugesellte, mußte, nachdem die hergebrachte republikanische Verfassung der Führung den Bedürfnissen des Weltreiches nicht mehr genügte, sich die Einrichtung des Kaisertums gefallen lassen, die das Führergenie Casars schuf und sein Erbe Augustus ausbildete. Diese Einrichtung erwies sich durch die geschichtlichen Verhältnisse in solcher Strenge gefordert, daß sie bis zum Ende des Reiches bestehen blieb, obgleich nur eine ganz geringe Zahl der zum Throne berufenen Kaiser die genügende persönliche Führerbegabung besaß. Die Art der Berufung konnte in den seltensten Fällen dem Sinne persönlicher Auslese gemäß sein; am besten bewährte sich die Berufung des Nachfolgers und des Mitkaisers durch den Imperator selbst, der aber seiner Macht ganz sicher sein mußte, um sie weiter übertragen zu können; von der Berufung durch das Volk konnte keine Rede sein, auch waren die Zeiten zu unruhig, als daß die Berufung durch Erbfolge hätte durchgreifen können. In der Masse der Fälle erfolgte die Berufung durch die militärische Macht als die dominante Macht der Zeit; dabei hatten anfangs die Prätorianer die Vorhand, weil sie den Thron unmittelbar umgaben, später mengten sich auch die Legionen ein, die in den Provinzen standen. Sie riefen die ihnen genehmen Führer zu Kaisern aus, womit die Idee der persönlichen Auslese in der Regel um allen guten Sinn gebracht war. Zwischen den Provinzen mußten die Waffen entscheiden, aber auch in der unendlichen Zerrüttung der Kämpfe der Gegenkaiser hielt sich das Kaisertum, weil durch die Verhältnisse geboten, aufrecht. Der siegreiche Kaiser konnte stets auf die Nachfolgebereitechaft der Massen rechnen, auch die Unfähigsten und Unwürdigsten der berufenen Kaiser blieben an der Herrschaft, so lange sich nicht der Gegenkaiser fand, der ihnen das Ende bereitete.
Auch für das ganze System der Führerhierarchie setzte sich nach und nach die Macht der geschichtlichen Führung durch. Die einmal eingewöhnte Ämterhierarchie hat ihren zähen Lebenswillen und auch ein starker Machthaber wird sie nicht leicht erneuern und säubern können, er wird sie in der Hauptsache bestehen lassen, wie sie geschichtlich gewachsen ist. Bei der großen Zahl der Personen, die im militärischen und Zivildienst beschäftigt sind, wird es selbst der ehrlichsten Bemühung niemals gelingen können, alle Posten mit den rechten Personen zu besetzen, man wird es nicht vermeiden können, da und dort Unberufene zu berufen. Da kommt dann der Satz zu seinem. [239] Rechte, daß das Amt den Verstand gibt. Spöttisch gemeint, hat er auch den ernsteren Sinn, daß er sagt, daß sich die Parteien dem Amte unterzuordnen haben, ob nun der Beamte den rechten Verstand zu seinem Amte besitzt oder nicht besitzt. Es ist dies eine Forderung der Massentechnik, um die man, so wie die Dinge liegen, nicht ganz herum kann, weil sich der Wunsch niemals erfüllen läßt, daß jeder Posten der ausgedehnten Ämterhierarchie mit dem rechten Mann besetzt wird. Bei den Bemühungen, die dazu gemacht werden müßten und die übrigens doch nie ganz zum Ziele führen könnten, ginge so viel gesellschaftliche Energie verloren, daß es klüger ist, im einzelnen Falle da und dort den minderfähigen oder unfähigen Beamten hinzunehmen. Damit, daß das Amt als Führungsstelle da ist, ist immerhin ein gewisser Vorteil erreicht, der dadurch nicht mehr ganz aufgehoben wird, daß die Führerauslese nicht immer recht gelingen will.
Wenn die Masse in ihrem Aufstieg zur Freiheit gelangt, so ist es mit ihrer Bereitschaft zur Nachfolge keineswegs zu Ende. Dem Parteiführer sind die Ziele durch die Interessen der Partei gewiesen, aber die Parteimasse muß ihrerseits zur Nachfolge bereit sein, wenn die Führung Erfolg haben soll. Innerhalb der Partei müssen die Genossen zusammengehen, der einzelne muß sich in die Masse ordnen und zur gemeinsamen Nachfolge bereit sein. Ein besonderer Zwang zur Massenbereitschaft wird dadurch ausgeübt, daß nun die Genossen darauf achten, daß jeder mit den andern mitgehe, die Organisation erzwingt den allgemeinen Beitritt und das übereinstimmende Vorgehen. Es gehört zur Taktik der Parteien, daß sie sich des Mittels der Autosuggestion der Masse bedienen, man sucht sich in öffentlichen Massenzügen zu überbieten, die zu förmlichen Paraden werden, um die Stärke der Parteien öffentlich zu demonstrieren, ähnlich wie früher die Heerschau, die freilich in der Öffentlichkeit größeren Eindruck machen mußte, weil sie dem Fürsten allein vorbehalten war. Und kommt nicht bei den politischen Wahlen die Nachfolgebereitschaft der Massen zum deutlichen Ausdruck? Die Wähler jeder Partei sagen bereitwillig ihr Ja zu der Liste der Namen, die ihnen von den Führern vorgeschrieben werden, und außerdem ist mit der Abgabe des Stimmzettels zugleich stillschweigend die Erklärung abgegeben, daß man bereit sei, dem gewählten Führer nachzufolgen.
Einer Machtgruppe, der es gelungen ist, den Regierungsapparat in ihre Hand zu bekommen, wird für solange die Nachfolge bereitschaft der Masse zufallen, bis die Kräfte zur Gegenaktion gesammelt sind. Dazu braucht es bei der Schwerfälligkeit der Massentechnik entsprechend lange Zeit. Die besonnenen Führer werden es vermeiden, die Masse [240] durch unnütze Verschwörungen zu schädigen, wie die leidenschaftlichsten unter den Unzufriedenen sie versuchen. Die Männer entschlossener Wildheit versuchen es mit Attentaten auf die Person der Herrscher oder einem Terrorsystem gegenüber den besonders hervortretenden Trägern der Regierungsmacht, wodurch die Machthaber aber nur zu um so strengeren Gegenwirkungen aufgefordert sind, zu denen ihnen ihre Macht die Mittel bereitstellt. Gandhi versucht es in Indien, wo, den Engländern mit Gewalt nicht beizukommen ist, mit dem Widerstand ohne Gewalt, der eine Art passiver Resistenz ist, welche die Massennachfolge unterbindet. Die letzte Entscheidung wird durch die stille Arbeit der öffentlichen Meinung vorbereitet, welche dem Machthaber die Nachfolgebereitschaft in den Gemütern entzieht, bis es eines Tages so weit ist, daß die Massenbereitschaft zur Nachfolge für die Gegenführungen gewonnen ist, so daß sie den Kampf wagen können oder vielleicht des Kampfes nicht einmal mehr recht bedürfen. Die Restauration der Stuarts durch General Monk gibt dafür ein Beispiel.
Auch in andern als den staatlichen Beziehungen hat die Massenbereitschaft der Nachfolge ihr großes gesellschaftliches Gewicht. Die Macht der Kirchen ist darauf gegründet, ebenso die Herrschaft des Kapitales gegenüber dem noch nicht zum Bewußtsein seiner Kraft gelangten Proletariat. Während die Unternehmer sich untereinander bekämpfen, wie früher die Adelscliquen und die Dynastien, kann der Sieger im Konkurrenzkampf immer auf den Zudrang der Arbeitermasse rechnen, die sich ihm ebenso zu Diensten stellt, wie sie es seinem Vorgänger gegenüber getan hat. Die selbstbewußte organisierte Arbeiterschaft schreitet zum Streik, der die Massenbereitschaft der Nachfolge so lange binden soll, bis es gelungen ist, die Bedingungen der Nachfolge zu bessern. Die geschichtliche Führungsmacht des Kapitales wird durch diese vorübergehende Hemmung nicht aufgehoben, sie mag indes dennoch merklich gemindert werden.
Wo das dynastische Gefühl lebendig ist, wird die Nachfolgebereit schaft des Volkes nicht jedem Inhaber des Thrones zuteil, sondern sie ist auf die angestammte Dynastie eingestellt. Es ist dies das klassische Beispiel der geschichtlichen Macht. Die dynastische Führung ist geschichtliche Führung, sie ist durch einen großen Führer oder auch durch eine Führerfamilie begründet, die durch ein paar Generationen [241] hindurch das Führerwerk erfolgreich vollzieht. Der dauernde Erfolg gewinnt der Dynastie die Herrschaft über die Gemüter und macht es ihr außerdem möglich, solche Herrschaf tsmittel zu sammeln, daß der Inhaber des Thrones den begreiflichen Wunsch erfüllen kann, seine Stellung weiter auf die Erben zu übertragen. Der Titel des Erbrechtes ersetzt die persönliche Führerauslese, die Erben des Thrones brauchen nicht alle von gleicher Größe zu sein wie die Gründer der Dynastie und könnten es auch nicht alle sein, manche von ihnen entbeliren jeder Fähigkeit zu ihrem hohen Beruf und mögen sich dennoch auf ihrem Platz behaupten. Hicbei wirkt das Gebot der Massen technik in nicht geringem Grade mit. Da die Technik der Masse die Führerstellung fordert, so wird die Tatsache, daß im Staate eine oberste Führerstellung geschaffen ist und daß für diese eine klare Rechtsordnung der Tlironfolge geschaffen ist, im öffentlichen Wesen als ein Vorteil empfunden, auf den zu verzichten man sich nicht so leicht entschließen wird, auch wenn die Stellung durch die Person des Führers im gegebenen Falle nicht recht ausgefüllt sein sollte; es will viel bedeuten, daß es durch die Nachfolge von Rechts wegen dem Volke erspart ist, den Kampf um die Führerstellung über sich ergehen zu lassen. Allerdings muß, damit es so weit komme, ein ausreichender Apparat der Führerhierarchie aufgestellt sein und die Ordnung in Recht und Verwaltung derart eingerichtet sein, daß der Fürst von der Hauptmasse des Dienstes entlastet ist, welcher in seinem regelmäßigen Gange von selber weiterläuft. Wenn der Inhaber des Thrones den Ritus der Regierungsgeschäfte vollzieht, so kann in der Weite des vertrauensseligen Volkes leicht der Schein vorgetäuscht werden, daß er tatsächlich als Führer vorangehe, und so mag durch gewisse Zeit hindurch und falls nicht allzu schwere Aufgaben gestellt sind, das wohleingerichtete Führeramt den persönlichen Führer ersetzen, ohne daß die Nachfolgebereitschaft der Masse erschüttert würde. Durch den Glanz des Amtes geblendet, wird sich die Masse mindestens durch gewisse Zeit über die Unbedeutendheit und selbst über die Unwürdigkeit der Person hinwegtäuschen lassen, die den Thron besetzt. Sobald der Grundsatz der Legitimität einmal in den Gemütern festgewurzelt ist, so reicht der größte Erfolg des großen Ministers nicht mehr dazu aus, ihn an die Stelle des durch die Erbfolge berufenen Fürsten zu erheben, denn er würde auf die Nachfolgebereitschaft der Masse nicht rechnen können. Ein Richelieu oder ein Bismarck haben ihre großen Leistungen in der Weise vollzogen und nur in der Weise vollziehen können, daß sie sich dem legitimen Herrscher als seine Berater unterordneten. Sie waren die im Hintergründe stehenden [242] persönlichen Führer des geschichtlichen Inhabers der Führerstellung. Erst wenn die geschichtliche Führung der Dynastie versagt, wird die Führerbestellung durch persönliche Auslese auch für die oberste Leitung des Staates wieder zur Geltung kommen können.
Auch die päpstliche Führung ist nur als geschichtliche Führung zu verstehen. Der päpstliche Stuhl ist manchmal von altersschwachen und unfähigen und selbst von ruchlosen Männern besetzt gewesen, aber sein Glanz war in der katholischen Welt so strahlend und der Apparat der Hierarchie arbeitete so wirksam weiter, daß das Papsttum bei der breiten Masse nichts von seinem Ansehen verlor, während der Blick eines Luther freilich nicht getäuscht werden konnte, als er das Rom der Renaissance vor seinen Augen hatte. Die Stellung des Papstes ist geschichtlich so befestigt, daß sie auch den üblen Papst hält, während ein großer Papst in ihr geradezu außerordentlich wirken wird. Der Papst ist eben durch sein Amt geschichtlicher Führer, auch wenn er nicht durch seine Person autoritärer Führer ist. Seine Macht hat ihre letzte Unterlage in der geschichtlich erzogenen Bereitschaft der katholischen Masse, sich dem Papste unterzuordnen, der als Nachfolger Petri gewählt ist. Selbst der schwache oder der unwürdige Papst war durch diese geschichtliche Tatsache mächtig, den starken Päpsten, die an ihr geistiges Führeramt glaubten, war es gegeben, die vorhandene Massenbereitschaft zu stärkster Wirkung aufzurufen. So war es möglich, daß Gregor VII. den Herrscher des Deutschen Reiches in Canossa zur Unterwerfung zwang und daß Innozenz HL die päpstliche Weltherrschaft aufrichtete. Die Massenbereitschaft der Gläubigen bot ihnen für ihr Führeramt die massentechnische Hilfe, wie sie die dynastische Gesinnung der dynastischen Stellung bietet.
Die Kardinäle, die den Papst wählen, die ihn in allen seinen Schwächen kennen, die vielleicht von ihm in verbrecherischer Simonie gekauft wurden, um ihm ihre Stimme zu geben, sind, sobald er einmal gewählt ist, durch die geschichtliche Wucht seiner Stellung ebenso überwältigt, wie die Masse der katholischen Welt. Die Wahl des Papstes durch die Kardinäle ist etwas anderes, als die Führerwahl durch die Genossen, denn die Wahl macht den Gewählten nicht bloß zum Führer in dem kleinen Kreise des Kollegiums der Kardinäle, sondern erhebt ihn auf den Stuhl Petri und erhebt ihn als den Nachfolger Petri, aller Welt sichtbar, hoch über die Häupter der Kardinäle hinweg, die von [243] da an aufgehört haben, seine Genossen zu sein. Sobald Sixtus V. gewählt war, war er der Schrecken des Kollegiums, dem er eben noch angehört hatte.
Die anonymen Mächte sind geschichtliche Mächte. Sic sind durch geschichtliche Erziehung der Masse derart eingewöhnt, daß die Massenbereitschaft zur Nachfolge allgemein und selbstverständlich geworden ist. Auch zu diesem Ergebnis hat die Massentechnik das Ihrige beigetragen. Jeder einzelne empfindet es als Erleichterung, daß er durch die allgemeine Sitte der eigenen Überlegung enthoben und vor gesellschaftlichen Reibungen und Zusammenstößen tunlichst bewahrt ist. Darüber, daß hiebei der Genuß der Besonderheit des eigenen Wesens beeinträchtigt wird, kommt man hinweg, wo das stark entwickelte allgemeine Wesen dem einzelnen ein beschauliches Verweilen nicht mehr recht gestattet. Die größere Uniformität der englischen und amerikanischen Verhältnisse gegenüber unserm Kontinent hat in der Raschheit ihren Grund, mit der dort die materiellen Dinge vorwärtsgehen. Man hat die Empfindung, daß Zeit Geld ist. Der Fremde, der von Europa in die Vereinigten Staaten hinüber kommt, findet sich erst nach und nach dazu fähig, sich in die oft pedantisch und peinlich geregelte allgemeine Ordnung zu fügen. In einer Reihe von amerikanischen Städten legt man am 15. September den Strohhut des Sommers ab und setzt den Winterhut auf, und dieses „Man“ bedeutet nicht bloß die „Gesellschaft“, die sich in Amerika vor der Öffentlichkeit nicht absondert, sondern das ganze Publikum, zu dem sich auch der Kleinbürger und der Arbeiter zählt und zu dem draußen auf dem Lande auch der Farmer gehört. Daß man den Hut an einem so festbestimmten Termin wechselt, gibt einem die Sicherheit, daß man in den Verkaufsläden den Hut vorbereitet finden wird, den man braucht; dem Verkäufer sind durch die Übereinstimmung der Nachfrage Kosten gespart und davon hat“ auch der Käufer den Vorteil des billigeren Einkaufes; man ist außerdem darin sicher, daß man nicht auffällt, wie es einem geschehen kann, wenn man den Sommerhut zu lange trägt oder den Winterhut zu früh hervorzieht. Dem neuen Ankömmling, der den Gleichschritt der amerikanischen Öffentlichkeit noch nicht kennt, dürften die Vorteile, welche die Uniformität in diesem Falle bringt, kaum wichtig genug scheinen, um ihm verständlich zu machen, wie die Sitte so allgemein zwingend werden konnte. Ihre zwingende Macht ist auch nicht aus den Verhältnissen dieses einzelnen Falles zu erklären, sie ist nur aus dem [244] Ganzen des amerikanischen Lebens zu erklären, das sich darauf einrichten muß, einer rasch wachsenden Zahl von Millionen von Menschen und einer noch stärker wachsenden Zahl von materiellen Werten durch die Klarheit der Gleichförmigkeit ihre geordnete Bewegung zu ermöglichen. Wie die Masse im großen zur gleichförmigen Nachfolge bereit sein muß, so ist sie es dann auch im kleinen und bis ins kleinste.
Die Nachfolgebereitschaft gegenüber den anonymen Mächten ist von solcher Willigkeit, daß der Eindruck entsteht, man handle aus eigenem Willen. So ist es jedoch nicht und kann es nicht sein. Niemals würden Millionen amerikanischer Stadtbürger von selbst auf den Einfall gekommen sein, just am 15. September ihre Hüte zu wechseln, der eine hätte es früher, der andere später getan, die genaue Übereinstimmung des Datums beweist deutlich das Eingreifen eines gesellschaftlichen Gebotes von ausgesprochener Strenge. Es kommt vor, daß Leuten, die das Datum nicht einhalten, der Hut, mit dem sie gegen die Sitte verstoßen, vom Kopfe geschlagen wird. Dies ist eine Ausschreitung groben Übermutes, die aber doch wieder die Macht der allgemeinen Sitte beweist; man sieht in dem Betragen der Person, die gegen die allgemeine Sitte verstößt, eine Geringschätzung des gesellschaftlichen Willens, die eine derbe Züchtigung verdient. Derselbe Respekt vor dem gesellschaftlichen Willen, der sich hier so grob und übermütig äußert, übt seine anonyme Macht in den bedeutsamsten Lebensgebieten zum Segen der Gesellschaft. Es wird um Recht, Sittlichkeit und Freiheit dort sehr gut bestellt sein, wo das Publikum überall so rasch und nachdrücklich zur Hand ist, um diejenigen in ihre Schranken zu weisen, die sich wider die allgemeinen Gebote vergehen.
An Führern kann es den anonymen Mächten niemals fehlen. Die Personen in der Menge, die ihre Weisungen am lebhaftesten empfinden, sind die natürlichen Führer der übrigen. Um durch ihr Beispiel den richtigen Weg zu weisen, brauchen sie keine ausgesuchte Führerqualität zu besitzen, ihr Vorangehen sucht ja nicht nach neuen Zielen, sie gehen auf erprobten Wegen weiter und halten durch ihr entschlossenes Beharren die Masse auf diesen zusammen. Dazu genügt es, daß sie sich in der einen oder der andern Richtung ein wenig über den Durchschnitt erheben. Während zu einem wirklich neuen Werke der starke Führer erfordert ist, reicht der anonyme Führer mit seiner geringeren Kraft aus, weil er sich an das geschichtlich Bewährte hält und auf die Massenbereitschaft der Nachfolge rechnen kann. Die meisten der anonymen Führer hätten kaum den Mut des Vorangehens, wenn sie nicht durch die Macht der Überlieferung in sich selber sicher gemacht wären und die [245] sichere Erwartung hätten, daß ihnen der Rückhalt der Masse nicht fehlen werde.
Die anonymen Mächte wachsen in allmählicher Entwicklung auf. Die Gebote, die sie geben, sind durchaus nicht alle von Anfang an Gemeingut der Menge gewesen, sie haben vielleicht nur in den Gemütern weniger ausgezeichneter Menschen oder nur in den höheren Schichten gegolten und es bedurfte vielleicht des unbeugsamen Eingreifens eines geistlichen oder weltlichen Gesetzgebers und langer Jahre strenger Zucht, um sie endlich in den Massen einzuwurzeln. Für zahlreiche Vorschriften der feineren Sitte können wir rückblickend mit aller Deutlichkeit den Weg verfolgen, den sie von den gesellschaftlichen Spitzen bis herab in die Volkstiefen zurückzulegen hatten. Die Ausbildung der Schrift war das bewunderungswürdige Werk von Führergenerationen, und selbst nachdem das Schriftsystem eines Volkes fest geworden war, ist sein Gebrauch noch durch lange, lange Zeit hindurch das Geheimnis einer engen Schicht von Kundigen gewesen, die sich fremd von der Menge abhob. Heute ist es den Kindern der Ärmsten zur Pflicht gemacht, lesen und schreiben zu lernen, und die Gesellschaft verfügt für den elementaren Unterricht in den Schullehrcrn über eine Armee von Unterführern, die sich wenig über die Höhe von anonymen Führern erheben. In vielen Familien des Mittelstandes bringt die Mutter den Kindern die Anfangsgründe bei, als richtige anonyme Führerin, die dem guten Herkommen folgt. Bei jedem gebildeten Volke sind die Luxusgesetze längst unnötig geworden, die große Mehrheit bedarf ihrer nicht mehr, die geschichtlich eingelebten anonymen Mächte genügen, um die gute Sitte der Lebenshaltung zu bewahren.
Wo sich anonyme Mächte in der Tiefe der Massen eingelebt haben, wird das gesellschaftliche Wesen stetig und sicher. Bei Völkern gesunkener oder sonst geringer Lebensenergie droht die Gefahr der Erstarrung und des Stillstandes, bei Völkern, die noch die Kraft zur Entwicklung besitzen, wird die Stetigkeit und Sicherheit der Grundlagen zum Vorteil der Entwicklung gereichen. Man ist vor überstürzten Wendungen behütet, bei denen der konservative Sinn der Masse die Nachfolge verweigert. Die geschichtliche Linie der Entwicklung ist einmal gezogen und die Fortschritte, die man macht, gehen in ihrer Richtung weiter. Einem Volke, dessen Nationalcharakter geschichtlich ausgebildet wurde, ißt seine Schicksalslinie durch diesen vorgezeichnet, es kann sich ausleben, aber es kann sich im Grunde seines Wesens nicht mehr ändern. Seine Führer werden national gerichtet sein müssen, um die Masse zur Nachfolge bereit zu finden, die durch die [246] geschichtlich eingeführten anonymen Mächte gebunden ist. Nicht als ob die anonymen Mächte gar keiner Entwicklung fähig wären! Im entwicklungsfähigen Volke haben auch sie ihren Fortschritt. Die anonymen Führer weisen ja nicht alles Neue ab. In vorsichtiger Wahl prüfend und wägend, nehmen sie dasjenige an, was sich dem bewährten Alten verbindet, weil es ihm wesens verwandt ist. Indem die Masse das erfolgreiche Beispiel nachahmt, bereichert sich der geschichtliche Machtbestand des Volkes.
Nach Aristoteles ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen, Romain Hollands Clerambault dagegen nennt den Menschen von heute auf der Höhe der Kultur immer noch ein Raubtier. Beide Behauptungen, so scharf sie einander zu widersprechen scheinen, lassen sich doch vereinigen, und man kann Geschichte nur verstehen, wenn man sie zu vereinigen versteht. Der Mensch ist als Raubtier in die Geschichte eingetreten, er hatte jedoch schon den Beruf zum gesellschaftlichen Wesen in sich. Das Werk der Geschichte besteht in der allmählichen Erziehung des Raubtieres im Menschen zum gesellschaftlichen Wesen, eine Erziehung, die nur durch den ehernen Druck der Gewalt eingeleitet werden konnte, wie sie der Raubmensch der Anfänge übte, eine Erziehung, die noch nicht vollendet ist und an der auch heute noch die Gewalt ihren wesentlichen Anteil hat.
In den vorhergehenden Abschiütten wurde schon davon gesprochen, welches Werk die Gewalt in den Anfängen der Geschichte geleistet hat. Wir wollen diese Ausführungen noch einmal kurz wiedergeben, um anschließend zu zeigen, welches Werk ihr weiterhin oblag und noch obliegt.
Die ersten Lebensgemeinschaften der Menschen waren Horden, herdenartige Erweiterungen der Familie, die durch den Instinkt des Blutes verbunden waren. Diese Menschenhorden waren nicht jener Ausdehnung fähig, wie die tierischen Herden. Sie waren weit anspruchsvoller als etwa die Bienen- oder Ameisenvölker oder die Büffelherden, die sich vom Grase der blühenden Ebenen nähren. Auf dem Boden, der noch nicht durch Kultur erschlossen ist, braucht der Mensch weite Räume, um die notwendige Nahrung zu finden, und von Generation zu [247] Generation müssen sich die Zuwächse an neuem Blut vom Mutterstamme lösen, um irgendwo in der Ferne ihren Nährboden zu suchen. Die Trennung braucht nicht lange anzudauern, damit das Gefühl der Blutsgemeinschaft sich verliere, gar bald sind die Horden einander fremd geworden und der Kampf ums Dasein, den sie alle gegen die Natur kämpfen müssen, treibt sie zu einem allseitigen Kampfe von Horde gegen Horde, der die wahre geschichtüche Erscheinung jenes bellum omnium contra omnea, jenes Kampfes aller gegen alle ist, von welchem die früheren Staatelehrer gesprochen haben. Was lag näher, wenn der Wald oder das Fischwasser keine Nahrung liefern wollte, als sich die Beute beim Nachbarstamm zu rauben, der keine Schonung verdiente, weil man von ihm befürchten mußte, daß er selber auf Raub ausgehen werde, sobald ihn Not oder Begierde in Versuchung führte! So ist das Gesetz der Gewalt in die Geschichte eingeführt worden.
Dieses Gesetz ist es, das den Weg von der Familie zur Gesellschaft eröffnet. In diesem Sinne ist das Begehren nach des Nächsten Gut und Land und Weib die erste gesellschaftliche Regung. Solange allerdings der Sieger den Sieg noch dazu ausnützt, um alles Männliche des Feindes zu vertilgen, bleibt man noch immer im engeren Gedanken der Bluts gemeinschaft, die entscheidende Wendung zur Gesellschaft wird erst damit gemacht, daß man sich den besiegten Feind als Sklaven unterwirft. Das starke Siegervolk, das sich weite Massen von Völkern unterwirft, mußte daran ermüden, seine Gegner zu vertilgen, und mußte seinen Vorteil darin erkennen, die Unterworfenen für sich arbeiten zu lassen. Der Gedanke, sich an der Arbeit des andern zu erholen und die eigene Kraft durch seine Kraft zu steigern, ist, als er zuerst aufkam, nicht gesellschaftsfeindlich, sondern er ist der aufbauende Gedanke der Gesellschaft gewesen. Nun konnten Staaten errichtet werden, Weltreiche konnten entstehen, das Chaos unaufhörlicher und fruchtloser Kämpfe im Kleinen konnte sich zur Entwicklung ins Große ordnen. In einer ersten rohen Auslese der bloßen Gewalt werden die schwachen Völker endgültig verworfen, die starken werden erhoben. Eine reinere Auslese scheidet aber sodann unter den starken Völkern diejenigen, die nur roher Gewalt fähig sind, von den Edel Völkern, die den Beruf zur Kultur in sich tragen und daraus die höheren Kräfte ableiten, ohne die ein Staat nicht auf die Dauer erhalten werden kann. Das Reich eines Attila zerfällt mit dem Tode des Gewaltmenschen, der es gründete, und es bleibt nichts von ihm übrig als der Schutt endloser Zerstörungen; das Reich Alexanders teilt sich unter seine schwächeren Nachfolger, aber es erhält sich in seinen Teilen dennoch [248] durch die Kraft hellenischer Kultur; das Reich des Römervolkes beherrscht durch Jahrhunderte das Becken des Mittel meeres, es ist, wie vor ihm die Staaten der Griechen, erst versunken, bis im Volke die Kraft erlahmte, das, Schwert zu gebrauchen. Aber bis dahin, welches Aufblühen der edelsten Kräfte des Geistes ! Die Gewalt des Schwertes und die Kraft des Geistes dienten sich wechselseitig. Daß die kleinen Völker der Griechen und Römer über die Welt siegen konnten, ist nur möglich geworden, weil ihr kriegerischer Sinn zugleich der Träger der antiken Kultur gewesen ist, vor der alle andern Völker als Barbaren erschienen ; daß aber ihre Kultur so aufgeblüht ist, dazu bedurfte es des feurigen Atems des Kampfes und der Sonne des Sieges. Welche Anspannung jedes Nervs im Volke war nicht notwendig, um den Krieg mit den Persern und mit Hannibal zu bestehen, und welcher Überschwang des freiesten Lebensgefühles mußte nicht entbunden werden, als der Sieg gewonnen war! In diesem Ringen vollendete sich ein Werk geschichtlicher Selbsterziehung sondergleichen, ebenso strenge als fruchtbar, der Triumph des Sieges strömte in den herrlichsten Werken der Skulptur und der Baukunst aus, welche die Welt gesehen hat.
Junge Edelvölker, die sich alter Kulturreiche bemächtigt haben, vollenden ihre Selbsterziehung unter Nachahmung der Errungenschaften, die sie von den Besiegten ablernen. Umgekehrt erhoben sich die besiegten Barbaren an den großen Vorbildern der Sieger, die sie vor sich sahen. Durch das Mittel der Sprache verbreitete sich griechische Kultur im Osten der antiken Welt, ja sie vermochte selbst in die gebildeten Schichten des römischen Siegervolkes einzudringen, während römische Kultur den Westen nationalisierte. Die Gemeinsamkeit der Sprache und der Sitte, die Sicherheit des inneren Friedens, der alle Besiegten verband und durch Erpressungen der Statthalter und vereinzelte Aufstände doch im Vergleich zu dem früheren Krieg aller gegen alle nur wenig gestört wurde, das wirtschaftliche Gedeihen im Frieden, die Vielfältigkeit des Verkehres durch die ganze Weite des Reiches brachten die edelste Frucht geschichthoher Erziehung heim, nämlich allgemeines Vertrauen und Gemeingefühl. Die edelste Frucht wiederum des Gemeingefühles war das Gefühl der Menschlichkeit, das zusammen mit einem gereinigten religiösen Gefühl aufblühte. Wie in allen Weltreichen entfaltete sich auch im römischen Weltreiche eine Weltreligion. In diesem Nacheinander birgt sich eine Notwendigkeit, ein Gesetz. Dem Christentum hat das Römerschwert seinen Weg bahnen müssen, die Menschen hätten kein Ohr für seine Botschaft gehabt, solange sie durch den unübersteiglichen Wall der Fremdheit getrennt und [249] durch unaufhörliche Kämpfe zerrissen waren. Selbst später, als die Kirche schon mächtig geworden war, hat sie neben den Predigten der Missionäre, die sie zu den Heiden aussandte, noch die Schärfe des Schwertes gebraucht.
Ohne Gewalt hätte somit nicht nur das Werk der Staatengründung sondern auch das der Kulturgründung niemals eingeleitet werden können. Nur durch Gewalt konnte der trotzige Unabhängigkeitssinn des Barbaren überwältigt werden, nur durch Gewalt konnten die weiten Räume befriedet werden, in denen die Millionen ihre Fremdheit abstreiften, um sich als Mitbürger, als Mitmenschen, als Menschen zu erkennen. Daß die alten Geschichtschreiber uns nur von Schlachten und Staatsaktionen, von Fürsten und Feldherren erzählen, ist daher erklärlich. Die Geschicke der Völker wurden damals zunächst auf dem Schlachtfeld entschieden, die Gewalt war es, die damals die durchgreifenden gesellschaftlichen Mächte bereitete. Erst ganz allmählich ist neben der Gewalt der Geist der Kultur stark genug geworden, um auch seinerseits durchgreifende gesellschaftliche Mächte zu bereiten, die immer mehr den Vordergrund der Weltbühne füllten. Eine Geschichtschreibung, die nur Kulturgeschichte sein will, verfehlt den Sinn der Jahrtausende, die durchkämpft werden mußten, bevor die gesicherte Kulturhöhe gewonnen war, welche sich ohne Hilfe der Gewalt behaupten und entwickeln konnte.
Je mehr die Gewalt sich mit Kultur durchdringt, desto mehr wandelt sich ihre ursprünglich rohe Weise in verfeinerte Formen. Zuerst in den wilden Anfängen geht sie, wie wir früher zeigten, schonungslos auf Vernichtung des Feindes aus, später begnügt sie sich mit seiner Unterwerfung, die ihn unschädlich macht, nachdem sie ihm geraubt hat, was sich rauben läßt, endlich aber findet sie Formen der Unterordnung, die ihn für den Sieger dauernd ausnützen, so daß sich dessen Macht gesteigert aufbaut. An diesem Punkt geht die Gewalt in Zwangsführung über. Der Machthaber fordert und erzwingt von der unterworfenen Masse eine Nachfolge in Leistungen aller Art, wie er sie sich gerade dienlich findet. So tut es der Herr gegenüber dem Sklaven oder Hörigen, so tut es in erhöhtem Sinn der Herrscher oder die herrschende Schicht gegenüber den Untertanen. Während der Herr die Sklaven noch in Unfreiheit zurückhält, weil er ihre Kraft mißtrauisch beschränken muß, hat der Herrscher sich zu dem Gedanken erhoben, die Untertanen persönlich freizugeben und sich nach ihrer Art entwickeln zu lassen, um ihre Leistung zu steigern. Der aufgeklärte Absolutismus bezeichnet den Höhepunkt derZwangsführung, der Zwang wird ein Mittel der Förderung. Karl der Große oder Peter der Große waren noch Zwingherren, in denen sich Gewaltsamkeit mit Größe so [250] verband, daß sie den Menschen als gewaltig galten; Friedrich der Große oder Kaiser Josef sind führende Herrscher, sie üben bewußt das Werk herrschaftlicher Förderung. Der aufgeklärte Absolutismus ist der verständige Egoismus des Herrschers, der begreift, daß seine eigene Macht mit der Kraft des Volkes wachse. Der aufgeklärte Fürst nimmt die Führung als Bein dynastisch persönliches Recht in Anspruch, das ihm von Gott verliehen ist, das ihm aber zugleich die Pflicht auferlegt, seine Macht zum Wohle des Staates zu gebrauchen, welches er freilich immer aus dem Gesichtspunkt seiner Macht versteht. Wenn er sich den obersten Beamten seines Staates nennt, so will er gleichwohl auf sein Herrscherrecht nicht verzichten, denn er ist überzeugt, daß er das volle Recht zum Amt haben müsse, damit ein voller Erfolg erzielt werde. Er scheut sich nicht, die Volkskraft zu entwickebi, denn er erwartet, daß das Volk ihm in dankbarer Treue entgegenkomme und daß der Erfolg seine Autorität steigern werde. Für seine volksfördemden Maßnahmen nimmt er das Mittel des' Zwanges ohneweiters in Anspruch, denn der Zwang dünkt ihm heilsam; es ist allerdings vorwiegend rechtlicher und moralischer Zwang, mit dem er zu wirken bestrebt ist. Ist es nicht begreiflich, daß die herrschaftliche Führung zu ihrer geschichtlichen Zeit ein großes Werk vollbracht hat ? In ihr wird sich die Gewalt ihres aufbauenden Sinnes bewußt; indem der Egoismus des Herrschers sich dem Gemeinwohl verbindet, gelingt es ihm, den höchsten politischen Ertrag zu schaffen, der sich schaffen läßt, solange die Freiheitskräfte noch nicht voll aufgewachsen sind, er leistet in dieser Zeit das Werk, das späterhin, sobald diese aufgewachsen sind, der Egoismus der Produzenten im Wettbewerb des Marktes leistet. Der Einschlag des Wettbewerbes fehlt übrigens auch im Staatsleben durchaus nicht, es ist der Wettbewerb um die äußere Machtgeltung, der dem Egoismus der Herrscher seine leidenschaftliche Spannung gibt.
Gar viele Völker, darunter alle asiatischen, sind in irgendeiner der Formen der Zwangsführung geschichtlich verdorben. Bald ist das Volk unter der Last seiner Opfer erscldafft, die herrschenden Geschlechter sind übermächtig geworden, bald sind diese selber erschlafft, so daß Volk und Herrscher neuen Gewalthabern zur Beute werden. Auch die europäischen Edelvölker des Altertums sind diesem Lose verfallen, ihr geschichtliches Werk war selbst für ihre Kräfte zu schwer. Die Völker des modernen Europa, die auf den von ihnen geschaffenen Grundlagen weiterbauen konnten, hatten es besser und sie haben sich zum größten Teile die leibliche und geistige Gesundheit erhalten können, die notwendig war, um bis zur Höhe der herrschaftlichen Führung und durch [251] diese weiter zum demokratischen Staate vorzudringen. Bei ihnen hatte die herrschaftliche Führung den staatlichen Aufbau soweit vollendet, daß die demokratische Verfassung folgen konnte und folgen mußte; sie hatte ihr geschichtliches Werk getan, indem sie die Untertanen zu ihren staatsbürgerlichen Pflichten erzogen hatte, worauf ihnen die staatsbürgerlichen Rechte nicht länger vorenthalten werden konnten. In der Gesellschaft gilt das Gesetz der höchsten Kraft, und sobald die Bürger zur Staatsgemeinschaft erzogen waren, war die höchste Kraft bei ihnen. Der Übergang zum freien Staat vollzog sich sodann zum Teil in friedlicher Wandlung unter Verzicht der herrschenden Dynastien und Schichten, die der aufsteigenden Bewegung des Volkes willig oder unwillig ihren Platz räumten, zum Teil mußte die Gewalt entscheiden; die Gewalt war aber beim Volke, sobald die Armee sich ihrer Herkunft vom . Volke bewußt geworden war. So oder so wandelten sich überall die Fürstenreiche in nationale Reiche, zugleich wandelte sich die höfische oder Herrenkultur zur nationalen Kultur, die von der geistig führenden Schicht des Mittelstandes getragen wurde. Die modernen Nationalkulturen sind Vollkulturen, an Gehalt und Glanz um nichts geringer als die glänzendsten Herrenkulturen der Vergangenheit und ihnen darin überlegen, daß sie nicht bloß engen begünstigten Schichten, sondern dem ganzen gebildeten Volke zu eigen sind und alle Kräfte zur Blüte bringen können, die in den Volkstiefen schlummern. Nicht nur die Kultur erhält im freien Volksstaat ihren gesicherteren Boden, der, Staatsbestand selber ist fester gesichert. Solange der Staat auf die Kraft einer engen herrschenden Schicht gestellt war, mußte sein Schicksal mit dem dieser Schicht verknüpft sein, und wenn ihre Kraft erschöpft war — und sie mußte sich in den Kämpfen ohne Ende erschöpfen, die sie um ihre Herrschaft zu führen hatte — so war es mit dem Staat zu Ende. Die Kraft eines großen Volkes, das im Frieden geeinigt ist, hat Aussicht auf längeren Bestand. Wäre das römische Weltreich ein nationales Weltreich gewesen, das Reich einer frei geeinigten Nation, so hätte es den Stürmen der Goten und Hunnen, der Franken und Vandalen ebenso Trotz geboten, wie es denen der Zimbern und Teutonen Trotz geboten hat, als der herrschende Römerstamm noch in voller Kraft stand.
Auch im freiesten Volksstaat bleibt dem Zwange seine Aufgabe vorbehalten. Freiheit ist nicht Herrechaftslosigkeit, wie gewisse tolle .Schwärmer gemeint haben, auch das freie Volk muß für eine Reihe von [252] Lebenszwecken seine Gesamtkraft aufbieten und dazu bedarf es der Einheit, die nicht ohne Zwang gesichert werden kann. Es streitet wider alle Wahrecheinkchkeit, daß Millionen Menschen sich in ihren Entschließungen ohne Reibung zusammen finden sollten, wenn jedermanns Entschließung ganz in sein Belieben gestellt wäre. Der freie Volksstaat unterscheidet sich vom Herrsch aftsstaat darin, daß er eine Zwangsgemeinschaft ist, die grundlegend durch moralischen Zwang verbunden ist, während jener grundlegend durch äußere Zwangsmacht zusammengehalten war. Der Gemeinsinn, welcher die Zwangsgemeinschaft bindet, steht seinerseits unter dem Druck strenger gesellschaftlicher Mächte. Der Wille des einzelnen zum Staat ist nicht so frei wie sein privater Vertragswille, immer noch beugt man sich seiner Gewalt, nur daß diese nun alles Gewaltsame, alles Gewalttätige abgestreift hat und in der abgeklärten Form moralischer oder rechtlicher Gewalten erscheint. In die Zwangsgemeinschaft des Staates wird man hinein geboren, und wenn man ihr einmal angehört, so muß man mit ihr auf allen ihren gemeinsamen Wegen mitgehen, die Minderheit muß sich der Mehrheit fügen, wenn der Staat nicht zerfallen soll, aber wo Gemeinsinn wirklich besteht, fügt sie sich eben willig. Die Abstimmung bei den Wahlen und im Parlament ist eine gesittetere Form des Kampfes; die Parteien messen sich nicht mehr mit Waffen, sondern mit Worten, und da diese doch fast immer nur für die eigene. Partei gesprochen sind, so messen sie sich schließlich mit den Ziffern ihrer Anhänger. Die Parteien müssen sich in der Liebe zum gemeinsamen Staate vollkommen einig sein — und sind es unter der Herrschaft des Gemeinsinns in der Tat — um solchergestalt den Krieg durch ein bloßes Kriegsspiel z\i ersetzen. Dort wo sie es nicht mehr sind, wird der Spieltisch umgeworfen und der Ernst der Waffen muß wieder entscheiden. Dann tut die Gewalt wiederum ihr Werk.
Wer die Wirklichkeiten des Staatslebens durchschaut und den Mantel der üblichen Phrasen zu lüften vermag, der sieht, wie ausgiebig der Zusatz von Gewalt ist, unter dem gar viele von den Staaten leben, die sich ihre Verfassung nach der reinen demokratischen Formel gegeben haben. Recht oft herrscht die Mehrheit durch Gewalt oder es gilt gar nur der Wille einer herrschsüchtigen Minderheit, die sich als Mehrheit auszugeben vermag. Sein Wahlrecht nach eigenem Willen auszuüben, ist eine Sache, zu der die großen Massen an vielen Orten noch nicht gereift sind. Wie sollten sie es auch nach einer Geschichte sein, die sie durch Generationen nur stumpfe Ergebung gelehrt hat ? Eine geschichtliche Erziehung von der Art, daß sie die Volkskraft zur Reife bringt, ist [253] nur ganz bevorzugten Völkern und selbst innerhalb dieser meist nur den bevorzugten Schichten zuteil geworden. Viele Wähler wählen überhaupt nicht mit, sie sind bereit, solange sie nicht aufs äußerste herausgefordert sind, jedem durch die Wahl bestellten Machthaber sich unterzuordnen; sie sind die tote Masse im Volk. Selbst von denjenigen Wählern, die den Stimmzettel abgeben, sind viele auch nicht mehr als bloßer Ballast, der sich je nach den Neigungen des Staatsschiffes hin und her bewegt. Das Wahlrecht ist für viele Wähler ein Recht, das weit über ihre Kraft geht; man kann es nur dann nach seinem wahren Sinne ausüben, wenn man die entscheidende Massenfunktion zu erfüllen vermag, die darin besteht, den Führer zu kontrollieren. Wie selten ist dies nicht der Fall! Ganze Scharen von Wählern fügen sich widerstandslos den Gewaltmitteln, die eine bedenkenlose Herrenregierung gebraucht, oder folgen blind den Losungen, die ihnen eine demagogische Führung gibt, welche sie durch Schmeicheleien, durch trügerische Worte und durch gewissenlose Vertretung ihrer nächsten engen Interessen zu ködern weiß; auf sie dürfte man das Wort Faustens über das Webermeisterstück übertragen: „Was er wählt, das weiß kein Wähler.“ Die Wahl, die nachdem Gesetze frei sein soll, ist nicht nur für alle die Gruppen von Wählern unfrei, die offenkundig unter äußerem Zwange stehen, sondern auch für die andern, die unter dem moralischen Zwange, oder wie man oft richtiger sagen müßte, unter dem unmoralischen Zwange der führenden Genossen den Stimmzettel ausfüllen. Für diese vollzieht sich die Wahl, die nach dem Gesetze geheim sein soll, in der Öffentlichkeit der Partei unter den wirkungsvollsten Kontrollen, die eine menschenkundige Führung ersinnen kann. Wo dies der Fall ist, muß sich die demokratische Verfassung in ihrer Wirkung aus einer freiheitlichen zu einer Zwangs Verfassung umkehren und überdies zu einer Zwangsverfassung, die gegenüber den Zwangsverfassungen der starken alten Zeit das Eigentümliche hat, daß eine minderwertige Minderheit den Zwang ausübt. Daß ein solcher Zustand sich auf die Dauer nicht halten läßt, ist klar, aber die Gesellschaft kann sich von ihm doch selber nicht mehr freimachen, sondern sie bedarf des demokratischen Cäsaren, um den Übergang mit Gewalt und List zu vollziehen. Indem dieser von den Künsten der Demagogie lernt, übt er ihre Macht, um die gehemmten fruchtbaren Kräfte des Volkes zu lösen und dem unterbundenen Gesetze höchster Kraft wiederum seine Geltung zu verschaffen.
Im freien Staat ist das Vereinswesen frei geworden. Im strengen Herrschaftsstaate war es anders. Ein Fürst, der wirklich absoluter Herrscher sein wollte, mußte endlich sogar die Korporationen der [254] Herrenschichten zerschlagen; nur über die Kirche konnte selbst der stärkste Fürst niemals ganz Herr werden. Hat es aber auch im Herrschaftsstaate an politischen Verbänden gemangelt, so waren Berufsverbände und andere Interessenverbände umso reicher vertreten, die alle etwas von Zwangscharakter in sich haben mußten, um in dem pulsierenden Treiben des Lebens ihren Zusammenhang und ihren Platz behaupten zu können. Von den Geschlechtern und Kasten biß zu den Orden oder Zünften war überall derselbe Drang, sich gegen fremdes Wesen abzuschließen und durch feste Regeln zu binden, die ihre zwingende Kraft aus gesteigertem Gemeinsinn schöpften. Unsere modernen Verbände sind in der Rechtsform des Vereinswesens äußerlich sehr locker geworden, Eintritt und Austritt ist frei, die Mitglieder können sich durch ihren Austritt ihrer Rechtspflichten immer entechlagen, aber in jedem lebensfähigen Verbände ist ein moralischer Zwang lebendig, der aus dem Gefühle der Solidarität genährt ist. Nicht erst die Überlegung, sondern der gesellschaftliche Instinkt befiehlt in jeder Gruppe, daß man sich von den Genossen nicht absondern dürfe, und selbst die Schwächlinge, wie sie in keiner Masse fehlen, die zu unentschlossen oder zu träge sind, um aus eigener Kraft mitzugehen, werden durch ihre Umgebung fortgerissen, deren Bewegung sich ihnen mitteilt, und die übrigens das stärkste gesellschaftliche Zwangsmittel zur Verfügung hat, nämlich das Urteil der Genossen. Der einzelne spricht sich leicht von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen frei, zufrieden, wenn er nur die gesellschaftlichen Vorteile genießen kann, vom andern aber fordert er gebieterisch, daß er seiner genossenschaftlichen Pflicht voll nachkomme. Den andern frei gewähren lassen, ist wider den Geist der Menge, wenn sie einmal in Bewegung kommt. Sobald das genossenschaftliche Gefühl leidenschaftlich erregt ist, so ist es bereit, den Zwang der Solidarität bis zum Terror der Gewalt zu treiben, und der im Innern aufgestaute Überschwang an Kraft wird sich dann gewalttätig nach außen entladen. Im politischen Kampfe ist innerhalb der Parteien und mehr noch zwischen den Parteien immer Leidenschaft mit im Spiele und dementsprechend ist zum mindesten eine Art Ellbogenrecht in Geltung, mit dem Vorbehalt, daß man letzten Endes bis zur offenen Gewalt übergehen dürfe.
Trotz all dieser Einsprengungen von Gewalt, die sich im freien Staate und Volke immer noch forterhalten, kann man, wenn man den [255] Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende überbückt, doch feststellen, daß die Entwicklung im Innern von Staat und Volk einem Gesetze abnehmender Gewalt folgt. Indem die Gewalt Gebiete eines leidlichen Friedens schafft und erweitert, erhalten die in der Tiefe der menschlichen Natur eingepflanzten Keime von Recht und Sittlichkeit die Gelegenheit, sich freier zu entfalten. Im wechselseitigen Verkehr lernt man sich selber beherrschen und den andern achten, man macht die Erfahrung, daß auf die Dauer Rechtsklugheit stärker ist als Gewalt und daß wahre Rechtlichkeit klüger ist als der klügelnde Verstand. Am wirksamsten greift der Sieg des Rechtes über die Gewalt in der Stadt durch, wo eine tüchtige Bevölkerung an den Erfolgen des Werkes friedlicher Arbeit zu Freiheit und Wohlstand heranwächst. Die Menschen, die im Burgfrieden der Stadt hausen und tätig sind, finden sich als Bürger zusammen, in der Folge erweitern sich Gefühl und Name des Stadtbürgers zu dem des Staatsbürgers, das Gefühl des Mitbürgers wieder erhebt sich zu dem des Mitmenschen, sobald die ( Weltreligionen sich in den Herzen ausbreiten. Wo aber Recht und Sittlichkeit binden, bedarf es nicht mehr der Gewalt, das Werk der Gewalt wird von ihnen umfassender, reiner und dauernder besorgt. Die Waffen, deren man nicht mehr bedarf, ruhen und kommen ab, man verzichtet auf die Selbsthilfe, wie sie der vollfreie Mann der Anfänge als naturgegeben geübt hatte ; die Gewalthaber im Staate tun das Dare dazu, das Friedensgefühl zu fördern, indem sie das Volk um ihrer eigenen Macht willen entwaffnen. Am Ende wird, indem Menschen und Menschen sich vertrauen und vertragen lernen, die friedliche Arbeit so sehr der allgemeine Zustand, daß das Umhergehen in Waffen seinen Sinn verliert und daß auch Herren und Ritter, die noch in Waffen gehen dürfen, sie nur noch als Zier und Symbol tragen, bis sie sie endlich gleichfalls ablegen. Auch die großen Staatsparteien lernen es allmählich sieh dem Friedenszustand anzupassen und ihre Kämpfe unblutig auszutragen, wenn auch bei ihnen Rückschläge der Gewalt sich von Zeit zu Zeit wieder ereignen mögen. Indem der Machtegoismus des Staates ihn dazu antreibt, die Leistungen zu erhöhen, die er von den Bürgern an Gut und Blut fordert, erweitert sich der Kreis der öffentlichen Rechtspflicht und zugleich vertieft sich der Gedanke der öffentlichen Ilochtspflicht, je mehr die Bürger sich dem Staate innerlich verbunden fühlen. Auch darin wird Zwangsform zur Rechtsform. Nun entwickelt sich immer stärker das Gefühl, nicht nur dem einzelnen, mit dem man zu tun hat, sondern auch der abstrakten unsichtbaren Allgemeinheit zu Pflichten verbunden zu sein. Am stärksten wird das Pflichtgefühl [256] im Amte entwickelt. Der Staat hat das größte Interesse daran, seine Angestellten des Kriegsdienstes und des Friedensdienstes auf das festeste zu binden. Er gibt ihnen nach außen eine erhöhte Stellung, die sie nicht selten im Übermut des Amtes mißbrauchen, dafür ordnet er sie aber seiner leitenden Gewalt unnachsichtig unter. Jeder entwickelte Staat hat darin ein großes Werk geschichtlicher Erziehung vollbracht, daß er seine Angestellten, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, wie sie nicht zu vermeiden sind, zu unparteiischer und uneigennütziger Erfüllung ihrer Amtspflicht zu verhalten gewußt hat. Der rechte Offizier und der rechte Beamte haben ein starkes Gefühl von Standesehre, die Erfüllung ihrer Amtspflicht wird ihnen Ehrenpflicht. Mit gleichem Recht wie man vom tüchtigen Adel sagen konnte „Noblesse oblige“, durften sie von sich sagen „Macht verpflichtet“. Was es heißen will, den sittlichen Geist aufzubringen, den die Amtspflicht fordert, erweist sich deutlich, wenn eine Revolution die erprobten Beamten aus ihren Ämtern verdrängt und ihre Stellen mit Männern besetzt, wie sie die revolutionäre Gärung gerade in die Höhe gebracht hat, und die nun das Amt in aller Willkür der Parteisucht oder gar des persönlichen Gelüstens verwalten.
In ihrer letzten Entwicklung bindet die Pflicht des Amtes im Fürstenstaat den Fürsten selber als den obersten Beamten des Staates, eine Bezeichnung, die zwar oft nur ein bloßes Wort geblieben ist, die aber selbst wenn sie ein bloßes Wort gebheben ist, die große Wendung deutlich ins Licht stellt, die durch das Gesetz abnehmender Gewalt im Laufe der Zeiten bewirkt wurde. Wie lange ist es her, daß sich die fürstlichen Machthaber für ihre Person über die nächsten Moralgebote hinwegsetzen durften 1 Wer sollte sie auch daran hindern ? Die Kirche, die es allein vermocht hätte, hatte für den Fürsten, der ihr gewogen war, großmütige Duldung. Der italienische Fürst mochte sich ungescheut des Banditen bedienen, er konnte an den weiblichen Mitgliedern seiner Familie, die sich gegen die Ehre des Hauses vergangen hatten oder dieses Vergehens verdächtig waren, Kabinettsjustiz in einer Weise üben, die vom Morde nicht allzuweit entfernt war, während er sich selber von dem Gebote freisprach „Du sollst nicht ehebrechen.“ Auffallender noch war, daß ihn auch der stolzeste Adel und das Volk freisprach; die fürstliche Maitresse war in vielen Ländern fast zur Staatseinrichtung geworden. In keinem Stande wurde das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ häufiger und gröblicher verletzt, als im Fürstenstande; wie oft ereignete es sich nicht, daß der Sohn in unwiderstehlicher Machtbegierde die Hand nach der Krone des Vaters ausstreckte! [257] Es beweist die steigende Macht der allgemeinen Moral, daß zuletzt auch die souveränen Geschlechter ihre Geltung wenigstens äußerlich anerkennen mußten und daß der Herrscher selber, der nach dem Verfassungsgesetze unverantwortlich ist, sich ihr öffentlich nicht mehr entziehen konnte.
Der Geschichtechreiber darf sich der Beobachtung nicht verschließen, daß von Zeit zu Zeit die friedliche Entwicklung in Staat und Volk durch furchtbare Rückschläge der Gewalt unterbrochen wird, wie sie sich in Bürgerkriegen oder Glaubenskriegen zeigen. Die Gelegenheit zur Gewalt ist immer wieder da, sobald eine neue Stufe der Entwicklung genommen werden muß, bei welcher Widerstände der alten geschichtlichen Mächte zu überwinden sind, die sich nicht im Sinne der Zeit wandeln wollen, sondern eben erst der Gewalt sich beugen. Wie wir an einer früheren Stelle ausgeführt haben, neigen auch solche Ideen, die in ihrem Wesen auf Frieden eingestellt sind, wie die religiöse Idee oder die Freiheitsidee, dazu, sich, wenn es nicht anders sein kann, im Kampfe durchzusetzen. Derartige Rückschläge der Gewalt, die sich aus der Atmosphäre des Friedens entladen, werden von feinfühligen Beobachtern als Beweis dafür angesehen, daß die menschliche Natur dem Frieden widerstrebe und von ihrer Raubtieranlage nicht lassen könne. Gerade in diesen Fällen aber ist es offenbar, daß die Gewalt nur als notgedrungener Behelf gebraucht wird, um die Friedensidee durchzusetzen, an der das Herz hängt, und die Gewalt wird denn auch sofort wieder abberufen, sobald sie ihr Werk getan hat. Die französische Revolution und die ihr folgende Diktatur Napoleons ist ein klassisches Beispiel für das Werk, das die Gewalt zu tun hat, um einen Staat auf eine neue Stufe der Entwicklung zu heben, welcher innere und äußere Widerstände im Wege stehen. Die revolutionäre Leidenschaft hat sich dabei bis zum äußersten ausgegeben und es bedurfte der überwältigenden Autorität, die Napoleon durch seine Siege gewann, um die losgebundenen Kräfte wieder zu ordnen. Die Welt widerhallte von Gewalt, und den Menschen, die jene Katastrophe miterlebten, ja selbst den Menschen der folgenden Generation, die noch unter ihrer Nachwirkung standen, schien es, als ob die Gewalt niemals gewalttätiger gewesen wäre. Verglichen jedoch mit dem geschichtlichen Werke, das getan werden mußte, um den französischen Staat zu gründen und zu festigen, ist die Periode der Revolution und ihrer [258] Bändigung durch Napoleon und ist dessen eigene Gewaltherrschaft doch nur ein kurzes Nachspiel. Die Revolution von 1848 und das zweite Kaiserreich Napoleons III. griffen noch um vieles weniger in die gegel>ene Ordnung des Lebens ein, und der Versuch Boulangers endete als Farce. Sobald bei einem Kulturvolk die Gewalt die Hemmungen beseitigt hat, die sich den großen Bewegungen entgegenstellen, wendet sich das Volk von selber den Gewaltführcrn ab und fällt wieder den Friedensführern zu.
Im geschlossenen Nationalstaat geht der Kampf überhaupt nicht mehr auf Zerreißung, sondern er geht ausschließlich auf den Vorrang im nationalen Leben, und da die Nation ihre Interessen aufs engste ineinander verflochten fühlt, so kann der Kampf nicht allzulange währen, und er muß damit schließen, daß man sich über die Rangordnung einigt. Kein Staat, der einmal national verbunden war, ist durch die Rcligionskämpfc, die in ihm wüteten, zerrissen worden. Trotz aller Religionskämpfe ist England England und ist Frankreich Frankreich geblieben und ist sogar Deutschland Deutschland gebheben. Mag es auch auf jeder bedeutenden Entwicklungsstufe der Gewalt bedürfen, um die Verfassungsänderung endgültig durchzusetzen, die den neuen Verhältnissen entspricht, mag auch die Diktatur von rechts und von links aufgerufen werden, um durch Blut und Eisen zu entscheiden, so wird zum Schlüsse doch der große nationale Staatsmann recht behalten, der Blut und Eisen gerade nur soweit einsetzt, um die volle innere Kraft der höchsten Friedensmächte zu entfalten. Es ist kein Zweifel, daß bei jedem Volke, welches seine leibüche und geistige Gesundheit bewahrt, die Nationalgeschichte überall mit dem Siege der Friedensmächte über die Gewalt endigen wird und daß die Eingriffe der Gewalt immer seltener und kürzer sein werden, die noch aufgewendet werden müssen, um die Hemmungen der Friedensmächte aus dem Wege zu räumen.
Wird auch der Klassenkampf, der seit geraumer Zeit in den Kulturstaaten im Gange ist und da und dort schon den offenen Bürgerkrieg entzündet hat, sich zuletzt in einem gesicherten Zustand bürgerlichen Friedens beruhigen ? Die Gemüter der Besitzenden waren schon vor dem Weltkrieg auf das ernstlichste besorgt, und seit dem Umsturz ist die Besorgnis noch auf das lebhafteste gesteigert worden. Man erwartet einen Rückschlag der Gewalt, schümmer und andauernder, als man ihn auf der Höhe der Kultur jemals erlebte. Nicht nur die Sorge um den Besitz und um den geordneten Ablauf der Wirtschaft ist aufgeregt, [259] sondern auch die Sorge um das Ganze der Kultur und des sittlichen Wesens. Die Wildheit, mit welcher der Klassenkampf dort geführt wurde, wo er offen ausgebrochen ist, läßt das Äußerste befürchten, wenn er einmal allgemein werden sollte. Wird die Behauptung eines Gesetzes abnehmender Gewalt nicht vom Grunde aus Lügen gestraft werden, sobald es einmal dazu kommt?
Wie immer die Dinge werden mögen, so muß man sich klar machen, daß auch hier die Gewalt nicht aus einer unbezähmbaren Wildheit der menschlichen Natur hervorbricht, sondern daß es ein neues gesellschaftliches Werk ist, welches die Gewalt aufruft, weil seine friedliche Ordnung noch nicht gefunden wurde. Dieses neue gesellschaftliche Werk geht nicht vom Proletariat aus, sondern es ist vom Kapital eingeleitet, und die Bewegung des Proletariates mit ihren Gewaltsamkeiten ist nur die Gegenwirkung auf den Druck der Gewalt, den das Kapital bei seinem Werke ausübt. Auch der kapitalistische Unternehmer handelt jedoch nicht einfach aus der rohen Selbstsucht seines Herzens, wenn er diesen Druck ausübt, sondern er ist dazu als Führer eines gesellschaftlichen Werkes gedrängt, das, so wie die menschliche Natur nun einmal ist, die Gewalt zu seiner Bewältigung aufruft, weil es anders nicht zu bewältigen ist, wobei man freilich zugestehen muß, daß die Menschen die Höhe der moralischen Entwicklung noch nicht erreicht haben, auf der es im friedlichen Einvernehmen bewältigt werden könnte. Die Wunderleistungen der modernen Technik stellen Erträge in Aussicht, deren Größe das wirtschaftliche Interesse Versuchungen aussetzt, gegenüber denen es sein moralisches Gleichgewicht erst wird bewahren können, bis die Entwicklung der gesellschaftlichen Moral die Entwicklung der gesellschaftlichen Technik eingeholt hat.
Das neue gesellschaftliche Werk, das der kapitalistische Unternehmer zu bewältigen hat, steht in Ziel und Verlauf dem Werke der Staatengründung nahe, so verschieden auch sonst die Verhältnisse sind. Der Übergang von der zerstreuten Kleinwirtschaft des Erwerbes zu umfassenden Erwerbseinheiten — ein Übergang, der nach der Meinung der Sozialisten damit abschließen muß, daß die ganze Volkswirtschaft einheitlich wird — vollzieht auf wirtschaftlichem Gebiete den gleichen Prozeß, wie er sich politisch in den jahrhundertlangen Kämpfen um die Zusammenfassung der kleinen Staatswesen zum Großstaat vollzogen hat. Wie dort, so muß auch hier der Übergang zur Größe und Einheit durch Gewalt erzwungen werden, weil der Widerstand der geschichtlichen Macht nicht anders überwunden werden kann. Was unter unseren Augen in der Volkswirtschaft geschieht, ist die Wiederholung [260] des typischen geschichtlichen Werkes der Gewalt. Die von der modernen Wissenschaft erkannten Naturkräfte sind von einer Größe, daß sie technisch im Großen erfaßt werden müssen, wenn anders die ausschweifenden Möglichkeiten ausgenützt werden sollen, die sich durch sie eröffnen. Warum hat die Masse der Gewerbsmeister und der Lohnarbeiter nicht den Blick für die Möglichkeiten der Zeit ? Warum hat sie nicht die Betriebsamkeit und den Mut aufgebracht, aus kleinen Anfängen große Unternehmungen zu entwickeln, wie es dieser oder jener einzelne Gewerbsmeister oder Lohnarbeiter getan hat, den sein kühner, unternehmender Geist aus der Tiefe des Volkes emporhob ? Es kann nicht schlechthin der Besitz des Kapitales sein, was den Gewerbsmeister und Lohnarbeiter ausschließt, denn wie viele von den erfolgreichen Unternehmern haben nicht mit den kleinsten Mitteln begonnen! Das Kapital der Großunternehmung ist zumeist erst mit ihrem Gedeihen groß geworden. Warum hat sich die Masse der Gewerbsmeister und Lohnarbeiter nicht in Genossenschaften zusammengetan, wenn man einzeln zu schwach war ! Wie beim Prozeß der Staatenbildung vermag eben auch bei diesem wirtschaftlichen Prozeß die Masse der Menschen den von der Natur der Dinge gewiesenen Weg ins Große nicht aus eigenem Entschluß zu gehen, sie hängen zu sehr am gewohnten Kleinen, um sich freiwillig davon zu trennen. Wie bei der Entwicklung des Staates ist bei der Entwicklung der Wirtschaft das Vorangehen starker Führer notwendig und ist, um die im Wege stehenden Hindernisse zu überwinden, stärkster Zwang und, man darf das Wort nicht scheuen, Gewalt notwendig. Die Zahl der Opfer, die auf dem wirtschaftlichen Wege ins Große gefallen sind, die Summe der Leiden, die erlitten werden mußten, geht ins Ungeheure, nicht anders wie bei den staatlichen Kämpfen. Andere Waffen wurden dort und werden hier verwendet, aber die Wunden sind gleich tief.
Die Ausgabe für Lohn macht von den Kosten, die der Unternehmer zu tragen hat, einen so bedeutenden Teil aus, daß man es begreift, wenn der Unternehmer an dieser Ausgabe besonders zu sparen sucht. Es ist nicht der Gewinntrieb allein, der ihn dazu verleitet, er kann im Gedränge des Wettbewerbes nicht umhin, sich in jeder Weise zu behclfen, außerdem hat er das stärkste Verlangen, aus dem gesteigerten Ertrag Rücklagen anzuhäufen, die das Kapital steigern und das Unternehmen vergrößern lassen, und endlich kam in den Anfängen des Großbetriebes noch die Erwägung dazu, daß man die Lohnausgabe leichter zu drücken vermochte, als man an den Sachausgaben sparen konnte, bei denen man mit dem harten Widerstand der Materie rechnen mußte. In den Anfangen [261] des Großbetriebes war der Arbeitsmarkt für die Arbeiter überaus imgünstig gestellt. Es war dies die Zeit, in der der Arbeitsmarkt durch die industrielle Reservearmee überfüllt war, wie sie bei der Einführung der Maschinen sich aus den Arbeitslosen anhäufte, welche bei der Umstellung der Betriebe auf das Pflaster geworfen wurden. Die Arbeiter mußten sich dareinfügen, bei längerer Arbeitszeit weniger Lohn zu erhalten und sich bei den übelsten Lebensbedingungen zu bescheiden. Erst nach und nach wurde die Lage für die Arbeiterschaft oder wenigstens für große Gruppen der Arbeiterschaft besser, namentlich nachdem man gelernt hatte, sich zu organisieren, und nun mußten die Unternehmer die Erfahrung machen, daß der Widerstand menschlicher Kraft doch noch ausgiebiger ist als der härteste Widerstand der Materie, denn er hat es in sich, aus der Abwehr zum Angriff umzuschlagen. Das organisierte Proletariat ging auf der ganzen Linie des Großbetrieben zum Angriff vor und gewann Erfolg auf Erfolg, wie in bezug auf den Lohn so in bezug auf die Arbeitszeit und die allgemeinen Arbeitebedingungen.
Darf man sich verwundern, daß die aufsteigende Bewegung des Proletariates in leidenschaftlicher Gewaltsamkeit begann? Von Staat und Gesellschaft war die längste Zeit hindurch gar viel unterlassen und nur allzuviel dazu getan worden, um das sittÜche Wesen des Proletariates verkommen zu lassen. Lassalle wußte sehr gut, welche gefährliche Kraft er aufrief, als er seine Agitation im deutschen Proletariat eröffnete; er sagt es deutlich in dem Motto, das er seinem Werke über , .Kapital und Arbeit“ voranstellt: „Acheronta movebo“, ich werde die Unterwelt in Bewegung setzen. Hätte er sie nicht in Bewegung gesetzt, so hätte es ein anderer an Beiner Statt getan ; die proletarische Masse war so zur Bewegung bereit, daß ihr der Führer nicht fehlen konnte. Auch auf der Seite des Kapitales war die Bewegung nicht aufzuhalten. Die neueröffneten Möglichkeiten waren zu verlockend, als daß sie nicht über alle Bedenken hinweg zur Tat gedrängt hätten, eine Kraft war aufgeregt, die stärker war als alle Besorgnis, daß die gesellschaftliche Ordnung durch sie erschüttert werden könnte. Trotz aller Besorgnis setzte das Kapital sein Werk des wirtschaftlichen Aufbaues, der zugleich wirtschaftlicher Umsturz ist, unaufhaltsam fort. Wie zu seiner Zeit der Grundherr die Bauern zu besitzlosen Landarbeitern abgestiftet hatte, so drückte jetzt der Fabriksherr überall, wo der Großbetrieb den Kleinbetrieb und Mittelbetrieb verdrängte, die selbständigen Gewerbsmeister in die Schicht der Lohnarbeiter hinunter. Zugleich sammelte das Kapital den Zuwachs der Bevölkerung in seinen Unternehmungen an; [262] daß es ihnen damit, daß es sie im Betriebe massierte, zugleich den Weg der Massenorganisation wies, zog man nicht in Rechnung. Die zunehmende Herrschaft der Gewalt, die abnehmende Wirkung von Recht und Sittlichkeit sind notwendige Begleitungen dieses wirtschaftlichen Überganges — es wäre töricht, wenn man dies leugnen wollte. Es liegt aber doch ein nicht geringer Trost darin, wenn man erkennt, daß es nicht ein Ausbruch unbezähmbarer Wildheit ist, was man da vor sich hat, sondern daß der Rückschlag der Gewalt, den die Gegenwart erlebt, so wie andere geschichtliche Rückschläge vorher durch ein neues Werk herausgefordert ist, welches die Gegenwart beschäftigt. Damit ist die Hoffnung gegeben, daß, sobald die neue Stufe endgültig gewonnen ist und die Gesellschaft sich auf ihr im Sinne der gegebenen Sachlage eingerichtet hat, die Leidenschaft der Gewalt sich beruhigen und die gesellschaftliche Moral sich zu der Höhe erheben wird, die eine friedliche Auseinandersetzung ermöglicht.
Wie der wirtschaftliche Prozeß ausgehen mag, der heute im Gange ist, wie weit er noch äusgreifen mag, wie die neue Ordnung gestaltet sein mag, damit wollen wir uns im einzelnen nicht beschäftigen. Wir sind zufrieden, wenn wir feststellen können, daß Aussicht besteht, daß dieser Prozeß ebenso mit dem Siege von Recht und Sittlichkeit über die Gewalt endigen könnte, wie der Prozeß der Staatenbildung. Dabei mag vielleicht die letzte Entscheidung wieder durch Blut und Eisen fallen, aber bei jedem Volke, das sich seine leibliche und geistige Gesundheit bewahrt, wird, um die Worte von früher zu wiederholen, wohl wiederum der große nationale Staatsmann recht behalten, der Blut und Eisen nur so weit einsetzt, um die volle innere Kraft der höchsten Friedensmächte zu entfalten. Starke Individuen haben eine stürmische Jugend und haben dann doch ein besonnenes Alter, das nur selten mehr und nicht mehr so bis auf den Grund von Leidenschaften bewegt wird. So ist es auch mit den starken Völkern. In ihrer Frühzeit brausen sie im Kampfe dahin, in ihrer Reife nützen sie die Kraft friedlicher Arbeit. Wenn auch der Wechsel der Zeiten sie späterhin noch das eine oder das andere Mal in Kämpfe verstricken mag, so wird sie das Gesetz der höchsten Kraft, solange sie ihre leibliche und geistige Gesundheit bewahren, am Ende doch wieder zur friedlichen Arbeit als der fruchtbarsten Kraft zurückführen. Ihre Kämpfe werden Ausnahmen in der Regel des Lebens sein, sowie die Krankheiten, die der kräftige Körper überwindet, wenn er dabei auch nach Umständen das nachhelfende Messer des Chirurgen braucht.
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Im Verhältnisse der Völker zueinander, selbst im Verhältnisse der Kulturvölker, steht es anders als innerhalb des einzelnen Volkes. Die Kulturvölker sind zwar so sehr auf den Ertrag ihrer Arbeit und ihres Kapitales angewiesen, daß man eigentlich glauben sollte, der Krieg müßte von ihnen schon als Störung ihrer Wirtschaft vermieden werden; es ist aber doch nicht so, zwischen den Kulturvölkern sind die Kriege immer noch so häufig, daß man sie nicht als Ausnahmen betrachten darf ; sie gehören zu den Regelmäßigkeiten des Lebens, wie Sturm und Regen nach Sonnenschein und Windstille. Man ist immer auf sie eingerichtet, und nicht nur das, sondern man hält das Recht auf den Krieg für ein unverzichtbares Recht jedes starken Volkes, und zahlreiche der besten Männer jeden Volkes sind der Meinung, daß die Volkskraft erschlaffen müßte, wenn sie nicht immer wieder durch den Krieg zu voller Stärke angespannt würde. Daß die Bekämpfung der wilden Völker oder auch der Völker der Halbkultur erlaubt ist, darüber hat man überhaupt keinen Zweifel; das Kulturvolk spricht sich hier von jeder Kriegsschuld frei, weil es sich der hohen Aufgabe rühmt, die Zivilisation über die Erde zu verbreiten. Zwischen den Kulturvölkern ist der Raubkrieg, der ungerechte Krieg überhaupt, allerdings verpönt, aber da jedes Volk für sich Richter in seiner Sache ist. so ist die Gelegenheit zum gerechten Krieg immer da, so oft man sie nur haben will. Der Geschichtschreiber wird in der langen Reihe der Kriege, welche die Kulturvölker untereinander geführt haben, kaum einen finden, wo nicht beide Teile die Gerechtigkeit ilirer Sache behaupteten und wo nicht die Kirchen beider Teile den Segen Gottes für ihre gerechte Sache herabflehten. Das Volk hat es immer geliebt, diese Kriege als die Angelegenheit der Dynastien zu erklären, und nichts war der öffentlichen Meinung gewisser, als daß es mit dem Kriege zu Ende sein müsse, wenn einmal da« Volk selber den Staat beherrschte; dem Kenner der Geschichte aber mußte es wohl deutlich sein, daß auch die Demokratien nicht ohneweiters vom Kriege lassen würden, und der Weltkrieg hat den unwiderleglichen Beweis dafür erbracht, daß der dynastische Krieg in seiner regelmäßigen Gestalt eine Zwergerscheinung gegenüber dem Völkerkriege ist, als welcher sich der Weltkrieg, wenn nicht von seinem Ursprung her, so jedenfalls in seinem verzehrenden Wachstum darstellt. Sind es doch auch die Völker, welche die Bürgerkriege führen, die um vieles greuelvoller sind als die militärischen Kriege ; sind es doch auch die Völker, die den Religionskriegen ihre grausame Hartnäckigkeit und Wut [264] gegeben haben. Der Arbeiter liebt es, den Kapitalisten der Schuld am Kriege zu zeihen. Man wird sehen, ob der Arbeiter nicht ebenso den Willen zum Kriege haben wird, wenn er einmal Herr des Staates und der Wirtschaft ist. Kriegerischer Geist hegt der großen Masse der Menschen, solange sie nicht erschlafft sind, immer noch im Blut, immer noch gilt ihnen Tapferkeit als die bezeichnende Tugend des Mannes, und immer noch ist für sie der Krieg die ultima ratio für die Entscheidung der Völkerschicksale.
Für den Gedanken eines gemeinsamen Weltberuf es der Kulturstaaten konnte vor dem Weltkriege kein Raum sein und ist auch nach ihm noch kein Kaum geworden. Kein Staat fühlt sich als Mitstaat eines Weltreiches, jeder sorgt für sich, und wenn er mit andern Abmachungen trifft, so geschieht es im eigensten Interesse und mit ängstlicher Wahrung seiner Souveränität. Noch weniger ist Raum für irgend ein persönlich geartetes Gefühl, wie etwa das des Mitleids zwischen Staat und Staat, es wäre dies geradezu wider die Natur der Dinge, wie man sie in aller Welt auffaßt, denn der fremde Staat gilt dem allgemeinen Gefühle des Volkes nicht als eine Summe von Menschen seinesgleichen, sondern als ein Wesen überpersönlicher und somit unpersönlicher Art. Am ehesten erhält der Staat im Gesichtskreise der Fürsten einen gewissen persönlichen Charakter, wenn sich diese einander als Blutsverwandte oder aus längerem Verkehre kennen und vertrauen ; der Onkel Zar oder der ritterliche Kaiser Franz Josef mochten als Gestalten wirken, die für den Frieden bürgten. In andern Fällen erweckte aber gerade die Person des Fürsten oder des leitenden Staatsmannes das tiefste Mißtrauen. Im Grunde kommt es indes auf einzelne Personen nicht weiter an, der fremde Staat bleibt ein unpersönlich dämonisches Wesen, das, bald verhüllt, bald aber auch mit rücksichtslos offener Brutalität dem Gesetze der Macht folgt, und auf das man sorgfältig achten muß, weil etwas Gefährliches in ihm steckt. Was uns als Staat gegenübersteht, sind nicht Engländer, Russen oder Deutsche, wie wir sie in allerlei Lagen des Lebens als Menschen unserer Art kennen gelernt haben, es ist der Engländer, der Russe, der Deutsche in seinem objektivierten, geschichtlich gegebenen Charakter, oder, um es noch genauer zu sagen, es ist England, Rußland, Deutschland, wie sie als geographisch-geschichtlich bedingte Gestalten dem Gravitationsgesetze der Macht folgen. Es ist das meerumflossene England, das der Seeherrschaft nicht entraten konnte, es ist das binnenländische Rußland, das nach dem eisfreien Weltmeer begehrte, es ist das an zwei Fronten dem Kriege ausgesetzte Deutschland, das einem Doppelangriff gewachsen sein mußte.
[265]
Dabei haben die Angehörigen der Kulturstaaten in ihrem Privatverkehre mit Staatsbürgern andrer Kulturstaaten auf Selbsthilfe ebenso verzichten gelernt wie im Verkehre mit ihren Konnationalen. Man wird zunächst etwas mißtrauischer sein, bald aber lernt man sich mit den fremden Eigenheiten zurechtfinden, man lernt zu seiner Überraschung vieles schätzen, was man zu Hause nicht so angetroffen hat, und wo man dies und jenes auszusetzen hat, lernt man sich anpassen, indem man die Erfahrung macht, daß man im ganzen doch gut herauskomme; man sieht, daß man es, alles in allem, mit gesitteten Leuten zu tun hat, mit denen sich leben und arbeiten läßt, weil sie, mit Ausnahmen, wie man sie mehr oder weniger überall findet, den Geboten der Moral t und des guten Benehmens folgen. Wenn jedoch Bürger in staatlicher Pflicht aufeinander treffen, wenn der Soldat im Kampfe mit den feindlichen Soldaten zusammenstößt, wird es anders. Der Soldat handelt nicht aus eigenem Willen, er handelt als Organ seines Staates, dessen Befehl zu vollziehen er sich nicht weigern kann und in aller Regel auch nicht weigern will, denn dem eigenen Staate Treue zu halten, ist ein höchstes Gebot; er ist Schwert und Schild, ist höchster Wert. Man verdenkt es darum auch dem feindlichen Soldaten nicht, daß er dem Befehle seines Staates gehorcht, man macht ihn dafür gar nicht persönlich verantwortlich, man ehrt ihn als tapfern Krieger; die Kugel, die auf ihn abgefeuert wird, ist ihm nicht als Menschen zugedacht, sondern als einem der feindlichen Waffenträger, die überwältigt werden müssen, um dem eigenen Staate den Sieg zu gewinnen. Denn daß der eigene Staat im Rechte ist, daran ist kein Zweifel zugelassen, wie umgekehrt kein Zweifel daran zugelassen ist, daß der fremde Staat im vollsten Unrecht ist, weil er den Krieg aus bösestem Willen erregt hat, weshalb ihn die Einbildungskraft des Volkes denn auch in dunkelsten, ungeheuerlichsten Bildern ausmalt. Dem gefangonrn, dem verwundeten Feinde begegnet man wieder menschlich, er ist aus dem Verbände seines Staates gelöst und wird daher wieder als Mensch gewertet. Selbst in den Pausen des Kampfes kommt man sich menschlich nahe, zwischen den Schützengräben gibt es ein gewisses Menschenrecht, man begegnet sich z. B. in einem treulich eingehaltenen Abkommen, das Wasser der Quelle zu teilen, die zwischen den Linien aufbricht. Freilich erwacht in der Leidenschaft des Kampfes auch wieder der wilde Geist der Vorfahren, der sich an feindlichem Blut nicht ersättigen kann und der die vom Staate anbefohlene Tötung des Gegners zum gewissenbelastenden Morde erniedrigt. Was in den Millionen noch von den wilden Instinkten des Raubtieres übrig ist, bricht im Taumel des Kampfes hervor.
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Auch die Führer im Staate, welche die Befehle ausgeben, können nicht aus ihrem persönlichen Willen heraus handeln, auch sie haben nicht die Freiheit, ihre Entscheidungen als Menschen gegenüber Menschen zu treffen, auch sie stehen jn staatlicher Pflicht, und sie stehen sogar in ganz besonderer staatlicher Pflicht, sie sind daher in ganz besonderem Grade den Mächten des Staates unterworfen. Sie können ihrer Pflicht nur genügen, wenn sie ihre Handlungen genau auf die Wirklichkeiten der Staatswesen einstellen, die ihnen gegenüberstehen und che sie als Machtbildungen erkennen müssen. Diejenigen von ihnen, deren Ehrgeiz sich dahin erschöpft, ihre Pflicht im herkömmlichen Sinne zu erfüllen, unterwerfen sich damit von vornherein den Mächten, die in der gegebenen Konstellation des politischen Himmels gerade als Regenten befehlen; diejenigen von ihnen, die starke Persönlichkeiten eigenen Willens sind und den Menschen als die großen Machthaber erscheinen, sind erst recht von der Dämonie der Macht besessen, ihr freies Wollen ist erst recht ein strenges Müssen. Die Geister der neuen gesellschaftlichen Kräfte, die sie wittern, sind die Herren über sie, und sie können nicht anders, als ihnen dienen. Das Ungeheure der Individualität Napoleons lag darin, daß er im höchsten Grade die Gabe besaß, die Kräfte seiner Zeit zu sammeln und zum Ausschlag zu bringen. Er ist ein gewaltiges gesellschaftliches Medium gewesen, von einer Energie, wie sie der Natur nur selten zu schaffen gelingt. Diese seine Energie hat ihn dazu befähigt, aufzusammeln und zu entladen, was an kriegerischen Instinkten in den Franzosen und den andern Völkern lag, die er zum Kriege fortriß. Die gewaltigen Kriege, die er führte, sind menschliche Dokumente nicht nur in Rücksicht auf ihn selbst, sondern zugleich in Rücksicht auf die Völker seiner Zeit. In keinem Kriege ist es anders gewesen, der Krieg ist niemals bloß die Sache der Führer, in ihm kommen immer auch die Triebe der Masse der kämpfenden Menschen zur Wirkung.
Es ist eines der seltsamsten Geheimnisse der menschlichen Natur, daß dieselben Gemüter, welche das Gebot der Nächstenhebe als höchstes Gebot erkennen, sich dem staatlichen Gebot des Krieges willig, ja freudig unterordnen. Wird im Kriege nicht tausendfacher, millionenf acher Mord begangen ? Wie kann das menschliche Gefühl, das sich gegen den einfachen Mord empört, den Massenmord des Krieges zulassen ?
Bis auf die Gegenwart herauf waren die Menschen von Krieg und Kriegsgeschrci näher oder entfernter so umtobt, daß sie kaum zur Wahrnehmung dieses Widerspruchs gelangten. Erst seit die Staaten [267] im Innern zu gesicherterem Frieden und Friedensgefühl gereift sind, ist auch der Wille zum Völkerfrieden erwacht. Wie zu seiner Zeit wider das Faustrecht im Innern des Staates der Landfriede, so wird seither wider das Faustrecht im Völkerleben der Weltfriede gefordert. Die moderne Friedensbewegung ist in Schwung gekommen.
Für seine ersten Anhänger hatte der Pazifismus das Unwiderstehliche eines neuen Glaubens. Der Krieg, zumal der Krieg zwischen Kulturvölkern, war ihnen eine unbegreifliche Ausartung der menschlichen Natur. Sie waren des guten Glaubens, nichts sei leichter, als die Menschen hie von zu überzeugen, man müßte ihnen nur einmal die Greuel des Krieges in ihrer ganzen Brutalität vor Augen führen. Die Verfasserin des Buches „Die Waffen nieder“ war von den Eindrücken, die sie im Kriege von 1866 empfangen hatte, so erschüttert, daß sie zur Feder griff, um ihre Leser in gleichem Grade zu erschüttern. Ihr lebhaft geschriebenes Buch ist nicht ohne starke Wirkung gebheben, aber der Wille zum Krieg wurde dadurch nicht um einen merklichen Bruchteil geschwächt. Hätte Bertha Suttner den Weltkrieg erlebt, so hätte sie die Erfahrung machen können, daß selbst seine ins Maßlose gesteigerten Greuel nicht imstande waren, den Willen zum Krieg zu ersticken. Die Russen und die Völker der Mittelmächte haben sich nicht deshalb gegen den Krieg gewendet, weil sie durch seine Schauer erschreckt waren, sie alle hätten weiter gekämpft, wenn sie sich nur auf den Sieg noch hätten Hoffnung machen können, so wie die Völker der Entente nach manchen vorübergehenden Erschütterungen ihres Kriegswillens, die in schlimmen Zeiten über sie kamen, wieder ganz fest geworden sind, sobald sie den Sieg in sicherer Aussicht hatten. Schließlich haben dieselben Proletarier, die den Krieg des Staates verurteilt hatten, ohne Säumen den Klassenkrieg eröffnet, und die Greuel des bolschewistischen Krieges haben alle Greuel des Zarenkrieges überboten und hatten nicht die Entschuldigung für sich, daß sie für den Kriegszweck notwendig waren. Sie waren Ausbrüche grausamsten Gelüstens.
Der Arzt, der den Körper heilen will, muß ihn genau kennen, ebenso muß deY ernste Friedensfreund den gesellschaftlichen Körper genau kennen, wenn er ihn vom Übel des Krieges heilen will. Er muß sich darüber klar sein, daß man in der durch Jahrtausende bewiesenen Neigung zum Kriege eine Tatsache der menschlichen Natur vor sich hat, mit der man nicht schon dadurch fertig werden kann, daß man das menschliche Gefühl des Widerspruches zeiht, weil es sich gegen den einfachen Mord empört-und den Massenmord des Krieges billigt. Bevor man darangeht, das Gefühl durch Beweisführung zu widerlegen, muß [268] man das, was in ihm zunächst als Widerspruch erscheint, auf seinen innersten Sinn zurückzuführen suchen, in welchem sich der Widerspruch aufheben wird, denn die Natur widerspricht sich niemals, und ein durch die Jahrtausende wiederholtes Erlebnis kann nicht wider die Natur gerichtet sein. Es ist nun einmal so, die Tötung des Gegners im gerechten Kriege gilt dem Gefühle der Masse der Menschen, von ganz wenigen Ausnahmsmenschen abgesehen, nicht als Mord, das Gebot „Du sollst nicht töten“ gilt im gerechten Kriege nicht. Warum gilt es nicht? Wie ist es zu erklären, daß das Moralgebot, das innerhalb des Volkes gilt, zwischen den Völkern keine Kraft hat ? Das ist die Grundfrage, die jeder zu beantworten hat, der ein wohlabgewogenes Urteil über den Krieg abgeben will.
Wir finden die Antwort von der höchsten moralischen Autorität des Christentums und der Menschheit deutlich ausgesprochen. Christus selber, der die Menschen lehrt, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, hat dieses sein Gebot nicht so verstanden, daß er damit den Krieg gleich aus der Welt schaffen wollte. Indem er das zweite Gebot beifügte „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“, hat er die weltÜche Gewalt im Frieden wie im Kriege anerkannt und gewähren lassen. In den Heeren der römischen Kaiser haben auch Christen tapfer ihren Dienst getan. Späterhin, als die Völker des Mittelmeeres alle christlich geworden waren, haben sie nicht nur gegen die Heiden, sondern ebenso unter sich selbst Kriege und Kriege geführt, und sie haben es unter dem Schutz der Kirche getan, die sich des weltlichen Armes für ihre Zwecke entschlossen zu bedienen wußte und deren Prälaten selber nicht selten den Harnisch trugen. Ganz wie ihre Meister lehrte die Kirche ihre Gläubigen, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und der bestehenden weltlichen Gewalt gehorsam zu sein, die nicht einmal die legitime Gewalt zu sein brauchte.
Diese Lehre ist tiefster Weisheit voll. Schon das Gebot „Liebe den Nächsten wie dich selbst“ geht über menschliche Kraft und hat sich erst ganz allmählich einigermaßen durchzusetzen vermocht. Erst wenn es einmal in unablässigem Bemühen gelungen ist, das Verhältnis von Mensch zu Mensch auf seine reine Höhe zu erheben, wird es in weiterer Folge auch gelingen können, im Verhältnis von Staat zu Staat die Einsprengungen der Gewalt zu tilgen. An die selbstbewußten weltlichen Gewalten aber ein Gebot zu richten, das auch bei den nachgiebigeren Individuen nur ganz allmählich durchgesetzt werden konnte, das hat der Stifter des Christentums wohlweislich unterlassen. Genug, wenn der Same der Liebe vorerst in den fühlenden Herzen aufgeht.
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Warum aber ist die staatliche Gewalt selbstbewußt, warum sind die Individuen nachgiebig? Dies ist der entscheidende Punkt, für den wir die Erklärung finden müssen.
Wir finden die Erklärung, die wir suchen, in dem Gegensatze der Einzelkraft zur staatlichen Kraft.
Die Einzelkraft ist schwach, vom Anfang an hat das Gefühl ihrer Unzulänglichkeit die Menschen in ihren Familienverbänden soweit nur möglich zusammengedrängt, und als auf die Dauer sich auch diese zu schwach erwiesen, nach und nach zum Staatsverbande hingetrieben. Die schwächeren Schichten und Individuen suchten beim Staate ihren Schutz und fanden ihn um so mehr, je kräftiger der Staat wurde. Von den starken Schichten und Individuen übernahm ein Teil die Führung und Unterführung beim Aufbau des Staates, wobei er seinen persönlichen Machtvorteil erreichte, ein andrer Teil allerdings bemühte sich aus allen Kräften, seine wilde Unabhängigkeit trotzig zu behaupten und sich in seinem kleineren Volkswesen der Aufsaugung durch die emporkommenden größeren Bildungen zu erwehren. Soweit diese Schichten und Individuen nicht als Opfer ihres Widerstandes aufgerieben wurden, haben aber auch sie oder haben doch ihre Nachkommen, soweit sie entwicklungsfähig waren, sich endlich in die siegenden Staatswesen einfügen gelernt und von deren Größe und Frieden ihren Nutzen gezogen. In jedem gesunden Volke haben sich endlich die Bürger in fruchtbarer Symbiose vereinigt.
Ein Staatsverband von genügender Macht hilft sich dagegen in der Hauptsache selbst, er braucht keinen andern Staat, um sich an ihn anzulehnen, er widerstrebt dem anderen Staate vielmehr, weil er in ihm eine wesensfremde Art herausfühlt, der er mißtraut und die er fürchtet. Darum hat jeder Staat das Bestreben nach Selbstherrschaft, nach Autarkie, und wenn er sich dazu noch zu schwach fühlt, so tut er alles, um so groß zu werden, daß er auf sich selber beruhen kann. Die Probe des Erfolges bestimmt jeweils das nach den Umständen zulängliche Maß. Die ohnmächtigen Kleinstaaten wurden im Kampfe zu Großstaaten zusammengeballt , und die Großstaaten weiteten sich bis zu ihren nationalen Grenzen aus, über die hinaus der nationale Herrschaftsstaat sich dann noch soviele schwächere Nachbarn und Kolonien unterwarf, als seine Kraft zuließ. Von Nachbarn umgeben, die nach weiterer Ausdehnung verlangten, mußte auch der friedliebendste Staat eifersüchtig [270] seine Selbständigkeit wahren. Keinem Staate konnte es beifallen, auf seine Autarkie zu verzichten, jedem galt es als unvereinbar mit seiner Aufgabe und Würde, sich einem Oberstaat zu unterwerfen oder auch nur seine Waffen abzulegen.
Der Krieg ist der folgerichtige Schluß aus diesen Prämissen. Solange es keine Instanz gab, die zwischen den Staaten entscheiden konnte, so blieb auch für den Kulturstaat, der sich in seinen Lebensinteressen bedroht fühlte, nichts übrig, als die Entscheidung mit den Waffen zu suchen, wie es in rauher, friedloser Zeit der einzelne Mann tun mußte, der für sich selber einzustehen hatte. So wie der Staat geschichtlich geworden ist, geht es ihm nicht wider seine Natur, die Entscheidung mit den Waffen zu suchen, sein Selbstbewußtsein fordert ihn vielmehr dazu auf, wenn es einmal an Leben und Ehre geht. Auf seiner Kulturhöhe steht er heute dort, wo der Ritter stand, der noch das Faustrecht übte, nachdem der hilflose Bauer und Bürger sich schon längst nachgiebig dem Friedensrechte gebeugt hatten. Wie der Ritter von andern Rittern umgeben war, von denen er wußte, daß sie gleich ihm ihre Mannesehre in Waffen zu wahren bedacht waren, so sieht sich der Staat von andern kriegsgerüsteten Staaten umgeben, von denen er weiß, daß sie ihr Machtintcresse mit Aufgebot aller Kraft wahren werden und deren Friedenshebe er, durch die Erfahrung der Jahrhunderte gewarnt, mißtrauen muß. Wie der Ritter sich sein Recht suchte, indem er im gegebenen Fall seine Gegner mit Fehde überzog, so meint es auch der Staat tun zu sollen. Wenn die Dinge einmal so hegen, daß der Krieg unvermeidlich scheint, so gebietet es die Staatskunst, lieber dem Angriff zuvorzukommen, als daß man sich der Gefahr aussetzt, vom feindlichen Angriff überrascht zu werden. Rascher Angriff gilt als halber Sieg. Friedrich der Große und Moltke ebenso wie Napoleon haben ihre Kriege durch die Überraschung entschieden, mit der sie sie eröffneten. Fürsten und Staatsmänner, die, wenn es nun einmal zum Kriege kommen soll, den günstigen Augenbück nicht benützen, würden sich wie der Arzt erscheinen, der sich einen Kunstfehler zu Schulden kommen läßt. Bismarck hat die Lage, in der sich die Staaten vor der Kriegseröffnung befinden, mit derjenigen verglichen, in welcher sich ein Mann befindet, der im wilden Walde, einem bewaffneten Unbekannten begegnet und ihn niederschießt aus Furcht, sonst von ihm niedergeschossen zu werden. Das Bild ist so treffend, wie man es von Bismarck gewohnt ist, aber gerade daß es so treffend ist, läßt das ungeheuerliche Verhältnis erkennen, in welches der Egoismus der Machtbegierde selbst die großen Kulturstaaten gegeneinander stellt. Es ist entsetzlich zu [271] denken, daß sie sich, sobald einmal ihr Machtegoismus gegeneinander erregt ist, nicht anders als mit dem Gefühle feindseligsten Mißtrauens begegnen können, es ist entsetzlich zu denken, daß beim Lichte aller ihrer Kultur sie einander begegnen wie Fremde in der Unheimlichkeit des Woldes und daß sie, die berufenen Friedensträger, sich gezwungen finden, ohne Besinnen zu töten, um nicht getötet zu werden.
Es ist entsetzlich dies zu denken, aber so wie die Dinge zwischen den Staaten bis zum Ausbruch des Weltkrieges lagen, waren Regierungen und Völker durch die Unerbittlichkeit der Machtlogik gezwungen, so zu denken. Der Widerspruch, den das Gefühl empfindet, war kein Widerspruch im Gedanken. Es war das gleiche Gesetz der Macht, das Gesetz der höchsten Kraft oder des Erfolges, das zwischen den Bürgern im Staate das Recht und zwischen den Staaten die Gewalt aufruft. Die Bürger stehen zueinander in Verhältnissen, unter denen sie zu erkennen vermögen, daß sie sich durch friedliches Zusammenwirken wechselseitig fördern. Die Staaten standen bis auf die Gegenwart zueinander in Verhältnissen, die sie zur Überzeugung brachten, daß ihnen ihre Unabhängigkeit den höchsten Erfolg sichere, und darum nahmen sie lieber die Lasten und Leiden des Krieges auf sich, so seindieser auch das menschliche Mitgefühl schaudern machte, als daß sie der Waffe des Krieges entsagen wollten.
In einer bekannten Stelle sagt Kant von den Engländern, sie seien im Verhältnis untereinander das schätzbarste Ganze von Menschen, aber als Staat gegen fremde Staaten der verderblichste, gewaltsamste, herrschsüchtigste und kriegserregendste von allen. Man hat diese Stelle bei uns schon vor dem Weltkrieg und dann besonders im Weltkrieg zitiert, um sie zur Unterstützung der Anklage der Heuchelei zu verwenden, die man gegen England zu erheben liebt. Der Widerspruch, den Kant hervorhebt, löst sich indes, so sehr er dem Gefühle des Beobachters auffallen muß, nach der Logik der Macht ebenso auf, wie der Widerspruch zwischen der Friedensstimmung des Bürgers und der Kriegsstimmung des Staates. In bedrohter Zeit wird jederman um so mehr Machtmittel um sich versammeln und sie um so entschlossener gebrauchen, je reicher die inneren und äußeren Werte sind, die er zu verteidigen hat. In solcher Lage waren die Engländer des 18. Jalirhunderts, wie sie Kant vor sich hatte. Sie hatten reichere und entwicklungsfähigere Werte zu behüten, als irgend ein anderer Staat und waren zugleich den andern Staaten in der Kunst voraus, mit der sie schon damals das Instrument der Weltpolitik handhabten. Wie konnte es anders sein, als daß die Engländer das schätzbarste Ganze ihres Volkes [272] noch höher schätzten, als der fremde Beobachter, und daß sie zu den äußersten Anstrengungen entschlossen waren, um es nach außen zu behaupten und nach seinem Werte auszubauen, an den sie unbeirrt * glaubten !
Der Gegensatz von privater Moral und Staatsmoral erschöpft sich keineswegs darin, daß sich der Staat von dem Gebote freispricht „Du sollst nicht töten“, welches für den Privaten außer dem Falle der Notwehr unverbrüchlich gilt. Der Staat ist selbst bei den entwickeltsten Kulturvölkern nach allgemeiner Anschauung noch von vielen andern Sittengeboten frei, von denen sich jeder anständige Mann gebunden fühlt. Der Staatsmann hält sich dort, wo es um große Interessen geht, nicht für gehalten, die sittlichen Pflichten zu erfüllen, die er in seinem Privatleben zu verletzen sich niemals entschließen könnte. Der Staatsmann hat, wenn es die Umstände fordern oder ihm zu fordern scheinen, das Recht auf Lüge und selbst die Pflicht zur Lüge; für ihn gilt das Gebot nicht „Du sollst nicht Ohren blasen und verleumden“, denn wie könnte er sonst mit der geforderten Wirkung die Kriegspropaganda betreiben, auf die zu verzichten er sich nicht entschließen kann ? Der Staat begehrt nach des Nächsten Land. Man muß sich überhaupt klar machen, daß die zum Gewissen sprechende Formel der göttlichen Gebote „Du sollst nicht“, immer nur an den einzelnen Menschen und nicht an die menschlichen Gemeinwesen gerichtet ist. Die Machtgebote der Öffentlichkeit haben ihren Ursprung außerhalb des Gewissens, und nur ganz allmählich sickern die Überzeugungen der persönlichen Moral in die Quellgebicte, aus denen sie entspringen.
Dies gilt so nicht nur im Verhältnis von Staat zu Staat, sondern es gilt, wenn auch nicht im gleichen Grade, ebenso für die innere Machtpolitik der Regierung, soweit sie eben Machtpolitik ist, d. h. so weit sie von dem egoistischen Interesse einer Machtgruppe eingegeben ist, die im Staate Herrschaft üben will, es gilt außerdem ebenso für die Machtbestrebungen aller Parteien im Staate und sonst für die Machtbestrebungen in der Öffentlichkeit. Wie der Staatsmann, schöpft auch der Parteimann die Regeln seines öffentlichen Verhaltens nicht einfach aus dem Kodex der Privatmoral. Die Partei ist ein Staat im Staate, sie hält ihren Parteiegoismus so heilig, wie das Volk den Staatsegoismus. Nicht bloß die politische Partei, sondern auch die kirchliche Partei und jede gesellschaftliche Partei, welchen Ursprunges und welcher Richtung immer, legt ihren Mitgliedern das Gesetz des [273] Parteiinteresses auf. Hieraus Lst es zu erklären, daß feinfühlige Gewissen sich in das Parteiwesen nicht recht hineinfinden wollen. Der Pflichtenkreis der Partei ist durch ihren Machttrieb abgemessen, und es gehört daher zur Natur der Partei, daß sie selbstsüchtig, rücksichtslos, unduldsam bis zur mitleidlosen Härte, ungerecht und undankbar ist. Der gewiegte Parteiführer wird alles daransetzen, um die Geschlossenheit seiner Partei zu wahren, und er wird daher insbesondere darauf bedacht sein, das Vertrauen ungetrübt zu erhalten, das sie zu ihrer Sache und, wie es sich von selbst versteht, auch zu seiner Person haben muß. Wenn er findet, daß es dazu nötig sei, seinen Genossen schmeichlerische Worte des Lobes über ihre Haltung, ihre Tugenden, ihre Erfolge auszuschütten, so schmeichelt er; wenn er findet, daß es das Selbstgefühl seiner Leute hebt, daß er die Sache und die Person der Gegner herabsetzt, so trägt er die stärksten Farben auf und spricht sich in einen leidenschaftlichen Ton hinein, der ihn unwillkürlich dazu bringt, die Grenze zu überschreiten, wo die Verleumdung beginnt — was ihn nicht abhalten muß, sich mit dem eben geschmähten Gegner, falls er mit ihm im privaten Verkehr zusammentrifft, in vergnügter Laune zu unterhalten. Unter vier Augen und im geheimen der Konventikel mögen sich Parteigegner unbefangen und fast rückhaltlos aussprechen, aber wehe dem, der das Vertrauen bricht , und das private Zugeständnis öffentlich verwerten wollte! Ein heimliches Ja ist, wie Luther sagt, ein öffentliches Nein.
Staatslehre und Staatskunst haben das Ganze der Machtpolitik in ein System gebracht, das unter dem Namen der Staatsraison die Jahrhunderte beherrschte, in denen sich der moderne Staat vollendete. Das bezeichnendste Buch dieser Richtung ist der vielverlästerte ..Fürst“ von Machiavelli. Dieses Buch, das uns mit klarer Sicherheit in die Naturgeschichte des Staates einführt, ist mit dem unbeirrbaren Tatsachensinn geschrieben, den die Italiener von den Römern geerbt haben. Die Unumwundenheit seiner Äußerungen verwirrt den modernen Leser, dessen keusche Ohren eine so rückhaltlose Sprache nicht zu hören bekommen und nicht hören wollen. Selbst der Kronprinz Friedrich von Preußen hat Machiavelli noch nicht mit klarem Urteil lesen können und hat einen Antimachiavelli geschrieben, um ihn zu widerlegen, er mußte erst selber als König von der Dämonie der Macht ergriffen sein, um nach seinem Sinne zu handeln. Im Gmnde ist König Friedrich der Große sogar machiavellistischer gewesen, als Machiavelli, denn er hat für seine Machtregicrung, wenigstens im Anfang, solange er noch nicht angegriffen war, sondern selber angegriffen hat, nicht die gleich starken treibenden Beweggründe gehabt, wie sie Machiavelli hatte, dessen blühende Vaterstadt [274] Florenz, zusammen mit dorn ganzen Italien, das er so gerne als sein Vaterland groß gesehen hätte, von allen Greueln des Krieges zerfleischt war. Machiavellis „Fürst“ ist in einem moralischen Notstand geschrieben, noch weit ärger als derjenige, der sich jetzt wieder über die politische Welt verbreitet. Der Staatsmann konnte Lüge und Hinterlist nicht entbehren, weil er überall von Lüge und Hinterlist umgeben war. Machiavelli erklärt daher rund heraus, daß der Staatsmann nicht durch seine Versprechungen gebunden sei; der Staatsmann soll sich der unnützen Grausamkeit enthalten, aber jede Art von Gewalt ist ihm erlaubt, die für seinen Zweck gefordert ist; sein Zweck ist Herrschaft, nach der zu streben den Menschen natürlich ist; wer sich an der Herrschaft erhalten will, muß sich vor allem des gegnerischen Herrschergeschlechtes entledigen, das bis ins letzte Glied zu vernichten ist. An Cäsar Borgia findet Machiavelli im „Fürsten“ nichts zu tadeln — in seinen Gesandtenberichten hat er an ihm getadelt, daß er es nach dem Tode seines Vaters an rücksichtsloser Entschlossenheit habe fehlen lassen — er lobt ihn für Handlungen, von denen wir heute nicht ohne Abscheu lesen können. Man darf nur nicht übersehen, daß Machiavelli, der jedes Mittel der Gewalt empfiehlt, um aus der Not der Zeit herauszufinden, zugleich erkennt, daß der Fürst auf die Dauer nicht durch Gewaltsamkeit, sondern durch vertrauensvolle Benützung der Volkskräfte seine Herrschaft festigen werde. Die materiellen Interessen der Bürger müssen gefördert werden, die Armee muß der Führung der besoldeten Condottieri entrissen und aus Landeskindern unter fürstlichem Befehle rekrutiert werden, und die entscheidende Macht, die schließlich gegen die fremden Gewaltherren aufgerufen wird, ist die Macht eines geeinigten italienischen Volkstums. Die Staatsraison Machiavellis, so unbedenklich sie in der Wahl ihrer Mittel ist, war in ihren Zielen vom echtesten Nationalgefühl geleitet und erhebt sich darin moralisch auf eine Höhe, die von den europäischen Völkern erst in der Periode des Nationalstaates erreicht wurde. Wenn die Staatsraison ihren Erfolg gehabt hat, so konnte es nur sein, weil sie auch mit den erforderten moralischen Kräften arbeitete. Bei den Kulturvölkern kann auf die Dauer nur eine Machtpolitik Erfolg haben, die jenen moralischen Einschlag besitzt, wie er dem Zeitgefühle entspricht.
So möchte man dem Worte Fichtes doch nicht ganz zustimmen, daß politische Machtfragen nie mit den Mitteln der Moral zu lösen sind. Auch die Öffentlichkeit hat ihre Moral der Macht, die mit der privaten Moral sogar in ihren Wurzeln verbunden ist, sie ist nur um Jahrhunderte oder gar Jahrtausende rückständig, weil sie mit der [275] schweren Beweglichkeit der Staaten und der übrigen öffentlichen Körper rechnen muß, die darauf angelegt sind, im geschlossenen Verbände in mißtrauischer Vorsicht weiterzuschreiten. Noch dazu muß dieser Vorwurf der Rückständigkeit in einem wesentlichen Punkte eingeschränkt werden. Die öffentliche Moral ist gegenüber der Privatmoral nur so weit rückständig, als es das Verhältnis der Staaten oder der sonstigen Machtverbände zueinander betrifft. So weit es sich aber um das Verhältnis der öffentlichen Körper zu ihren Mitgliedern handelt, legt die öffentliche Moral Pflichten von einem Gewicht auf, wie sie die Privatmoral nicht kennt. Wer in öffentlicher Pflicht steht, muß sich strengsten Geboten unterordnen, deren Übertretung oft auf das rücksichtsloseste geahndet wird. Das Kriegsrecht ist nicht nur hart gegen den Feind, es ist bis zur Unerbittlichkeit hart auch gegen den eignen Soldaten und Bürger, die es mit schwersten Strafen bedroht, wenn sie nicht ihr Äußerstes leisten. Im Verhältnis der einzelnen zueinander lautet das Gebot „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“, der Staat aber fordert, daß seine Bürger ihn mehr lieben als sich selbst und daß sie ihm Gut und Blut opfern, wo es nottut; er fordert es nicht nur, sondern er setzt diese Forderung auch tatsächlich durch, weil die Bürgertreue zu den schwersten Opfern bereit ist. Wer weiß, ob die öffentlichen Gewalten den Willen der Masse nicht noch ausgiebiger zur Pflicht erzogen haben als die private Sittenlehre! Die Befriedung der Menschen im Staate ist mindestens ebensosehr das Werk der öffentlichen Gewalten als das des guten Willens der Menschen. Das sacrificium voluntatis, das die Bürger dem Staate darbringen, geht um Außerordentliches weiter als dasjenige, das sie sich in aller Regel in ihren privaten Beziehungen auferlegen. Dulce est pro patria raori! Auch für die Partei ist der genossenschaftliche Sinn opferbereit, die Zahl derer, die sich für ihre Partei aufgeopfert haben, wiegt indes entfernt nicht die Hekatomben der Menschen auf, die im Laufe der Geschichte ihr Leben für ihren Staat hingegeben haben.
So betrachtet, erhält der Krieg ein anderes Ansehen als er hat, wenn er einmal im Laufe ist und seine Greuel hervorkommen, in denen die Kämpfer verwildern. Was für ein Gefühl hat in den Millionen von Bürgern gesprochen, die beim Ausbruch des Weltkrieges in allen betroffenen Staaten zusammenströmten, um ihren Waffendienst zu tun ? War es der Instinkt des Raubtieres, der sie zu begeisterter Entschlossenheit entflammte, oder war es nicht vielmehr höchstes Pflichtgefühl im Dienste ihres Staates, dessen Frieden sie von einem heimtückischen Feinde bedroht glaubten ? Gewiß ist das Pflichtgefühl im Kriege mit [276] einem gehobenen Kraftgefühl gemischt, das sich seiner Stärke freudig bewußt wird und das sich an dem Gesamtgefühl der Massen steigert, welche sich unter den Fahnen versammeln. Ohne dieses hinzukommende animalische Element würde der moralische Trieb wohl zu schwach sein, um das fast übermenschliche Maß an Bemühung und Gefahr auf sich zu nehmen, das der Krieg fordert, dennoch aber kann nur höchste Ungerechtigkeit und höchster Mangel an Seelenkenntuis dieses animalische Element auf den Blutdurst des Tieres im Menschen deuten. Es ist die erhebende Erregung des Instinktes, der sich mit einem Male der ungeahnten Energie bewußt wird, die in ihm schlummerte.
Die militärischen Lobredner des Krieges preisen an ihm mit eindringlichem Nachdruck, daß er mehr als jedes andere menschliche Tun die leiblichen und geistig-moralischen Kräfte des Menschen in Spannung erhalte. Ist er nicht der Erzieher zu höchster Kühnheit und Zucht? Hätte ohne das geschichtliche Baugerüst des Krieges der Aufbau der staatlichen und mit ihr der gesellschaftlichen Ordnung überhaupt gelingen können? In den Staaten, die nach dem Weltkrieg durch das Friedensdiktat entwaffnet wurden, hört man heute draußen auf dem Lande von nicht wenigen der besonnensten Männer, denen jene Kriegslust ferne ist, darüber Klage erheben, daß ihre Söhne der soldatischen Ausbildung entbehren müssen, die ihnen wichtige Lebenskenntnisse zu vermitteln hätte, welche ihnen in der ländlichen Zurückgezogenheit nicht zugängüch werden. In derartigen Betrachtungen muß man den militärischen Lobrednern des Krieges sicherlich Recht geben, und es ist ohne Zweifel ein Beweis beschränkter gesellschaftlicher Einsicht, wenn der Pazifist bei seiner Anklage gegen den Krieg diesen Gedanken keine Aufmerksamkeit schenkt. Ebenso sicher aber ist es, daß durch diese Wirkungen allein der Krieg noch nicht gerechtfertigt sein kann. Der Krieg ist nur zu rechtfertigen, wenn erwiesen werden kann, daß er durch die Natur des Staates notwendig gefordert ist. Könnten die im Kriege geschaffenen Staaten ohne Krieg nicht weiter bestehen, so werden die Kriege weitergeführt werden, und es wird gut sein, daß sie weitergeführt werden, weil es gut ist, daß die Staaten bestehen bleiben. Könnten aber die Segnungen des Staates von den Menschen genossen werden, ohne daß es weiterer Kriege bedürfte, so wird der Hinweis auf die erziehende Kraft des Krieges keinen Verständigen dazu bewegen, ihre Fortdauer zu fordern. Vielleicht wird man der Wehrpflicht und zwar nicht nur bei den jungen Männern, sondern öogar bei den Mädchen einen neuen friedlicheren Inhalt geben und sie, wir wollen sagen, zu einer Arbeitspflicht umgestalten, die der leiblichen und geistig-moralischen [277] Ausbildung dadurch dient, daß sie zugleich gewissen, durch das allgemeine Bedürfnis geforderten gesellschaftlichen Werken dienstbar gemacht wird, die sonst nicht geleistet werden könnten. Dem Kriege selber aber wäre das Beste der erziehenden Kraft genommen, wenn man von ihm nicht mehr behaupten könnte, daß er notwendig sei, um den Frieden zu sichern.
Was Stendhal zugunsten des Krieges sagt, ist von besonderer Art. Er hatte die Größe und den Glanz der Siege Napoleons miterlebt und konnte sich in das spießbürgerliche Wesen nach der Restauration nicht mehr hineinfinden; ohne die überragende Gestalt des Kaisers erschien ihm die Welt arm, und da die Gegenwart ihm keine Aussicht bot, seinen Träumen von Kraft nachzuhängen, so zog es ihn unwiderstehlich an, das Leben der Gewaltmenschen der Renaissance dichterisch nachzuschaffen. Nietzsche hat seinen Gesichtskreis noch weiter ausgespannt. Die wenigen wahrhaft großen Männer sind ihm die Werte der Gescliichte, die Masse ist ihm der Stoff, den der große Mann braucht, um Geschichte zu machen. Die Moral der Masse ist Sklavenmoral, im Großen der Geschichte entscheidet die Herrenmoral; Gleichheit, welche die Größe herabdrückt, ist Dekadenz. Die Liebesmoral des Christentums mit ihrem Gebote der Gleichheit ist im Sinne der Masse empfunden, sie dient dem Schwachen, den man stoßen muß, der große Mann darf in seinem öffentlichen Werke nicht an sie gebunden sein. Diese Äußerungen Nietzsches wird man auf das entschiedenste abzuweisen haben, soweit sie die Größe verkennen, die der echten Liebesmoral zukommt, dagegen wird man ihnen bereitwillig zustimmen, soferne sie gegen den öden Moralisten gerichtet sind, der den großen Mann deshalb verurteilt, weil sein Werk gegen die Regeln verstößt, die im bürgerlichen Hause gelten müssen.
Im öffentlichen Leben gilt die öffentliche Moral, die ihr besonderes Maß hat. Hier hat die Gewalfihr Recht, die im privaten Leben als Unrecht verworfen ist, hier ist dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, die Notwendigkeiten des öffentlichen Wesens sind im Sinne der Zeit zu erfüllen, auch wenn es nur mit Gewalt geschehen könnte. Wenn der große Mann dabei selbst noch etwas weiter geht als die Zeit, so wird er durch die erhöhten Erfolge vor dem allgemeinen Urteil gerechtfertigt. Er siegt durch das Gesetz der höchsten Kraft. Die Masse folgt ihm unter dem Banne der Dämonie der Macht, welche die unwiderstehliche Überwältigung des Gemütes durch die höchste Kraft ist. Wie der Bück sich nicht von einem gewaltigen Naturschauspiel losreißen kann, das wir bewundern, indem es uns erschreckt, so kann sich das [278] Gemüt des großen Führern und der ihm naclifolgenden Masse nicht dem Banne entziehen, den die losgebundene Menschenkraft, ob noch so furchtbar, ausübt. Mit dabei sein, führen, herrschen — vor diesen Empfindungen wird Gefahr und Leid nicht gewogen. Der Konflikt zwischen der Moral des persönlichen Lebens und den Gewaltsamkeiten der zwingenden Mächte des öffentlichen Lebens mag schmerzhaft genug empfunden werden, das Gesetz der höchsten Kraft wird jedoch dadurch nicht beirrt.
Sollte es aber ausgeschlossen sein, daß die Zeit kommt, in welcher in allen Weiten der Öffentlichkeit sich die innersten Friedensmächte als die Mächte höchster Kraft bewähren und die öffentlichen Gewalten ebenso entwaffnet sind, wie heute schon die gesellschaftlichen Mächte des privaten Lebens ? Dann wird der große Mann, wie er im Zeitalter der Gewalt der Vorkämpfer der Gewalt war, der Vorkämpfer der Liebe sein. Die volle Erhebung zur Pflicht des Friedens kann freilich erst oberstes Gesetz werden, nachdem sie oberste Kraft geworden ist. Bevor sie nicht ihr Höchstes geleistet hat, kann die Kraft noch nicht im Frieden gebunden sein.
Wenn man die Geschichte zu ganz großen Perioden zusammenfaßt und wenn man sich durch die Rückschläge der Gewalt nicht beirren läßt, die dann und wann hervorkommen und dabei allerdings zu großen Dimensionen anschwellen mögen, so wird man der Tatsache inne werden, daß auch zwischen den Völkern die Gewalt in Abnahme ist, je mehr sie in Zivilisation und Kultur zunehmen, und man wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß dieses Geschehen kein Zufall, sondern innere Notwendigkeit ist, die einem Gesetze folgt. Sobald die Völker über ihre Frühzeit hinaus sind, hört der Kampf auf, die regelmäßige Beschäftigung der Männer zu sein, die bis dahin für den Krieg und vom Kriege lebten. Dem barbarischen Volke ist der Krieg eine gesteigerte Jagd, der Feind ist das kostbarste Wild, der Kampf geht grundsätzlich bis zur Vernichtung. Ein Volk wie die Römer steht schon auf einer ganz anderen Stufe. Die Römer waren ein Kriegsvolk höchsten Ranges, aber doch waren ihre Kriege von Anfang an nicht auf Eroberung gerichtet, ihre Kämpfe waren zunächst Kämpfe der Abwehr, die freilich durch die Umstände immer neu herausgefordert wurde, es waren Kämpfe der Machterhaltung, die freilich in unabweislichem Interesse der Sicherung zu fortschreitenden Machterweiterungen führten [279] und sich daher zuletzt zu einem großen System der Eroberung steigerten. Auf die Vernichtung der Gegner war es dabei nicht abgesehen, und nur wenn der Kampf bis aufs Messer ging, wie mit Karthago, wurde man bis zu diesem äußersten Kriegsziele fortgerissen. Der Vernichtungsschlacht, die Hannibal bei Cannae lieferte, antwortete der harte Römersinn mit dem Vernichtungskrieg und der Forderung „Carthaginem esse delendam“ — Karthago müsse zerstört werden. Der Zusammenbruch des Reiches und die Völkerwanderung eröffneten eine Periode schwerster Rückschläge der Gewalt, dafür waren im folgenden christlichen Zeitalter die Kriege zwischen den christlichen Völkern durch die Gemeinsamkeit der Kirche gemildert, wodurch jener Kriegscharaktcr geschaffen wurde, der später im Völkerkriegsrecht seinen Ausdruck fand. Der Vernichtungskrieg galt nur den Ungläubigen und den Sektierern.
In den Kriegen, die in der Periode des Ausbaues der europäischen Staaten in Mittelalter und Neuzeit zwischen den Dynastien hinund hergehen, wurde der Kriegszweck wesentlich eingeschränkt. Der leitende Gedanke war die Mehrung des Reiches, wobei man sich aber zuletzt damit zufrieden gab, zur Abrundung und Festigung des angestammten Staatsgefüges noch ein Stück angrenzenden Landes hinzu zu gewinnen. Dabei wurden die Kriege immer schonender geführt. Die italienischen Condottieri wandelten den Krieg fast in ein Kriegsspiel um, worin ihnen die großen Kriegsfürsten freilich nicht folgten, die auf dem Schlachtfeld die überwältigende Entscheidung suchten. Der Rückschlag der Glaubenskriege, der Türkenkämpfe und der ausgedehnten Kriege, die durch die spanische und französische Großmachtpolitik aufgeregt wurden, reizte das militärische Genie zu höchster Entfaltung an. Die Kriege wurden aber doch darin gemildert, daß sie nach und nach zu Kämpfen der Berufsheere wurden, von denen die Person der Bürger und das bürgerliche Eigentum bo viel als möglich ausgeschaltet werden sollten.
Allmählich trat man in die Periode der europäischen Gleichgewichtspolitik ein, die dadurch bedingt war, daß die Mehrzahl der Großstaaten sich so ziemlich ausgebaut hatten und mit ängstlicher Besorgnis ihre wechselseitigen Fortschritte überwachten. Die Koalitionen, in denen man sich zusammenfand, um die gefährlichen Rivalen niederzuhalten, führten nicht selten zu ausgebreiteten Kriegen, in ihrer letzten Wirkung jedoch gaben sie dem Staatensystem zunehmende Stabilität. Hiezu trug insbesondere die Erkenntnis bei, daß die Großstaaten in ihren Koalitionen sich mit ihren Kräften ziemlich nahekamen, so daß auf die Dauer keiner über den andern einen entscheidenden Erfolg erreichen [280] konnte. Es ging schließlich, soweit es sich um europäischen Boden handelt, um gewisse kleine Grenzgebiete, die im Wechsel des Kriegsglückes von einer Hand in die andere fielen und die das Blut nicht wert waren, welches ihretwillen vergossen wurde.
Vollends schien der Krieg zwischen den Kulturnationen seinen Sinn zu verlieren, als man zu begreifen anfing, daß jede Kulturnation in sich eine unbesiegliche Macht sei, deren keine fremde Gewalt Herr werden konnte. Man hat diese Erkenntnis nach den Rückschlägen der Gewalt gewonnen, welche die Folge der französischen Revolutionsbewegung waren und noch durch die Persönlichkeit Napoleons gesteigert wurden, den sie in die Höhe hoben. Sein Kraftgefühl ließ ihn glauben, daß es ihm möglich sei, im 19. Jahrhundert den Ruhm der antiken Welteroberer zu erneuern und Europa zu unterwerfen, wie Cäsar Galüen unterworfen hatte. Aber auch sein Feldherrngenie ohnegleichen wurde zum Schluß an der nationalen Widerstandskraft zuschanden. Nach den Befreiungskriegen schien Europa sein inneres Gleichgewicht so ziemlich gesichert zu haben, und nachdem dann noch Italien und Deutschland in verhältnismäßig kurzen Kriegen ihren nationalen Ausbau gefunden hatten, mochte der ruhige Bürger glauben, daß zwischen den Kulturvölkern der Friede für immer begründet sei. Die Friedenskongresse im Haag und die Einrichtungen einer Weltgerichtsbarkeit, die man, wenn auch zunächst noch in bescheidenem Umfange traf, konnten als Symptome eines fortschreitenden Friedensgeistes aufgefaßt werden, die zu den höchsten Erwartungen weiteren Fortschrittes berechtigen mochten. Erst im 20. Jahrhundert kamen neue Reibungen auf, die sich im Weltkrieg entluden.
Durch diesen wurden die Friedenshoffnungen auf das bitterste enttäuscht. Die wachsenden Reibungen zwischen den Großmächten, ihre Rüstungen und Bündnisse hatten ihn schon seit einiger Zeit fürchten lassen, das eine und das andere Mal schien er unvermeidlich, aber es gelang immer, noch den Frieden zu retten, und trotz aller Besorgnisse der Staatsmänner und der vorausblickenden Bürger wollte man im Grunde doch nicht glauben, daß der tiefe Friede, an den die Kulturwelt gewöhnt und auf den alles in ihr eingerichtet war, eines Tages nicht mehr bestehen könnte. Als der Weltkrieg dann aber doch kam, wurde er zu einer Weltkatastrophe, wie sie selbst die aufgeregteste Einbildungskraft nicht hatte voraussehen können. Furchtbar durch die Opfer an Menschen und Gütern, die er in seinem Ablauf verschlang, wurde er noch bedrückender durch die Nachhaltiekeit der materiellen und moralischen Erschütterungen, die er in dem erst noch so blühenden Europa über die [281] Besiegten nicht nur, sondern auch über die Sieger brachte. Selbst heute, nachdem nun schon Jahre seit seinem Abschluß vorüber sind, ist das Friedensgefühl seiner noch nicht sicher geworden. Die Völker sind einander gerade nur soweit nahegekommen, daß man darangehen konnte, sich zu gemeinsamen Beratungen über das Friedenswerk zusammenzusetzen, der rechte Glaube ist aber noch nicht in den Herzen, daß das Werk Bestand haben werde. Der furchtbare Rückschlag aus dem behaglichsten Frieden in die Entsetzlichkeiten des Massenmordes und des Massenelends gilt der großen Zahl derer, die an das Menschentum glaubten, als Beweis dafür, daß die Raubtiernatur der Menschen eben doch nicht zu bändigen ist und daß ihre ganze Kultur ihnen am Ende nur dazu dient, die Vernichtungsmittel des Kampfes zu steigern.
Wir werden, wenn wir im dritten Teil dieses Buches über die Wege der Macht in der Gegenwart sprechen, uns über die Möglichkeiten des Weltfriedens genauere Rechenschaft zu geben haben. An der Stelle, an der wir jetzt stehen, wollen wir uns darauf beschränken, die Schlüsse zu ziehen, die sich aus der geschichtlichen Betrachtung ziehen lassen. Es sind zwei Feststellungen, die wir zu machen haben.
Die erste geht dahin, daß der Weltkrieg so wenig durch die mörderischen Instinkte der menschlichen Natur herausgefordert war, wie alle die Kriege, die geführt wurden, seit die Menschen aufgehört hatten, Barbaren zu sein. Sicherlich hat der Kampfinstinkt auch am Weltkrieg seinen Anteil, wie an jedem Krieg; wenn die Menschen friedliche Wesen wären wie die Engel im Himmel, so würde zwischen ihnen kein Kampf sein können. Der Kampfinstinkt, wie er den Kulturmenschen geblieben ist, geht aber nicht dahin, daß er den Krieg voraussetzungslos forderte, er beschränkt sich darauf, daß er den für notwendig gehaltenen Krieg, den als gerecht empfundenen Krieg mit mutiger Entschlossenheit aufnimmt. Der Weltkrieg ist für alle an seinem Ausbruch beteiligten Völker ein gerechter Krieg gewesen, weil sie alle der Meinung waren, von den Gegnern übermütig und böswillig angegriffen zu sein. Aus der mutigen Entschlossenheit, mit der sie in den Krieg gingen, ist nicht im mindesten der Schluß zu ziehen, daß zwischen ihnen immer Kriege sein müssen. Zwischen ihnen werden nur dann wieder Kriege sein, wenn sie sich wieder so herausgefordert glauben, wie diesmal. Der Weltkrieg ist nicht aus der Kampfnatur der Menschen hervorgegangen, er war einer der Rückschläge vom Friedensgefühl zur Gewalt, wie die Glaubenskriege und die Freiheitskriege es waren. Wie diese war er dadurch veranlaßt, daß die Menschen für ein neues gesellschaftliches Werk in Bewegung gesetzt wurden, bei dessen Vollziehung die bestehenden [282] geschichtlichen Mächte und die neu hervortretenden gesellschaftlichen Interessen zueinander in Gegensatz kamen. Es war eine neue Stufe der Völkerentwicklung zu gewinnen, für welche die erforderlichen Ordnungen geschichtlich noch nicht vorbereitet waren. Die großen Völker waren so reich, so strotzend an Kraft geworden, daß ihr Expansionstrieb sie in die Welt hinausdrängte, über deren Teilung sie sodann in Streit gerieten. Durch ihre Expansion wurden die europäischen Völker, die in Europa selbst ihr Gleichgewicht so ziemlich gefunden hatten, vor die Aufgabe gestellt, nun auch ihr Weltgleichgewicht zu finden, wobei sie sich überdies mit den Weltmächten der Vereinigten Staaten von Nordamerika und von Japan auseinanderzusetzen hatten. Es ist zu verstehen, daß jedes der beteiligten Völker darauf bedacht war, das Äußerste seines Gewichtes in die Wagschale zu werfen und es auf die Gewalt ankommen zu lassen, wenn man sich der fremden Gewalt ausgeliefert glaubte. Ist es aber damit erwiesen, daß die Aufgabe der Teilung der Welt immer die Gewalt wird aufrufen müssen ? Sollte es wirklich ausgeschlossen sein, sie als gesellschaftliches Werk der Kulturstaaten in friedlicher Vereinbarung zu erledigen ? Sollte es wahr sein können, daß das Gesetz der abnehmenden Gewalt, welches sich innerhalb der Staaten fast ganz erfüllt hat und welches auch im Verhältnis der Staaten zueinander sich in deutüchen Fortechritten erfüllt hat, sich nicht bis zum guten Ende des gesicherten Weltfriedens sollte erfüllen können?
Die zweite Feststellung, die wir zu machen haben, wendet sich gegen das vielberufene Argument, daß der Staat im Kriege groß geworden sei und sich daher nur im Kriege erhalten könne, weil auch für ihn das allgemeine Lebensgesetz gelten müsse, daß zum Fortbcstand des Lebens der Fortbestand der Kraft gefordert ist, die das Leben geschaffen hat. In diesem Argument ist ein grundsätzlicher Irrtum begangen, es rechnet nicht mit der geschichtlichen Entwicklung. In der Natur werden wir das, was wir bis heute in Geltung sehen, auch weiterhin als geltend annehmen müssen, denn die natürliche Entwicklung geht so langsam vor sich, daß wir nicht erwarten dürfen, Zeugen der Wandlung ihrer Gesetze zu werden. Die geschichtliche Entwicklung dagegen geht in merklichen Wandlungen vorwärts und in bewegter Zeit vollzieht sich diese rasch und man darf sagen unter den Augen der Menschen. Der Kampfstaat ist, wie wir zeigen konnten, das geschichtlich geforderte Baugerüste des Kulturstaates gewesen, und warum sollte da nicht einmal die Zeit kommen, wo das Gerüst ohne Schaden abgetragen werden kann, ja abgetragen werden soll, um sich des Werkes ganz zu [283] erfreuen ? Der Krieg aller gegen alle konnte gewiß nur durch Gewalt überwunden werden und zu seiner Zeit war daher wilde Tapferkeit die notwendige Tugend des Mannes. Sollte aber der Krieg aller gegen alle, wie er im Innern des Staates überwunden wurde, nicht auch zwischen den Staaten überwunden werden können, so daß die Gewalt auch zwischen ihnen keine Aufgabe mehr hätte ? Das Gebot „Du sollst nicht töten“ war dem Staate in seiner Werdezeit nicht angemessen und bis vor kurzem noch haben sich auch die Kulturstaaten für dieses Gebot noch nicht reif erwiesen — ist aber damit gesagt, daß die Staaten für immer dem Gebote unterworfen sein müssen „Du sollst töten“ ? Werden sie im weiteren Wachstum von Kultur und Zivilisation nicht endlich dahin gelangen müssen, zu erkennen, daß auch zwischen ihnen die Friedenskräfte den höchsten Erfolg bereiten?
Für die innersten gesellschaftlichen Mächte des Rechtes und der Sittlichkeit war zu Anfang der Geschichte Raum nur innerhalb der Fainilie und ihrer Erweiterungen, soweit eben das Gefühl der Blutsgemeinschaft noch lebendig war. Auch innerhalb dieses engen Gebietes war der gesellschaftliche Aggregationszustand, so dicht die Familie in ihrem Tun verwoben war, noch ganz unfrei, der Hausvater mochte oft genug der grausame Herr von Frau und Kindern sein. Man darf deshalb dasjenige, was damals an sittlichen Werten wirksam war, nicht geringschätzen; der Aggregationszustand der Familie hat sich über die allgemeine Wildheit des Lebens von damals ebenso hoch und vielleicht noch höher erhoben, als er sich heute über den Zustand außerhalb der Familie erhebt. Draußen außerhalb der Horde galt, um mit Fourier zu sprechen, das „Urrecht des Stehlens“, während heute die sittlichen Hauptgebote oder wenigstens die sittlichen Hauptverbote überallhin ihre Geltung beanspruchen. Wenn der Staatsverband über den Kreis der Blutsgemeinschaft hinausgreifen sollte, so konnte e8 nur durch Gewalt geschehen, der Aggregationszustand des Staates konnte von der geschichtlichen Frühzeit an bis tief in ihren Lauf hinein nur der der strengstenGewalt sein.
Innerhalb des aufrechten Staatsverbandes wurde durch die leidliche [284] Sicherheit, die er brachte, allmählich Raum für die Werkgemeinschaften, die sich an ihren Erfolgen ihr festes Recht bildeten, soweit sich ihr Recht mit den Ordnungen der Gewalt vertrug, die im Herreninteresse galten. Alles frühe Recht ist strenges Recht, aber wenn es Recht sein sollte, so mußten seine Klugheitsregeln doch auch sittlich begründet sein. Die Entfaltung des Rechtes bedeutete daher auch immer die Entfaltung von tragenden sittlichen Mächten, die allerdings in harter Zeit selber hart genug waren, dabei aber doch den Aggregationszustand des Rechtes einigermaßen im Sinne der Milde lockerten. Je gesicherter das Leben im Staate, um so ausgebreiteter wird der Raum für Recht und Sittlichkeit. In natürlicher Gegenwirkung verdrängt die wachsende Geltung dieser inneren Mächte die Geltung der äußeren Gewalt, deren gebietende Weisungen nach und nach durch sie entbehrlich werden. Man behilft sich nun erfolgreicher ohne sie, Recht und Sittlichkeit binden inniger als sie es vermochte, und dringen auf ihren seelischen Bahnen in Tiefen, zu denen sie niemals reichen kann, da sie die Gemüter hemmt und abschreckt. So erklärt sich das Gesetz der abnehmenden Gewalt, es ist das begleitende Widerspiel der zunehmenden Geltung von Recht und Sittlichkeit. Auf der Höhe der gesellschaftlichen Reife vollzieht sich eine Wendung dahin, daß Recht und Sittlichkeit die Führung vor der Gewalt erhalten. Sie sind es, die nun die Bahnen weisen, sie breiten sich durch das Mittel ihrer segensreichen Erfolge aus eigener Kraft aus und die Gewalt wird nur noch als letzte Hilfe gebraucht, wo ungehöriger Widerstand gebrochen werden muß.
Diese Entwicklung ist in ihren späteren Stadien mit der aufsteigenden Massenbewegung verbunden. Bürger, Bauern und Arbeiter bauen sich an den Erfolgen ihrer Werke ihr Sonderrecht, das ihnen fürs erste die Unterlage für ihren Widerstand gegen den Druck der ÜberBchichtung und späterhin für ihren gesellschaftlichen Aufstieg gibt.
Diese Entwicklung vollzieht sich zum guten Teile als allmähliche Evolution unter dem unauffälligen Vorangehen der anonymen Führung und der ruhigen Nachfolge der Masse, wobei sie gleichwohl durch die Dauer ihrer Wirkung und durch die Fülle der erfaßten Einzelfälle große und durchgreifende Wirkung geben wird. Dabei wandelt sich das zurücktretende Herrenrecht im Sinne der lebendigen Kraft des aufstrebenden Massenrechtes. Auf gewisser Höhe sammelt sich die Entwicklung zu bedeutungsvollen Gesamtergebnissen, denen die gesellschaftlichen Grundideen angepaßt werden müssen. Wo die Grundideen der alten Mächte im Wege stehen, sammelt sich die Entwicklung zu geistigen Revolutionen, die, wenn der Widerstand nicht anders gebrochen werden kann, [285] sich als Revolutionen der Tat unter empfindlichen Rückschlägen der Gewalt durchringen.
Am merkwürdigsten sind jene geistigen Revolutionen, die so innerlich sind, daß sie, insolange sie ihre Reinheit bewahren, die Gewalt verschmähen, und die zugleich eine so hinreißende Kraft besitzen, daß sie der Gewalt nicht bedürfen. Solcher Art sind die großen sittlichen Revolutionen, die sich der Gemüter bemächtigen, nachdem diese lange genug in der Zucht der Gewalt und der Erziehung des Rechtes vorbereitet worden sind. Ihre Urgestalt sind die Glaubensrevolutionen, die aus einer Glaubensidee geboren sind, welche die sittliche Idee in sich schließt und ihr die Selbstverständlichkeit der Überzeugung leiht. Alle WeltreUgionen sind auf solche Art emporgekommen, als gesellschaftliche Inspirationen, die auf der Höhe der Zeit auf den Ruf prophetischer Führer die Masse überwältigen.
Am Beispiel des Christentums erhalten wir den deutlichsten Einblick in den Verlauf dieses Massenphänomens des Durchbruches gesellschaftlicher Sittlichkeit durch die Kraft der Weltreligionen.
Das Christentum ist auf dem Boden des römischen Weltreiches entstanden, der durch das römische Schwert erobert war, und es hätte ohne die vorbereitende Arbeit des römischen Schwertes sich nicht als Weltreligion ausbreiten können. Ohne diese wären die Christen eine jüdische Sekte von beschränkter Verbreitung geblieben, ohne diese hätte Paulus niemals der große Heidenapostel werden können. In iliren Gedanken war die christliche Lehre durch den jüdischen Monotheismus und die griechische Philosophie vorbereitet und es verdankt seine bewegende Kraft außerdem noch der religiösen Welle, die aus dem inneren Asien herüberschlug. Trotz all dieser Vorbereitung war der christliche Sinn dennoch ein Neues in der Geschichte, er war es durch die unvergleichliche Stärke der Empfindung, mit welcher der Gedanke des Jenseits in die Gemüter drang. Man findet in den Schriften des alten Testamentes und in den philosophischen Werken des ausgehenden Altertums eine nicht geringe Reihe von Sätzen, die ganz im christlichen Sinne gedacht sind, dabei ist aber Jehova von den Juden doch immer als der Gott des auserwählten Volkes empfunden worden und die heidnische Philosophie hat den höchsten Gottesbegriff überhaupt nicht erreicht; überdies wurden die hohen Worte der Propheten und Philosophen immer durch die Tatsachen des Lebens widerlegt, die allein den Geist des Volkes widerspiegeln. Die kalte Grausamkeit, mit der man den Triumph über die Feinde genoß, und die Selbstverständlichkeit, mit der man einem großen Teil, vielleicht sogar dem größeren Teile der Mitlebenden das Urrecht der [286] persönlichen Freiheit weigerte, machte das geschriebene Wort zuschanden. Wir lesen im Buche Samuels, daß König David, nachdem er die amalekitische Stadt Rabba eingenommen hatte, die gefangenen Einwohner in Ziegelöfen verbrennen oder mit Sägen zerfleischen ließ, und während er den Übermut der Zählung seines Volkes durch eine Pest hatte büßen müssen, lesen wir nichts davon, daß die entsetzliche Züchtigung der bezwungenen Feinde bestraft worden wäre, ja sie wird offenbar in der Absicht erzählt, um die Macht erkennen zu lassen, die das auserwählte Volk über seine Widersacher gewinnen konnte. Das Neue Testament ist das echte Buch der Liebe, kein Ton von Gewalt klingt mehr in ihm an, die christliche Religion ergreift ihre Anhänger in der Seele, wie dies alle Weltreligionen getan haben. Den Weltreligionen ist, indem sie den Menschen mit Gott in Beziehung brachten, die größte aller Entdeckungen gelungen, die Entdeckung der menschlichen Seele. Wer an Gott glaubte, glaubte aus der Seele, und indem er seiner Seele inne wurde, wußte er, daß wie er auch alle andern Menschen durch ihre Seele mit Gott verbunden und also seine Mitmenschen waren. Indem man durch die Kraft des Glaubens der Seele inne wurde, die das eine Gleiche in dem verwirrend Ungleichen der Menschen ist, war der Gedanke gefunden, unter dem man alle Menschen vereinigen konnte. Das Innewerden der Seele gab der Sittlichkeit ihr breites und sicheres Fundament. Das Gebot der Nächstenliebe ist die sittliche Verkündigung der Menschenrechte. Nun sind alle, die da sind, in die sittliche Lebensgemeinschaft eingeschlossen, und da es keine Grade der Seele gibt, sind sie alle, wenigstens der Forderung nach, gleich eingeschlossen.
Die außerordentliche Wirkung dieser Entdeckung zeigt sich in dem Verhältnisse zu Gewalt und Recht. Die tiefste Grundlage der menschlichen Gesellschaft ist gefunden, der sittliche Aggregationszustand der Gesellschaft ist von nun an als derjenige erkannt, der durch das menschliche Wesen gefordert ist. Eine Umwertung aller gesellschaftlichen Werte ist die unabweisliche Folge, die sich im Gegensatz zu Nietzsches Meinung im Sinne der Liebe vollzieht. Vom Druck der Geschichte entlastet, entfaltet sich die Seele und gibt nun ihrerseits der Gesellschaft das oberste Gesetz. Das moralische Gefühl übernimmt die Führung, es zieht die Grenze für die Gewalt und gibt die Unterlage des Rechtes.
Keine andere Weltreligion kommt dem Christentum an tätiger Sittlichkeit gleich. Der Islam blieb weit zurück, weil er seine Gläubigen [287] nicht nur zum Glauben, sondern zugleich zum Kampfe für den Glauben verpflichtet; Mohammed war ebensosehr nationaler Eroberer als Prophet. Der Buddhismus ist dem tätigen Leben abgewandt, sein großes Ziel ist Abkehr von der Welt. Auch das Christentum war zuerst ganz auf das Jenseits gerichtet und in der orientalischen Kirche hat che Wesensanlage der Völker des Orients, unter denen sie ihre Gläubigen fand, viel von diesem ursprünglichen Geist des Christentums erhalten. Die römische Kirche wurde durch den Lebensdrang der abendländischen Völker wieder dem Diesseits zugewendet, sie hat aus der Richtung auf das Jenseits aber die Perspektive gewonnen, um das Leben im Diesseits im sittlichen Geiste einzurichten. Mit weisem Zögern hat sie dabei aus dem Gedanken, daß die Menschen vor Gott gleich seien, nicht ohneweiters den Schluß gezogen, daß sie auch auf Erden gleich zu halten wären, sie hat sich damit begnügt, dem Gedanken der Gleichheit die Pforten des Kirchenrechtes zu öffnen, das dann auf das weltüche Recht weiterwirkte. Nirgends zwar ist in christlichen Landen der Gedanke der Gleichheit im Rechte voll verwirklicht worden, aber man hat sich ihm doch in bedeutsamer Weise angenähert und man hat es überall erreicht, den Gedanken der persönlichen Freiheit zu verwirklichen, welche die erste Voraussetzung der Gleichheit ist. Der Sieg des Gedankens der persönlichen Freiheit ist in erster Linie dem Christentum zu danken, das meiste von dem, was dazu getan wurde, ist im Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft unter der Patronanz der Kirche getan worden, und dem aufgeklärten Fürstentum und den Revolutionen blieb nur übrig, die Reste der bäuerlichen Unfreiheit zu beseitigen.
Eine große Zahl, vielleicht die überwiegende Zahl der Gebildeten von heute in den katholischen und insbesondere in den protestantischen Ländern sieht in der römischen Kirche nur die Lasterhaftigkeit des Papsttums, den Übermut der Geistlichkeit, die Zuchtlosigkeit der Klöster, den Ablaßkram und sonstigen dumpfsten Aberglauben, die Grausamkeit der Inquisition, den Widerstand gegen Gewissensfreiheit und geistigen Fortschritt, die jesuitische Heuchelei Wer dürfte es leugnen, daß die Kirche sich schwerster Verirrungen schuldig gemacht hat! Jede unvoreingenommene Geschichtschreibung muß jedoch zugleich erkennen, daß diese Verirrungen Notwendigkeiten der Geschichte waren, denn wie jede gewaltige Macht sonst, mußte auch die Kirche in Übermacht ausarten. Eine unvoreingenommene Geschichtschreibung darf aber anderseits nicht ermüden, bewundernd die moralischen Werte aufzuzählen, mit denen die Menschheit unter der Führung der römischen Kirche ihr Dasein geschmückt hat. So viel Kämpfe sie über die Welt brachte, so [288] hat sie doch noch viel mehr Liebe in sie gebracht. Als Kampfmacht war die Kirche eine nach vielen andern und gewiß nicht die schlimmste, dagegen war sie die erste große weltgeschichtliche Liebesmacht. Unter allen großen Mächten der Welt hat die Kirche zuerst den Bedürftigen das Recht auf Existenz zugesprochen und hat zugunsten der Leidenden und Bedrückten das System des Rechtes durch ein System der Barmherzigkeit ergänzt. Es soll auch nicht vergessen werden, daß sie das geistige Existenzrecht des Menschen, daß sie den Anspruch auf geistige Entfaltung anerkannte, so wie sie eben den Sinn der geistigen Entfaltung verstehen konnte. Sie hat jede Begabung, in welcher gesellschaftlichen Schicht sie sie finden mochte, in ihren Schulen gepflegt und in ihren Ämtern verwendet, sie hat sich Denker, Gelehrte und Künstler, Äbte, Bischöfe und Päpste aus der Tiefe des Volkes geholt und hat durch ein Jahi tausend hindurch als die einzige Macht den Wert des Geistes zu schätzen gewußt und die tiefe Dunkelheit der Zeit erhellt.
Nietzsches Anschauung, daß in der christlichen Liebesmacht sich eine Moral der Schwäche und Dekadenz kundgebe, wird durch den ein Jalirtausend füllenden geschichtlichen Gegenbeweis widerlegt, den das Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft liefert. Die christliche Liebesmacht vermochte sich gegenüber der barbarischen Gewalt zu behaupten, die dem Zeitalter der Antike den Untergang bereitet hatte. Während es in der Antike die Gewalt gewesen war, die das geschichtliche Werk der Staatengründung und der Kulturbegriindung zu vollziehen hatte, hat im Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft die dominante Macht der Kirche an diesem Werke entscheidenden Anteil genommen. Die kirchlichen Führer haben hiebei den Dienst von Vorkämpfern geleistet, durch den sie in die vorderste Reihe der heldenhaften Führergestalten der Geschichte gestellt sind. Am Schlüsse des Zeitalters war die Masse in einem Stande körperlicher und geistiger Gesundheit, wie niemals am Schlüsse eines Zeitalters der Herrenmacht, wodurch der vollgültige Beweis dafür gegeben ist, daß die Liebesmacht, die darauf ausging, die Bande der Massenknechtschaft zu lösen oder doch wenigstens zu mildern, nicht der Schwäche, sondern der Kraft diente. Wie sollte es auch anders sein, wenn den Massen die Gelegenheit eröffnet wurde, am gesellschaftlichen Werke, von dem sie bisher ausgeschlossen waren, sich tätig zu beteiligen! Ohne die Idee der menschlichen Gesellschaft, die das Christentum brachte, hätten die Staaten niemals in der tragenden Freiheitskraft des gesamten Volkes ihre gefestigte Unterlage erhalten können, ohne die Vorarbeit der kirchlichen Liebesmacht hätten [289] die freien Nationen Europas sich niemals bilden, noch gar zu ihrer Macht und Kultur entfalten können, ohne die Vorarbeit der Kirche hätten sie niemals die Vorherrschaft in der Welt gewinnen können.
In der Reformation hat der wieder erwachende Glaube noch einmal seine Kraft erwiesen, der Träger einer neuen Sittlichkeit zu werden, die ein neues Recht der Freiheit begründete. Die deutschen Bauern sind allerdings unterlegen, als sie Luthers Lehre von der evangelischen Freiheit in ihrem Sinne deuten wollten und sich erhoben, um sich von den Banden und Lasten zu befreien, die auf ihnen und ihren Wirtschaften lagen, in den Niederlanden und in England dagegen hat der durch das Verlangen nach religiöser Freiheit geweckte Freiheitssinn zur nationalen Freiheit, dort gegen den ausländischen Gewalthaber, hier gegen das fürstliche Machtgelüste geführt.
Der Aufstand der Niederlande, mit dem die Periode der modernen Revolutionen beginnt, ist um des Glaubens willen ausgebrochen und durch die Kraft, die der Glaube gab, zu seinem Ziele gelangt. In England ist der entscheidende Anteil im Kampfe gegen Karl L der Sekte der „Independenten“ zugefallen, die der proletarischen „Unabhängigkeitspartei*' von heute, mit der sie den Namen gemeinsam hat, auch darin nahe kam, daß sie aus der Idee der religiösen Freiheit ebenso zur Forderung der politischen Freiheit gelangte, wie diese aus der Idee der Gleichheit zu ihrer Forderung der wirtschaftlichen Ausgleichung. Die erste englische Revolution ist durch die Cromwellschen „Heiligen“ zum Siege geführt worden, die „Eisenseiten“, denen die Überzeugung des Glaubens ihre Unbezwinglichkeit gab. Von den Abgeordneten der Cromwellschen Regimenter — den Soldatenräten, wie wir sie mit einem modernen Ausdruck bezeichnen könnten — ist zum erstenmal in Europa der Antrag auf Erklärung von Menschenrechten gestellt worden, zu dem sie die Begründung aus dem Gedanken der religiösen Gleichheit nahmen, wie ihn die „Leveller“, die Gleichmacher, in ihrer religiösen Schwärmerei aufgebracht hatten. Sie griffen damit auf die Erklärungen der Menschenrechte zurück, die drüben in den neuen amerikanischen Kolonien von Seite der „Pilger“ beschlossen wurden, welche um ihrer Glaubensfreiheit willen Europa mit ihrer neuen Heimat vertauscht hatten und aus deren standhaftem Sinne die tragende Kraft geboren wurde, die im folgenden Jahrhundert ihre Enkel zum Sieg im Unabhängigkeitskrieg gegen England befähigte. Die zweite, die glorreiche englische Revolution, durch [290] welche die protestantische Thronfolge durchgesetzt wurde, hat gleichfalls unter dem Zeichen des Glaubens gesiegt, wenn auch die englische Hochkirche sich nur mit schwerster Überwindung zum Widerstand gegen den König entschloß, dem sie das Volk durch das göttliche Gebot zum Gehorsam verpflichtet hielt.
Die weltgeschichtliche Bedeutung der glorreichen englischen Revolution ist darin begründet, daß zum erstenmal eine der großen modernen Nationen im vollen Bewußtsein dessen, was sie tat, dem Königtum von Gottes Gnaden absagte. Nach wie vor blieb das englische Volk bereit, dem König zu geben, was des Königs ist, aber man fügte den Satz hinzu, daß der König seinerseits des Volkes ist; Locke hat im Sinne der überwiegenden öffentlichen Meinung gesprochen, wenn er lehrte, daß dem Volke das Recht zustehe, sich die Regierungsform zu geben, die ihm zweckmäßig erschiene. Seit Jahrhunderten schon war den englischen Bürgern für ihre Person die Freiheit gesichert, nun war dem englischen Volke auch seine politische Freiheit gewonnen, und sie war ihm wie jene aus der Kraft des Glaubens gewonnen.
Die zweite englische Revolution bildet den Übergang zu den modernen Revolutionen, die sich seit 1789 folgen. Waren die älteren Revolutionen sittliche Revolutionen, die vom Felsen des Glaubens aus gekämpft wurden, so dürfen uns die späteren als Revolutionen des Rechtsgefühles gelten, die davon ausgingen, daß neue gesellschaftliche Kräfte an ihren Erfolgen stark geworden waren und innerhalb der Verfassung ihren rechtlichen Ausdruck suchten. Man begründete die neuen Forderungen nicht mehr aus göttlichen Worten, oder, wenn man so sagen darf, auf dem Umwege über den Himmel, sondern man leitete Bie aus der menschlichen Vernunft ab, in der man das unfehlbare Werkzeug der Erkenntnis zu besitzen meinte. Die Vernunftgründe, die man anführte, waren in kühnsten, weitestgehenden Abstraktionen gefaßt, die höchsten menschlichen Prinzipien wurden angerufen, Theorien des Staates und der Gesellschaft wurden ausgesonnen. Das Vorbild der englischen und amerikanischen Freiheitsverfassung gab den schweifenden Gedanken eine gewisse Erfahrungsunterlage, von starker Wirkung auf die Gemüter war auch das antike Vorbild, man erlebte eine Art politischer Renaissance und wollte es den römischen Freiheitshelden gleichtun, durch Rousseau wurden außerdem noch Vorstellungen hereingebracht, die dem Schweizer Volkswesen und den [291] einfachen Verhältnissen der Schweizer Kantone entnommen waren. Welche Fülle von Streben, Geist und Beredsamkeit wurde nicht daran gewendet, aus diesem luftigen Gebäude von Ideologien und von fremden Erfahrungen, die man nicht selber durchlebt hatte, das Recht abzuleiten, nach welchem die französische Nation von nun an leben sollte! In kürzester Zeit wurde es klar, daß diesem künstlich konstruierten Recht alle Sicherheit und Tragfähigkeit fehlte. Wie anders hatte sich das sittliche Gefühl bewährt, von dem das Christentum getragen war! Da es im Tiefsten der menschlichen Natur begründet war, konnte es die fruchtbare Quelle für die Rechtsentwicklung eines ganzen Zeitalters sein, dem es immer weitere Ziele wies. Am Ende haben sich von den Rechtssätzen, welche die „Vernunft“ aufgestellt hatte, doch nur diejenigen als haltbar erwiesen, die dadurch Herrschaft über die Gemüter gewinnen konnten, daß sie durch das Gefühl bestätigt waren, wie es sich am tatsächlichen gesellschaftlichen Werke der französischen Nation ausgebildet hatte. Das gärende abstrakte Vernunftrecht klärte sich in einem langen Läuterungsprozesse zum konkreten französischen Erfahrungsrechte.
Von der dreifachen Losung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist die der Brüderlichkeit in Frankreich selbst sehr bald in den brudermörderischen Kämpfen erstickt, welche die Revolution begleiteten, und ebenso ging der Gedanke der Weltverbrüderung in den Kämpfen unter, die von der Revolution über die Welt verbreitet wurden. Die Losung der Gleichheit ist vom Bürgertum, als es sie auf seine Fahnen schrieb, überhaupt nicht im vollen Sinne des Wortes gemeint worden; man dachte durchaus nicht an wirtschaftliche Gleichheit und man war äußerst betroffen, als sich die Jakobiner darauf einließen, dem Proletariat Zugeständnisse im Sinne seiner Klasseninteressen zu machen. Die Jakobiner hatten recht gute Gründe dafür, weil sie im Proletariat die bereite Hilfe für ihre Machtpläne erkannten und daher ihrerseits bereit sein mußten, die Losung der Brüderlichkeit wenigstens so weit wahr zu machen, als es die Not des Tages nahelegte. Später, als man sich des Proletariates entledigen wollte, hatBaboeuf mit seinen Anhängern dafür büßen müssen, daß er mit der Forderung der Gleichheit vollen Ernst machen wollte. Dennoch war diese Forderung nicht ein bloßes Wort, sie hatte ihren lebendigen Sinn, insoweit sie gegen die rechtliche Ungleichheit gerichtet war, welche die Grundherren auf Kosten der gedrückten bäuerlichen Massen bevorzugte und welche den ersten und zweiten Stand des Adels und der Geistlichkeit über das Bürgertum erhob, das sich den privilegierten Ständen an äußerem und innerem [292] Wert, an Reichtum und Bildung ebenbürtig fühlte. Außerdem verlangte der demokratische Sinn des Franzosen auch nach Gleichheit oder wenigstens einer starken Annäherung an sie im gesellschaftlichen Verkehr. In der ersten revolutionären Erregung ging man darin um ein gutes Stück weiter, als man es bei ruhigerer Stimmung aufrecht erhalten wollte, die Übung, sich durch alle Schichten des Volkes hindurch als Bürger anzusprechen, wurde bald wieder aufgegeben, dennoch ist vermöge des ausgesprochenen sozialen Empfindens der Nation die soziale Nachwirkung der Gleichheitsidee von nachhaltiger Kraft gebheben.
Die Losung der Freiheit war diejenige, die man am ernstesten na Inn. indes auch für sie hat man die längste Zeit hindurch den rechtlichen Ausdruck nicht finden können, der dem geschichtlich gebildeten Wesen der Nation entsprach. Verfassung und Verfassung wurde gezimmert und wieder abgeräumt, es bedurfte der Erziehung fast eines Jahrhunderts, bevor die Franzosen sich die Verfassung gaben, die ihren Verhältnissen so angepaßt war, daß sie auf die Dauer Halt hatte.
Die Erklärung der Menschenrechte, die in rauschender Begeisterung beraten und verkündet wurde, ist den Erklärungen der Menschenrechte nachgebildet, die in den Statuten der amerikanischen Kolonien als Bekenntnis des religiösen Freiheitsgefühles niedergelegt worden waren. Das Freiheitsgefühl, dem sie in Frankreich Ausdruck zu geben hatte, war weltlicheren Ursprungs, es sprach sich in ihr vor allem das gehobene Kraftgefühl des Bürgers aus, der gegen staatliche Willkür gesichert sein wollte. Die Menschenrechte der französischen Revolution sind eigentlich doch nur bürgerliche Grundrechte, durch das tragende Freiheitsgefühl bürgerlicher Kraft gedeckt. Was in ihnen über dieses Maß hinausging, wie z. B. die mit solcher Begeisterung verkündete Abschaffung des Adels, konnte sich vor dem französischen Gefühle nicht behaupten. Die Menschenrechte der französischen Revolution, wenn man sie nach ihrem dauernden Gehalt einschätzt, sind die auf den staatlichen Gesichtskreis eingeschränkte Vollziehung der sittlichen Erklärung der Menschenrechte, wie sie das Christentum verkündet hatte. Sie haben entfernt nicht die gleich hohe menschliche Bedeutung, die diese hatte, die im Namen bescheidener, aber in der Tat unendlich inhaltsreicher war. Das christliche Gebot der Nächstenliebe war aus der Seele geboren und war darum vom Grunde aus auf die ganze Weite der Menschheit gestellt, die staatliche Erklärung der Menschenrechte ist aus dem modernen Bürgersinn geboren und daher auf die staatlichen Grenzen und das bürgerliche Wesen beschränkt, [293] die weitergehende weltbürgerliche Beziehung, die zu Anfang mitempfunden wurde, ist in den Weltkämpfen der Revolution bald wieder verlorengegangen.
Die Revolution der bürgerlichen Freiheitsidee hat von Frankreich aus ganz Europa bis in den fernsten Osten ergriffen und auch nach Asien weitergewirkt. Durch das, was sie den Völkern an Rechten zubrachte, bot sie ein verlockendes Vorbild, von dessen Nachahmung man sich durch die Unruhen und den Schrecken nicht abhalten ließ, die sie umgaben; verlockender noch war die werbende Kraft, welche die revolutionäre Ideologie über die Geister übte. An ihr bildete sich die öffentliche Meinung der Welt und jedes Volk mußte erst an sich die Erfahrung machen, in welch weitem Abstand die Wirklichkeit hinter der Ideologie zurückblieb.
Den bürgerlichen Revolutionen folgten die proletarischen. Sie haben ihren geistigen Anstoß in der Ideologie, welche die bürgerlichen Revolutionen ausgebildet hatten, und sie haben außerdem ihre besonderen wirksamen Ursachen in der Lage des modernen Proletariates.
Die proletarischen Revolutionen sind von den rehgiös-sittlichen Revolutionen noch weiter abgerückt als die bürgerlichen. Die ersten proletarischen Denker gingen allerdings von einer Gedankenwelt religiöser Mystik aus und waren einer schwärmerischen Sittlichkeit hingegeben, welche die Klassen und die Welt verbrüdern sollte. Die Namen des Sozialismus und des Kommunismus, die man ihren Systemen gab, waren diesen mit gutem Recht gegeben. Sobald die proletarische Bewegung jedoch aus der Welt der Gedanken in die Wirklichkeit überging und die Massen ergriff, wurde sie zu einer einfachen Klassenbewegung, deren Führer nicht säumten, den Klassenkampf offen anzukündigen. Die bürgerlichen Revolutionen hatten das Proletariat nicht vorwärtsgebracht, sie hatten es im Gegenteil dadurch zurückgeworfen, daß sie das bürgerliche Kapital zur Herrschaft beriefen. Ist es zu verwundern, daß das Proletariat das Beispiel des revolutionären Kampfes, welches ihm gegeben war, nun in seinem Interesse nützen wollte?
In den Verfassungen, die der bürgerliche Liberalismus im Namen der Volkssouveränität verkündet hatte, war das Proletariat politisch leer ausgegangen, während es doch eine der stärksten Gruppen im Volke war und seiner Meinung nach die Mehrheit des Volkes bildete, ja, wie ihm seine Redner immer wiederholten, selber das Volk war. Die Zensusverfassungen [294] des liberalen Systems schlössen die übergroße Zahl der Lohnarbeiter vom Wahlrecht aus, während die Logik des Gedankens der Volkssouveränität das gleiche allgemeine Wahlrecht forderte. Um viel schwerer noch mußte die Masse der Arbeiter den Widerspruch empfinden, der zwischen der revolutionären Losung der Gleichheit und der tatsächlichen wirtschaftlichen Ungleichheit bestand. In dem gepriesenen Zeitalter höchsten wirtschaftlichen Fortschrittes erlebte sie beim Übergang zum Maschinenwesen und Großbetrieb schlimmstes Elend. Da die besitzende Klasse aus eigenem Antrieb nicht den Entschluß aufbrachte, dem Proletariat entgegenzukommen, so war Grund genug dazu gegeben, daß sich dieses mit aller Macht selber für seine Interessen einsetzte. Die bürgerlichen Revolutionen haben ihm dafür die Wege gewiesen, die Organisation, die es in rascher Entwicklung ausbildete, hat ihm die Kraft dazu gegeben, die atemlose Entwicklung des Großbetriebes hat seine Massen ungeahnt vermehrt, und die Größe der Verhältnisse, die Größe des Elends, das tatsächlich vorhanden war, sowie die Größe der Macht, die in Aussicht stand, hat der Bewegung die großen Führer erweckt, die sie brauchte.
Die leitenden proletarischen Denker waren fast durchaus Männer bürgerlicher Herkunft und Bildung. Ihr Werk bestand darin, daß sie das wissenschaftliche System, welches die bürgerlichen Denker im Interesse des dritten Standes ausgedacht hatten, auf den Gesichtskreis der proletarischen Interessen umstellten. Nach der treffenden Bezeichnung von Anton Menger ist das Lehrgebäude der sozialistischen Denker ein System proletarischer Rechtsphilosophie, das aus den Notwendigkeiten des Massenlebens abgeleitet ist. Die Grundrechte, wie sie die bürgerliche Rechtsphilosophie entwickelt und die bürgerlichen Revolutionen zur Geltung erhoben hatten, sind rein aus dem Gesichtskreise der besitzenden Klasse abgeleitet und können daher für die besitzlose Masse nicht genügen. Für den Bürger wollte es etwas bedeuten, wenn ihm die allgemeine Rechtsfähigkeit und der Schutz der erworbenen Rechte gewährleistet wurde, und er mochte sich dabei beruhigen, daß damit das „gleiche Recht“ für alle gesichert und der Gedanke der Gleichheit ausgeschöpft sei. Was war jedoch dem besitzlosen Arbeiter mit der allgemeinen Rechtsfähigkeit und dem Schutze der erworbenen Rechte gedient l . Er hat ja keinen nennenswerten Bestand an Vermögensrechten erworben, und es fehlt ihm daher die sachliche Grundlage, um seine Rechtsfähigkeit zur Erwerbung von Vermögensrechten zu nützen. Wie die bürgerliche Rechtsphilosophie aus dem Gesichtskreise des Bürgers heraus bürgerliche Grundrechte gefordert hatte, so [295] forderte nun die proletarische Rechtsphilosophie aus dem proletarischen Gesichtskreise heraus wirtschaftliche Grundrechte. Ohne wirtschaftliche Grundrechte ist das abstrakt „gleiche Recht für alle“ in der Tat blanke Ungleichheit.
Die wichtigsten wirtschaftlichen Grundrechte, die von den proletarischen Denkern entwickelt wurden, waren das Recht auf Existenz und das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. Das Recht auf Existenz geht auf Deckung der lebensnotwendigen Bedürfnisse und in weiterer Ausgestaltung auf Deckung der vernunftgemäßen Bedürfnisse. Dieses Recht ist aus dem sittlichen Gedanken der Menschheit abgeleitet, es ruft die ursprünglichen Regungen von Mitleid und Mitgefühl, von Menschenliebe auf, daher ist seine Forderung nicht eine bloße Rechtsforderung, sondern eine wahre sittliche Forderung. Die proletarische Rechtsphilosophie hat indes schon seit langem das Recht auf Existenz ganz fallen lassen, auch die sozialistischen Programme haben es fallen lassen, heute beherrscht das Recht auf den vollen Arbeitsertrag die proletarische Gedankenwelt. Man sagt, daß aller Ertrag Arbeitsertrag sei, daß Kapital und Land bloße Hilfsmittel der Arbeit, aber nicht selbständige Produktivfaktoren seien, und daß daher der ganze Ertrag dem Arbeiter gebühre. Wie Karl Marx in seinem , .Kapital“ ausführt, ist es ausgeschlossen, daß der Lohnarbeiter den wahren Ertrag seiner Arbeit im Lohne ausgefolgt erhält, solange die Rechtsordnung des Privateigentums gelte, denn solange diese gilt, sei der Lohnarbeiter, weil besitzlos, dazu gezwungen, seine Arbeitskraft dem Unternehmer gegen einen Lohn zur Verfügung zu stellen, der nur seine Lebenskosten decke, während der ganze Mehrertrag der Arbeit, der „Mehrwert“ den Kapitalisten zufallen müsse. Es könne gar nicht anders sein, denn die private Tauschwirtschaft müsse das Gesetz des Tauschwertes erfüllen; der Lohn sei ein Preis, der wie jeder andere Preis den Kosten folgen müsse, und daher werde, solange die private Tauschwirtschaft in Geltung bleibt, der Arbeiter, der den ganzen Ertrag schafft, um den Mehrwert betrogen sein.
Die Lehre vom Mehrwert wird von den bürgerlichen Ökonomen auf das entschiedenste bestritten. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, uns in den theoretischen Kampf der Parteien einzulassen, es genügt für unseren Zweck, zu zeigen, daß die Lehre vom Mehrwert selber den Gedanken der wirtschaftlichen Gleichheit nicht bis zum Ende festhält.
Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, das durch die Lehre vom Mehrwert erwiesen werden soll, fordert selber die ungleiche Verteilung des Ertrages, denn es fordert für den tüchtigeren Arbeiter, [296] der einen höheren Ertrag hervorbringt, einen entsprechend höheren Lohn, wie ihm auch im sozialistischen Zukunftsstaate ein entsprechend höheres Einkommen zuteil werden muß. Diese Forderung entspricht ja auch dem Rechtsgefühle der Arbeiterschaft, die Politik der Gewerkschaften ist darauf eingestellt, niemals würde sich der qualifizierte Arbeiter mit dem Lohne des gemeinen Arbeiters begnügen. Das Gesetz des Erfolges greift eben in allen Schichten der Gesellschaft unaufhaltsam durch, die proletarische Rechtsphilosophie erkennt es ebenso an wie der praktische Sinn des Arbeiters. Wo der Erfolg der Leistung verschieden ist, ist nicht die Ungleichheit, sondern die Gleichheit des Rechtes wider das Wesen des Rechtes, das starre Gesetz der Gleichheit könnte sich nur durch Gewalt durchsetzen. Wie im Falle der Lohnarbeit, muß dieser Satz im ganzen wirtschaftlichen Bereiche gelten, und wo der gesellschaftliche Erfolg zu ungleichem Besitz führt, wird das Gesetz der höchsten Kraft auch der Ungleichheit dos Besitzes die rechtüche Anerkennung einbringen müssen. Selbstverständlich ist damit ein solcher Erfolg nicht anerkannt, der durch bloße Gewalt gewonnen wird, denn bei jedem gesunden Volke wird das Gesetz der Gewalt auf die Dauer dem Friedensgesetze der Freiheit weichen.
Der gesteigerte Erfolg, den die Leistung des Führers für die Gesellschaft einbringt, wird dem Führer immer gegenüber der Masse einen Vorzug im Rechte sichern und im wirtschaftlichen Bereiche wird der Führer ebensowenig der Masse gleichgehalten werden dürfen, wie sonst in der Gesellschaft. Hier wie sonst wird die Ungleichheit der Leistung Ungleichheit im Rechte zur notwendigen Folge haben. Erst wenn das wirtschaftliche Werk des Führers nicht mehr bedürfen sollte, wird sein Recht dem der Masse gleich zu setzen sein.
Mit dieser Erkenntnis ist die proletarische Rechtsphilosophie keineswegs abgetan, sie steht und fällt nicht im mindesten mit der Losung der Gleichheit. Welche Irrtümer sie immer bezüglich des Rechtes auf den vollen Arbeiteertrag begangen haben mag, so ist das von ihr behauptete Recht auf Existenz unanfechtbar. Gewiß wird sich das Proletariat mit dem Rechte auf Existenz nicht zufrieden geben wollen und die proletarische Rechtsphilosophie darf es auch nicht, dennoch hat die Begründung des Rechtes auf Existenz ihre große Bedeutung. Durch das Recht auf Existenz ist das System der wirtschaftlichen Grundrecht« nach unten abgegrenzt, es ist das Minimum bezeichnet, das nicht unterschritten werden darf. Solange die Verhältnisse für die Arbeiterschaft so liegen wie heute, ist die Abmessung und Verteidigung dieser Untergrenze für große Gruppen der Arbeiterschaft eine Lebensfrage, [297] nämlich für alle diejenigen, deren Bezüge um das Existenzminimum schwanken oder gar dauernd unter das menschenwürdige Maß des Existenzminimums herabgedrückt sind. Handelt es sich doch bei der Abmessung des Existenzminimums nicht nur um die leiblichen, sondern auch um die geistigen und moralischen Existenzbedürf nisse, handelt es sich dabei doch nicht nur um die Lebenserhaltung, sondern auch um die Entfaltung der Lebenskräfte! Welch schöne Anwendung hat die Losung der Gleichheit nicht in der Grundschule erhalten, die allen Kindern in gleicher Weise den Elementarunterricht zugänglich machen soll! Für die proletarische Rechtsphilosophie ist es eine große Aufgabe, zu zeigen, was alles von der Gesellschaft noch zu tun ist, um die reichen Kräfte zu heben, die heute in der Masse noch unentwickelt verkümmern.
Das gesellschaftliche Handeln braucht den Führer und ruft ihn auf. Der reinen Idee nach ist der Führer das technisch geforderte Organ der Masse, durch das diese fähig wird, Erfolg und Macht zu gewinnen. Wie aber, wenn der Führer seinerseits über die Masse Macht gewinnt? Und muß er, der ihr vorangeht und also, wie es scheint, stärker sein muß als sie, nicht über sie Macht gewinnen ? Oder ist nicht vielleicht doch die Masse stärker, weil es ihr zusteht, wie es der am Ziele angelangte Wanderer tut, den Führer zu entlassen, nachdem sie seine Dienste ausgenützt hat ? Wenn sie dies könnte, wäre sie in der Tat der stärkere Teil, es gehört jedoch zum Wesen der Masse, daß sie es so leicht nicht kann. Sie kann es und tut es nur dann, wenn sie einmal in allgemeine Erregung gegen den Führer gerät und ein Sturm der Entrüstung gegen ihn durch ihre Reihen geht. Für gewöhnlich reicht die Fühlung, wie sie unter den zur Masse vereinigten Individuen besteht, nicht dazu aus, um sich dahin zu einigen, daß man den Führer entlasse. Auch wenn eine größere Zahl von Unzufriedenen da sein sollte, so wird man sich nicht eher in dem Entschlüsse zusammenfinden, die Nachfolge einzustellen, bis man nicht sicher geworden ist, daß „die andern“ auch dazu bereit sind. Um dem alten Führer abzusagen, muß man sich unter einem neuen zusammengefunden haben, der seine Zeit braucht, um sich im allgemeinen Gefühle durchzusetzen. Solange es noch nicht so weit ist, hegen die Bedingungen [298] für den alten Führer günstig, er kann auf Fortsetzung der Nachfolge rechnen und ist daher in der Lage, eine gewisse Vormacht oder gar Übermacht zu gewinnen, die ihm erlaubt, seine persönlichen Zwecke bis zu einem gewissen und vielleicht sehr ausgiebigen Grade den Zwecken der Masse voranzustellen.
Diese allgemeinen Erwägungen weisen uns nur die Möglichkeiten, wie das Verhältnis von Führerwille und Massenwille sich gestalten kann. Um klar zu sehen, wie sich diese Möglichkeiten im großen Ganzen tatsächlich verwirklicht haben, muß man der großen Linie der geschichtlichen Entwicklung nachgehen. Man braucht sich dabei nicht ins einzelne zu verlieren, ein kurzer überblick schon belehrt uns darüber, daß allen gesellschaftlich bedeutsamen Führerstellungen von Anfang her fast bis auf die Gegenwart herauf eine starke Überlegenheit über die Masse zugekommen ist. Wenn nicht schon früher, so hat mindestens vom Beginne der Völkergeschichte an, das will sagen, von dem Zeiträume an, da sich die Stämme und Völkerschaften zu Völkern zusammenballten, das Gesetz der kleinen Zahl gegolten, indem wenige Führer über die Vielheiten der Masse geboten.
Die Völkergeschichte beginnt überall mit einer Periode brutaler Gewalt. Das Werk der Gewalt, das in den Anfängen zu tun war, machte die Gewaltführung notwendig. Unter ihren stärksten Führern unterwarfen sich die stärksten Kriegerstämme die Massen minderen Blutes. Im Orient, im dunklen Afrika und allenthalben in der barbarischen Welt sonst wurden von den starken Rassen in weiten Gebieten Zwangsherrschaften über die schwachen begründet, welche unerschütterlich feststanden und die Maasen in hoffnungslose Sklaverei versenkten. Selbst dort, wo die Überlegenheit des Siegerblutea nicht so aiisgesprochen war, wo die Herrenschichten mehr durch den zeitlichen Vorsprung ihrer Entwicklung emporgehoben waren, konnten Zwangsherrschaften auf lange Zeit begründet werden, weil dem Siegervolke die Gelegenheit gegeben war, die materiellen Machtmittel der Waffen und des Kapitalee sowie die moralischen Machtmittel der Organiaation und der Kultur bei sich zu vereinigen. Die tiefen Furchen, welche die Gewalt von damals in die Schichtung der Bevölkerungen eingegraben hat, haben den Aufbau auch der stärksten Völker nachhaltig bestimmt und sind auch bei den fortgeschrittensten Völkern noch keineswegs ganz ausgeglichen worden. Als die Stadt Rom entstand, waren die Römer in der Hauptsache noch [299] eine Völkerschaft von kräftigen Bauern, die den andern bäuerlichen Völkerschaften Italiens kaum überlegen war. Als die Stadt Rom die Trägerin der Weltmacht geworden war, hatten die ewigen Kämpfe die Bevölkerung so durcheinander geworfen, daß eine geringe Zahl übermächtiger und übermütiger Optimaten über den Boden und über eine Masse von verarmten Kolonen und Sklaven gebot, die das Land zu bebauen hatten. Davon ist noch heute in Italien und sonst in weiten Strecken des südlichen Europa die Nachwirkung in dem Zustande der landbauenden Bevölkerung zu verspüren, die wirtschaftlich und sozial auf die Stufe des Halbpächters herabgedrückt ist. Auch bei den germanischen und slawischen Völkern Europas hat die Kriegerherrschaft, mit der ihre Geschichte beginnt, ihre rechtliche Nachwirkung in der bäuerlichen Leibeigenschaft und Untertänigkeit, die bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein andauert, und hat auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und Untertänigkeit ihre tatsächliche Nachwirkung in dem geminderten Zustande des bäuerlichen Wesens, der sich in weiten Gebieten findet. Soweit sich später aus den bäuerlichen Schichten das Industrieproletariat rekrutiert — es rekrutiert sich noch dazu aus deren untersten Schichten, aus dem bäuerlichen Proletariat — hat ihr herabgekommener Zustand dann auch noch den Zustand bestimmt, in welchem das Industrieproletariat seine Stellung antrat, die ihm Lasten aufbürdete, welche die höchste körperliche und moralische Widerstandsfähigkeit erfordern. Geschichtlich zermürbt war ihre Widerstandsfähigkeit so gering, daß die kapitalistische Schicht mit Hilfe ihres erstaunlich anwachsenden Besitzes sie einer modernen Gewaltherrschaft unterwerfen konnte, die an Härte gegenüber den Gewaltherrschaften der Waffen nicht zurückblieb und die erst zurückgedrängt werden konnte, nachdem Staat und Gesellschaf t mit den Organisationen des Proletariates zusammen sich gegen sie gewendet hatten.
So wie die Dinge standen, bevor sich die Massen im Zeitalter der Revolutionen aufrichteten, hatten bei fast allen Kulturvölkern die untern Schichten die Fähigkeit eingebüßt, das Wesentliche des Massendienstes zu leisten und ihre Nachfolge tätig mit wirksamer Kontrolle der Führungen zu vollziehen. Den Massen war es zur Gewohnheit geworden, den überkommenen Führungen in dumpfer Ergebung zu folgen, der Gedanke, daß sie sich ihrer entledigen könnten, war ihrem Sinne fremd. Wenn diese oder jene Gruppe vielleicht auch nach Änderung der Führung verlangte, so durfte sie doch nicht erwarten, die große Masse „der andern“ mit sich auf neue Bahnen fortzureißen, und alles blieb beim alten. Wo es dem Führer gefiel, seinen Nachfolger zu bestimmen, hatte er [300] vielleicht aus dem Kreise seiner Genossen, aber nicht von Seite der Massen Einspruch zu befürchten. Sie gehorchten dem Sohne, wie sie dem Vater gehorcht hatten. Auf diese Weise ist die persönliche Führung zur geschichtlichen Führung erstarkt, insbesondere ist das Wahlfürstentum durch das erbliche Fürstentum ersetzt worden. Bei der erblichen Bestellung des Führers geht der Gedanke der Auslese verloren, der ein wesentlicher Gedanke der reinen gesellschaftlichen Idee der Führung ist. Ob die erbliche Bestellung nicht sonst ihre Vorteile hat, wollen wir jetzt nicht erörtern, wir wollen jetzt nur feststellen, daß sie dahin wirkt, das Gesetz der kleinen Zahl aufrecht zu erhalten, auch wo dem Führer der innere Beruf zur Führung fehlt und wo die Stellung den Führer macht, statt daß dieser die Stellung schüfe. Wo die Massen durch geschichtlichen Druck gefügig geworden sind, reicht es zur Aufrcchterhaltung der Herrschaft der wenigen hin, daß man klug genug ist, ihren Lebensbedürfnissen und Lebenssitten entgegenzukommen und im übrigen das Gewicht der Herrschaft nicht aufreizend zu steigern. Ein Fürst, der noch dazu seine persönliche Würde zu wahren versteht, wird seine Herrschaft sogar mit dem Nimbus patriarchalischer Fürsorge verklären.
Die erbliche Belastung des Individuums, das von kranken Eltern und Voreltern abstammt, beschäftigt heute nicht nur den Arzt und den Richter, sondern auch den gesellschaftlichen Denker und den seelenforschenden Dichter. Ibsen gibt uns in seinen „Gespenstern“ ein erschütterndes Beispiel. Um wie vieles ausgebreiteter und folgenschwerer wirkt aber nicht die geschichtliche Belastung, welche die untern Schichten als das Erbe des Druckes zu tragen haben, dem ihre Eltern und Voreltern ausgesetzt waren. Bei den Völkern gesunder Abstammung braucht man dennoch nicht zu verzagen, die geschichtlichen Gespenster lassen sich bannen. Der Zustand ist nicht hoffnungslos, die Krankheit sitzt nicht unheilbar im Blute, es ist eine geschichtlich erworbene Schwäche, die bei gebesserten Verhältnissen wieder behoben werden kann, aber wie bei jeder Massenerkrankung fordert die Heilung den Einsatz großer Mittel und die geduldige Arbeit von Generationen. Geschichtlich eingelebte Übel bedürfen zu ihrer Beseitigung geschichtlich fortgesetzter Bemühungen.
Es war der erste Schritt zur Besserung, als bei den entwicklungsfähigen Völkern Europas die Gewaltherrschaften der Waffen, nachdem [301] sie das Schwerste ihres geschichtlichen Werkes getan hatten, nach und nach den neu aufsteigenden milderen Mächten der Kirche und des Bürgertums Raum geben mußten. Das Reich des strengen Zwanges war damit zu Ende, das Gesetz der kleinen Zahl war jedoch nicht abgetan. Die Kirche teilte sich mit Fürst und Adel in die Macht, später trat auch das besitzende und gebildete Bürgertum mit in die oberen Zehntausend der Gesellschaft ein. Kirche und Bürgertum waren ' keineswegs bloß für sich tätig, beide haben sie Forderungen erhoben und durchgesetzt, die im Interesse der ganzen Gesellschaft gedacht waren, sie sind beide der reinen Idee der Führung um vieles näher gekommen, als die alten Gewaltführer, indessen auch sie haben sie nicht vollständig erfüllt. In der Periode der kirchlichen Vorherrschaft, wie in der des bürgerlichen Liberalismus haben die führenden Mächte noch etwas vom Herrencharakter beibehalten. Auch wenn das Bürgertum die geschichtlich erworbene Überlegenheit seiner Kräfte und Mittel nicht mehr zur gewaltsamen Unterdrückung der Massen gebrauchen konnte, sondern die Lebensrechte der Massen anerkennen mußte, so vermochte es sie doch dazu auszunützen, um seine eigenen Interessen übermäßig zu bedenken. Dazu hatte es reichliche Gelegenheit. Es war eifrig darauf bedacht, daß ihm der geschichtliche Vorsprung an Kraft und Mitteln erhalten büeb, den einzuholen die Masse bei ihren beschränkten Umständen nicht hoffen durfte. Als Verwalterin des Führeramtes war es in der Lage, die gemeinsamen Zwecke so auszuwählen, daß es dabei bevorzugt war, es hatte es in seiner Macht, bei den gemeinsam gewonnenen Erfolgen sich den Löwenanteil des Führers zu sichern und bei der Verteilung der Lasten sich freier zu halten. Wenn es keinen andern Vorteil hatte, so blieb ihm immer noch übrig, daß es die einträglichsten Stellen in Staat und Gesellschaft für seine Mitglieder vorzubehalten vermochte, denen hiezu durch ihre Bildung und ihre Verbindungen die nächste Anwartschaft gegeben war.
In der neuen Atmosphäre hat sich auch das Fürstentum gewandelt. Es wurde immer mehr durch die Friedensaufgaben in Anspruch genommen, die neben dem kriegerischen Werke reichlich aufkamen, und es mußte immer mehr mit den neuen Volksmächten rechnen. Der aufgeklärte Fürst wollte der Patron der geistigen Führer sein, sein wohlverstandenes Interesse machte ihn zum Gönner der Bürger und zum Bauernbefreier schon deshalb, weil er dadurch den Kampf mit dem Adel endgültig zu seinen Gunsten entschied. Vielleicht hat es niemals einen Führer im Staate gegeben, welcher der reinen Führeridee näher gekommen ist, als der aufgeklärte absolute Herrscher, [302] der sich als der oberste Beamte des Staates fühlte. Bei ihm war alle Macht vereinigt, er hatte die vollste Freiheit des Handelns, und da er durch Einsicht und Gewissen gebunden war, so verschlug es nichts, daß ihm keine Gegenmacht gegenüberstand, die ihn einzuschränken vermochte. Freilich war der Zustand auf seine zwei Augen gestellt, und wenn er auch sonst alles tat, um die Kräfte seines Volkes zu entwickeln, so war ihm doch kaum darum zu tun, es zur Freiheit zu erziehen. Zur Freiheit kann der Mann und kann das Volk sich nur aus eigenem Triebe erheben.
Den europäischen Völkern war nach allem Druck der Geschichte genug Frische verblieben, daß sie in den Zeiten längeren Friedens und besserer Ordnung, die endlich gekommen waren, sich in Reichtum und Bildung fortschreitend zu entwickeln vermochten. Mit den gesteigerten Kräften wuchs das Verlangen, sie freier zu gebrauchen. Die aufsteigende Bewegung der Masse, erst des Bürgertums und mit ihm des Bauerntums, zuletzt auch des Proletariates, war nicht aufzuhalten. Nachdem längst schon die Zwangsführung zur Herrenführung und diese zur herrschaftlichen Führung gewandelt war, wurde nun die herrschaftliche Führung durch die genossenschaftlich-demokratische Führung verdrängt, die erstarrten geschichtlichen Führungen wurden verjüngt, die religiösautoritären Führungen waren schon seit geraumer Zeit reformiert. Auf der ganzen Linie des staatlich -kirchlichen Lebens wurden die überlieferten strengen Führungsformen durch freiere ersetzt, die sich noch immer freier ausgestalteten. Europa war in die Periode der Demokratisierung, der Revolutionen, des Umsturzes getreten.
Die erschreckten Machthaber von früher sehen in der demokratischen Bewegung den Sieg der Gasse, den Sieg der Massen, den Sieg des Massenwillens über den Führerwillen. Sicherlich ist es dort, wo die Bewegung an ihr Ziel gelangte, den Massen gelungen, ihren Interessen bei der gesellschaftlichen Willensbestimmung erhöhte und weit erhöhte Berücksichtigung zu sichern, aber sie konnten so weit nur kommen, wo sie es lernten, sich unter Führungen zu stellen, die, um als Organe des Masseninteresses zu wirken, der Funktion des Führerwillens nicht entbehren durften. In den schweren Kämpfen, die mit den alten Mächten auszutragen waren, mußte die Funktion des Führerorganes aufs höchste gesteigert sein, und wie oft ist es da nicht geschehen, daß sie auf Kosten der Massen selbst gesteigert wurde! Alle diese großen umwälzenden Bewegungen brauchten und hatten ihre starken Führer im Gedanken und in der Tat. Die englische Revolution ist durch die religiöse Freiheitslehre der Reformatoren, die bürgerliche Revolution [303] in Frankreich durch die Aufklärer bis auf Rousseau herauf, die proletarische in Rußland durch die sozialistischen Denker bis auf Marx herauf geistig vorbereitet worden und es waren strenge Führer, die da geboten. Calvin, Rousseau und Marx haben die Gedanken ihrer Anhänger souverän beherrscht. Den geistigen Führern reihten sich zu gegebener Zeit die Führer der Tat an, denen es geschichtlich aufgegeben war, die Gedanken in praktischen Erfolg umzusetzen, und die durch den Erfolg die Wirkung auf die große Masse gewannen. Auch sie waren strenge Führer und mußten es sein, denn es konnte nicht ohne äußerste Anstrengung gelingen, die alten Mächte zu stürzen. Auf Karl Stuart folgte Crom well, auf Ludwig XVI. folgte naeh den Schreckensmännern Napoleon, auf Zar Nikolaus II. folgte Lenin. Wenn es im Fürstenstaate geheißen hatte „Der König ist tot, es lebe der König!“, so hat es bei der Begründung des Volksstaates gar oft geheißen „Der König ist tot, es lebe der Diktator!“.
Die erste von den modernen Revolutionen, die englische, hat als Revolution von oben begonnen. Karl Stuart wollte ein absoluter Fürst sein, wie es die Fürsten des Kontinentes waren. Vielleicht hätte er seinen Machtwillen durchgesetzt, falls er es nicht mit dem Widerstand des puritanischen Freiheitssinnes und mit der überragenden Führerkraft Cromwells zu tun gehabt hätte. Der Sieg gab Crom well eine Machtfülle, wie sie vor ihm kein englischer König besessen hatte, und unter dem Titel des Lord-Protektors gebot er über England als unbestrittener Diktator.
Die große französische Revolution war der Ausbruch einer neuen ungeheuren Kraft. Das französische Volk hatte sich in dem Gedanken der Volkssouveränität, in dem beseeligenden Glauben an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als eine engverbundene Einheit erkannt. Den geistigen Führern, die den neuen Gedanken ausgesäet hatten, folgten jedoch nicht sogleich die Führer der Tat. Robespierre wurde verlacht, wenn er in der konstituierenden Versammlung das Wort ergriff. Man tat sich daran genug, in dem neuen Kraftgefühl zu schwelgen. Indes durch den Schwall der großen Worte, die gesprochen wurden, und durch den Rausch der Seelen brach sich die Macht der Tatsachen unaufhaltsam ihre Bahn. Damit daß der Gedanke der Volkssouveränität strahlend aufgestiegen war, war der Gedanke der königlichen Souveränität verblichen, [304] der bis vor kurzem noch die Gemüter in Bann gehalten hatte. Taine trifft die entscheidende Tatsache, wenn er sagt, daß Frankreich keine Regierung hatte, denn mit der alten Regierung war es vorüber und die neue hatte sich noch nicht gestaltet. Das souveräne Volk wollte sich selber hören, wenn es in den Urversammulungen seiner 25.000 Gemeinden sprach. Dabei drängten sich die Regierungsaufgaben. Man mußte mit dem ausgehungerten und verzweifelten Pöbel der Städte fertig werden und ebenso mit den aufgeregten Bauern, die überall gegen die Gutsherren aufstanden, und von allem einzelnen abgesehen, drängte der neue Volksgedanke gebieterisch darnach, Staat, Kirche, Gesellschaft nach seinem Sinne umzubilden, und je weiter man auf den neuen Wegen schritt, um so mehr bekam man es mit inneren und äußeren Gegnern zu tun. Die neugeborene ungeheure Kraft brauchte ihren großen Führer und suchte ihn vergebens. Das französische Volk mußte an sich die geschichtliche Probe für die Bedeutung des Satzes bestehen, daß der Führer für die Masse unentbehrlich ist und daß der rechte Führer erst durch den Erfolg ausgelesen wird. So lange dies nicht geschehen war, befand sich Frankreich im Zustand des Interregnums wie Deutschland nach dem Sturz der Hohenstaufen, es erlebte „die kaiserlose die schreckliche, Zeit“, wie es in Schillers Ballade vom Grafen von Habsburg heißt. Die neu entfesselten Kräfte, die stärker waren, als man es je erfahren hatte, konnten nicht ruhen. Bei den sich häufenden Szenen, bei denen die Leidenschaft der Masse durchbrach, fiel die Leitung zunächst den Zufallsführern zu, wie sie der Augenblick schuf. Man hat solche Zufallsführer im Laufe des Weltkrieges in den ausgehungerten Städten der Mittelmächte oft genug aufsteigen sehen, wenn vor den Lebensmittelläden oder anderen Warenmagazinen aufgeregte Männer und Weiber durch die gemeinsame Not zusammengebracht wurden, die nun, weil in Menge beisammen, zum Bewußtsein ihrer Kraft gekommen, mit einem Male losbrachen, sobald einer von ihnen das aufreizende Wort unter „die andern“ warf. Auf einmal war die wilde Tat geschehen, die „keiner recht gewollt hatte“. Was sich liier im kleinen ereignete, hat sich, ins Riesenhafte gesteigert, beim Ausbruch und in den Schreckenstagen der französischen Revolution ereignet. Während die besonneneren Geister noch unsicher tasteten, verfolgten die Schwärmer mit der Entschlossenheit ihres beschränkten Sinnes den Gedanken der Volkssouveränität bis zum äußersten. Dieser Gedanke hatte nun einmal die Herrschaft über die Gemüter, und kein anderer konnte gegen ihn aufkommen, solange er nicht auf seine Durchführbarkeit erprobt war. Das klingende Wort der Freiheit [305] war ausgerufen und es übte seinen Zauber. Es löste auch die Bande, die bis dahin die gewaltsamen Elemente des Volkes zurückgehalten hatten. In diesen erhielt die Leidenschaft der Führer die bereite Gefolgschaft. Das Bündnis von eiferndem Wahn und roher Gewalt gewann den Erfolg über alle andern Führungen, die sich versuchten, und sicherte den neuen Gebietern die Herrschaft über die Gemüter der Massen in einem Grade, wie sie die Könige von Frankreich niemals besessen hatten. Selbst Ludwig XIV. konnte nicht ein solches Kontingent von Kämpfern gegen den äußeren Feind aufbringen, wie die Schreckensmänner mit ihrer allgemeinen Wehrpflicht, und ebensowenig hatte er zur Niederwerfung der inneren Widerstände eine solche fast unbeschränkte Machtfülle in der Hand. Was war die königliche Kabinettsjustiz gegen die Schreckensjustiz des Volkes! Gerade dieser Überschwang der Kräfte wurde für Frankreich zum Verhängnis, er war es, der die Wirbel der Revolution erzeugte, wie sie ein Strom erzeugt, der durch Wolkenbrüche geschwellt, nicht zwischen festen Ufern eingedämmt ist. Diese ganze ungeheure Macht erschöpfte sich zunächst in dem Triebe der Selbst erhaltung und Expansion. Ein unbezähmbarer Drang wurde lebendig, die aus der Freiheit geborne, schier maßlose Kraft bis zum Äußersten ihrer Möglichkeiten auszudehnen, ein Drang, sie den umgebenden Völkern mitzuteilen, die noch im Joche ihrer Fürsten gebunden waren, ein Drang, sie im französischen Volke selbst in vollster Reinheit auszubilden und gegen jeden Widerstand unangreifbar zu festigen. Dem eifernden Sinne galten für so hohe Ziele alle Mittel erlaubt, ja geboten. Die aus der Freiheit geborne Kraft wurde so unduldsam und grausam, wie einst die Liebeskraft der Kirche, die Guillotine vollzog ihr Werk noch rascher als der Scheiterhaufen. Um die neugeborne ungeheure Kraft mit ihrem unbezähmbaren Drange zu beherrschen, bedurfte es höchster Meisterschaft, wie sie ein Cäsar und ein Augustus und etwa noch ein Tiberius besessen hatten; die Männer, die über diese Kraft zu verfügen hatten, waren aber, den einen Danton mit seinem revolutionären Instinkt ausgenommen, von der Kurzsichtigkeit eines Claudius und dem Blutdurst eines Nero. Auf der schwindelnden Höhe, auf die sie gestellt waren, wurden sie alle durch Cäsarenwahn berückt. Das souveräne Volk wand sich unter ihren Schlägen. Es war die Rettung des Volkes, daß sie im wütenden Kampfe um die Macht einer den andern selber unter das Messer brachten. Mit dem Sturze Robespierres war das schlimmste überstanden, das Direktorium bedurfte der äußersten Mittel des Schreckens nicht mehr, es bediente sich der Deportation statt der Guillotine. Dabei wußte es jedoch ebensowenig wie die Jakobiner die neue Kraft für das [306] Volk nutzbar zu machen, es war in der Hauptsache immer noch mit dem Kampfe um die Macht beschäftigt. Die Kraft wurde erst zur fruchtbaren Tat, als durch die Auslese des militärischen Erfolges in Napoleon der Mann zum Führer erhoben wurde, der den Beruf zum Diktator hatte. Über die Ideologie der Volkssouveränität souverän hinwegschreitend, versöhnte er die Franzosen dadurch, daß er die aus der Freiheit neugeborne Kraft zu dauernder innerer Wirkung ordnete und in unvergleichlichen Siegen die Nation mit sich zur Höhe der Weltherrschaft erhob.
Wie die Diktatur Oomwells hat sich auch die Napoleons auf die Dauer nicht halten können. Im englischen wie im französischen Volke war die Kraft zur Freiheit zu stark, um auf die Dauer niedergehalten werden zu können, gegen Napoleon wendete sich überdies das herausgeforderte Europa. In England wie in Frankreich folgte auf die Diktatur die Restauration, dort der Stuarts, hier der Bourbonen. Weil aber die Stuarts wie die Bourbonen nichts gelernt und nichts vergessen hatten, so konnten auch die Restaurationen sich nicht halten. Durch eine Reihe von Umwälzungen und Wandlungen, die wir hier nicht weiter zu verfolgen haben, kamen England und Frankreich endlich zu gesicherten freiheitlichen Verfassungen.
Das englische Volk ist nach seiner Anlage und Geschichte das zur Freiheit berufenste Volk Europas. Es kommt ihm zugute, daß es seine revolutionäre Zeit erheblich früher durchgemacht hat als der Kontinent und daß es vor diesem bei der Organisierung seiner staatlichen Freiheit den Vorsprung von Jahrhunderten voraus hat. An der Art und Weise, wie die staatliche Freiheit in England organisiert ist, können die Völker des Kontinentes lernen, daß auch das freie Volk seine feste Führung braucht. Es muß nur auch die Gegenmacht zur Verfügung haben, die den Führerwillen in Schranken hält und zur Wahrung des Masseninteresses verpflichtet. Diese Gegenmacht ist jedoch nicht der Massenwille als solcher, die Masse kann ja ohne Führung nicht handeln und sie könnte am wenigsten für sich allein gegen den Führer handeln. So oft sie es versucht, sich auf sich selbst zu stellen, so verfällt sie den Zufallsführern, die ihren rohesten Trieben entgegenkommen und die Ordnung zum Chaos umkehren. In England sehen wir es deutlich vor uns, daß die Macht, welche die bestehende Regierung durch ihre Opposition zu kontrollieren hat, sei ber unter Führungen [307] organisiert ist, die ebenso fest sind, wie die der regierenden Mehrheit. Dies ist der Sinn des englischen Zwei-ParteienSystems, welches die Frucht der politischen Erfahrung des englischen Volkes ist und welches durch die Störungen, denen es in jüngster Zeit ausgesetzt war, kaum endgültig abgetan sein dürfte. Während die Mehrheitspartei durch ihre Führer die Regierung besorgt, hält die in Opposition befindliche Minderheitepartei in ihren Führern das Ministerium bereit, das die Regierung übernehmen soll, sobald sie bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnt.
Das englische System ist eine verfeinerte Ausbildung des Systems der alten Römer, welches Freiheit und Ordnung dadurch zu sichern suchte, daß es die Konsulate im regelmäßigen Turnus abwechseln ließ. Der Konsul, der für sein Geschäftsjahr mit allen Vollmachten ausgestattet war, welche für die erfolgreiche Verwaltung seines Amtes als notwendig galten, war dadurch in Schranken gehalten, daß er nicht nur den gleichberechtigten Kollegen neben sich hatte, sondern außerdem noch dadurch, daß er nach Ablauf des Jahres dem erwählten Nachfolger den Platz räumen mußte und für seine Amtsführung zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Noch deutlicher zeugt die Einrichtung der römischen Diktatur für die Reife des politischen Wesens der Römer. In Zeiten der Gefahr unterwarf sich die Masse gehorsam einem mit schrankenloser Macht ausgestatteten und verantwortungslosen Diktator, wohl wissend, daß das Römervolk stark genug sei, um mit Zuversicht erwarten zu dürfen, daß der Diktator nach vollbrachtem Werk seine Macht wieder in die Hand der regelmäßigen Obrigkeit zurücklegen werde. Der Machtwille des römischen Volkes triumphierte, weil er sich dem Machtwillen seiner Führer unterzuordnen wußte, den er gleichzeitig zu beschränken vermochte. Das englische System ist darin verfeinert, daß es den Regierungswechsel nicht an die äußerliche Regel des Jahresturnus bindet, sondern ihn von der Abstimmung im Parlament und dem Ausfall der allgemeinen Wahlen abhängig macht, bei dem die Mehrheit der Wähler den Ausschlag gibt. Die Regierung bleibt solange im Amt, als ihre Geschäftsführung das Vertrauen der Mehrheit findet. Auf Seite der Regierung und der Opposition müssen daher die Führungen immer darauf bedacht sein, im Sinne der Mehrheit des wahlberechtigten Volkes zu handeln. Übrigens liegt die Entscheidung der Wahl bei einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Wählern, die ein guter Kenner bei den jüngsten Wahlen auf etwa ein Zehntel der Wählerschaft berechnete. Die größte Zahl der Wähler ist immer an die überkommene Parteirichtung gebunden, [308] die ihr durch ihre Interessen gewiesen ist, nur die urteilsfähigste Gruppe der Wähler wahrt sich die Freiheit ihrer Bewegung. Sie wendet sich von der Regierung ah, wenn sie meint, daß diese wider das Landesinteresse gehandelt habe — oder vielleicht auch nur gegen ihr besonderes Interesse, das sie, wie dies immer geschieht, für das allgemeine Interesse ansieht — und ihre Stimmen sind es, die der Opposition zum Siege verhelfen, welche die Fehler der Regierung vor der Öffentlichkeit bloßstellt. Solange diese reifste Gruppe der Wählerschaft den Ausschlag gibt, werden die radikalen Stimmungen überwunden werden und die maßvolle mittlere Meinung wird dem Volkswillen die Richtung geben.
Selbstverständlich war es nicht der Buchstabe der römischen Konsularverfassung und ist es nicht die Form des englischen Parteiwesens, was die Führer, die an der Regierung sind, in Schranken hält, sondern es war und ist die Kraft zur Freiheit, die dem englischen Volke eigen ist, wie sie dem römischen in seinen starken Jahrhunderten eigen war. Die Kraft zur Freiheit hat bei jedem Volke, das sie besitzt, ihre Unterlagen in der ungebrochenen Frische der Körper und der Geister, in der tüchtigen Arbeit, die wirtschaftliches Gedeihen bringt, in der guten Sitte, welche die Ordnung aufrecht hält, in dem Drange nach Kultur, der vorwärts treibt. Die Mächte von Wirtschaft, Sitte, Kultur, wie sie unter anonymen Führern blühen oder auch darüber hinaus ihre ausgebildete Führerhierarchie und Organisation haben, sind die tragenden Mächte der politischen Freiheit. Sie geben dem Volke Widerstandsfähigkeit gegen den Versuch ehrgeiziger Führer, welche die Herrschaft im Staate an sich reißen wollen, sie bilden, unter ihren Führern geordnet, die Unterverbände, aus denen sich die politischen Parteiverbände zusammensetzen, und aus ihren gesellschaftlichen Führern rekrutieren sich zum großen Teile die politischen Parteiführungen. Der Wille eines freien Volkes ist nicht Massenwille, er ist von seinen Wurzeln an die Verschmelzung von Massenwille und Führerwille.
Die Revolutionen nach dem Weltkrieg sind andern Ursprungs und in wesentlichen Stücken auch andern Verlaufes als die englische und französische Revolution, dabei geben sie aber wie diese den Beweis für die außerordentliche Bedeutung, welche die Führung gerade bei den großen Umwälzungen im Staate hat. Während die englische Revolution eine Revolution von oben war, der gegenüber sich die Kraft des englischen [309] Bürgertums als festgegründet zu bewähren hatte, während die französische Revolution der Ausbruch einer neuen Volkskraft war, waren die Revolutionen nach dem Weltkrieg Zusammenbrüche. Sie waren nicht vulkanische, sondern tektonische Beben, allerdings aber tektonische Beben von außerordentlicher Ausdehnung und Wirkung. In den besiegten Staaten Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn stürzten die Erzf eisen der altgegründeten Dynastien der Romanow, Hohenzollern und Habsburg-Lothringer zusammen. Die Romanow, Hohenzollern und Habsburg-Lothringer waren alle als oberste Kriegsherren im Siegeskranze zu ihren Thronen aufgestiegen und die unerbittliche Logik der Geschichte mußte ihre Herrschaften beendigen, als das Argument der Welt. niederlage vor den Massen wider sie zeugte. Jede der Dynastien hatte schon vorher das eine oder das andere Mal empfindliche Niederlagen zu verwinden gehabt, Napoleon hatte sie nacheinander bei Austerlitz, bei Jena, bei Wagram, an der Moskwa gedemütigt, niemals jedoch waren sie am Leben getroffen worden, immer konnten sie sich durch neue Erfolge wieder aufrichten. Die Berufsoffiziere und Unteroffiziere, die im langen Friedensdienst gedrillten Soldaten, die den Kern ihrer Heere bildeten, waren durch die geheiligten Überlieferungen von Ehre und Pflicht an ihre Fahnen gebunden und waren durch die besondere Machtpsychologie des Soldaten aufrecht gehalten, die ihn für alle Opfer seines Berufes und selbst für die drohende Gefahr der Hingabe des Lebens dadurch entschädigt, daß sie ihn mit zum Träger der berauschenden Kampfeskraft und Siegesmacht erhebt. Auch die alten Berufsheere hatten sich von Mutlosigkeit und Erschlaffung nicht immer freihalten können, dennoch haben sie sich immer wieder in militärischer Treue zusammengefunden. Der Geist, der vom Berufskern der Volksheere ausging, welche im Weltkrieg aufgeboten wurden, war so lebendig, daß er in dem ganzen gewaltigen militärischen Körper feste Manneszucht aufrechthielt. Dazu kam der Gedanke, welcher alle in den Krieg hineingezogenen Völker erfüllte, daß sie von einem heimtückischen Feinde angegriffen waren und sich ihres Volkstums zu wehren hatten. Überall wurden die schweren Pflichten, die der Staat forderte, in freudiger Begeisterung übernommen. Kulturvölker können nun aber einen Volkskrieg über ein gewisses Maß hinaus nicht ertragen. Der Verlust an Berufssoldaten trifft die Armee, der Verlust an Bürgersoldaten trifft das Volk, und mit den Soldaten zusammen leidet im Volkskrieg die Bürgerschaft des Hinterlandes, die Greise, die Frauen, die Kinder. Wenn der Krieg von Jahr zu Jahr andauert und wenn die Aussicht schwindet, den Sieg oder auch nur einen ehrenvollen Frieden zu erkämpfen, so fragt die [310] Menge, wozu noch weiter Krieg sein solle. Als in den Kämpfen ohne Ende der Berufskern des Heeres so gut wie aufgezehrt war, der das Schwerste auf sich zu nehmen hatte, so war auch der Geist des Heeres verändert, die Psychologie des Bürgers, der um Geschäft, Haus und Familie sorgt und auf sich selber bedacht ist, gewann es über die soldatische Psychologie, und die Frage nach dem Wozu des Krieges ging nun auch durch die Reihen der Armee, zuerst im Hinterland und in der Etappe, zuletzt aber selbst bis in die Kampffront hinein. In Volk und Armee wandte sich der Sinn von den Monarchen ab, die man für den Krieg und seine furchtbaren Leiden verantwortlich machte. Die moralische Macht, durch welche die Monarchen Volk und Armee beherrschten, war geschwunden. Es bedurfte nur des Anstoßes weniger entschlossener Männer, die ihre Absetzung forderten, und keine Hand erhob sich zu ihrer Verteidigung. Die Armeen hatten aufgehört, Schild und Schwert der Dynastien zu sein, in Rußland wie in Deutschland waren es Generale höchsten Ranges und erprobter Treue, die bei ihren Kaisern die Abdankung durchsetzten. Die Völker ließen über sich ergehen, was sie in ihrer großen Mehrheit vielleicht nicht gewünscht hatten, aber was zu hindern ihnen jeder Antrieb fehlte.
Damit daß der dynastische Schlußstein aus dem Gebäude der Monarchie herausfiel, war es nicht abgetan. Die moralische Wirkung verbreitete sich über die ganze Gesellschaft, welche Zeuge dieses unerhörten Ereignisses war, und das Gefüge nicht nur des staatlichen, sondern des ganzen gesellschaftlichen Baues wurde erschüttert, der im letzten Grunde nicht durch äußere Machtmittel, sondern durch die Kräfte des Gemütes zusammengehalten ist. Weitaus am stärksten war die auflösende Wirkung in Rußland. Außer dem Zaren war dort keine nationale Führungsmacht kräftiger entwickelt, die Kirche hing am Zaren, die Duma hatte noch keine Überlieferungen für sich, gegen den Adel war die landhungrige Bauernschaft seit langem aufgeregt, die gebildete Bürgerschaft war schwach an Zahl gegenüber der großen Masse, die vereinzelten Großunternehmer hatten die Menge ihrer Arbeiter gegen sich, die allen Grund hatten, mit ihrer Lage unzufrieden zu sein. Durch kurze Zeit gelang es der Duma noch, eine demokratische Regierung aufrecht zu halten, deren Anordnungen aber schon durch die Arbeiterund Soldatenräte gekreuzt wurden. Kerenski versuchte eine Kraftprobe, indem er die Operationen an der Front wieder aufnahm. Dies war das Signal zur völligen Auflösung. Mit allen Führungen war es zu Ende, überall erhoben sich die vielen von unten gegen die wenigen, die oben waren. Die große Mehrzahl der Soldaten, des Krieges müde, [311] lief nach Hause, als Rest der militärischen Organisation verblieben die Soldatenräte; zusammen mit den Arbeiterräten, die durch die organisierte Arbeiterschaft gebildet waren, konnten sie nun die neu eingerichtete Regierung über den Haufen werfen. In den Räten erhielt, wie es bei der allgemeinen Erregung nicht anders sein konnte, die radikalste, die bolschewistische Richtung, die überhand. Die bolschewistische Organisation war lange vor dem Kriege schon fertig, sie war in der hohen Schule der Verschwörung seit Jahren gesiebt und gestählt, der Haß gegen die alte Ordnung, von der die Revolutionäre unerbittlich verfolgt worden waren, der inbrünstige Glaube an ihre Sendung zur Erneuerung der Welt verband sie in eherner Manneszucht. Sic hatte ihr Programm der Gleichheit in rücksichtsloser Folgerichtigkeit ausgedacht und war entschlossen, es in rücksichtsloser Energie auszuführen. Die Bolschewisten waren sich klar, daß es galt, zunächst einmal die Macht zu erobern. Nach dem Zusammenbruch bot sich ihnen dazu die langersehnte Gelegenheit, und sie konnten eine Herrschaft aufbauen, die dauerhafter sein mußte, ab die der Jakobiner in Frankreich, vor denen sie den großen Vorteil voraus hatten, daß sie in sich einig und bis ins einzelne vorbereitet waren. Durch ihre Lehre der Gleichheit bekamen sie festen Halt in den Instinkten der losgelassenen Massen, die darauf aus waren, sich der übergeordneten Führungen zu entledigen. Neben den Soldaten, den Arbeitern, dem Pöbel, dem Lumpenproletariat waren es vor allem die Bauern, die ihnen entgegenkamen, weil das bolschewistische Programm ihnen das herrschaftliche Grundeigentum auslieferte. Die Revolution, welche damit begonnen hatte, daß die Armee vom Zaren abfiel und die liberale Intelligenz ihn im Stiche ließ, und welche sodann unter proletarische Führung gekommen war, erhielt ihren entscheidenden Abschluß durch die Umwälzung des Landeigentums. Für die Bauern, die den herrschaftlichen Boden unter sich verteilten, gab es kein Zurück mehr, und da sie die große Überzahl des Volkes waren, so war dem zaristischen System alle Aussicht auf Wiederkehr benommen, solange es nicht seine geschichtliche Verbindung mit dem Adel löste, aus dessen Reihen es die leitenden Stellen in der staatlichen Hierarchie besetzte. Für solange war das bolschewistische Interesse mit dem bäuerlichen verbunden. Die bolschewistische Regierung hat die Lage trefflich ausgenützt. Sie hat dem Bauern nicht nur seine Landbeute überlassen, sondern hat ihn auch so ziemlich mit den Anforderungen verschont, mit denen ihn der alte Staat belastet hatte, die Einsicht Lenins hat dem Bauern später sogar noch die unerläßliche wirtschaftliche Bewegungsfreiheit eingeräumt, die ihm das starre Programm der Partei [312] nicht zugestanden hätte. Dafür durfte die Regierung erwarten, daß der Bauer sich nicht einmischte, wenn sie ihre Diktatur im übrigen Rußland ausübte.
Gegenüber den andern revolutionären Verbänden gewannen die Bolschewisten rasch die Oberhand, weil sie am entschlossensten vorgingen und den Masseninstinkten am meisten willfalirten. Sie konnten auch mit den Gegenrevolutionen fertig werden, die in zahlreichen Gebieten des weiten Reiches ausbrachen. Der Heldenmut der zaristischen Offiziere, welche die Gegenrevolutionen trugen, war vergeblich, denn die Massen gingen nicht mit ihnen. Die bolschewistische Führung zögerte nicht, das geringe Gewicht ihrer Zahl durch die äußersten Mittel des Schreckens zu verstärken. Was der Anhänglichkeit an den alten Staat verdächtig war, Offiziere und Beamte in erster Linie, aber auch sonst die Angehörigen der besitzenden und gebildeten Klasse, wurde dezimiert oder flüchtete nach dem Ausland. Die bolschewistische Organisation verblieb als die einzige Führermacht auf dem Platz. So kurze Zeit sie an der Herrschaft war und so klein sie an Zahl war — man schätzt die Ziffer der altverschwornen Bolschewisten, die den Kampf begonnen hatten, etwa auf 15.000 Mann — so gelang es ihr doch, eine Herrschaft aufzurichten, die so gut wie unangreifbar schien. Draußen konnte man es nicht fassen, daß einem so großen Volke durch so wenig Männer Gewalt angetan werden konnte, die noch dazu dunkler Herkunft waren oder geradezu aus den gedrücktesten Schichten stammten, aus dem Proletariat und aus der rassefremden, in Staat und Gesellschaft zur Seite gedrängten, verfolgten und mißachteten Judenschaft. Man hörte sagen, daß Rußland einer Fremdherrschaft verfallen sei wie unter den Tataren, waren doch auch die ersten zuverlässigen Kerntruppen der neuen Machthaber aus Chinesen, Letten, Baschkiren, Ungarn und andern Nichtrussen zusammengesetzt. Ein Volk ohne Herrensinn kann eben nicht ohne Herren sein. Die aus kriegsgefangenen Kaukasiern formierte Leibwache der Sultane Ägyptens machte sich zu Gebietern des Landes, weil den Mamelucken ihr kriegerischer Beruf den Herrensinn gab. der dem übrigen Volke fehlte. In Rußland war nach dem moralischen Zusammenbruch der alten Führungen und der persönlichen Vernichtung ihrer entschlossensten Vertreter der bolschewistische Verband der einzige, der Herrenwillen hatte, ja, überhaupt noch zur Führung zugelassen war. Nach der Abräumung der alten Führerspitzen hatte er eine nivellierte, handlungsunfähige Masse unter sich. An Stelle der persönlichen Führungen, die den Massen zum Opfer gefallen waren, war eine oberste Fiihrungsmacht aufgerichtet, die fast alle Führungsgeschäfte [313] bei sich vereinigte und insbesondere auch die wirtschaftliche Führung aufgesaugt hatte, welche selbst die Allmacht des Zaren der persönlichen Initiative überlassen hatte. Nur die Kirche entzog sich der bolschewistischen Leitung, sie hatte indes sehr viel von ihrer Autorität eingebüßt und die Bolschcwisten taten alles, um den religiösen Sinn zu erschüttern. Die übriggebliebenen gefügigen Reste der Intelligenz nahm man in den staatlichen Dienst auf, man nützte ihre Fähigkeiten und Erfahrungen, drückte sie aber auf das allgemeine Lebensniveau herab. Von dem alten Regicrungsapparat wurde alles wieder aufgerichtet, was durch die übernommenen Aufgaben und was insbesondere zur Behauptung der Macht erfordert war. An vielen Punkten wurde seine Strenge gesteigert, wobei man das Vorbild der jakobinischen Gewalteinrichtungen nachahmte und noch überbot. Die gehaßte Ochrana setzte man in der furchtbaren Tscheka fort, indem man zu nicht geringem Teil ihr Personal übernahm, zu dessen Unterstützung das grausame Gelüsten des Pöbels die bereitwilligen Helfer und Henker stellte. In den Kriegen, die man zu führen hatte, wurde die militärische Disziplin wieder angespannt und ebenso war es mit der Arbeitsdisziplin in den Fabriken. Man konnte das Regierungswerk in Gang bringen, nach der hoffnungslosen Zerrüttung der Anfänge konnte man das Schlimmste bessern, man brachte das Ausland zur Anerkennung des gegebenen Zustandes. In kurzem fühlte sich die Regierung so gefestigt, daß sie sogar ihre Schrecken mildern durfte, weil sie damit rechnen konnte, daß von all den Millionen es keine so leicht wagen würde, sich gegen eine Macht zu erheben, die alle „die andern“ gelten üeßen. Unter dem Namen der großen Zahl konnte eine kleine, eine kleinste Zahl von Menschen, die sich selber zu Volksbeauftragten ernannten, einem riesigen Volke das Gesetz auflegen, ein Gesetz, welches nicht nur die bestehenden Führungsschichten niederdrücken sollte, sondern welches das ganze Volksleben erschütterte, weil es seine Herrschaft damit begann, daß die großen Städte entvölkert wurden, daß deren Häuser und Straßen verdarben, daß die Eisenbahnen verfielen, daß die Wälder verwüstet wurden, daß die Gutshöfe mit dem Besten ihrer Einrichtungen zerstört wurden, daß die Landwirtschaft auf bäuerliche Enge zurückging, daß Industrie und Handel einschrumpften, daß die Schulen verkümmerten, daß die Kirchen verödeten, daß die Sitten verwilderten und alle Lebensverhältnisse der ganzen Masse in Wohnung, Kleidung, Nahrung und Feuerung herunterkamen.
Die kleine Zahl konnte ihr hartes Gesetz dem russischen Volke auflegen, weil diesem seine Geschichte nicht dazu verholfen hatte, tragende [314] Freiheitsmächte und freie Führungen zu sichern, die einer Gewaltherrschaft hätten Widerstand leisten können. Es kamen jetzt die verderblichen Folgen der Jahrhunderte russischer Unfreiheit heraus. Die Selbstherrschaft des Zaren hatte zu spät begonnen, freieren Bewegungen Raum zu gönnen, und war zusammengebrochen, bevor sie ihre Wandlung vollenden konnte, die schon reiche Kräfte entbunden hatte und noch reichere versprach. Dem geschwächten Körper fehlte die Kraft, sich der zudrängenden unberufenen Ärzte zu erwehren, die voll fieberhaften Eifers, aber durch Leidenschaft beschränkt, ihn durch Gewaltmittel kurieren wollten. Gegen die überkommene krasse Ungleichheit mit ihrer Verkümmerung der Kräfte in weiten Volkskreisen, die das Existenzmaß nicht mehr erreichten, wußten die neuen Herren keine andere Abhilfe, als die Ungleichheit bis auf den Grund zu tilgen, sie drückten nieder, was sich über das Niveau des Massenlebens erhob, Grillparzers prophetisches Wort erfüllend „Alles gleich, weil alles niedrig“. Sie gingen vor wie ein Gärtner, der die gesunden Bäume bis zur Wurzel kappt, weil sie die schwachen Pflanzen überschatten. Da sie es aber mit Menschen zu tun hatten, von denen gegen den gewalttätigen Zugriff Widerstand zu befürchten war, so waren sie vor allem darauf bedacht, eine überlegene Macht bei sich anzuhäufen, die für alle Zukunft jede Gegenmacht ausschloß. Darüber verfielen sie demselben Gesetze der Macht, dem die Herrscher des alten Rußlands verfallen waren, daß die Macht, die keinen Widerstand findet, zur Übermacht auswächst. Sie wollten zugleich Kämpfer und Denker sein, aber da sie nicht zu den Ausnahmsmenschen gehörten, denen es gegeben ist, gedoppeltes Werk zu schaffen, so erhielt ihr Denken seine Richtung von den Notwendigkeiten des Kämpfens, und wie die französischen Schreckensmänner erfüllten sie das Gesetz der geschichtlichen Wellenbewegung, indem sie die Kampfmacht des alten Regimes durch die Organisation der Kampfmacht der Massen zurückdrängten, bis die neue Übermacht der alten Übermacht gleichkam. Vielleicht wird der Geschichtschreiber einer kommenden Zeit es als ihr Verdienst zu preisen haben, daß sie den Druck der Ungleichheit beseitigten, der auf der Freiheit der geringen Leute lastete, der Beobachter von heute hat zunächst wahrzunehmen, daß sie durch den Druck der Gleichheit die wertvollsten Freiheitstriebe niederhalten.
In Österreich-Ungarn war die zerstörende Gewalt der Revolution darin noch stärker als in Rußland, daß die Armee und die Monarchie [315] durch sie in ihre nationalen Teile auseinandergerissen wurden. In Ungarn und da und dort in Deutschland wurde die Rätediktatur ausgerufen, sie hatte indes nirgends Bestand; in Deutschland, in Deutschösterreich und in den nationalen Neustaaten setzte sich überall die demokratische Republik durch, der politischen Revolution folgte, von den ersten Schwankungen abgesehen, nirgend« die soziale Revolution. Es fehlte die Vorbereitung, wie sie durch die bolschewistische Verschwörung in Rußland geschaffen war, die Lockungen russischer Emissäre und russischen Geldes genügten nicht. In den neuen Nationalstaaten war man überdies durch die Aufrichtung der nationalen Macht zu sehr in Anspruch genommen, als daß die Geister für die soziale Revolution zu haben gewesen wären; darum konnte auch der bolschewistische Versuch in Ungarn • durch nationale Gegenwirkung rasch unterdrückt werden. Was Deutschland und Deutschösterreich insbesondere betrifft, so waren auch nach dem Sturze des Kaisertums und der Auflösung der großenArmeen noch ausreichende gesellschaftliche Führungsmächte in Kraft geblieben, um das Übergreifen der sozialen Revolution aufzuhalten. Die Parlamente, die Beamtenschaften, die Unternehmerschaften, die gebildeten Schichten überhaupt und die Kirchen hatten durch ihre Überlieferungen eine nicht geringe Festigkeit, die Bauernschaften waren befriedigt. Dem unzufriedenen industriellen Proletariat gelang es zwar, in der Staatsverfassung und in den Betriebsverfassungen seine Rechte erheblich zu steigern, es gelang ihm auch, einen großen Teil der Angestellten in sein Interesse zu ziehen, aber nirgends kam es so weit, daß die demokratische Idee in den Staateverfassungen verletzt wurde — man beschied sich dabei, sie im äußersten noch denkbaren Sinne auszugestalten — noch auch kam es so weit, daß die private Wirtschaftsverfassung im Wesen getroffen wurde. Allerdings haben die industriellen Arbeiterschaften als die stärksten aller organisierten Volksgruppen auf die Entscheidungen im Staate einen Einfluß gewonnen, der besonders in den ersten Jahren nach dem Umsturz über die Geltung hinausging, welche ihnen nach der Stimmenzahl ihrer Wählerschaften und Abgeordneten zugekommen wäre, und ebenso ging in den Wirtschaftsbetrieben der tatsächliche Einfluß, den sie übten, nicht selten über ihre rechtlichen Befugnisse hinaus. Da und dort vermeinten die erregten Arbeitermassen, die Zeit ihrer Herrschaft wäre gekommen, und wo die gemäßigteren alten Führer sie zurückhalten wollten, fanden sie neue, die in ihrem Sinne sich an die Spitze stellten. Wilde Streiks setzten ein, wo die bestehenden Organisationen sich bescheiden wollten, auf den Straßen gab es immer wieder Unruhen. Der an Ordnung gewöhnte Bürger hatte das Gefühl, daß die [316] Revolution immer noch weitergehe, es waren aber doch nur Nachschwingungen des dynastischen Zusammenbruchs, die sich im gesellschaftlichen Aufbau bemerkbar machten. Die großen treibenden Kräfte waren nicht da, wie sie einer revolutionären Bewegung zugehören. Wie keine große Volksbewegung, so war auch kein großer Volksführer da. Die vielen Parteien, in die das Volk von früher her zerrissen war, behielten ihre Führungen von parteimäßiger Beschränktheit des Gesichtekreises und der Geltung. Führer und Masse waren und sind gleich schwächlich, das Übel, über das zu klagen ist, war und ist nicht die Massenherrschaft, sondern die allgemeine Ohnmacht.
Wie dem deutschen Volke und den Völkern des Umsturzes, sind auch den Siegervölkern Europas die größten Aufgaben gestellt, um ihre Kräfte wieder zu sammeln und die reiche Entwicklung fortzusetzen, in der sie vor dem Weltkrieg begriffen waren. Weltkrieg und Umsturz haben die Machtkonflikte nicht gelöst, die durch die stürmende Entwicklung überall aufgeregt waren, sie haben sie im Gegenteil noch gesteigert. Die Massen empfinden dies ganz genau, überall erwartet man sehnsüchtig den großen Führer, der den beunruhigten Gemütern das Gesetz zu geben hat. Die Gegenwart beweist es deutlich, daß große Volksaufgaben immer zugleich große Führeraufgaben sind und daß es der Führerwille ist, der die Massenregungen zu Massenwillen umsetzen und diesem Zielsicherheit und Folgerichtigkeit geben muß. Wer den Beruf zur Führung in sich fühlt, fürchtet nicht, im Meere der großen Zahl unterzugehen. Andeis als der Kleinmütige, der vor dem bewegten Meere zaudert, wird er aufrecht vorwärtsschreiten, voll Zuversicht, daß ihn die Wellen tragen und heben werden.
Alle Völker des Abendlandes sind verwandten Blutes und sind Geschichtsgenossen. Sie alle haben sich von Kampfvölkern zu Arbeitevölkern gewandelt, sie alle hatten die gleichen Konflikte zwischen herrschenden Schichten und beherrschten Massen auszutragen, sie alle haben sich, durch Wissenschaft und Technik gefördert, dem Maschinenwesen und Großbetriebe zugewendet, sie alle haben in der Periode des Kapitales und der Eisenbahnen den volkswirtschaftlichen und mit ihm [317] den staatlichen Körper in Stadt und Land umgestaltet, sie alle sind von gleichen Ideen und Ideologien geleitet in die demokratische Bewegung hineingezogen worden, den Schwerpunkt mehr und mehr gegen die proletarischen Massen verschiebend. Der Beobachter kann es nicht andere erwarten, als daß ihre Entwicklung eine weitgehende Gleichläufigkeit zeigen muß, wenn sich auch die Verschiedenheit ihrer Anlagen und der Gunst der äußeren Bedingungen irgendwie geltend machen wird. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt uns eine weitgehende Gleichläufigkeit, wie für die modernen Völker so auch für die Völker des Altertums und des Mittelalters nicht nur im Abendland, sondern im Ganzen der Welt, und zwar nicht nur für die Völker, die demselben Zeitalter angehören, sondern auch von Zeitalter zu Zeitalter. Ist doch z. B. das moderne Wesen voll von Beziehungen auf die Zustände früherer Völker, die, zu hoher Entwicklung gekommen, eine nicht geringere Blüte erreichten und unter ähnlichen Übeln zu leiden hatten. In dem Bilde des römischen Staates zu Casars Zeit, das uns ein Mommsen entwickelt, erkennen wir Zug um Zug modernen Lebens.
Unter den Schriftstellern, die darauf ausgingen, die großen Erscheinungen der Geschichte darzustellen, haben manche geradezu ein Gesetz der geschichtlichen Gleichläufigkeit erkennen wollen. Draper z. B. suchte in seiner „Geschichte der geistigen Entwicklung Europas“ nachzuweisen, daß es fünf Zeitalter des geistigen europäischen Lebens gab, die sich bei allen Völkern wiederholten. Er nennt sie die Zeitalter der Leichtgläubigkeit, des Forschens, des Glaubens, der Vernunft und des Verfalles und verfolgt sie in den fünf geistigen Kundgebungen der Philosophie, der Wissenschaft, der Literatur, der Religion wie des Staatswesens, während er von der materiellen Entwicklung nur gelegentlich spricht, soweit sie ihm Beziehungen bietet, die dem Zwecke seiner Untersuchung dienen. Er beginnt mit der Prüfung der geistigen Bewegung im alten Griechenland, um sodann zu zeigen, daß die geistige Bewegung des ganzen Kontinentes, wenn auch über einen weit längeren Zeitraum erstreckt, doch wesentlich gleichen Inhaltes sei. Im weitestgehenden Sinne ist die Idee der geschichtlichen Gleichzeitigkeiten bei Spengler in seinem „Untergang des Abendlandes“ durchgeführt. Er behauptet für die Kulturen einen strengen Parallelismus des Ablaufes, der überall die gleiche Dauer von rund einem Jahrtausend mit den gleichen typischen Perioden ausfüllt. Für Völker, die durch Jahrhunderte oder Jahrtausende voneinander getrennt leben, bewege sich die Entwicklung daher doch in Gleichzeitigkeiten, jedes habe dieselben Kulturstufen in gleichen Abständen zurückzulegen. Ganz so hat schon Breysig [318] gemeint, daß ein Grieche, der fünf Jahrhunderte vor Christus lebte, mit einem Römer des Jahres 330 nach Christus oder mit einem Deutschen des Jahres 1500 gleichaltrig sei. Dartiber, wie die geschichtlichen Gleichzeitigkeiten begründet seien, lehnt Spengler jede Erklärung ab, er nimmt sie als Gegebenheiten, die sich einer großzügigen Geschichtschreibung darstellen, ohne daß man dem Gesetze ihres Werdens nachgehen könnte. Ihr Ablauf vom gleichen Anfang zum gleichen Ende gilt ihm als so starr bestimmt, daß er zwischen ihnen jede Wechselwirkung und jeden weltgeschichtlichen Zusammenhang leugnet.
Daß Spengler seine kühne Lehre im einzelnen nicht festhalten kann, soll uns nicht weiter beschäftigen, sein starkes Geschichtsgefühl, seine Geschichtswitterung selber hat ihn an vielen Stellen mit seiner Doktrin in Widerspruch bringen müssen. Wir haben seine Darstellung nicht deshalb berufen, um sie kritisch nachzuprüfen, sondern weil sie bei aller ihrer Übertreibung durch die Weite ihrer Anlage uns mitten in die Tatsachen versetzt, die wir nun freilich bei ruhiger Erwägung anders werden zu deuten haben.
Den Gegenstand unserer Untersuchung hat nicht nur die Kulturgeschichte zu bilden, sondern wir haben die volle Völkergeschichte in ihrem Zusammenhange innerer und äußerer Mächte zusammenzufassen. Überall müssen die äußeren Mächte für das Aufkommen der inneren das schützende Obdach bauen, alle Förderungen oder Beeinträchtigungen, die jene erfahren, werden immer im Kulturwerk mitempfunden.
In unserer Darstellung werden wir uns auf die entwickelten Kulturvölker beschränken. Wir lassen die kulturunfähigen wie auch die nur halbkulturfähigen Völkerschaften beiseite; ihr verkümmerter Zustand kann sowenig eine Parallele zur reichen Gliederung einer großen Volksgeschichte geben, wie das Wachstumeiner Pflanze, die den Sommer nicht überdauert, zu dem einer tropischen Riesenkonifere oder eines sagenumwobenen Lindenbaumes. Müssen wir aber nicht auch bei den entwicklungsfähigen Völkern noch den Grad ihrer Anlage unterscheiden ? Wird die Entwicklung von Völkern, die ihre Umwelt so überragten, wie die Griechen und Römer es getan haben, nicht doch nach Dauer und nach Gehalt ihr besonders hohes Maß haben ? Die Chinesen, ein reich ausgestattetes Volk mit einer großen Kultur, die Spengler seinen zehn Weltkulturen beizählt, haben doch auf einer Stufe haltgemacht, die von allen europäischen Völkern überschritten wurde. Die europäischen Völker, zu denen wir die aus Europa eingewanderten Amerikaner mitzählen, haben sich geschichtlich auf die Dauer als die stärksten unter allen erwiesen, und ihre Geschichte reicht deshalb um einige Stufen weiter [319] in die Kulturhöhe hinauf als die der höchststehenden Asiaten. Europäische und asiatische Geschichte verläuft durchaus nicht „synchronistisch"; erst hatte diese eine Raschheit der Entwicklung, hinter der jene weit zurückblieb, zuletzt aber, nach einer Zeit wetteifernden Strebens hat die europäische Geschichte einen Vorsprung gewonnen, den nachzuholen die asiatische kaum mehr Aussicht hat.
Neben der Verschiedenheit der Anlage wird die Verschiedenheit der äußeren Verhältnisse, unter denen ein Volk lebt, ihren Einfluß auf seine Entwicklung nehmen. Ein Volk, das seine Sitze unter der warmen Sonne des Südens hat, reift seine Kräfte rascher aus, ein Volk, das dem nordischen Winter seine Nahrung abgewinnen muß, hat mit seiner schwereren Arbeit länger zu tun, aber wie es den Pflug tiefer in den Boden treiben muß, so wird es in seinem eigenen Inneren tiefere Kräfte aufrühren. Bedeutsamer noch als die äußere Umwelt wirkt die völkische Umwelt. Kein Volk bleibt selbständig auf sich und sein Wesen gestellt, jedes trifft im Laufe seines Werdens immer wieder mit andern zusammen, die es fördern oder hemmen. Das stolze Reich der aztekischen Eroberer in Mexiko wurde durch die spanischen Konquistadoren von seiner Höhe ins Nichts herabgestürzt. Die Not der Übervölkerung hat alle Völker, die noch nicht zur wirksamen Intensivierung ihrer Arbeit fortgeschritten waren, zur Wanderung gezwungen, und die Wanderungen haben die Völker gemischt. Die erfolgreichsten wurden zu mächtigen Herrenvölkern übergeordnet, manche andere, denen es an kraftvollen Auftrieben nicht mangelte, haben im Gemenge ihre Eigenart verloren, die schwächsten wurden zu beherrschten Völkern, ja zu Sklavenvölkern herabgedrückt. Die Geschichte eines Herrenvolkes läuft mit der eines Sklavenvolkes nicht parallel, sie entfernen sich voneinander wie Aufstieg und Abstieg. Selbst ein Volk von der Kraft der Normannen, das auf seinen räuberischen Wanderungen an allen europäischen Küsten Herrschaften begründete, mußte sich der völkischen Umwelt anpassen, in die es eindrang. Die Normannen, die sich in England mit den kräftigen Sachsen verschwisterten, sind zur Weltführung berufen worden, die Normannen in Süditalien waren verhältnismäßig rasch verbraucht. Die Arier, welche Indien eroberten, sind nach allen großen Leistungen schließlich zu Indern geworden, die den Schritt der arischen Kultur Europas nicht mehr einhalten konnten.
Selbst bei sonst gleichen äußeren und inneren Verhältnissen wird der Ablauf der Völkergeschichten immer durch die Ordnung bestimmt, in der sich die Völker geschichtlich aneinanderreihen. Denjenigen Völkern, die mit dem Werke der Staatenbegründung und der Kulturbegründung [320] zu beginnen hatten, war die schwerste Arbeit aufgelastet. Sie wurden auf Stufen verbraucht, über welche die späteren Völker noch mit frischer Kraft hinwegkommen konnten, indem sie das Erbe der geschichtlichen Vorarbeit der früheren antraten und genossen. Hängt der Vorsprung, den die Europäer vor den Asiaten gewonnen haben, nicht vielleicht gerade damit auf das engste zusammen, daß diese bei noch unvollkommener Erfahrung und geringen Mitteln die schwerste Vorarbeit zu leisten hatten und dadurch ihre Kraft vorzeitig erschöpften ? Hätten die Germanen statt der Griechen sich mit den Persern messen und statt der Römer das Weltreich um das Mittelmeer herum aufrichten müssen und wären ihnen sodann die Griechen und Römer mit unversehrter Kraft gefolgt, wer weiß, ob diese nicht die romanisch-germanische Kultur um Bergeshöhe überboten hätten ? Die Erbschaft, welche die Germanen von der Antike für die Arbeit des Mittelalters mitbekommen haben, ist unschätzbar. Mit dem römischen Reiche zusammen ist ein gewaltiger Kulturbesitz untergegangen, das kann nicht bezweifelt werden, aber der Rest, der übrig blieb, hat den Germanen die Arbeit von Zeitaltern erspart. Auf den meisterhaft gebauten Römerstraßeu sind die germanischen Völkerschaften ins römische Reich eingebrochen und sie haben sie, die den Stürmen der Jahrhunderte standhielten, in Krieg und Frieden weiter benützen können, so daß das Straßenelend des Mittelalters erst begann, als die jungen Staaten auf ihre eigene unentwickelte Kunst des Baues beschränkt waren. In den Provinzen, in denen sich die Eroberer ansiedelten, konnten sie Reste der römischen Verwaltung übernehmen, die über alles gingen, was ihre eigene Staatskunst hätte aufrichten können. Sie fanden trotz aller Verheerungen der Wanderungskämpfe noch eine recht zahlreiche Bevölkerung vor, in wohlgebauten Städten mit entwickeltem Gewerbe und Ackerbau, die in gesitteter Ordnung lebte, eine gebildete Sprache redete und dem Christentum schon gewonnen war. Die römische Kirche allein ist für die barbarischen Sieger ein Geschenk des Schicksals, das sie aus ihrer eigenen Kraft sobald nicht hätten erwarten dürfen. Durch die Vermittlung der Germanen, die sich auf römischem Boden festsetzten, ist die römische Vorarbeit dann auch den Volksgenossen zuteil geworden, die ihre Reiche auf altgermanischem Boden gründeten, und in weiterer Folge erhielten auch die Slawen im Osten ihren Anteil am antiken Erbe, das ihnen zu einem andern Teile auch von den Byzantinern und der orientalischen Kirche zukam.
Das hinterlassene Erbe war so groß, daß die Kulturfähigkeit der neuen Völker nicht zureichte, um es auf einmal in sich aufzunehmen. [321] Wie der Sohn, der die Bibliothek seiner Väter als Knabe ererbt, erst nach und nach dazu reif wird, sich in ihre Schätze einzulesen, so hat das Mittelalter die antiken Kulturschätze erst in einer Reihe von Abschnitten seiner Entwicklung ausgeschöpft, die von Karl dem Großen bis auf den Humanismus und die Renaissance reichten und selbst später noch ilire Ergänzung fanden. Freilich dürfen wir die Renaissance nicht, wie ihr Name besagen will, schlechthin als Wiedergeburt der Antike denken. Durch den Eifer der Humanisten belehrt und zur Reife der Empfänglichkeit gelangt, die sie das antike Werk verstehen ließ, haben die Menschen der Renaissance sich diesem mit vollem Schwünge der Seele hingegeben, aber indem sie es auf sich wirken ließen, haben sie es zugleich umgeschaffen. Die Renaissance war eine befruchtende Verbindung antiken und modernen Wesens. Die Menschen der Renaissance haben dies selber nicht gleich erkannt, sie hielten das antike Werk, weil es in seinem Bereiche bis zur Vollkommenheit der Formgebung und der geistigen Durchdringung gediehen war, für schlechthin vollendet, man hat erst später erkannt, daß die Gestalten und Konflikte des modernen Lebens noch zu tief ins Dunkel getaucht sind, als daß sie sich in ruhigen klassischen Rhythmen ordnen ließen. Alle Völker des Abendlandes haben sich vor der Antike geneigt und alle sind durch sie nach mancherlei Schwankungen am Ende ihres eigenen Wesens voller geworden. Warum sind die Humanisten, kaum daß sie ihren Dienst der Belehrung getan hatten, der allgemeinen Geringschätzung verfallen ? Weil sie mit der Zeit nicht mitgehen konnten, die sich selber ausleben wollte. Wenn die Renaissance dem antiken heidnischen Geiste wirklich so ergeben gewesen wäre, wie es den äußeren Anschein hatte, *so hätte die Reformation nicht unmittelbar an sie anschließen können, die ja nicht nur den germanischen Norden in Bewegung setzte, sondern auch die römische Kirche selbst zur Erneuerung an Haupt und Gliedern führte. Ein Ulrich von Hutten hätte ohne humanistische Vorbildung nicht zu sagen vermocht, was er zu sagen hatte, und ebensowenig hätte es die Reformation oder die Gegenreformation vermocht, ohne sie hätte Luther nicht auf die Bibel zurückgreifen können, aber die Reformation wäre doch nicht die Reformation gewesen, wenn Luther nicht zugleich die Kraft und den Drang in sich gespürt hätte, das heilige Original in sein geliebtes Deutsch zu übertragen, und wenn im deutschen Volke nicht die Kraft und der Drang mächtig gewesen wäre, seinen Glauben in seiner eigenen Weise zu bekennen.
Indem die Völker, einander folgend, ihre Werke aneinanderschließen, baut sich der Zusammenhang der Weltgeschichte auf. Die [322] Weltgeschichte ist keine bloße Wiederholung von Völkergeschichten, wie sie es wäre, falls die Lehre von der Gleichläufigkeit der Völkergeschichten ganz ernst genommen werden dürfte. Im weltgeschichtlichen Zusammenhange sind die Völkergeschichten der ersten Perioden in anderer Weise aufgebaut als die der letzten; in jenen sind die früheren Stufen der Entwicklung ausgedehnter und mühsamer, die späteren sind unvollkommener entwickelt oder fehlen ganz, in diesen werden die früheren Stufen rascher überwunden, und die Hauptentwicklung erfolgt auf den späteren. Der letztgewachsene unter den großen Staaten, die Vereinigten Staaten von Amerika, hat seine Geschichte erst begonnen, als die europäischen Staaten bereits eine tausendjährige Geschichte hinter sich hatten und sich auf der Höhe ihrer Entwicklung glaubten. Von der Lebensdauer der Ansiedlungen Neuenglands, die, nach geschichtlichem Maße gemessen, eine kurze Zeitspanne ist, fällt ein Großteil auf die Vorgeschichte, auf das Werk der Besiedlung und der Kämpfe gegen die eingeborenen Indianerstämme, die, an den europäischen Wanderungskämpfen gemessen, zu einer Reihe romantischer Episoden zusammenschrumpfen. Der eigentliche Akt der Staatengründung hat sich, wie vorher überall in Europa, im Kampfe vollzogen, aber der eine Unabhängigkeitskrieg, der sich mit dem europäischen Maße der Staatenkämpfe gar nicht vergleichen läßt, hat genügt, um den Vereinigten Staaten ihre Verfassung endgültig zu geben, das politische Wesen des Amerikaners war damit fertig. Es war eigentlich schon fertig, als die Mayflower ihre Auslese freigesinnter englischer Bürger herüberbrachte, welche die tragende Kraft für ein aufrechtes Staatswesen in sich hatten. Der Kampf «wischen Herrschaft und Freiheit war für diese Männer ausgefochten, als sie den amerikanischen Boden betraten, auch ihr religiöses Wesen war fertig, die amerikanische Verfassung beginnt mit der freien Kirche im freien Staate, die in Europa am Ende einer langen wechselvollen Entwicklung steht. Der Zustrom der Millionen von Einwanderern, die sich sodann dem reichen Lande zuwendeten, hat an dem festgebildeten Typus vorläufig nichts geändert. Die Wanderer sind nicht als Eroberer hereingekommen, sondern als ergebene Bürger, die dem neuen Staatswesen von vornherein ihre Nationalität und ihre Eigenart aufopferten. Wo sind zu alledem die gleichlaufenden Synchronismen in Europa zu finden? Mit Eilschritten ist es dann weiter gegangen. Nicht nur daß der amerikanische Reichtum und die Großzügigkeit der volkswirtschaftlichen Anlagen und der Technik in vielen Punkten Europa überwuchs, was ein Unterschied nur im Maße wäre, so sind im sozialen Typus wesentlich neue Züge ausgebildet worden. Die einheimische [323] oberste Schicht der Arbeiter hat volles Bürgergefühl und ist in ihrer ganzen Haltung dem Bürgertum angenähert, die Frau ist im Volke ganz anders als in Europa respektiert, das Kind wird auf das sorgfältigste gepflegt und gebildet. Damit daß den Amerikanern der Nationalkampf erspart ist, sind sie desjenigen Konfliktes enthoben, welcher Europa zu verzehren droht; die „Vereinigten Staaten“ sind in Amerika eine unangefochtene Wirklichkeit, in Europa sind sie ein vielleicht unerfüllbarer Wunsch. Wie breit und gesichert flutet nicht der Strom amerikanischen Lebens dahin, während die nationalen Kräfte Europas den Gebirgswässern gleich sich über die trennenden Hindernisse hinweg nicht zu finden vermögen! Ob die nationalen Rivalitäten Europas, wenn einmal vor Übermaß bewahrt, nicht dazu helfen werden, die der Menschheit mitgegebenen Kräfte auf das reichste zu entfalten, ist eine Frage, in die wir jetzt nicht eingehen, wir wollen an dieser Stelle nur klar machen, daß die Entwicklung hier und dort überhaupt nicht gleichsinnig verlaufen kann. Amerikanisches Wesen ist ein Ableger europäischen Wesens, der, herüben geschichtlich vorbereitet, auf dem begünstigten Boden drüben in seiner besonderen Weise weitertreibt. Die amerikanische Kultur, wenn einmal in sich vollendet, wird ihren eigenen Typus zeigen, den mit der antiken oder modernen Kultur Europas oder gar mit der ägyptischen, chinesischen oder aztekischen in eine Linie des Ablaufes zu stellen nicht angeht.
Die Unhaltbarkeit der Lehre von den synchronistischen Parallelen läßt sich ganz deutlich machen, wenn man versucht, sie auf die Lebensstufen der Individuen zu übertragen. Kann man alle zehnjährigen Menschen in die gleiche Reihe der Entwicklung stellen oder alle zwanzigoder fünfzigjährigen ? Wieviel Zwanzigjährige verstehen den schmerzlichen Ausdruck des Jünglings, der sich zum großen Führer berufen fühlte, „Zwanzig Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!“ Die große Masse beendet das Wachstum der Jugend in stumpfsinniger Ergebung, ein Tolstoi hat alle Altersstufen bis zum Greisentum mit dem vollen Ungestüm der Jugend durchlebt. Das innere Wachstum, wie es schöpferische Geister in ihren Entwicklungsjahren erleben, kommt dem Werke von Generationen mittlerer Geister gleich. Zwischen dem Schiller der „Räuber“ und dem Schiller des klassischen Weimar liegt eine Distanz, für die im Leben des gemeinen Mannes überhaupt kein Ausdruck zu finden ist. Bei den Völkern sind aber die Triebe des inneren Wachstums nicht minder verschieden wie bei den Individuen. Gewiß werden bei allen gesunden Völkern Entwicklungstendenzen tätig sein, die einander nahe kommen, aber jedes Volk lebt am Ende doch sein [324] eigenes Leben und muß es leben, und in der Besonderheit seines Wesens erhält jedes Erlebnis sein eigenes Maß. Allen Völkern, welche die Weltgeschichte tragen, ist es gegeben, zu gesellschaftlichen Bildungen vorzudringen, die bisher noch nirgends erlebt waren. Dadurch wird die Weltgeschichte zur Entwicklung.
Woran hat man die Entwicklung eines Volkes zu messen ? Es ist ü Iii ich, sie an den Kräften zu messen, wie sie sich aufsteigend, blühend und verfallend aneinander reihen. Wie aber hat man die vielerlei Kräfte des Volkslebens gegeneinander abzuwägen ? Während die einen verfallen, steigen neue zur Blüte auf. Um in das bunte Bild Einheit zu bringen, muß man an irgend einem Werturteil das vergleichende Maß besitzen. Welche Ordnung der Werte hat aber zu gelten ? Die Geschichtschreibung pflegt diejenigen Kräfte am höchsten zu stellen, an deren Walten sich die Erinnerung der Menschen am längsten erhält. Die griechische Kulturkraft, die römische Siegeskraft haben unvergängliche weltgeschichtliche. Spuren gezogen, und die Zeiten, da sie am vollsten blühten, gelten dem Geschichtskundigen darum gerne als die Höhepunkte antiker Geschichte. Der Geistesmensch der modernen Art hält sich namentlich an die Höhepunkte der Kunst; wer sich dem Übermenschen nahe fühlt, hält sich an die Höhepunkte des Übermutes der Lebenskraft. Trotz Cäsar Borgia oder eigentlich gerade wegen Cäsar Borgia ist für Stendhal und seine Gesinnungsgenossen die Renaissance eine der Kulminationen der Geschichte, das Christentum und die Moral des Mitleids sind für sie Erscheinungen des Verfalles.
Solange man aber für die vielen sich kreuzenden Kräfte des Lebens kein gemeinsames Maß oder nur ein so willkürliches Maß besitzt, muß der Gehalt der Geschichte unverständlich bleiben, denn solange muß das geschichtliche Werden für die rückblickende Beobachtung in so viele Sonderbewegungen zerfallen, als es Hauptkräfte im Volke gibt. Die politische Geschichte bleibt von der Religionsgeschichte getrennt und ebenso von der Wirtschaftsgeschichte und von der Kunstgeschichte, die sich selbst wieder in die Geschichte der einzelnen Künste trennt. Es hilft über die innere Trennung nicht hinweg, wenn ein emsiger Geschichtschreiber alles Einzelmaterial zu einer Gesamterzählung vereinigt, der doch das geistige Band fehlen muß. Selbstverständlich muß die Geschichtschreibung damit beginnen, die einzelnen Inhalte des Volkslebens für sich zu verfolgen, und der Spezialist wird immer [325] der unentbehrliche Gehilfe des Universal historikers bleiben, aber dieser muß zum Schlüsse doch alles zusammenfassen und er muß es zu wahrer Einheit zusammenfassen können.
In der Wirklichkeit des Volkslebens gibt es kein bloßes Nebeneinander der Kräfte, und je reicher das Volksleben wird, um so inniger durchdringen sich die Kräfte im Wetteifer des Strebens, einander im Wechsel von Triumph und Niederlage überholend und verdrängend. Ein Volk, das einmal zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist, erlebt seine Geschichte als eine zusammenhängende Einheit. Das Werk einer großen Nation wird sich auf eine breite Front von einzelnen Aufgaben verteilen, aber es zersplittert sich dabei doch nicht, sondern wie der Feldherr seine Truppen immer dorthin vereinigt, wo die Gefahr droht oder der Erfolg winkt, so verschiebt auch die große Nation ihre Kräfte an Führern und Massen immer an die Hauptpunkte der Entscheidung, unbekümmert darum, daß sie vielleicht Vollbegonnenes vorzeitig abbrechen muß — sie wird es zu seiner Zeit wieder aufnehmen, sobald das Gleichgewicht der nationalen Kräfte wieder gewonnen ist. In dem Jahrhundert, das in England der Regierung der Königin Elisabeth glorreichen Angedenkens folgte, wurde das Land von Grund aus aufgewühlt, und der tiefe Ernst der Ereignisse bereitete dem fröhlichen Alt-England das Ende. Das Undenkbare, ereignete sich, da^ der Name Shakespeares fast in Vergessenheit geriet, auf zahlreichen Kulturgebieten war offenbarer Verfall, die Literatur mußte später erst wieder erweckt werden. Es mußte so sein, weil alle andern Interessen vor dem Kampfe zurücktraten, der zwischen König und Parlament um staatliche und religiöse Freiheit geführt wurde. Mit sicherm Instinkt folgte die Masse der Nation, ihre Führer wechselnd, immer demjenigen Führer, welcher gerade der schwersten Not der Zeit zu begegnen hatte, nach dem angestammten König dem nationalen Diktator, nach dem düstern puritanischen Regiment wieder dem angestammten König, und als sodann die Stuarts durch die Liederlichkeit ihres Hofes, durch die unwürdige Unterordnung gegenüber Ludwig XIV., durch erneute Angriffe auf die staatliche und kirchliche Verfassung sich dem Volksgcfühle ganz entfremdet hatten, wandte sich die Masse der Nation endgültig von ihnen ab. Der englische Stolz fügte sich der staatsklugen Führung Wilhelms von Oranien und zuletzt dem fremden hannoverischen Hause, das die protestantische Thronfolge sicherte und unter dem der große Whigadel das Parlament über den König erhob. In all diesem Kreuz und Quer der Entscheidungen wurde aber doch der Unterbau für das weltbeherrschende England der Zukunft fertiggestellt, und was man um der [326] nächsten Entscheidungen willen an andern Interessen versäumt hatte, das konnte zuletzt mit gesammelter Kraft wieder aufgenommen werden.
Wie der tätige Mann, so mißt das vorwärtsstrebende Volk die Kräfte an ihren Wirkungen ab. Die Erfahrung gibt für jede einzelne Wirksamkeit das technische Maß, abschließend empfangen sodann alle Wirksamkeiten, so verschiedener Richtung sie sein mögen, ihr gemeinschaftliches gesellschaftliches Maß im Erfolge, der sich in der Macht mißt, mit der dieser die Herrschaft über die Gemüter gewinnt. Die Macht ist das gemeinschaftliche Maß der gesellschaftlichen Kräfte, im Wettstreit der Kräfte fällt den erfolgreichsten die oberste Macht zu. Der Geschichtschreiber, der die Einheit des gesellschaftlichen Werkes verstehen will, wird sich an die Machtentscheidungen halten. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß in Tausenden von Fällen die äußere Macht und selbst die rohe und roheste äußere Macht siegt. Der Geschichtschreiber hat nicht zu moralisieren, noch sonst Werturteile zu suchen, wenigstens ist das nicht seine nächste Aufgabe. Seine nächste Aufgabe ist Beschreibung, und er hat die Pflicht, mit der Unparteilichkeit des Naturforschers zu beschreiben, er hat uns über die Geschehnisse des Volkslebens jenseits von Gut und Böse zu unterrichten. Gegenüber dem Naturforscher ist er dabei in der begünstigten Lage, daß er in die Zusammenhänge des Völkergeschehens verstehend eindringen kann, während es dem menschlichen Geiste verwehrt ist, in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Geschichte kann so vorgetragen werden und soll so vorgetragen werden, daß der Leser sie begreift. Zwar ist uns im letzten Grunde das Innere des Menschen so geheimnisvoll verschlossen wie die äußere Natur, wir wissen nicht, woher die Kräfte kommen, die uns in Bewegung setzen, wir wissen nicht, von woher der große Mann berufen wird, wenn die Zeit aus den Fugen ist, wir wissen nicht, warum aus den Tiefen der Seele zu gegebener Zeit die Erhebung des Glaubens, das Licht der Gedanken, die Eingebungen des künstlerischen Empfindens hervorbrechen, wohl aber verstehen wir, sobald die Kräfte einmal hervorgekommen sind, daß die Menschen sich ihrer Wirkungen erfreuen und sich ihren Erfolgen unterordnen. Oder um es in aller Kürze zu sagen, wir verstehen das Werden der Kräfte nicht, aber wir verstehen das Gesetz der Macht, in die sich die Kräfte umbilden. Wenn uns der Geschichtschreiber darlegt, wie aus ihren Krafterfolgen die äußeren und inneren Mächte ihre Herrschaft über die Völker gewinnen und wie mit den Kräften die Mächte wechseln, so werden wir seiner Darlegung begreifend folgen. An der Folge der geschichtlichen Mächte verstehen wir den Sinn der Geschichte, mag er auch nicht [327] selten von abstoßender Rauheit sein. Auch der Kulturmensch von heute hat ja von der Wildheit der menschlichen Leidenschaft noch genug in sich, um den Wildheiten der Völkergeschichten nachfühlen zu können.
Der Universalhistoriker hat die zusammenfassende Aufgabe, die ihm gestellt ist, damit gelöst, daß es ihm gelingt, alles Einzelmaterial zu vereinigen, um die großen Zusammenhänge der Macht darzustellen, wie sie in der Volksgeschichte und sodann gesteigert in der Weltgeschichte zutage treten. Hier wie dort ordnet sich die Entwicklung im Sinne eines Kreislaufes. Man erkennt diese Bewegung leichter in dem engen Rahmen der Volksgeschichte als in dem weiten der Weltgeschichte. Wir wollen darum damit beginnen, den geschichtlichen Kreislauf der Macht im Volke darzulegen.
Jedes Volk dehnt sich im Fortschreiten aus, sei es, daß die Zahl der Bürger sich aus den Überschüssen der Geburten vermehrt, sei es, daß es in seinem Wachstum andere Völker in sich aufnimmt. Die römischen Patrizier haben endlich der Plebs das volle Volksrecht einräumen müssen, das römische Volk hat sich die Latiner und die andern nahverwandten Völkerschaften Mittelitaliens als Bundesgenossen zugesellt, denen es zuletzt das Bürgerrecht nicht mehr vorenthalten konnte, es hat Bürgerkolonien draußen angelegt und einzelne Städte und Landschaften mit Bürgerrecht bedacht, die Reichsverfassung von Cäsar und Augustus hat der kaiserlichen Regierung die Sorge für die ganze Bevölkerung des weiten Reiches zur Pflicht gemacht, zuletzt hat Caracalla das Bürgerrecht, das freilich längst entwertet war, allen Freien des Reiches zugesprochen. Jede derartige Erweiterung des Volksrahmens wird auch die Bahn für den Kreislauf der Macht erweitern und wird die Spannung der bewegenden Kräfte steigern.
Der Prozeß des Kreislaufes der Macht wird im Volke durch zwei Antriebe in Bewegung gesetzt. Der erste geht von den Führern aus, der andere von der Masse. Der erste hebt im Akt der Überschichtung eine dünne Schicht von Führern zur Herrschaft empor — Führerpersonen, Führerstände und Klassen, Führervölker — , deren Druck die Masse mehr oder weniger und mitunter bis in die äußerete Tiefe hinabdrängt. Im zweiten Akt wirkt bei der Masse ein Trieb, der sie nun ausgleichend emporhebt; die alten Führungen werden abgetan oder sie müssen sich volkstümlich wandeln, weil sie das Gesetz der kleinen Zahl nicht mehr in der alten Strenge aufrecht erhalten können, sobald die Masse in der [328] Ordnung des Lebens, die sie durch die Sicherheit des herrschaftlichen Wesens genießt, ihre Kräfte an neuen Werken entwickelt hat und nun auch das Gewicht ihrer Zahl geltend machen kann. Die Überschichtung der Führungen wird zunächst vorwiegend durch äußere Kraft bewirkt, in deren Gefolge nachher aber auch reiche innere Kräfte aufgeschlossen werden, auch der Aufstieg der Massen ruht zu einem Teile auf äußeren Kräften, den Ausschlag geben aber die inneren Kräfte, wie sie die gesunde Arbeit weckt und erzieht und wie sie der Bürger im Wachstum seiner Bildung gewinnt. Aus der inneren Kraft der Massen sind die tragenden Mächte bereitet, die den herrschenden Mächten der Oberschicht Widerstand leisten und im weitern Aufstieg zur Beteiligung an den herrschenden Mächten führen.
In dem engen Rahmen des griechischen Stadtstaates ist der Prozeß des Kreislaufes gut zu überblicken, der sich hier in einer verhältnismäßig einfachen Bewegung vollzieht; der helle griechische Geist hat ihn denn auch deutlich erkannt, Polybius hat ihn auch schon mit seinem richtigen Namen als „Kreislauf der Verfassungen“ bezeichnet. Die griechischen Stämme haben sich bei ihren Wanderungskämpfen der Führung von Königen unterworfen, die das ununterbrochene Geschäft des Krieges an die Spitze berief. Die Hauptlast des Kampfes wurde von einer begüterten Adelsschicht getragen, die in schwerer Rüstung zu Felde ging; ihre Mitglieder waren nebst dem König die Höchstberechtigten im Volk. Sobald die Wanderungskämpfe zur Ruhe gekommen waren und die feste königliche Führung im Kriege nicht mehr gefordert war, erwies sich die gesammelte Macht des Adels der des Königs überlegen und der Monarchie folgte die Oügarchie. In einem Volke von der Begabung der Athener konnte sich diese gegen die Masse der freien Bürger nicht halten, die zum Kampfe mit herangezogen werden mußten und die am Werke der Kultur mittätig waren, welches dem Staate seine innere Größe gab. Zuerst war es ein Tyrann, der als Volksführer auftrat, nachher setzte sich die reine demokratische Form durch, mit der es aber doch vereinbar war, daß ein Führer von der Größe eines Perikles der tatsächliche Leiter des Staates war. Im Sinne des Polybius wird der Kreislauf der Macht dadurch geschlossen, daß die demagogische Entartung wieder den Monarchen an die Spitze ruft. Übrigens war der Fall Athens nicht so sehr durch seine demagogische Entartung verschuldet als durch die rücksichtslose und, wenn man will, oligarchische Behandlung seiner Bundesgenossen, die von den Athenern fast wie Untertanen beherrscht wurden und die von ihnen abfielen, sobald sich im Peloponnesischen Kriege der Sieg den Spartanern zuwandte.
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Die Geschichte Roms ist dadurch lehrreich, weil sie uns zeigt, wie der Kreislauf, der sich zunächst im engeren Volksrahmen schon zu schließen strebte, durch die fortschreitende Erweiterung des Rahmens des Reiches immer wieder neu aufgerührt wurde. Fürs erste hat sich in der Entwicklung zum Königtum und vom Königtum zur Herrschaft der Patrizier und zum Aufstieg der Plebs die Bewegung ähnlich vollzogen wie in Athen, nur daß der Aufstieg der Plebs nicht zur vollen Demokratie leitete, da dem Adel, dem patrizischen wie dem hinzukommenden plebejischen, wichtige Vorrechte der Führung überlassen blieben, deren Träger der Senat war. Es mag dies durch den römischen Nationalcharakter zu erklären sein, dem es gegeben war, zu gehorchen, um zu herrschen, es mag aber auch daraus zu erklären sein, daß das römische Volk, von Kampf zu Kampf vorwärtsschreitend, seine Verfassung mehr als die Athener der strengen Anlage der Militärverfassung anzupassen hatte. Bei der ununterbrochenen Erneuerung der Kämpfe versank die Masse der Plebejer in proletarisches Elend und mit den Römern zusammen auch die Masse der Italiker, während neben dem alten Adel, von dem die besten Männer auf den Schlachtfeldern und durch die Proskriptionen der Bürgerkriege ihr Ende fanden, eine neue Schicht von kapitalistischen Optimaten erhoben wurde, die sich durch Ausbeutung der Provinzialen und an staatlichen Pachtungen und andern großen Unternehmungen bereicherten, ein Ergebnis der Entwicklung von Staat und Wirtschaft ins Große. Dann geriet das ganze Volk samt dem alten Adel und den neuen Reichen unter die Herrschaft der Cäsaren, die durch die Weite des Weltstaates gefordert war, auf welchen die alte Stadtverfassung nicht mehr paßte und zu dessen Verteidigung die erschöpften Kräfte der römischen Bürgerhecrc und der italienischen Bundesgenossen nicht mehr auareichten. Auch nachdem man auf jede fernere Erweiterung des Reiches verzichtet und sich auf die Verteidigung der gewonnenen Grenzen eingerichtet hatte, nahmen die Kämpfe kein Ende, weil man die unausgesetzten Angriffe der Barbaren abzuwehren hatte. Unter diesen Umständen war der siegreiche Feldherr der Herr der Lage, der mit geworbenen Legionen die Feinde abwies und durch den Sieg die Macht des Erfolges gewann. Unter den kräftigen und pflichterfüllten Kaisern des zweiten Jahrhunderts von Trojan bis Mark Aurel blühte in der Weite des Reiches Wohlstand und Bildung, die Kraft der Masse war im Aufstieg und der Kreislauf schien sich in dem breiten Rahmen schließen zu wollen, innerhalb dessen sich die durch das Römerschwert unterworfenen Völker in römisch -griechischer Kultur zu einigen begannen; ungleich erfolgreicher sollte es für die Menschheit noch werden, [330] daß der Frieden des Weltreiches den Boden für den Aufstieg der Friedensinacht der christlichen Weltreligion bereitete. Gegenüber dem Ansturm der Barbaren mußte aber immer noch das Schwert gebraucht werden und deshalb hatten die Militärkaiser weiter zu gebieten. Da mit dem Ernst der Kämpfe die Spannung ihrer Macht sich steigerte, nahm das Kaisertum immer mehr die despotischen Formen des Orients an, das Volk verfiel aufs neue. Die Römer waren darin klüger und erfolgreicher gewesen als die Athener, daß sie sich mit ihren Bundesgenossen enger zusammengeschlossen hatten, ihr staatlicher Sinn reichte aber doch auch nicht dazu aus, daß sie alle unterworfenen Völker sich als treue und kampfbereite Bürger hätten verbinden können. Der Gedanke, auch die ungeheure Zahl der Unfreien zur Freiheit emporzuheben, Lst weder dem griechischen noch dem römischen Geist nahe gekommen. Den Kreislauf der Macht für diesen weitesten Rahmen zu schließen, war erat den folgenden Zeitaltern beschieden, die durch die Vorarbeit begünstigt waren, welche das Zeitalter der Antike geleistet hatte.
Von den asiatischen Völkern hat keines den Kreislauf so weit durchmessen, daß es wieder zu der Freiheit zurückgefunden hätte, mit welcher der herrschende Stamm die Bewegung begonnen hatte. Die Freiheit, in der die starken Stämme des Anfangs aufgewachsen waren, ist den Kämpfen zum Opfer gefallen, durch welche die weiten Reiche Asiens ausgedehnt wurden, und darum ist Asien, alles in allem, im Despotismus stecken gebüeben. Auch im Europa des Mittelalters wurde der Rücklauf zur Freiheit des Anfangs in keinem einzigen der großen Staaten vollendet. Vielleicht darf man von den bäuerlichen Kantonen der Schweiz sagen, daß sie Stätten der Vollfreiheit geblieben sind; sie sind nie so recht der Überschichtung ausgesetzt gewesen, die Spannungen von Macht und Unmacht waren in ihren engen Verhältnissen nie so stark, niemals hat sich bei ihnen eine Herrschermacht von der Gewalt erheben können, wie bei den Völkern, die im Großen der Staatenkämpfe und der Entwicklung der Wirtschaft standen. Daß auch bei denjenigen Völkern Europas, die den großen Kämpfen ausgesetzt waren, die Militärfürsten schließlich dem demokratischen Wesen Raum geben mußten, ist ein Zeugnis für die unvergleichliche Lebenskraft dieser Völker, deren Massen nach allem Druck der Geschichte noch stark genug waren, um wiederum aufzusteigen, so daß die Freiheit überall als Recht verkündet werden konnte. Was noch fehlt, um dem Buchstaben des Rechtes vollen Gehalt zu geben, wollen wir hier nicht weiter untersuchen, wir begnügen uns, das eine festzustellen, daß alle [331] Völker Europas den geschichtlichen Kreislauf der Macht soweitbeenden konnten, daß sie sich mit dem stolzen Namen der Nation bezeichnen durften, in welchem Namen ausgesagt ist, daß sie sich in ihrem großen völkischen Verband wieder so nahe und so frei als Genossen verbunden fühlen, wie in den engen Stammes verbänden ihrer geschichtlichen Anfänge.
Und was ist nun der Sinn, über den uns die Erkenntnis des Kreislaufes der Macht im Volke belehrt? Haben wir im Kreislauf der Macht im Volke nicht ein sinnvolles Gesetz wenigstens für jene Völker gefunden, bei welchen sich der Kreislauf vollendet ? Bei diesen Völkern vereinigen sich alle gegebenen Kräfte in höchster Entfaltung zum Zustande gesunden gesellschaftlichen Gleichgewichtes. Erst bemächtigt sich eine herrschende Oberschicht der Massenkräfte, die sie zum höchsten Erfolge für sich zu ordnen sucht, dann werden im Prozesse der Wandlung der Macht und des Massenaufstieges die Spannungen zwischen Führung und Masse ausgeglichen und es wird der höchste Erfolg für die Gesellschaf t im ganzen gewonnen. Dies das einfache Schema der Bewegung, das durch die Vielheit der wirkenden Kräfte und die Erweiterung des gesellschaftlichen Rahmens auf das mannigfaltigste abgewandelt wird.
Durch die Folgerichtigkeit ihres Ablaufes mutet die Bewegung so geschlossen an, daß der Beobachter unwillkürlich geneigt ist, sie auf eine einheitliche treibende Tendenz zurückzuführen. Von dieser Täuschung muß man sich freihalten. Die Kräfte, mit denen die Herrenschicht emporkommt, sind wider die Masse gerichtet, und ebenso sind die Kräfte, mit denen die Masse Widerstand leistet und sodann ihrerseits aufstrebt, wider die Herrenschicht gerichtet und erst, wenn es zuletzt zum Ausgleich kommt, finden sich die Bestrebungen der beiden Teile zusammen. Und wie ließe sich gar die Annahme einer einheitlichen Tendenz für diejenigen Völker denken, die der Entwicklung überhaupt unfähig oder nur wenig fähig sind und darum bei den primitivsten Zuständen stehen bleiben ? Und wenn wir nun vorausgreifend in diese Betrachtung, die zunächst dem Volke für sich gelten soll, auch die Fälle des Zusammentreffens der Völker aufnehmen, wie ließe sich da die Annahme einer einheitlichen Welttendenz mit der Tatsache vereinigen, daß die Völker sich in ihren Kämpfen bis zur Vernichtung widerstreben ? Totila, der glänzende Gotenheld, samt seinem an der Spitze der Germanen schreitenden Volk ist vor dem Eunuchen Narses und seinen aus [332] der Hefe der Völker geworbenen Söldnern zusammengebrochen. Solcher Ereignisse, die wir fast als Fehlgriffe des weltgerichtlichen Urteiles der Geschichte empfinden, gibt es im Völkerleben genug, geradeso wie das persönliche Leben von Ereignissen voll ist, bei denen der Gerechte zum Schaden kommt und das Laster siegt, ohne daß es nachher noch zum irdischen Ausgleich käme. Vor solchen Tatsachen müssen wir zufrieden sein, feststellen zu können, daß doch genügend viele Völker von zureichender Kraft am geschichtlichen Werke sind, um die Erfolge im ganzen aufs höchste zu steigern, und daß alles in allem die gesunden Völker in ihrer Kraft doch genügend ausgegüchen sind, um den Kreislauf in einem befriedigenden Gleichgewichtszustand zu vollenden. Trotz der vielen Opfer, die ohne ihre Schuld auf dem Wege fallen, empfangen wir doch den Eindruck einer unaufhaltsamen Bewegung des Ganzen der Gesellschaft, durch die der im einzelnen Fall als unbillig empfundene Schaden wieder ausgeglichen scheint. Freilich, wenn wir erklären sollen, was mit dem „Ganzen der Gesellschaft“ gemeint sei, so müssen wir zugestehen, daß wir die Antwort mit wissenschaftlicher Strenge nicht mehr geben können. Im Grunde teilen wir auch damit die Täuschung, von der eben die Rede war, indem wir der Menschheit eine Einheit und eine Aufgabe zuteilen, von der die handelnden Menschen selber nichts wissen. In dieser Annahme ist das Wirken einer übermenschlichen Kraft vorausgesetzt, welche mit den Menschen als mit ihren Geschöpfen waltet, wir müssen uns klar sein, daß eine solche Annahme aus dem Gebiete strenger Wissenschaftlichkeit ins Religiös Transzendente hinübergreift.
Das Weltformat der Geschichte beginnt mit den Weltreichen, die auf den weiten Räumen Asiens begründet wurden. Die Gestalt des Bodens, auf dem sich die Menschen ansiedeln, muß ihren Einfluß darauf haben, ob die Ansiedlungen näher oder weiter zueinander liegen und ob sie lose oder enger miteinander verbunden sind, und wird daher immer auch in der Ausdehnung der staatlichen Verbände zur Geltung kommen. Wäre das bewohnbare Land überall so in kleine Inseln zersplittert wie in der Südsee oder überall so in abgeschlossene Gebirgstäler getrennt wie in der Schweiz, so hätten größere Reiche nirgends entstehen können. Europa zeigt nur in dem ausgedehnten Tiefland seines Ostens asiatische Weiträumigkeit, und dort ist denn auch das russische Weltreich gegründet worden, das so viel von asiatischem Charakter hat. In Asien, [333] dem Mutterboden der Völker, sind die weiten Gebiete Chinas, Hochasiens und Indiens nach außen hin durch natürliche Grenzen so geschützt und im Innern so in sich verbunden, daß wir es verstehen, wenn der Expansionstrieb der Macht diese Gebiete mit einheitlichen Staatsbildungen ausfüllte. Das fruchtbare Stromgebiet des Euphrat und Tigris mußte die Bergvölker und Wüstenvölker, die es umschließen, dazu verlocken, um seinen Besitz Kriege zu führen, die den Sieger zum Herrn der vorderasiatischen Welt machten. Dennoch ist man auf falschem Wege, wenn man aus der Betrachtung der Bodengestaltung allein den Lauf der Geschichte ableiten wollte. Erdkunde ist noch nicht Weltgeschichte. Die treibende Kraft des geschichtlichen Werdens ist der Mensch, dem der Boden Hilfe oder Hemmung sein wird, je nachdem seine eigene Kraft gereift ist. Fluß und Meer waren den Menschen lange Zeit unübersetzbare Hindernisse, später wurden sie die Straßen des großen Verkehrs, und am Ende verband das Weltmeer die Welten. Die Indianer Zentralamerikas, die schon zu Völkern entwickelt waren, konnten das mächtige Reich von Mexiko errichten, während die Jägerstämme Nordamerikas dazu unfähig waren, sich auf dem ungeheuren Gebiete staatlich zu einigen, das die geschichtlich zum Staate erzogenen europäischen Einwanderer als den gegebenen Boden für das Weltreich der Vereinigten Staaten erkannten. Auch im westlichen und südlichen Europa haben die Römer mit ihrer überlegenen Kraft über alle Hindernisse des Bodens hinweg sich das vielzerklüftete Land unterworfen; daß in der ganzen folgenden Geschichtszeit die Abschnitte des Landes hier zugleich die Abschnitte für Volk und Staat geblieben sind, kann daher nicht durch die Beschaffenheit des Landes allein verursacht sein, sondern man muß die letzte Erklärung dafür in der Anlage der Völker erkennen, die sich liier ansiedelten. Es war dies eben eine Auslese von Völkern, welche die Kraft besaßen, auf ihren langen Wanderungen von Asien her bis zum äußersten Europa sich in Kampf und Wirtschaft aufrechtzuerhalten und zuletzt noch der Römer Herr zu werden und sich in deren Kultur einzuleben. Stark wie sie waren, reichten die natürlichen Verteidigungslinien, die ihnen das Land bot, dazu aus, um sich der Übermassen der Araber, Mongolen und Türken zu erwehren, und in weiterer Entwicklung brachten sie es zuletzt dahin, daß sie die Gunst ihrer Küstenentwicklung ausnützen konnten und das freie Meer bemeisterten, auf dem sie ihre siegreichen Waffen in die Welt trugen.
Vom sibirischen Norden abgesehen, war der weite Boden Asiens zu seinem größten Teile durch Fruchtbarkeit und Gunst des Kümas bevorzugt, und da die Völker, die sich auf ihm ansiedelten, zur Arbeit [334] geschickt und willig waren, so konnten hier die Menschen zuerst zu Staat und Kultur fortschreiten und konnte sich hier zuerst die geschichtliche Tendenz ins Große entfalten. Die grundlegende geschichtliche Arbeit ist in Asien getan worden, von wo die Fäden der Überlieferung überallhin weitergeaponnen wurden, wohin die Macht des Erfolges wirkte. Die Völker jeder Zeitperiode haben wir uns in reger Mitarbeit zu denken, soweit die Macht des Erfolges das Hindernis der Distanz überwinden konnte. Wie die zurückgebliebenen und die späteren Völker von ihren Vorgängern, so lernen die zeitgenössischen, die am gleichen geschichtlichen Werk tätig sind, wechselseitig voneinander; wie für die Individuen, so gilt es auch für die Völker im ganzen, daß das Interesse am Werk der stärkste Anreiz zur Nachahmung der erfolgreichen Leistung ist. Wie die Flüssigkeit im Raum, so kommunizieren die Ideen in den Geistern der Völker, die sich berühren; Völker, die staatlich voneinander getrennt sind, vereinigen sich dadurch zu ausgedehnten Völkerwelten der Kultur. Je genauer die Geschichtsforschung uns das Geistesleben der asiatischen Blütezeit erkennen läßt, um so bewunderungswürdiger erscheint uns der Reichtum an inneren Mächten, von dem die Völker jener dahingegangener Jahrtausende erfüllt waren. Zuletzt wurden die Völkerwelten Asiens zu den Weltreichen ausgestaltet, deren Aufrichtung die Weiträumigkeit Asiens ermöglichte, gerade diese Aufrichtung bereitete aber wiederum in weiterer Folge der Entwicklung das Ende. In den ungeheuren Kämpfen, die um sie geführt werden mußten, wurde die Überschichtung der Herrenmacht überwältigend und die Massen wurden hoffnungslos erniedrigt. Mochten sie auch die Gelegenheit zu friedlicher Arbeit finden, so war es doch mit ihrer Freiheit aus und daher auch mit der Kraft zu ausgleichender aufsteigender Bewegung. Die Volksvermehrung, der die gesicherte Arbeit die Bahn eröffnete, steigerte nicht, sondern sie minderte die Kraft der Massen, denn sie setzte die erreichbare Nahrungsquote und den Lebensmaßstab in einem Grade herab, bei dem die Kraft erschöpft wurde. Entwaffnet und des Kampfes entwöhnt, waren die Massen den despotischen Herrschern ausgeliefert und wurden die Beute der kriegerischen Stämme, denen es gelang, über die Grenzen einzubrechen und die herrschenden Dynastien und Geschlechter zu überwinden. Wie in Ägypten, folgte in China eine Dynastie der andern in der Herrschaft über das stets unterwürfige Volk, in Indien machten sich arische Stämme und machten sich die Mongolen von außen eindringend zu Herren. Es mochte sein, daß die Eroberer Kraft zu neuer Kultur mitbrachten, wie dies für die arischen Eroberer und ebenso für die [335] Araber gilt, die den Islam verbreiteten und die griechische Kultur, die sie vorfanden, weiterbildeten, auf die Dauer aber konnte keines der Siegervölker dem Schicksal entgehen, mit der stille stehenden Masse stille zu stehen. Das Schlimmste ist dort geschehen, wo die Eroberer nur die Kraft zur Zerstörung besaßen. Der Siegeszug der Tataren hat blühende Gebiete Asiens güterarm und menschenarm gemacht, selbst die Türken waren doch nur ein Volk von Kriegern, dem der Trieb zur Kultur kaum mitgegeben war. Auch die kleineren Volkssplitter, die sich zwischen den großen Reichen noch erhielten, waren in den ewigen Kämpfen um ihre Kraft gekommen und fristeten sich in dürftiger Wildheit als Steppenvölker oder als Bergvölker, verkümmert wie ihre Fluren oder verkarstet wie ihre Berge. Bloß auf den Inseln Japans wohnte ein Volk, das sich der gleichen Absonderung erfreute, wie die Völker des Abendlandes, und daher wie diese davor bewahrt war, im Wirbel der asiatischen Massen mit unterzugehen.
Die kräftigen Stämme und Völkerschaften, die ins engräumige Europa gewandert kamen, konnten sich, den Fluten des asiatischen Völkerlebens entrückt, ihre Frische, und Freiheit unverkümmert erhalten. In ihrer Absonderung ist ihre Entwicklung erst spät in Fluß gekommen, so daß sie in der Lage waren, von der Arbeit Asiens reichen Vorteil zu ziehen. Sie haben das Erworbene durch ihre Mitarbeit noch reicher gemehrt. Was hat der Wetteifer der griechischen Städte nicht an Kräften gereift! Was haben die Römer nicht von den Griechen gelernt! Als das römische Weltreich sich ausbreitete und sein Kaisertum dem orientalischen Vorbild folgte, schien es, daß auch Europa das Schicksal Asiens teilen werde, doch die Lebenskraft der noch unverbrauchten Völker hat es dazu nicht kommen lassen. Die Römer machten vor den barbarischen Kernvölkern der Germanen und der Szythen halt, bis zuletzt die Barbaren das weströmische Europa durch ihre unversehrte Kraft überwanden. Das Weltreich zerfiel nach Maß seiner Bodengestaltung in Volksreiche, die sogar noch weiter in Stammesherrschaften und Landeshoheiten zerfielen. Europa war in seinen staatlichen Bildungen gegen Asien wieder in das Verhältnis zurückgeworfen, in welchem es sich vor den Griechen und Römern befunden hatte. Was an äußerer Macht verlorengegangen war, wurde jedoch nach und nach in steter Arbeit durch innere Mächte ersetzt, deren Grundlage in der Kirche gegeben war, die mit zum römischen Erbe gehörte. Die staatlich zerrissene Welt war durch das Band der Kirche geeinigt; seiner weltlichen Macht beraubt, war Rom dennoch die Hauptstadt des Abendlandes geblieben, und die geistige Macht, die von ihm ausging, war [336] dauernder und eindringlicher als die des staatlichen Koni gewesen war. Erst der menschliche Sinn des Christentums hat den Namen des Volkes ganz wahr gemacht, dem bei den freiesten Völkern des Altertums sein voller Gehalt fehlte, weil nirgends die Massen der Unfreien und Halbfreien dem Volkstum zugezählt waren. Das römische Volk war nur ein enger Ausschnitt aus dem Ganzen der Bevölkerung des römischen Reiches gewesen, die Massen haben ihre Erhebung zum Volke dem Christentum und der Kirche als dessen Organisation zu danken. Niemals vorher hat es eine innere Macht gegeben, die eine gleich großartige aufsteigende Bewegung der unteren Schichten bewirkt hätte.
Von nicht minderem Belange war das Werk, das die Kirche für das Verhältnis der christlichen Völker zueinander getan hat. Die Kirche hat die Völker des Abendlandes zu einer Völkerwelt vereinigt, die an Innigkeit der Verbindung alle vorausgegangenen Völkerwelten weit überbot, der Buddhismus hat die asiatischen Weltreiche lange nicht im gleichen Grad einander angenähert. Der Kulturbegriff Europa ist durch die Kirche begründet worden. Obwohl die Kämpfe von Christen gegen Christen nicht endeten, so haben sie doch jene Wildheit abgestreift, die in den Kämpfen der Christen gegen Ketzer und Ungläubige immer hervorbrach, sie waren durch eine mildere Sitte geregelt, in der wir die Vorbotin des kommenden Völkerrechtes erkennen. Wie nahe die abendländischen Völker einander durch die Kirche verbunden waren, dafür gibt die Periode der Kreuzzüge den Beweis, zu denen sich die Mannheit und selbst die Kindheit von allen Staaten her unter päpstlicher Führung zusammenscharte. Auch nachdem die Kirche aufgehört hatte, die Beherrscherin der Geister zu sein, hat die europäische Völkerwelt an Innigkeit nichts verloren. Die Völker haben sich zu Nationen vertieft, und die Nationen haben, während jede ihre Eigenart bewahrte, doch in gemeinsamer Fühlung den Weg der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Arbeit, der Freiheit und der Demokratie fortgesetzt.
Zwischen den asiatischen Weltreichen und der europäischen Völkerwelt gingen durch Vorarbeit und Mitarbeit die Verbindungen ununterbrochen hin und her. Dies gilt insbesondere für den nahen Osten, aber auch von Indien und selbst vom entfernten Land der Mitte drangen unmittelbar oder mittelbar allerlei Einflüsse herüber. Indien war über Ägypten und die Levante von altersher mit Europa durch Handelsstraßen verbunden. Ohne uns bei den Kulturwirkungen aufzuhalten, in denen die asiatische Vorarbeit dem Abendland zugute kam und die von diesem auch wieder zurückgingen, wollen wir nur in aller Kürze die [337] Machtverschiebungen überblicken, die durch kriegerische Zusammenstöße verursacht wurden.
Dem Europa der Antike haben die asiatischen Weltreiche wenig Raum abgewonnen, die Perser sind über den Widerstand der Griechen und Szythen nicht hinweggekommen. Die größte Gefahr drohte dem antiken Europa, seit die asiatische Macht sich im Süden bis nach Karthago vorgeschoben und dort einen Stützpunkt gefunden hatte, von dem aus sie ihre Überlegenheit zur See geltend machen und überdies aus den kriegerischen Völkern Nordafrikas und Spaniens die tapferen Truppen werben konnte, mit denen Hannibal in weitausgreifender Umgehung über die Alpen herüber ins Herz von Italien einbrach. Der römische Freiheitemut hat auch diese Gefahr bestanden. Schon vorher war in Mazedonien der starke Staat begründet worden, der sich die griechischen Stämme einordnete und durch dessen Kraft Alexander das persische Reich zu einer europäischen Herrschaft umwandelte. Auch diesem großen Sieger gelang es nicht, so wenig es andern asiatischen Weltherrschern gelungen war, dem Weltreiche, das er erobert hatte, noch ein zweites in Indien anzugliedern. Sogar seine persische Eroberung wurde unter seinen Feldherrn aufgeteilt, die innere Macht des griechischen Geistes war aber so stark, daß auch in den getrennten Despotien, die sich bildeten, das Griechentum den nahen Orient beherrschen konnte. Entscheidender noch war der Rückschlag vom Westen nach dem Osten, als die Römer sich ausbreiteten, auf Jahrhunderte hinaus wurde nun das vordere Asien von Europa aus regiert, erst von Rom selbst und sodann von Byzanz.
Nach dem Untergange Roms haben die jungen barbarischen Völker Europas gegen die asiatischen Weltreiche geringere Widerstandskraft gezeigt, die Araber und Sarazenen sind tief in den Süden Europas vorgedrungen, die Mongolen in den Osten, die Türken in den Südosten. Die Besetzung des heiligen Landes durch die Kreuzfahrer war eine rasch vorübergehende Episode, die festgefügten Herrschaften des Orients erwiesen bald wieder ihre Überlegenheit über das staatlich noch unfertige Europa, das sich nur in einer Aufwallung des religiösen Geistes in den Kreuzzügen zusammengefunden hatte. Es brauchte Jahrhunderte der staatlichen Festigung, bis man die asiatische Gefahr nicht mehr zu fürchten hatte. Nachdem der letzte türkische Angriff vor den Mauern von Wien zurückgeschlagen war, ergoß sich dann endlich die gereifte Kraft des Abendlandes über das stillestehende Asien. Die österreichischen Heere drängten die Türken aus Ungarn zurück, um vieles weiter rückten die Russen gegen die Türken und dann in den sibirischen Osten vor. Die [338] große Entscheidung fiel zur See. Der Fortschritt, den der europäische Geist in der wissenschaftlichen Technik gewonnen hatte, machte das Weltmeer zur Bahn der europäischen Expansion. Die alte Welt Asiens wurde zu einem großen Teil unterworfen, die neue Welt Amerikas und Australiens wurde besiedelt, das kleine Europa gewann sich die Vorherrschaft über die Welt. Erst im fernsten Osten konnten die Japaner, die Europäer Asiens, dem Vordringen der Russen Halt gebieten.
Die Teilung der Welt ist, da sie über die See erfolgte, naturgemäß Sache der seefahrenden Nationen geworden. Venedig und Genua, die Seestädte des Mittelmeeres, konnten nicht mehr Schritt halten, sie schieden aus der Reihe der Seemächte aus; es waren die Spanier und Portugiesen, die Holländer und Engländer, die Franzosen und ganz zuletzt auch die Deutschen, die über die Völker der warmen Zonen ihre koloniale. Herrschaft ausbreiteten, in den gemäßigten Zonen durch Auswanderung aus dem Mutterlande Kolonien schufen und sonst die Welt in Interessensphären aufteilten. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten gingen die amerikanischen Kolonien den Europäern fast ganz verloren und die englische Staatsklugheit gewährte seither den überseeischen Dominien weitgehende Selbständigkeit. Die Vorherrschaft Europas in der Welt war dadurch beträchtlich eingescliränkt, die Vorherrschaft des europäischen Blutes, die europäische Vorherrschaft im weiteren Sinne, wurde dagegen außerordentlich erweitert, denn die amerikanischen Staaten der gemäßigten Zone nahmen die großen Ströme von Auswanderern in sich auf, die sich nun auch aus dem inneren Europa ergossen. Damit war den Europäern, die in ihren Heimatländern durch den Zwang des Bevölkerungsgesetzes gehemmt waren, die Freiheit gegeben, sich in den jungfräulichen Geländen der neuen Welt im raschen Zuge zu vermehren, der Anteil europäischen Blutes an der Gesamtziffer der Menschheit wurde daher ansehnlich gesteigert und die europäische Vorherrschaft mußte fester gesichert sein, weil sie auf eine breitere völkische Unterlage gestellt wurde. Eifersüchtig wahrte die amerikanische Vormacht der Vereinigten Staaten den eigenen Kontinent gegen den Einfluß Europas, dagegen ließen die Amerikaner die Vorherrschaft Europas in den andern Kontinenten noch gewähren. Die Vereinigten Staaten haben bisher nur den einzigen Vorstoß nach den Philippinen gemacht und in dem ihnen nächstgelegenen China ihre Interessen gewahrt.
Das kleine Europa hat die Vorherrschaft über die Welt zunächst durch die Überlegenheit seiner Waffen gewonnen, aber es hatte bei der so viel geringeren Zahl seiner Menschen die Überlegenheit seiner Waffen [339] im Grunde der Überlegenheit seiner Kultur zu verdanken, zu der es seine geistige und gesellschaftliche Freiheit emporgehoben hatte. Die europäische Vorherrschaft in der Welt ist der Triumph der aufsteigenden inneren Mächte über die Überschichtung der Gewalt, der Triumph der freien Völkerwelt über die herrschaftlichen Weltreiche, der Triumph der Freiheit über die Despotie. Die aufstrebende innere Macht Europas war von solcher Expansionskraft, daß sie über Raum und Zeit hinweg schließlich in gewaltiger Bewegung den Kreis der Weltgeschichte an seine ersten Ansatzpunkte wieder zurückzuführen vermochte. Der Trieb ins Große, der seine Vorarbeit in den Kulturländern Asiens begonnen hatte, hat sich wieder zu ihnen zurückgewendet und hat sie in den Wcltverband eingeschlossen, der sich von Europa aus über die alte und über die neue Welt ausbreitete. Es ist noch lange keine volle Gemeinschaft der Völker, die dadurch gebildet worden wäre, es ist insbesondere keine staatlich oder sonst, wenn wir von dem tastenden Versuche des Völkerbundes absehen, rechtlich geordnete Gemeinschaft. Die zur Vorherrschaft aufgestiegene europäische Völkerwelt ist ja in sich selber eine freie Völkergemeinschaft; immer in vielen Dingen uneinig, ist sie durch den Weltkrieg empfindlich gelockert, worden und hat sie außerdem ihre Vorherrschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilen müssen. Überdies ist diese Vorherrschaft durch die wachsenden Widerstände der Asiaten und der ihnen zugehörigen Nordafrikaner bedroht, Widerstände, die in den wachsenden inneren Mächten des Nationalgefühles ihre Grundlage haben und sich zu bedeutender äußerer Macht zu steigern im Begriffe sind. Überhaupt kann die Weltvorherrschaft der Europäer, so wie sie heute besteht, nicht das Ende der Bewegung sein, sie ist ein Akt herrschaftlicher Überschichtung, dem, wenn die Bewegung sich vollenden soll, der ausgleichende Aufstieg der beherrschten Völker noch folgen müßte. Zwar meinen die Europäer, überall wo sie sich die heimischen Völker unterworfen haben, daß sie diesen Ordnung und Zivilisation in ausgleichender Fülle zugebracht hätten, die unterworfenen Völker erheben aber ihrerseits in gesteigerten Protesten die Anklage, daß man ihnen Gewalt für Recht gegeben hätte. Wo die Wahrheit zu finden ist, das vermag heute noch niemand zu sagen, aber daß der Kreislauf der Macht in der Welt noch nicht zur Ruhe gekommen ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Er wird noch an vielen Stellen durchbrochen, zurückgeführt, erweitert und ergänzt werden.
Die Tatsache der europäischen Weltvorherrschaft scheint der Rassenlehre Gobineaus in ihrem Hauptpunkte recht zu geben. [340] Wird durch sie nicht die Meinung bestätigt, daß die Arier zur Herrschaft in der Welt berufen seien ? So wie wir den Kreislauf der Macht in Volk und Welt darstellten, haben wir indes mit der Lehre Gobineaus nichts gemein. Wir haben nicht behauptet, daß immer nur die Arier durch Überschichtung zu Herren erhoben wurden, im Gegenteil, wir haben Beispiele der Überschichtung auch von andern Rassen gebracht. Überhaupt ist die wissenschaftliche Erforschung der Rassen bisher zu wenig fortgescliritten, um auf sie Lehren von allgemeiner geschichtlicher Weite gesichert aufbauen zu können, wenn sie auch für die Geschichte einzelner Staaten bedeutsame Erkenntnisse liefern mag. Jede Darstellung, die so allgemein gehalten sein muß wie die Theorie der Macht, wäre gefährdet, wenn sie aus der unfertigen Rassenlehre ihre Stütze empfangen sollte. Die Lelire Gobineaus hat außerdem den schweren Mangel, daß sie von der aufsteigenden Tendenz der Massen nichts zu sagen hat. Sie klingt deshalb so pessimistisch aus, weil sie nur die herrschende Schicht im Auge hat, die ja in der Tat im Kampfe der Macht häufig aufgerieben wird. Die aufsteigende Tendenz der Masse ist eine Tatsache, die bei den kulturfähigen Völkern aller Rassen zu beobachten ist, auch in Asien hat sie bei den Völkern aller Rassen lange Zeiten der Blüte zur Reife gebracht. Schließlich allerdings ist sie in Asien vor der despotischen Übermacht überall zum Stillstand gekommen, und nur bei den Völkern Europas hat sich die Kraft der Masse zum Auftrieb genug ausdauernd erwiesen, um den Druck der alten geschichtlichen Mächte zu durchbrechen. Wären die Völker Europas in ihrer bunten Zusammensetzung durchaus arischen Blutes, so könnte man hierin vielleicht eine Bestätigung der Behauptung erblicken, die Gobineau hinsichtlich der Überlegenheit der arischen Masse ausspricht. Sind die Völker Europas nun durchaus reinen arischen Blutes ? Es scheint, daß die Rassenlehre hierüber noch keine klare Auskunft geben kann. Der Verfasser eines der verbreitetsten Bücher über Rassenlehre weist unter andern Beethoven dem schlechten Blute zu und selbst von Goethe sagt er, daß seine Gestalt nicht nordisch gewesen sei, wie er auch bei Luther den Einschlag schlechten Blutes zugesteht. Wir dürfen den Gedanken des Kreislaufes der Macht, wenn wir ihn nicht verwirren wollen, mit der Rassenlehre nicht in Verbindung bringen.
Der Gehalt an Tatsachen, die im Kreislaufe der Macht umschlossen sind, ist zu vielfältig, als daß er sich in der üblichen Einteilung der Zeitalter in Altertum, Mittelalter und Neuzeit unterbringen ließe. Diese [341] Einteilung ist als weltgeschichtliche Einteilung offenbar verfehlt und ist ja auch von Geschichtschreibern weiten Blickes oft genug bestritten worden, vortreffliches hat insbesondere Spengler hierüber gesagt. Die übliche Einteilung ist aus dem beschränkten Gesichtspunkte gemacht, von dem aus der Europäer Europa als die Welt ansieht. Von der Erschütterung, die der Untergang des römischen Reiches in den Ländern des Mittelmeerbeckens hervorbrachte, war im fernen Osten Asiens nichts zu verspüren, das Untergangsjahr 476 n. Chr. ist für die Geschichte Chinas oder Indiens ganz gleichgültig. Überhaupt wird man vor der Periode der Entdeckungen Vasco da Gamas und Kolumbus' kaum ein Ereignis von durchgreifender Weltbedeutung nennen können. In all diesen Jahrtausenden gibt es noch keine Weltgeschichte, es gibt nur Völkergeschichten, die sich nach und nach zur Geschichte der Volkswelten und der Weltreiche erweitern, zwischen denen dann wieder die wechselseitigen Beziehungen immer dichter werden und in denen immer bedeutendere Vorarbeit für das spätere weltgeschichtliche Werk getan wird. Diese weltgeschichtlichen Beziehungen treten aber noch nicht stark genug hervor, als daß sie den Rahmen für die Darstellung der Völkergeschichten geben könnten. Ein solcher Rahmen ist nur durch die Verhältnisse der Völkerwelten und der Weltreiche geboten.
Selbst vom beschränkten Gesichtspunkte der europäischen Völkerwelt ist die Einteilung in die drei Zeitalter nicht recht befriedigend. Sie ist zu äußerlich angelegt, sie ist so gar nicht auf den Inhalt des geschichtlichen Werdens bezogen. Der Name des Mittelalters sagt nach seinem Wortsinne nichts weiter, als daß dieses zwischen Altertum und Neuzeit in der Mitte gelegen ist, und wenn er mehr sagen sollte, wenn er etwa anklingen lassen sollte, daß das Mittelalter so in der Mitte zwischen Altertum und Neuzeit liege, wie die Mannheit zwischen Jugend und Greisentum, so würde er uns ganz irreführen. Im Altertum hat sich der Lebenslauf der antiken Edelvölker vollständig erschöpft, im Mittelalter treten neue Volkspersonen auf, die wieder von vorne beginnen müssen, wenn ihnen auch ihre Anfänge durch das überreiche Erbe, das sie von der antiken Welt übernehmen konnten, außerordentlich erleichtert und gekürzt wurden. Der Name des Altertums ist gehaltvoller als der des Mittelalters, er bringt die Assoziation auf die alten Völker mit sich, auf die Edelvölker der Antike, deren Leben ein so bedeutsames Stück europäischen Werdens bildet. Vielleicht wäre es bezeichnender, wenn man vom Zeitalter der Antike sprechen wollte. Recht verstanden, muß dieses Zeitalter wohl abschließen, sobald es mit der antiken Herrlichkeit zu Ende, sobald die Macht erschöpft ist, durch welche das dominante [342] römische Volk sein Weltreich beherrschte. Wenn die Geschichte ihr Gesetz von der Macht empfängt, so müssen die geschichtlichen Zeitalter als Machtzeitalter eingeteilt werden. Mit der römischen Macht war es aber nicht erst im Jahre 476 zu Ende, als der Schattenkaiser Romulus Augustulus vom Throne gestoßen wurde, das römische Reich war schon lange vorher „untergegangen“. Die weltgebietende Macht des alten Rom hat einer neuen Weltmacht den Platz geräumt, als dem erobernden Attila vor den Toren der ewigen Stadt an Stelle der römischen Waffen die geistige Majestät des Papstes Leo des Großen Halt gebot. Von da an mußte es den Mitlebenden deutlich geworden sein, daß der römische Militärstaat durch die civitas Dei ersetzt war.
Das Mittelalter ist für das Abendland das Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft. Die kirchliche Vorherrschaft beginnt indes nicht erst mit Leo dem Großen, sie mußte bereits in klarer Geltung stehen, wenn das Auftreten des Papstes seinen Eindruck auf die Barbaren inachen konnte. Vielleicht könnte man ihren Beginn von der Zeit an datieren, als Kaiser Konstantin die Kirche, mit deren Hilfe ei den Sieg über die Gegenkaiser errungen hatte, öffentlich anerkannte, in welcher Zeit ja sich noch das Weitere ereignete, daß der Kaiser seinen Sitz von Rom nach Byzanz verlegte. Wenn man das Mittelalter als das Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft auffaßt, so wird man zugleich dem Gedanken der christlichen Zeitrechnung gerecht, die von der Geburt Christi eine neue Ära datiert. Sollte die neue Zeitrechnung nicht auch in der Einteilung der Zeitalter ihren Ausdruck finden, indem sie jenem Zeitalter den Namen gibt, in welchem sich die Hoffnung der neuen Ära erfüllt ?
Auf welchen Zeitpunkt ist das Ende des Zeitalters der kirchlichen Vorherrschaft anzusetzen? Es hegt nahe, den Beginn der Reformation als den entscheidenden Zeitpunkt gelten zu lassen, womit man sich nur wenig von dem Jahre der Entdeckung Amerikas entfernte, mit dem man üblicherweise die Neuzeit anheben läßt. Ist aber die Reformation ein bezeichnenderes Datum als die Entdeckung der neuen Welt ? Das neue Zeitalter muß das Zeitalter der neuen Macht sein, welche die kirchliche Vormacht überwindet. Die Reformation hat ihren wichtigen Anteil an der Zurückdrängung der katholischen Glaubensmacht, aber wie schon ihr Name sagt, so hat sie diese reinigend neu gestalten, aber nicht von der Wurzel aus beseitigen wollen. Die kirchliche Vorherrschaft wurde nicht nur bei den Völkern gebrochen, die zum Protestantismus abfielen, sondern sie konnte auch bei den katholisch gebliebenen Völkern nicht aufrecht erhalten werden. Überall ist die dominante Macht der Kirche an den Staat übergegangen, und dieser Übergang war schon lange vor der [343] Reformation vorbereitet und war da und dort sogar sehr weit gediehen. Schon König Philipp der Schöne von Frankreich hat die Kirche gemeistert, als er die Päpste dazu bewog, von Rom ins Exil nach Avignon zu gehen, das Schisma der Kirche, die Entartung des römischen Hofes unter einer Reihe von Päpsten hat die päpstliche Autorität weiter erschüttert, was der fürstlichen Autorität zugute gekommen ist, auch die Reformation hat zur Stärkung der fürstlichen Macht außerordentlich beigetragen. Dennoch dürfte man den Inhalt des neuen Zeitalters nicht auf die fürstliche Macht abstellen, denn diese mußte späterhin doch den Freiheitsmächten weichen. Man könnte etwa die erste Periode der Neuzeit als Periode der fürstlichen Vorherrschaft bezeichnen, das Zeitalter selbst braucht für seinen größeren Inhalt einen weiteren Namen. Auch der erweiterte Name der staatlichen Vorherrschaft genügt noch nicht, denn es ist nicht der Staat allein, der die Kirche zurückdrängte, mit dem Staate zugleich und wohl mehr noch als dieser hat das Aufkommen der Wissenschaft den Glauben eingeschränkt, und wie viele andere freie Regungen der Kraft haben nicht sonst die europäische Gesellschaft bewegt! In diesem Zeitalter haben sich in der europäischen Völkerwelt die Kult\irmächte und die wirtschaftlichen und politischen Freiheitsmächte durchgesetzt, welche die Überlegenheit Europas über die ganze Welt entschieden haben. Es ist das Zeitalter der europäischen Weltvorherrschaft, mit der die europäische Geschichte sich zugleich zur Weltgeschichte erweitert.
Faßt man den Inhalt des neuen Zeitalters in diesem Sinne, so wird man dabei bleiben können, seinen Beginn mit dem Jahre der Entdeckung Amerikas zu rechnen, an das man sich, durch ein glückliches Geschichtsgefühl geleitet, immer gehalten hat. In der Entdeckung der neuen Welt hat der Expansionstrieb der überschäumenden europäischen Kraft die Grenzen gesprengt, in die man sich seit undenklicher Zeit eingestellt gefühlt hatte. Zum erstenmale und in überraschendster Weise hat sich in ihr die überragende Kraft angekündigt, die nach und nach die Welt eroberte.
Seit dem Weltkrieg stehen wir unter dem Eindruck, daß das Zeitalter der europäischen Weltvorherrschaft abgeschlossen ist und von einem Zeitalter entwickelter Weltgeschichte gefolgt wird. Das europäische Konzert hat sich zum Weltkonzert erweitert, in welchem Japan und die Vereinigten Staaten mitvertreten sind. Läßt man das vorhergehende Zeitalter mit dem Jahr anheben, in welchem Kolumbus mit seinen drei Karavellen die erste Insel des westindischen Archipels entdeckte und von ihr im Namen des spanischen Königs Besitz ergriff, [344] so wird man das Zeitalter der Weltgeschichte wohJ mit dem andern Jahr anheben dürfen, in welchem die amerikanische Flotte die Millionen von Kämpfern nach Europa brachte, durch die der Weltkrieg zugunsten der Entente entschieden wurde, mit welchem entscheidenden Erfolge die Vereinigten Staaten ihren Willen und ihre Macht zur Beteiligung an der Weltführung erwiesen haben.
Sowohl das Zeitalter der kirchlichen Vorherrschaft, das „Mittelalter“, als das der europäischen Weltvorherrschaft, die „Neuzeit“, sind so inhaltsreich, daß man sie noch in einzelne Perioden wird abteilen müssen. Es liegt nicht in unserer Aufgabe, uns auch daran zu versuchen, es genügt für uns, festzustellen, daß das Zeitalter der europäischen Weltvorherrschaft in die Periode des Liberalismus ausgeht, der sich nach außen zu Nationalismus und Imperialismus entfaltet, während er sich im Innern zur Demokratie erweitert.
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Der Liberalismus ist die Staats- und Gesellschaftsanschauung, fast möchte man sagen die Weltanschauung des dritten Standes. Sein eigenstes Interesse, das den Atem der Freiheit forderte, hat den dritten Stand dazu angetrieben, das Bekenntnis zur Freiheit auszusprechen. Es war die Größe und wurde das Verhängnis des Liberalismus, daß er dieses Bekenntnis nicht nur in seinem Namen, sondern zugleich in dem des ganzen Volkes ausgesprochen hat. Der dritte Stand wollte „alles“ sein, wie es das bekannte Wort des Abb6 Sieyes sagt, er hat sich als Vertreter, als Teil des ganzen Volkes gefühlt, von dem er meinte, daß es ebenso wie er selbst der Freiheit fähig und zur Freiheit berufen sei. So wurde die große Forderung der Freiheit als Sache des ganzen Volkes verkündet, während sie in ihrem nächsten Ursprung doch nur die Sache eines einzelnen Standes war. Der Kampf für die Freiheit, den das Bürgertum aufnahm, hat seinen unbesieglichen Schwung dadurch erhalten, daß das Bürgertum das übrige Volk zur Nachfolge mitriß, die alten Mächte konnten dem gewaltigen Ansturm nicht widerstehen, auf die Dauer aber konnte sich das Bürgertum selbst auf der Höhe des allgemeinen Freiheitsgedankens nicht erhalten — und welche gesellschaftliche Gruppe sonst hätte es vermocht! — es besann sich nach und nach seines engeren Interesses, und die Folge davon war, daß es die Nachfolge der Massen verlor und daß der Liberalismus fast überall als das Parteibekenntnis einer zurückgedrängten und verhöhnten Minderheit endete, indem man ihn mit dem als abgetan erklärten Individualismus zusammenfaßte und auf [346] den Scherbenhaufen verwies. Noch im Zusammenbruch aber feierte der Freiheitsgedanke des Bürgertums seinen letzten großen Erfolg, denn er ist es gewesen, der, zum demokratischen Gedanken gewandelt, den weiten Volksmassen den Zugang zur Macht eröffnete. Dabei wurde wiederum zugleich mit der Größe des äußeren Erfolges die innere Beschränkung des Freiheitsgedankena auf dag deutlichste offenbar, denn ungleich mehr noch als schon das Bürgertum ließen die weiten zur Freiheit zugelassenen Massen die Fähigkeit zur Freiheit vermissen. Das Volk der Wirklichkeit blieb fast überaß weit hinter der idealisierenden Annahme zurück, unter welcher die Forderung der Volksfreiheit ausgedacht war.
Wie jede vom Grund aus neue gesellschaftliche Anschauung, ist auch der Liberalismus im schärfsten Gegensatz zu den bestehenden Anschauungen aufgekommen. Ihm galten die herrschenden Mächte des Fürstentums, des Feudalwesens und der Kirchlichkeit als arge Ergebnisse von Gewalt und Betrug. Er rechnete es sich als seine große Leistung an, daß er die Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens erforscht und die Selbstbestimmung von Individuen und VöUiern ab den von Natur aus geforderten Zustand erkannt hatte. In der Tat haben die liberalen Denker bei allen ihren Verirrungen wesentliche Zusammenhänge der Gesellschaft klargelegt, die bis dahin im Dunkel geblieben waren. Sie waren zu neuen Erkenntnissen aufgeregt worden, weil die Gesellschaft zu neuen Zuständen gereift war, in denen die überlieferten geschichtlichen Führungsmächte ab Hemmungen empfunden wurden, welche man nicht länger ertragen konnte. Die überlieferten geschichtlichen Führungsmächte waren den geselbchaftlichen Werken der Staatengründung mit ihrem Kampf und Ordnungssinn und der religiösen Kulturbegründung mit ihrem autoritativen Wesen angepaßt und waren daher herrschaftliche Führungen, Befehbführungen, gebietende Führungen. Nun aber war der Boden geebnet für ein ausgebreitetes wirtschaftliches Werk und ein ebenso ausgebreitetes wissenschaftlich fundiertes Bildungswerk, und nun traten diejenigen Volksschichten in den Vordergrund, die mit diesen Werken beschäftigt waren. Die neuen Schichten brachten ihre eigentümlichen Führungen in die Höhe, das Unternehmertum und die geistigen Vorarbeiter, und brachten zugleich ein neues Führungsprinzip zur Geltung, nämlich das der Freiheit, das der Natur der Sache nach für die neuen gesellschaftlichen Werke gefordert war. Mit den freien Führungen in Wirtschaft und Wissenschaft wollte man sich noch nicht begnügen, man forderte sie auch in Staat und Kirche, damit man versichert sein konnte, daß die staatlichen und kirchlichen [347] Mächte den freien Gang von Wirtschaft und Wissenschaft gewähren ließen. Da es dem Liberalismus zunächst an äußeren Machtmitteln fehlte, um sich zur Geltung zu bringen, so mußte er trachten, die bestehenden Mächte geistig zu überwinden. Daher rührt sein Drang, in die gesellschaftlichen Zusammenhänge tiefer einzudringen. Er mußte gegenüber den bestehenden Mächten seine Berechtigung dadurch erweisen, daß er seine Lehren auf überzeugende Beweise zu stützen vermochte. Auf diesem Wege hat der Liberalismus den doktrinären, den lehrhaften Zug erhalten, über den später die Realpolitiker spotteten, welche ihn in seine Schranken zurückzudrängen hatten, und über den man vollends heute spottet, nachdem die Erfahrung seine verhängnisvollen Irrtümer bloßgelegt hat, während seine außerordentlichen Wahrheiten eingelebt und daher vergessen sind.
In jahrhundertelangem Ringen starker Männer und Völker vorbereitet, die nach religiöser und nationaler Freiheit strebten, ist der Liberalismus in Frankreich an der Schwelle der großen Revolution in siegender Macht hervorgetreten. Man kann die Geburtsstunde bezeichnen, in der sich dieses denkwürdige Ereignis vollzogen hat. Es war damals, als Ludwig XVI. die Generalstände einberufen hatte, und der dritte Stand gegen den Willen des Königs und der Minister seine Forderung durchsetzte, daß nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen abzustimmen sei. Damit war anerkannt, daß das freie Volk auf seinen Bürgern beruhe und daß die Ordnungen der herrschaftlichen Zeit sich überlebt hatten. Als die ersten in Europa hatten sich die Franzosen zum Gedanken des freien Volkes bekannt, den bis dahin nur die Bürger der neugegründeten Vereinigten Staaten in ihrer amerikanischen Abgeschiedenheit aufgenommen hatten. Nun hatten die Franzosen den Vorsprung vor den Engländern gewonnen, die bis dahin als das Vorbild politischer Freiheit in Europa angesehen worden waren. Im England des 18. Jahrhunderts war die Freiheit eigentlich nicht die Freiheit des Volkes, sondern sie war wesentlich der Besitz einer bevorrechteten Schicht, die den König durch das Parlament in Schranken hielt, ein Parlament, das von dieser bevorrechteten Schicht beherrscht war. Die Mehrzahl der Sitze war zur Verfügung des großen Adels, Whig-Adel und Tory-Adel waren darin eines Sinnes, daß sie die Masse des Volkes auf dem Lande vom politischen Rechte so ziemlich ausschlössen. Der Whig-Adel steigerte die Adelsherrschaft noch ganz besonders, weil er die Überlieferung der glorreichen Revolution für sich hatte, wodurch er imstande war, die Einschränkung des Königs durch die parlamentarische Regierung zur festen Übung werden zu lassen. Das Wahlrecht war höchst beschränkt und auf das [348] unbilligste verteilt, dos Bürgertum kam nur in den wenigen größeren Orten zur Geltung, die nicht vom Adel beherrscht waren. Die scharfe politische Schichtung des Volkes war die getreue Widerspiegelung seiner starren sozialen Schichtung. Der Lord war der große Herr im Volke, er war praktisch genommen über dem Gesetze, fast wie der König; die Bauernschaft war auf das tiefste herabgekommen, die Masse der Bevölkerung in den Dörfern war besitzlos und dem Armenrecht verfallen, das sie zu einer Art von Arbeitssklaverci verurteilte. Der gemeine Mann war von der Wehrpflicht frei, er mußte indes gewärtig sein, zum Dienste in der Flotte gepreßt zu werden. Allerdings blühten die Wissenschaften, und in den großen Städten breitete sich die bodenständige Schicht unternehmender Bürger immer mehr aus und wuchs zusehends an Reichtum und Geltung durch ihre Geschäfte, die sich nach und nach über die Welt ausdehnten. Das aufsteigende Bürgertum verlangte lebhaft nach wirtschaftlicher Freiheit, und die ökonomische Doktrin, die sich seiner Interessen annahm, suchte den Gedanken der Freiheit wissenschaftlich zu begründen; Adam Smiths Meisterwerk über den Volksreichtum faßt die Arbeiten der Nationalökonomen der Zeit in klassischer Beredsamkeit zu eindringlicher Wirkung zusammen. Um aber auch zur Forderung der politischen Freiheit fortzuschreiten, waren die Engländer nach den Bewegungen und Errungenschaften der Revolutionen des 17. Jahrhunderts nun zu konservativ gestimmt, sie waren durch die gedeihlichen Zustände beruhigt, in denen sie sich befanden. Dieser entscheidende Vorstoß war dem lebhaften Naturell der Franzosen vorbehalten, in welchem der Auftrieb zur Freiheit viel stärker als in England aufgeregt war, weil der Druck der alten geschichtlichen Mächte viel schwerer als in England auf dem Volke lastete. Der Trieb nach politischer Freiheit war durch den Trieb nach sozialer Gleichheit verstärkt, der bei der gebildeten Schicht der Franzosen des 18. Jahrhunderts unaufhaltsam geworden war. Beaumarchais' Figaro ist dafür der literarische Ausdruck : der Kammerdiener, der sich dem Grafen gleichfühlt, wäre in England nicht zu denken gewesen, in Frankreich wurde das Stück am Hofe aufgeführt. Daß man sich auf der Höhe der Revolution im französischen Volke von Mann zu Mann als Citoyen, als Bürger ansprach, ist durch eine jener Steigerungen des Gefühles geschehen, deren im revolutionären Rausche viele über die Menschen gekommen sind. Immerhin lag diese Art der Ansprache dem Franzosen bei seinem Trieb sozialer Annäherung und Ausgleichung besonders nahe. Während der Engländer aristokratisch veranlagt ist, ist der Franzose darin demokratisch. Napoleon hat die stärkste Stütze für sein Kaisertum dadurch gefunden, daß er es mit [349] dem demokratischen Hange des französischen Volkes zu verbinden wußte.
In den berauschenden Anfängen der Revolution hatte es den Anschein, als ob die Millionen Franzosen sich für immer zu voller Freiheit erhoben hätten. Die Staatslehren der aufklärenden Denker, insbesondere die Lehren Rousseaus hatten in den Gemütern ihre millionenfache Resonanz erhalten, und für die Parole des freien Volkes war eine öffentliche Meinung gewonnen, wie sie in Frankreich politisch bis dahin noch unbekannt war und wie sie auch England in seinem politischen Leben in dieser Mächtigkeit noch nicht gekannt hatte. Sie war in ihrer Verbreitung und in der Herrschaft über die Gemüter nur mit den religiösen öffentlichen Meinungen zu vergleichen, die in den Zeiten der starken Glaubensbewegungen über die Völker gekommen waren. Diese öffentliche Meinung hat den Sieg der Revolution von Anfang an entschieden, sie hat die Reihen der Armee durchdrungen, sie hat die besten Geister des Adels für die Sache des Volkes gestimmt, sie hat fast die ganze niedere Geistlichkeit und einen nicht geringen Teil selbst der hohen Geistlichkeit auf ihre Seite gebracht. Dem späteren kühlen Kritiker, der das Erlebnis der Revolution nicht mitempfunden hatte, gelten die großen Worte, an denen sich die Öffentlichkeit nicht genug tun konnte, als leere Phrasen, eine Erklärung, wie die der Menschenrechte, erscheint ihm als bloßes Wortgeklingel, während sie in Wahrheit ein tief empfundenes Bekenntnis zum Contrat social, zur Idee der modernen Gesellschaft gewesen ist. Später freilich ist die öffentliche Meinung Frankreichs an sich irre geworden. In der Wildheit der Parteikämpfe des Bürgerkrieges ist die Übereinstimmung der Gemüter in Brüche gegangen, das politische Denken war, von wenigen erleuchteten Männern abgesehen, noch zu unklar, um den zutreffenden Verfassungsausdruck für die treibende gesellschaftliche Idee zu finden. In den Jahren des Kaisertums schien das politische Streben überhaupt erloschen. Die Verfassung der Restauration, in welche die ungeheure Bewegung eines Vierteljahrhunderts mündete, gab dem Volke oder eigentlich einem schmalen Ausschnitt des Volkes nur bescheidenste politische Rechte und die Masse schien sich dabei zu beruhigen, daß sie politisch wiederum rechtlos war. Im Frankreich Ludwigs XVIII. und Karls X. hatten fast die gleichen obersten Schichten zu entscheiden, die vor der Revolution obenauf gewesen waren. War die Revolution nicht vergebens gewesen ? Der Geschichtschreiber, der nur den Buchstaben der zu Recht verkündeten Verfassung gelten läßt, mag es so ansehen, derjenige aber, der es auf die gesellschaftlichen Wirklichkeiten ankommen läßt, muß anders urteilen. [350] Ein geschichtliches Ergebnis höchsten Belanges war zurückgeblieben: in den Gärungen der Revolution, in den Einrichtungen Napoleons und selbst in den Kämpfen, zu denen er seine Armeen geführt hatte, ist das vormals ständisch geschichtete und zerrissene Volk zur einheitlichen Nation zusammengewachsen und diese Tatsache blieb bestehen, wie schwankend und unvollkommen auch die Verfassungsformen waren, in denen man nacheinander den Verhältnissen ihren politischen Ausdruck zu geben suchte. Von jetzt an haben die Franzosen ihre nationale Geschichte, nur wenig Jahrzehnte brauchten zu vergehen und die Nation sprengte in rasch aufeinander folgenden Stoßen die Verfassung der Restauration und die des Bürgerkönigtums, wie die des zweiten Kaisertums, um sich endlich ihre freie Verfassung zu geben.
Von Frankreich aus hat sich der Freiheitsgedanke durch die Macht der öffentlichen Meinung in verhältnismäßig kurzer Zeit den ganzen Kontinent Europas erobert, zuerst die benachbarten Länder, in denen durch den Einfluß der Napoleonischen Herrschaft die liberal denkenden Kreise aufgerührt wurden, und später auch die entfernteren bis nach Asien hinüber. Niemals hat sich im Laufe der Weltgeschichte eine so große Bewegung so rasch vollzogen. Am bedeutungsvollsten war die Rückwirkung auf England. England ist während der unausgesetzten Kriege, die es gegen die Revolution, gegen die Republik, gegen Napoleon führte, in seiner Verfassung dort stehen geblieben, wohin es vor der Revolution gelangt war. Wie in Frankreich war indes auch in England in diesem Vierteljahrhundert eine Generation groß geworden, die ihre politische Erziehung unter wesentlich geänderten Verhältnissen erhalten hatte. Im Kriege hat sich Englands Industrie, Handel und Kolonialbesitz außerordentlich gehoben, und als der Friede weitere Entwicklungen und nach diesen schwere Rückschläge brachte, so konnte auch das konservative englische Wesen sich politischen Neuerungen nicht länger verschließen. Nun waren die Menschen da, welche die Gedanken der Revolution auf England übertrugen, und es bildete sich eine heftige radikale Partei, welche die Schlagworte der revolutionären Doktrin aufnahm und außerhalb des Bürgertums auch noch insbesondere in dem stark angewachsenen, elend gestellten und höchst unzufriedenen industriellen Proletariat ihre Gefolgschaft hatte. Zwar gelang es der radikalen Partei nicht, ihre weitgehenden Pläne durchzusetzen, die Zugeständnisse, welche die Reformbill brachte, waren im Vergleich [351] zu den radikalen Forderungen geringfügig, dennoch war eine entscheidende Wendung vollzogen. Die Whigs wandelten sich zu einer in Wahrheit liberalen Partei, und auch die Tories mußten sich volkstümlicher halten. Von jetzt an ist England die Hochburg des Liberalismus. Während Frankreich unruhig hin und her geworfen wird, gibt England der Welt das Vorbild einer stetigeren Entwicklung des liberalen Gedankens. Von lange her geschichtlich vorbereitet, ist der Liberalismus Englands gesünder gewachsen als der Frankreichs. Indessen hat auch er sich nicht ganz von einem ideologisch lehrhaften Einschlag freihalten können.
Die letzten Jahrzehnte vor 1848 und die folgenden Jahrzehnte bis nach der Einigung Italiens und der Begründung des deutschen Reiches sind die Blütezeit des Liberalismus, der jetzt die Gewaltsamkeit seiner revolutionären Geburtswehen überwunden hat. Die rohen Massen sind außer Wirkung gesetzt, die Führung ist dem gebildeten Bürgertum übertragen, dessen politische Anschauungen sich geklärt haben und das bei dem beschränkten Wahlrecht, auf das man sich einrichtet, den Ausfall der Wahlen entscheidet. Auch die fürstlichen Regierungen sind unter manchen reaktionären Rückschlägen dem liberalen Gedanken zugänglicher, namentlich in Dingen der Wirtschaft und der allgemeinen Bildung, die Beamtenschaften sind ihm mitunter ganz ergeben. Das Bürgertum ist keineswegs stark genug, um die Regierung allein auf sich zu nehmen, es muß sich mit den alten Mächten vertragen. Indes ist der Einfluß, den es auf die Regierung nimmt, infolge seiner Beherrschung der öffentlichen Meinung tatsächlich viel größer, als die Summe der Befugnisse, die ihm verfassungsmäßig eingeräumt sind. Vom Gesichtspunkte des allgemeinen Wahlrechtes gesehen, das sich späterhin durchgesetzt hat, ist die politische Freiheit des Liberalismus kaum Freiheit zu nennen, die Schicht des liberalen Bürgertums, die mit politischen Rechten ausgestattet war, gilt dem Demokraten von heute als eine privilegierte Schicht, die zwar ausgiebig breiter ausgemessen war als die alte ständisch privilegierte Schicht, die aber doch nur einen geringen Ausschnitt des ganzen Volksbestandes begriff. Der Sozialdemokrat verwirft die bürgerliche Schicht der liberalen Ära als eine herrschende Schicht, welche Herrenrecht übte, wie früher Fürst, Adel und Kirche, in der Tat verdient sie aber in ihren guten Tagen den Namen einer im wahren Sinne führenden Schicht besser als irgend eine Oberschicht vorher und wohl auch nachher. Die Liberalen hatten nicht vergessen, daß sie ihre Forderungen [352] um des Volkes willen gestellt und erstritten hatten. Wenn man auch den unteren Massen die verfassungsmäßige Mitbeteiligung im Staate zuerst noch ganz vorenthielt und später nur zögernd in allmählichen Erweiterungen zugestand, so säumte man doch nicht, in den Einrichtungen des Staates die freiheitlichen Grundsätze nach bestem Wissen durchzuführen, und nur an einigen wenigen Punkten ereignete es sich, daß man durch das Standesinteresse zurückgehalten war. Der aufgeklärte Bürger sah seine Aufgabe darin, im erhöhten Maße fortzusetzen und zu vollenden, was schon der aufgeklärte Fürst begonnen hatte. Der materielle Inhalt von Recht und Verwaltung, ihre Ordnungen, ihr Verfahren, wurden, von den ihnen anhaftenden Rückständen mittelalterlichen Wesens gereinigt und modern gestaltet, modern im Sinne eines allgemeinen Wesens, das zugleich dem Individuum möglichste Freiheit der Kraftäußerung ließ. Allen Staatsbürgern ohne Ausnahme wurden die Grundrechte gesichert, der geläuterte soziale Sinn sorgte mit erhöhter Aufmerksamkeit für den Schutz und die Berücksichtigung der Schwachen im Volke. Am schönsten bewährte sich der soziale Sinn des Liberalismus in der liebevollen Pflege des Volksunterrichtes. Selbst im Steuerwesen mußte der fiskalische Egoismus seine Zugeständnisse machen, der echte Liberalismus begriff unter den Forderungen der Steuergerechtigkeit auch die sozialen Forderungen der Steuerfreiheit des Existenzminimums, der Steuerprogression und der Vorbelastung des fundierten Einkommens. Der freie Staat baute auch die freie Gemeinde auf, und obschon die Gemeinde wie der Staat in ihrer Verfassung die bürgerliche Schicht bevorrechtete, so wirkte doch auch in ihr der liberale Geist der Zeit. Wie sehr der Uberale Geist die Volksschichten einander genähert hatte, das zeigt am anschaulichsten die Kleidung und die ganze äußere Sitte des Volkes. Das Straßenbild des 18. Jahrhunderts ließ die Standesunterschiede in Tracht und Haltung der Menschen sinnfällig erkennen, im Straßenbild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Gegensätze zum guten Teil verwischt. Der allgemeine Schnitt der Kleidung ist beim Arbeiter, sobald er sein Arbeitsgewand ablegt, fast der gleiche wie beim Bürger, auch auf dem Lande passen sich die Trachten der allgemeinen Weise an. Selbst von Volk zu Volk gleicht sich die äußere Sitte an, wie denn der Liberalismus nicht nur das einzelne Volk in sich, sondern auch die Völker gegeneinander ausgleichend ordnen will. Der Liberalismus war vom Ursprung an weit bürgerlich gedacht, im großen Gedanken der Freiheit sollten sich die Völker zusammenfinden. Man warder Meinung, daß der Krieg eine Sache der machtbegierigen Dynastien sei und daß die Völker, wenn einmal frei, für immer untereinander Frieden halten würden.
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Die liberale Partei konnte sich in der Zeit ihrer Höhe darauf berufen, daß sie eine reichste Entwicklung sozialer und wirtschaftlicher Werte eingeleitet und den äußeren Frieden über alle Erfahrung gewahrt hat. Seine vollste Bestätigung schien ihr System in dem erstaunlichen Wachstum der Ziffern zu empfangen, in denen sich die wirtschaftlichen Erfolge ausdrückten. Die Summen der Gütermengen, die erzeugt, verzehrt und wieder angelegt wurden, die Summen des Reichtums, der sich anhäufte, und im Zusammenhange damit die Summen der Menschen, die Europa füllten und von Europa aus in die Welt hinausströmten, sind niemals im Laufe der Geschichte in ihrer Größe und in der Raschheit ihres Wachstums übertroffen oder auch nur erreicht worden. Vor den Weltwundern der modernen Technik erschienen die Weltwunder des Altertums als bloße Spiele eines barbarischen Prunkes. Der moderne Geist berauschte sich in Bewunderung seiner selbst und sah in naher Zukunft das goldene Zeitalter allgemeinen Friedens und allgemeiner Zufriedenheit vor sich.
Das Gesetz der Macht erfüllte sich aber auch beim Liberalismus, wie es sich im Laufe der Geschichte stets erfüllt hat. Der Erfolg der von ihm entbundenen außerordentlichen Kräfte gewann ihm weite gesellschaftliche Macht, der wundersam steigende Erfolg steigerte seine Macht, der Triumph des Erfolges wandelte seine Macht zur Übermacht. Die liberale Partei war nicht darauf ausgegangen, Übermacht zu erobern, sie wollte nicht herrschen, sondern führen, und bis zum Schlüsse war sie reich an ideal gesinnten Männern, die für die Partei nur wollten, was sie für das ganze Volk wollten. Gerade dort, wo der höchste Erfolg erreicht wurde, in den wirtschaftlichen Dingen, war jedoch die Versuchung zur Übermacht zu groß, als daß ihr die erfolgreichen Wirtschaftsführer nicht hätten unterliegen sollen. Die großen Unternehmer wurden die Gewaltigen der Zeit. Bei ihnen häuften sich märchenhafte Erträge zu märchenhaften Vermögen, sie wandten den weitaus größten Teil der einströmenden Werte zu neuen Kapitalanlagen an, die freilich nicht nur sie, sondern mit ihnen die Volkswirtschaft bereicherten. Ein gerechter Richter durfte sie kaum der Lüge zeihen, wenn sie versicherten, daß sie nicht selbstsüchtig für sich allein tätig wären, sondern sich als die Pioniere des volkswirtechaftlichen Fortschrittes fühlten — nur waren sie dabei doch für die Lage derer zu wenig empfindlich, die durch sie zur Seite gedrängt oder gar bis in die Tiefen [354] des Elends hinabgeschleudert wurden. Der große Unternehmer wurde der Herr, und wenn er harten Sinnes war und durch den Wettbewerb gedrängt wurde, der mitleidslose Herr von Hunderten und Tausenden von Arbeitern. Zusammen gebot das große Kapital über Millionen von untertänigen Arbeitern, während es außerdem Millionen von gewerblichen Bürgern in ihrer wirtschaftlichen Stellung minderte oder vernichtete. Das Gesetz der kleinen Zahl fand in der Volkswirtschaft eine Anwendung von ebenso tiefgreifender Wirkung wie einst im Siege der Waffen. Während die Masse der Schwachen hcrabgedrückt wurde, stieg aus der bürgerlichen Mittelschicht die Spitzenschicht der Kapitalisten zu gewaltiger Höhe auf, sich den Machthaber?! von früher zugesellend und sie an Reichtum und zuletzt auch an gesellschaftlichen! Einfluß noch überbietend. Die großen Beherrscher der Volkswirtschaft hatten unter der Losung der Freiheit gesiegt, die ihnen die Bahn für ein ungehemmtes Wirken eröffnete, sie forderten immer weiter ungestüm freie Bahn für sich, aber das freie Wirken ihrer Kraft war Zwang für alle die Schwachen, die ihnen in den Weg traten. Durfte der Liberale noch von Freiheit sprechen ?
Das Gesetz der Macht erfüllte sich für den Liberalismus weitaus rascher, als es sich für die alten geschichtlichen Gewalten erfüllt hatte. Die Adern des Reichtums, welche die moderne Technik aufgeschlossen hatte, waren von ungeahnter Ergiebigkeit, und die wissenschaftliche Arbeit war unermüdlich, sie zu mehren und ihre Ausbeutung zu steigern. Das wirtschaftlich-wissenschaftliche Werk, mit dem der moderne Mensch beschäftigt ist, übertrifft an äußerer Fruchtbarkeit das politischkirchliche Werk von früher, und darum war auch der Einfluß gesteigert, den es auf die Umstellung der Gesellschaft nehmen mußte. Das Wachstum der Städte und der Industriebezirke überholte in einigen Generationen das Ausmaß von Jahrhunderten früherer Geschichtsperioden, das Verhältnis von Stadt und Land wurde von Grund aus umgeworfen, das Wachstum des Kapitales ging noch schneller vor sich. Ebenso rasch jedoch wie die kapitalistische Macht der wenigen entwickelten sich die Gegenmächte auf Seite der vielen, die durch sie herausgefordert waren. Das Proletariat und das kleine und mittlere bürgerliche Gewerbe bildeten zwei große Lager des Widerstandes, die Bauern bildeten ein drittes, weil auch sie unter dem kapitalistichen Wesen zu leiden hatten und weil sie außerdem in ihrer ganzen Lebensanschauung dem liberalen Geiste widerstrebten. Das Proletariat erhielt seine ersten großen Führer aus den kritischen Denkern und den volksfreundlich gesinnten Kreisen der Gebildeten, das Gewerbe und die Bauern erhielten sie zum guten [355] Teile aus den kirchlichen Kreisen, die an der positivistischen und materialistischen Anschauung gewisser liberaler Denker Anstoß nahmen, oder sie erhielten sie aus den konservativen Kreisen, die im Liberalismus ihren geschichtlichen Gegner zu bekämpfen hatten. Die Entwicklung ging so rasch vor sich, daß das aufsteigende Bürgertum gar nicht dazu kam, sich in seiner Stellung so zu befestigen, wie vordem der Fürst und die Stände. Nun kam es erst recht zur Geltung, daß das liberale Bürgertum nicht ausschließlich für sich, sondern zugleich für das Volk tätig sein wollte und tätig war. Für einen Eroberer war es die nächste Sorge, sich an der Herrschaft zu erhalten, und der Unterworfene blieb für ihn der Feind, dessen Widerstandskraft gebrochen werden mußte. Die liberale Partei hatte nichts von solchem Eroberersinn; als Partei genommen hielt sie immer ihr Programm aufrecht, das ganze Volk durch die Kraft der Freiheit zu heben, und was auch die kapitalistischen Machthaber tun mochten, um ihre Übermacht zu sichern und auszudehnen, und wie schlimm auch ihr Druck auf den Massen lastete, so war dies die persönliche Sache des Großbürgertums, mit dem der Kern des Bürgertums, das gebildete Bürgertum, keine Gemeinschaft hatte. Das gebildete Bürgertum irrte darin, daß es von der wirtschaftlichen Entwicklung, sowie die ganze Gesellschaft sonst, zunächst nur die glänzende Sonnenseite sah, die Wunder der Technik und die blendenden Ziffern der Werte ; in das Dunkel der Schattenseite war der geblendete Blick noch nicht gedrungen. Als man endlich der Opfer gewahr wurde, die der wirtschaftliche Aufstieg kostete, hat es das gebildete Bürgertum nicht unterlassen, mit allem Ernst zum großen Werke der Sozialreform das Seinige beizutragen. Inzwischen hatte sich aber auch das Proletariat selbst gegen seine Machthaber organisiert. Dazu waren ihm die besten äußeren Bedingungen gegeben, weil es durch seinen Dienst in den Betrieben versammelt und weil die große Zahl der Betriebe in den Industriebezirken und Städten vereinigt war. Die Unternehmerschaft schuf und besoldete die Truppen, die dazu bestimmt waren, gegen sie aufzumarschieren. Wie anders war darin die Stellung des kriegerischen Königs, der wehrhaften Barone, des ritterlichen Adels gegenüber der Stellung der Eisenbahnkönige, der Finanzbarone und des Geldadels! Jene waren, allen sichtbar, die Führer im männermordenden Kampfe, dessen Gefahren sie sich mit aussetzten, ja vor allen andern aussetzten und in welchem der Sieg sie vor allen andern erhöhte und zur Herrschaft berief; von diesen sieht der Blick des gemeinen Mannes nur die reiche Beute, die sie, wie er meint, als Ergebnis seiner Anstrengungen einheimsen, während er für die Weite ihrer Pläne und ihrer aufreibenden [356] Bemühungen kein Verständnis hat. Wie anders war übrigens auch bei jenen durch ihr Werk des Kampfes mit den Waffen, das ihre Mannheit stählte, das persönliche Wesen gesteigert und wie anders auch das Erbe an Blut und Nerv, das sie ihren Söhnen übertrugen! Ein viel gesünderes Erbe an Blut und Nerv, als bei den neuen Reichen wuchs in den tüchtigen Oberschichten des Proletariates selber auf, nachdem einmal der Arbeitsmarkt für sie gebessert und die Arbeiterschaft vor erschöpfender Leistung geschützt war. Dem Proletariat und nicht minder den andern Volksgruppen, die sich nach und nach gegen die liberale Partei stellten, kam auch sonst all das viele zugute, was der liberale Idealismus zugunsten der Entwicklung des Volkes vorgekehrt hatte. Was hat nicht allein schon die liberale Schulgesetzgebung für die Massen getan! Was hat die reiche wirtschaftliche Entwicklung trotz ihrer bösen Schädigungen nicht doch wiederum den Massen zugebracht! Was hat nicht die Vervielfachung aller Möglichkeiten des Verkehres, was hat nicht die Freigebung von Vereinen und Versammlungen für die Massen bedeutet! Wie erhebt sich nicht in der liberalen Ära der mit voller bürgerlicher Handlungsfähigkeit ausgestattete Bauer über den untertänig gebundenen Bauern des Vormärz ! Wie erhebt sich nicht auch der kleine Mann in der Stadt über den polizeilich überwachten Pfahlbürger von früher! Früher zählten diese Gruppen ohne gesellschaftliche Bedeutung fast als bloße Ziffern in der Bevölkerung mit, jetzt fühlten sie alle sich als Angehörige des Volkes.
Einen Dienst von ganz besonderer Wichtigkeit hatte die liberale Wirtschaftsdoktrin den Bestrebungen des Proletariates geleistet. So wie der Unternehmer in seinem Betrieb die Organisation des Proletariates vorbereitete, so hat die liberale Wirtschaftsdoktrin diesem für seine Organisationen das Programm ausgearbeitet. Sie hat ihm die wissenschaftlichen Gedanken geliefert, die es brauchte, und selbst die Schlagworte oder doch wenigstens die nächsten Unterlagen für die Schlagworte formuliert, um das Programm für die Massen mundgerecht zu machen. Adam Smith lehrte, wenn auch noch unter gewissen Vorbehalten, daß aller Ertrag Arbeitsertrag und daß der Wert im Grunde Arbeitswert sei, Ricardo suchte dann noch über die Vorbehalte von Adam Smith hinwegzukommen; damit war der sozialistischen Theorie von Wert und Wirtschaft die Grundlage geschaffen und die höchste wissenschaftliche Autorität mitgegeben. Wenn die sozialistische Doktrin lehrt, daß der Unternehmergewinn, der Zins und die Rente Ausbeutung seien, so schien sie damit nur den logischen Schluß aus den Prämissen zu ziehen, welche die klassische Doktrin aufgestellt hatte, und wenn der Satz ausgesprochen [357] werden konnte, daß Eigentum Diebstahl sei, so schien damit nur unverhüllt gesagt, was jene verschwiegen hatten.
Noch bedeutungsvoller für den schließlichen Ausgang der Dinge war es, daß die liberale Staatsdoktrin den Gedanken der Freiheit auf den des Volkes und der Volkssouveränität gegründet hatte. Der dritte Stand hatte das, was er für sich verlangte, zugleich für das ganze Volk verlangt, er wollte kein Vorrecht an Freiheit für sich, sondern er wollte allgemeine Freiheit, für die er die überwältigende Begründung eben in der Majestät des Volkes zu finden vermeinte. Daß man sich in der liberalen Ära sodann auf ein beschränktes Wahlrecht einrichtete, geschah im vollen Widerspruch zu dem ursprünglichen Gedanken der Doktrin. Es war ein politisches Kompromiß. Man hatte mit den bestehenden konservativen Mächten zu rechnen, auch hatte man die von den Massen verübten Gewaltsamkeiten der Revolution noch in trüber Erinnerung, und es fand, was man sich wohl nicht recht gestehen wollte, auch der natürliche Egoismus der Partei dabei seine Rechnung, weil ihr das beschränkte Wahlrecht die Überzahl der Mandate sicherte. Ein hellsehender Politiker wie Disraeli hat es schon bei den Verhandlungen über die englische Reformbill erkannt und ausgesprochen, daß in dem beschränkten Wahlrecht, so wie man es damals beschloß, das allgemeine Wahlrecht mitbeschlossen sei, weil dieses die unweigerliche Folgerung aus dem Gedanken der Volkssouveränität sein mußte, auf dem die Reformbill beruhte. Das allgemeine Wahlrecht ist denn auch gekommen, in England und überall sonst, und es ist überall schnell gekommen, nachdem einmal die durch die liberale Macht zur Seite gedrängten Parteien stark genug geworden waren, den Kampf mit dem Liberalismus aufzunehmen. Sobald die Forderung des allgemeinen Wahlrechtes zur öffentlichen Diskussion gestellt war, war der Liberalismus theoretisch geschlagen. Seine Doktrin ließ ihm kein Gegenargument übrig. Die Denker des Liberalismus hatten die Volkssouveränität angerufen und durch die Hilfe des Volksgedankens und der Volksmacht den dritten Stand als Führer des Volkes zur Geltung gebracht. Damit war aber zugleich entschieden, daß für den Liberalismus die Zeit vorbei war, sobald die Führung des Volkes aus seinen Händen entglitten war. Der Liberalismus dankte der Anrufung des Volkes den raschen Sieg, aber mit einiger politischer Voraussicht hätte man sich sagen müssen, daß dem Sieg die Niederlage folgen mußte. Es mag die liberale Partei übrigens entschuldigen, daß sie den Mangel an Voraussicht mit keinem Geringeren als mit Bismarck teilt, der das allgemeine Wahlrecht in die Verfassung des deutschen Reiches aufnahm, indem er erkannte, daß damit die Uberale [358] Mehrheit gestürzt sei, während ihm doch der Blick dafür fehlte, daß damit dem Proletariat der politische Aufstieg gesichert war. Und haben die Leiter des preußischen Staates nicht einen für sie noch viel verhängnisvolleren Fehler begangen, als sie die Armee auf die allgemeine Wehrpflicht einstellten ?
Der Liberalismus war von seinen gläubigen Anhängern als der das höchste allgemeine Wohl verbürgende Endzustand der Gesellschaft begrüßt worden, statt dessen war er ein übergangszustand, der, nach geschichtlichen Zeitmaßen berechnet, sehr rasch überwunden wurde. Es konnte nicht anders kommen. Unter der Einwirkung der in der liberalen Ära freigegebenen und gepflegten Kräfte mehrte sich die Masse des Volkes an Zahl und Gewicht in der kurzen Zeit von zwei, drei Generationen, und nun strömte das Volk, dem der Liberalismus die Pforten der politischen Welt geöffnet hatte, unaufhaltsam ein. Man hatte den Namen des Volkes eitel genannt, und nun war es da. Der Liberalismus erweiterte sich zur Demokratie.
Selbst innerhalb der Demokratie behauptete jedoch das Bürgertum eine Geltung, die über seine Ziffer weit hinausging. Soviel es an politischer Führung verlor, so blieb ihm doch noch der wesentliche Ted der geistigen Führung. Jetzt erst breitete sich die bürgerliche Kultur zur nationalen Kultur aus, und durch diese erschuf sich der Liberalismus im Nationalismus seinen Nachfolger. Die Sozialdemokratie sieht sich in der Erwartung getäuscht, die Erbschaft anzutreten. Die moderne Demokratie ist vor allem national.
In der Periode des Nationalismus, in welche die Kulturvölker im Laufe des 19. Jahrhunderts eintraten, werden die Nationen zu Trägern der staatlichen Macht. Die Größe der nationalen Massen gibt von da an den politischen Bewegungen eine Wucht, die sie in der Periode der fürstlichen Vorherrschaft nicht haben konnten, es fehlt aber die klare Sicherheit, mit der die fürstlichen Regierungen auf der Höhe ihrer Kraft tätig waren. Ein starker Fürst mochte von seinem außer Streit gestellten Platze aus die Zügel der Herrschaft mit fester Hand leiten; der nationale Körper konnte die eigentümlichen Freiheitsorgane, die er brauchte, erst in langer geschichtlicher Erziehung zur [359] Reife bringen. Bevor wir daran gehen, diese Organe zu beschreiben, müssen wir uns ein deutliches Bild von dem Aggregationszustand und den Lebenstrieben des nationalen Körpers gemacht haben.
Die Nation ist eine moderne völkische Bildung. Die Ansätze zur Nation reichen geschichtlich allerdings ziemlich weit zurück, und darum ist auch der Name schon seit längerer Zeit in Übung, aber erst in der Gegenwart ist die Bildung der Nation fertig, und wenn man mit dem Namen einen festen Begriff verbinden will, so wird man gut tun, ihn auf die älteren unfertigen Bildungen nicht anzuwenden. Das Altertum kennt keine Nation des modernen Sinnes, die antike Geschichte wäre anders verlaufen, wenn sie von nationalen Vollkräften getragen worden wäre.
Unter allen Nationen, die heute über die Welt ausgebreitet sind, ist die modernste diejenige, welche die Vereinigten Staaten von Nordamerika besetzt, die amerikanische, wie man sie kurz zu nennen pflegt. Sie ist die spätest gebildete, die mit den Widerständen kaum mehr zu kämpfen hatte, welche die nationale Einigung in Europa vor sich gefunden hatte, und sie ist darum von den geschichtlichen Rückständen fast ganz frei, die bei den europäischen Nationen sich in das Wesentliche der nationalen Bildung mischen — der Einschlag des Negerblutes, von dem wir noch zu sprechen haben werden, ist eigentlich der einzige, der sich empfindlich bemerkbar macht — und man wird daher an ihr die wesentlichen Züge der Nation am deutlichsten abnehmen können. Schon die neuenglischen Kolonien, aus denen sie sich entwickelte, waren national gesiebt, die holländischen, französischen und spanischen Beimischungen wurden durch den einigenden Geist der Freiheit bald aufgesaugt, und die späteren Einwanderer, in so großen Massen sie auch zuströmten, haben sich von vornherein dem gegebenen Nationalcharakter eingefügt. Daß es so geschehen ist, steht nicht im Widerspruche zu dem nationalen Gedanken, der die Gegenwart erfüllt, es war im Gegenteil durch ihn gefordert. Der nationale Gedanke hat seine Macht durch die Geschlossenheit, in der die Angehörigen einer Nation in ihren alten geschichtlichen Sitzen beisammen hausen, der Einwanderer dagegen, der übers Meer gekommen ist, hat seiner Heimat abgesagt und ist mit dem bereiten Willen ans Land gestiegen, sich der neuen Heimat anzuschließen. Seine Entnationalisierung ist eine Umnationalisierung, welche die Herrschaft des nationalen Gedankens in voller Stärke erweist. Jeder Ankömmling weiß, daß er nur als Bürger des amerikanischen Gemeinwesens gedeihen kann, und er erwartet sich erhöhtes Gedeihen von der Luft der Freiheit und den weiten wirtschaftlichen Möglichkeiten, ihrerseits erwartet die [360] amerikanische Öffentlichkeit, daß er ganz in ihr aufgehe. Mit der Unduldsamkeit der Selbstverständlichkeit erwartet sie, daß er sich die Sprache des Landes wie seine Sitte und staatliche Anschauung zu eigen mache, der Deutsch-Amerikaner wird als Bindestrich-Amerikaner, wie man ihn im Weltkrieg nannte, mißgünstig angesehen. Die nationale Erziehung der drüben Geborenen beginnt sofort in den Schulen durch die Schulgenossen, deren kindlicher Geist die allgemeine Stimmung noch unverhohlener wiedergibt als die Erwachsenen, die doch allerlei Rücksicht zu üben haben. Unwiderstehlich ist die Wirkung, die bei den ungeheuren Dimensionen alles Lebens vom amerikanischen Massengefühle ausgeht. Welcher Stolz, diesem machtvollen Gemeinwesen anzugehören! Welches Hochgefühl, an den freien Entscheidungen der menschenreichsten aller Kulturnationen mitzuwirken! Jeder Bürger hat sein Teil an der Bildung der öffentlichen Meinung, deren Geboten sich alles fügen muß. Daß es für die Mächtigen im Lande Mittel gibt, dem freien Volke seine Meinungen zu suggerieren, wissen nur die Eingeweihten.
An den amerikanischen Verhältnissen erkennen wir deutlich, daß es nicht einen, sondern zwei Begriffe der Nation gibt. Die amerikanische Nation hat sich von der englischen politisch abgespaltet, der sie kulturell trotz gewisser charakteristischer Eigenheiten immer noch enge verbunden ist. Wie in diesem Falle müssen wir auch sonst die Kulturnation von der politischen Nation unterscheiden. Nicht so, als ob eine politische Nation bestehen könnte, die nicht auch Kulturnation wäre — ein barbarisches Volk kann niemals als Nation angesprochen werden — , wohl aber so, daß eine Kulturnation bestehen kann, die überhaupt nicht oder doch nicht in ihrer ganzen Ausdehnung zur politischen Nation geworden ist. Die Italiener waren seit Jahrhunderten eine führende Kulturnation und haben erst seit kurzem ihren Platz als politische Nation eingenommen. Von der deutschen Kulturnation haben auch nach der Wiedererrichtung des Reiches der politischen Nation die Millionen nicht angehört, die der Schweiz, Österreich Ungarn, Rußland als Bürger angehörten oder sich als Deutsch-Amerikaner noch den Zusammenhang mit der deutschen Kultur bewahrt hatten.
Die politische Nation ist die vollendete Nation, die Nation schlechtweg. Wenn man ihre wesentlichen Merkmale festgestellt hat, so wird man leicht erkennen, welche von diesen Merkmalen auf den Begriff der Kulturnation zu übertragen sind.
Weder in der einen noch in der andern Gestalt kommt der Nation [361] das Merkmal der ursprünglichen Blutsgemeinschaft zu. Jede fertige Nation fühlt sich in sich so geschlossen, daß sie von ihrer Blutszusammengehörigkeit überzeugt ist und nur ungerne den geschichtlichen Gegenbeweisen weicht, welche die Vielfältigkeit ihrer völkischen Ursprünge außer Zweifel stellen. Auch die Amerikaner werden, wenn sich einmal die Fremdheit der Einwanderer ganz ausgeglichen hat, sich so fühlen, als ob sie von jeher eine Einheit gewesen wären, und sie werden geneigt sein zu vergessen, daß ihr englisches Element schwächer ist als die hinzugekommenen Elemente andern Blutes. Wie die Amerikaner wäre keine Nation groß geworden, falls sie nicht durch Völkermischung ihre Zahl gesteigert hätte, und keine wäre wohl auch in ihren Kräften so reich geworden, als sie ist, falls ihr das verschiedene Blut nicht verschiedene Begabungen zugebracht hätte. Wie bei den Amerikanern müssen alle verschiedenen Elemente auch so ineinander gemischt sein, daß sie sich zum Schlüsse als volle Einheit fühlen, sonst würde die Nation nicht zur fertigen Bildung werden, die nicht mehr in ihre Teile zerbrochen werden kann. Eine Verbindung, die nur durch Gewalt hergestellt ist, wie die der Vandalen mit ihren afrikanischen Untertanen oder der Goten mit den Italikern, löst sich unter dem Druck des Kampfes mit einem äußeren Feinde von selbst. Das Beispiel der Irländer zeigt vielleicht am deutlichsten, wie langer Zeit es bedarf, um national verschiedene Elemente bis auf den Grund ineinander aufgehen zu lassen. Die Masse der Irländer hat die englische Sprache als Verkehrssprache nicht nur, sondern als Muttersprache angenommen, die irischen Regimenter haben unter der englischen Fahne auf unzähligen Schlachtfeldern in hingebender Tapferkeit ihre Treue erwiesen, Dichter und Schriftsteller, Redner und Schauspieler irischen Blutes haben mit ihrem beweglichen Geiste die englische Kultur belebt, und doch hat ein unaustilgbarer Rest nationaler Überlieferung die irische Nation am Schlüsse wieder zu eigenem Dasein berufen. Im alten Österreich hat in einer gewissen Periode die gebildete Schicht aller Volksstämme sich deutsch gegeben und das dynastische Gefühl auch die Massen dem Herrscherhause untergeordnet, und dennoch konnte die demokratische Bewegung im Laufe von ein paar Generationen die Nationalsprachen, die fast erloschen schienen, und mit ihnen das Nationalgefühl wieder lebendig machen. Manche Beobachter, namentlich Ausländer, welche die verwickelten Verhältnisse nicht recht durchschauten, haben sich durch die Geschlossenheit täuschen lassen, welche die Habsburgische Monarchie in der Zeit ihrer ungebrochenen Kraft nach außen bewies, und haben von einer „österreichischen Nation“ gesprochen. In Wahrheit war die [362] Bevölkerung niemals national geeinigt, der erfahrene Staatsmann wußte immer, daß er es mit einer Zahl besonderer Volksstämme zu tun hatte, mit deren Eigenheiten er rechnen mußte. Auch in der Zeit des geeinigten Staatsgefühles durfte man nicht von einer österreichischen Nation, sondern nur von einem österreichischen Staatsvolke sprechen. Die Ungarn haben in ihrem Staatsrecht den Begriff des „populus hungaricus“ festgehalten, den sie jedoch auch nur im Sinne eines ungarischen Staats volkes und nicht in dem einer ungarischen Nation hätten deuten dürfen, wie dies durch den nationalen Zerfall nach dem Weltkrieg sich deutlich erwiesen hat. Hätte Österreich durch ein paar Generationen länger in dem Sinne der Einheit und der Fürsorge regiert werden können, der Josef IL, „dem Schätzer der Menschheit“ eigen war, so hätte sich die deutsche Bildung vielleicht genügend eingewurzelt, um die Reste der andern Bildungen ganz zu überwuchern, und das Massengefühl wäre dem Staate, der die Schwachen schützte und pflegte, für immer gewonnen geblieben. Im zaristischen Rußland hat die Strenge des Regimentes die Völker fester zusammenbinden können, weil diese mit Ausnahme der Polen und einiger anderer Stämme des Westens noch nicht zum nationalen Selbstbewußtsein gereift waren, auch hat in Rußland ähnlich wie in Amerika die Maßlosigkeit der staatlichen Dimensionen auf die kleinen Völkerschaften überwältigend wirken müssen. Hieraus erklärt es sich, daß auch nach dem Zusammenbruche mit Ausnahme des Westens die ganze übrige große Zahl der Völkerschaften beim Reiche verblieb. Wenn es einem Tataren möglich ist, in eine der bolschewistischen Spitzenbehörden aufgenommen zu werden, so ist es zu verstehen, daß er und sein ganzer nächster Kreis dadurch an den Reichsverband gefesselt wird, der ihn hoch über die kleinen Verhältnisse seiner engeren Heimat emporhebt. Es ist eine andere Sache, ob es immer so bleiben wird, oder ob nicht auf die Dauer die trennenden Kräfte die bindenden überwachsen werden.
Die bloße Gemeinschaft der Verkehrssprache kann zur nationalen Bindung nicht genügen. Die lingua franca, die in der Levante Beit den Kreuzzügen gesprochen wird, hat die Völker, die sich ihrer bedienen, einander nicht näher gebracht. Sie ist ein willkommener Behelf des Verkehres zwischen Leuten, die sich im übrigen durchaus fremd bleiben. Damit die Sprache die Geister verbinde, muß sie mehr als ein einfacher Lebenswert sein, sie muß als Kulturwert empfunden werden, als der Ausdruck eines reichen gemeinsamen Kulturbesitzes, und überdies muß die Gemeinschaft der Kultursprache von einer Gemeinschaft auf allen übrigen Gebieten der Kultur begleitet sein, die des sprachlichen [363] Ausdrucks nicht bedürfen. Wie finden sich die Herzen nicht beim Klange der heimischen Musik! Wie ist der italienische Volksgeist nicht durch den reichen Bestand an Werken der Baukunst verbunden, die man durch ganz Italien als nationalen Besitz empfindet! Tiefer noch als die Wirkung der gemeinsamen Erinnerung an vergangene Kultur ist die der gemeinsamen Beteiligung an dem Werke einer lebendigen Kultur. Alle europäischen Nationen sind überreich an überlieferten Schätzen früherer Kulturarbeit, die sie noch fort und fort vermehren. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist der Besitz an gemeinsamen Kulturerinnerungen geringer an Zahl und Tiefe, man ist noch zu kurze Zeit beisammen, auch das Kulturwerk der Gegenwart hat noch nicht den Reichtum des europäischen Werkes, man ist zu sehr dem äußerlichen wirtschaftlichen Werke zugewendet und man überlegt zu kühl, und wo man sich ins Innerliche versenkt, ist es mehr nach der Richtung des Religiösen und Sozialen. Dafür ist der Gang des heimischen Lebens so rasch, daß ein eigenartiger Nationalcharakter doch schon heute ausgeprägt ist, an dem die Amerikaner sich erkennen und finden. Die Fremden, die ins Land wandern, passen sich seinem Wesen begierig an, das sie auf die Dauer durch ihr Wesen freiüch mitbeeinflussen werden. Durchaus fremd sind der amerikanischen Volksgemeinschaft bis auf die Gegenwart die Neger gebüeben, obwohl sie ihre Muttersprache aufgegeben haben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Neger zum Aufstieg in die Kulturgemeinschaft des amerikanischen Volkes noch nicht oder überhaupt nicht reif, und sie kommen auch über den widerstrebenden Instinkt des nordischen Blutes nicht hinweg, während sich das spanische Blut in Mittelamerika und Südamerika dem farbigen Blute verbunden hat. Das Staatsgesetz, das den Negern das Bürgerrecht zugestanden hat, kommt gegenüber der gesellschaftlichen Macht des Rasseninstinktes nicht auf. Der frei erklärte Neger begegnet dem Volksgesetze gesellschaftlicher Ausschließung und unter Umständen dem brutalen Gerichte einer völkischen Feme.
Damit eine politische Nation entstehen könne, muß sich zur Gemeinschaft der Kultur die Gemeinschaft des Staatsgefühles gesellen. Wir haben an den Beispielen Irlands und Österreich-Ungarns bereits gesehen, unter welchen Zögerungen und Rückfällen das Staatsgefühl des nationalen Bewußtseins Herr wird. Anderseits zeigt das Beispiel der Schweiz, daß auch das lebhafteste Staatsgefühl ohne Sprachgemeinschaft zum Werden einer Nation noch nicht ausreicht. Die Bürgerschaft der Schweiz besteht aus den Angehörigen dreier Nationen, die Schweizer selbst sind keine Nation, sie sind ein national zusammengesetztes [364] Staatsvolk. Sie eine politische Nation zxi nennen, in der drei Kulturnationen vertreten sind, heißt mit den Namen spielen. Der Fall der Schweiz ist ein Fall für sich, dem kein anderer an die Seite zu stellen ist. Das Besondere der Schweiz ist nur dadurch möglich geworden, daß hier die Angehörigen dreier entwickelter Kulturnationen, die sich von diesen nicht lossagen wollten, gleichwohl durch gemeinsame Erinnerungen an Großtaten der staatlichen Geschichte politisch in einer Innigkeit zusammengehalten sind wie sonst nur die Angehörigen eines Nationalstaates. In Wilhelm Teil und Arnold von Winkelried hat das Schweizervolk die Gestalten, die es für den Heldenkult braucht, welcher die Geister verbindet, wie sie Frankreich in Bayard, England in Nelson oder Italien in Garibaldi hat. In der Erinnerung des Schweizervolkes sind die Namen von gefeierten Siegen und von überwundenen Gefahren in einer Fülle gesammelt, welche die Geschichte eines großen Volkes reich erscheinen ließe.
Mehr als irgend eine andere große Nation hat die deutsche Nation das Besondere an sich, daß, ganz abgesehen von den in weiterer Ferne angesiedelten Stammesangehörigen, auch ihrer Grenze entlang viele unmittelbar benachbarte Angehörige der Kulturnation sich der politischen Nation nicht mitverbunden haben. Es hängt dies mit der politischen Geschichte des deutschen Volkes zusammen, wie diese durch den deutschen Trieb der Absonderung bedingt wurde. Die Deutschen in der Schweiz haben das die Seelen verbindende Staatserlebnis im Verbände der Schweiz mitgemacht, die Balten im Verbände Rußlands, die Elsässer in dem Frankreichs, die Deutsch-Österreicher in dem der Habsburgischen Monarchie. Mit Deutsch-Österreich hat es sich ganz eigentümlich verhalten. Sein Kernland ist von Deutschland aus als Reichsmark gegründet worden, es hat sodann wichtige Abschnitte der deutschen Geschichte miterlebt, es hat dem Reiche durch lange Zeit als seine Vormacht seine Kaiser gegeben und daneben hat es in wachsender Ausdehnung sein eigenes politisches Leben gehabt, das unter schweren Gefahren und Krisen auch der größten Erinnerungen voll ist und ob seines eigentümlichen Ganges den Deutschen im Reiche unbekannt und unverständlich blieb. Es hat sich mit seinen eigenen Interessen in entscheidenden Geschichtsepochen großen Bewegungen des deutschen Geistes entgegengestellt und sich des öfteren mit Preußen, der Vormacht des protestantischen Deutschland, gemessen. Ist es da zu verwundern, daß man in Deutschland selbst nicht darüber einig werden konnte, ob die Deutsch-Österreicher, die noch dazu aus der Verbindung mit den slavischen Einschlägen nicht zu trennen waren, der politischen [365] Nation zuzurechnen oder nicht zuzurechnen seien! Die Großdeutschen haben die eine, die Kleindeutschen die andere Auffassung vertreten, und jede der beiden Parteien hat dabei unter dem Eindruck geschichtlicher Macht gestanden.
Das Staatsgefühl, das dem Leben einer Nation den Atem geben soll, muß das eines freien Volkes sein. Ein Volk, das seinem Staate gezwungen Untertan ist, darf nicht unter die Nationen mitgereiht werden; nicht, einmal ein Volk, das, ohne durch Gewalt gebeugt zu sein, seinem Staate in Treue ergeben ist, zählt unter die Nationen, solange es über das Gefühl der bloßen Gehorsamstreuc nicht hinauskommt. Nur solche Völker haben die Kraft der Nation, die ihr eigenes Leben in Freiheit leben, die andern, die nicht so weit sind, werden jene äußerste Anstrengung nicht aufbringen, die der nationale Opfermut in höchster Bedrängnis fordert und leistet, und werden die Beweglichkeit des Fortschrittes nicht haben, die in der freien Nation lebendig ist. Die Brandenburger, Pommern und Preußen waren ihren Königen immer ein ergebenes Staatsvolk, ihre Bürger und Bauern haben sich dem derben Herrscherregiment Friedrich Wilhelms L willfährig untergeordnet und haben Friedrich dem Großen die disziplinierten und ausdauernden Soldaten gestellt, mit denen er seine Siege erfocht, jeder selbsttätigen nationalen Bewegung wären sie aber unfähig gewesen. Die Elsässer haben sich unter allen Greueln der Revolution, die sie mitzudulden hatten, doch der französischen Nation angenähert, weil sie von dieser den Willen und die Kraft zur Freiheit empfingen, die ihnen das national noch nicht erweckte deutsche Volk nicht bieten konnte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verdient diesen Namenszusatz nicht, denn das deutsche Volk hatte zu seiner Zeit noch nichts von nationalem Freiheitssinn, sondern folgte, willig seinen Fürsten, wenn es diesen beliebte, sich mit den französischen Königen zu verbinden, um ihre persönlichen Interessen zu befördern oder sich im Rheinbund Napoleon zu unterwerfen. Der Befreiungskrieg gegen Napoleon hätte niemals losbrechen können, wenn der nationale Freiheitesinn nicht endlich aufgeregt worden wäre. Nur dadurch, daß das deutsche Volk sich endlich doch zur freien Nation festigte, hat es den Zusammenbruch nach dem Weltkrieg ertragen, ohne wieder in seine Landsmannschaften zu zerfallen, wie es hundert Jahre früher geschehen wäre.
Um in Wahrheit frei zu sein, muß die Nation nicht gerade republikanisch geordnet sein. Das Beispiel Englands beweist, daß eine Nation zum Selbstgefühl der Freiheit reifen kann, auch wenn sie die geschichtlich überkommene monarchische Form beibehält. Die werdende Nation [366] mag sich noch nicht zu einer freien Staatsform durchgerungen haben, aber wir werden sie doch schon als Nation ansprechen, wenn sie in ihren Schichten von tragender Freiheitskraft genügend erfüllt ist, damit das Volk zu Selbstbewußtsein gelangt und sich als ein Ganzes erkennt, dem das Gesamtinteresse seine Bahnen weist. Die Aufhebung der persönlichen Unfreiheit ist der erste vorbereitende Schritt zur Aufrichtung der Nation, dem die politische Befreiung folgen muß. Die Völker der Antike haben nicht einmal den ersten Schritt zu tun vermocht. Bis an ihr Ende waren große Massen der Bevölkerung im griechischen Stadtstaate und im römischen Weltreiche unfrei oder halbfrei geblieben, das griechische und das römische Volk waren immer nur eine Oberschicht der Bevölkerung. Die Griechen waren noch dazu von Stadt zu Stadt politisch getrennt, der Peloponnesische Krieg, der die Blüte Athens zerstörte, ist der Beweis dafür, daß sie in einem Grade voneinander getrennt waren, wie. Staaten verschiedenen Volkstums. Die politischen Reden eines Demosthenes konnten sich nicht an das griechische Volk wenden, sondern mußten sich auf das Volk von Athen beschränken, wobei wir uns immer gegenwärtig halten müssen, daß, wenn Demosthenes die „Männer von Athen“ ansprach, seine Rede nur den freien Bürgern Athens galt. Die Römer waren ein starkes Staatsvolk, sie waren vielleicht das stärkste, das jemals bestanden hat, aber auch sie waren keine Nation, denn die Nation muß die ganze seßhafte Bevölkerung des Reichsgebietes umfassen, wenn ihr nicht der unzerstörbare völkische Untergrund felden soll. Es hat harter geschichtlicher Arbeit bedurft, bis die romanischen und germanischen und vollends die slawischen Völker bis auf diesen Untergrund hinab fundiert waren. All die große Mühe, von der Virgil in der Äneide sagt, daß sie notwendig war, um das römische Volk aufzurichten, war erst ein Teil der Mühe, die es brauchte, um die Nationen aufzurichten, die sich später auf den Boden des römischen Weltreiches ausbreiteten. Der Aufbau dieser Nationen hat sich in einer Reihe aufeinander folgender Akte vollziehen müssen; erst waren es einzelne große Fürsten, die den nationalen Königsgedanken hatten, indem sie erkannten, daß sie, um ihre persönliche Macht zu mehren, die Kraft des Volkes mehren mußten, ja daß sie ihre Stellung dazu berief, im Dienste des Volksganzen tätig zu sein ; da und dort mochte ein erlesener Adel den nationalen Gedanken aufnehmen, da und dort mochte ihn die Kirche pflegen oder Dichter und Künstler mochten zu Verkündern des nationalen Geistes werden. Ein Kampf, in welchem es um das völkische Dasein ging, wie der, den die Franzosen zu führen hatten, um die Engländer von ihrem heimischen Boden zu vertreiben, mochte im Volke selbst die nationale Empfindung [367] erwecken. Darum konnte die Jungfrau von Orleans die nationale Fahne Jahrhunderte früher erheben, ab die Franzosen in ihrer Masse ihrer nationalen Zusammengehörigkeit unverlierbar bewußt waren.
Auch heute noch lebt auf europäischem Boden kein Staatsvolk, das wirklich ganz durchnationalisicrt wäre, es ist wohl nur die bürgerliche Schicht so ziemlich durchnationalisiert, die andern sind es nur zum Teil, und im Proletariat ringt vielfach noch der Klassengedanke mit dem nationalen Gedanken. Trotzdem sind alle europäischen Völker heute zu Nationen geworden, denn die bürgerliche Schicht ist genügend breit und einflußreich, um die nationale Bewegung zu tragen, sie muß nur ihrerseits über ihr Klasseninteresse so weit hinweggekommen sein, um den nationalen Gedanken für das Ganze des Volkes zu denken, und das ist überall der Fall. Der bürgerliche Liberalismus hat von seinen Ursprüngen her das Volk als Ganzes verstanden, der Gedanke der Volkssouveränität, von dem er ausgegangen war, ist ein nationaler Gedanke. Anders als das antike Herren volk erkennt das echtliberale Bürgertum in der Masse die Volksgenossen.
Alles, was wir soeben von der politischen Nation auszuführen hatten, gilt, wenn wir den einen Punkt der staatlichen Verbindung ausnehmen, auch von der Kulturnation. Weil diese nicht an den Staat gebunden ist, begreift sie auch die Konnationalen fremder Staatsgebiete und entfernter Siedlungen. Weil sie in größere Weiten ausgreift, gilt es für sie um so mehr, daß ein großes Kulturwerk getan sein muß, welches als gemeinsamer Besitz empfunden wird, und daß dieses von einem freien Volke getan sein muß, dem die Freiheit die Kraft der Empfindung gibt, sowie daß es durch das ganze Volk durchempfunden sein muß, so daß man sich überall des Werkes und seiner Größe bewußt wird, auch wenn man nicht gerade alle seine Werte aufzunehmen und zu würdigen imstande ist. Wiederum müssen wir darauf zurückkommen, daß Griechen und Römer auch im Kultursinn keine Nation waren. Sie waren Kulturvölker, die Griechen waren ein Kulturvolk höchsten Ranges, ihre Kultur hat ewigen Glanz, aber ihrer wie der römischen Kultur fehlte der Drang ins Allgemeine der völkischen Umgebung hinaus. Weil dieser Drang fehlte, war auch die kirchliche, höfische und ritterliche Kultur noch keine wirkliche Nationalkultur, wie die sich vornehm abschließende preziöse Dichtung keine nationale Dichtung sein konnte. Die Völker dieser Perioden waren noch nicht Kulturnationen, sie wurden es erst durch die allmähliche Verbreitung einer Kultur von völkischer Eigenart, die sich allgemein mitzuteilen strebte, wie dies für die bürgerliche Kultur der Aufklärer gilt. In Deutschland ist erst durch Herders Rückgriff auf [368] das Volkslied, durch Goethes Götz und Faust und seine Lyrik, durch Schillers das Volksempfinden treffende Dramen eine wahre Nationalliteratur begründet. Die ganze Kultur, wie sie seither vom Bürgertum getragen wird, ist dem Volke zugedacht und ist dadurch national.
Die Einzelheiten darüber, was alles getan werden mußte, bis sich die Völker zu Nationen wandelten, haben wir hier nicht darzustellen. Wir können auf die Ausführungen verweisen, die wir über den geschichtlichen Kreislauf der Macht im Volke gegeben haben. Die Nationen sind Bildungen, die dadurch geschaffen sind, daß sich der Kreislauf der Macht im Volke vollendete. Sie sind durch die Macht des Erfolges geschaffen, durch welche vermöge ihrer Geschlossenheit, ihrer Freiheit und ihres Selbstbewußtseins die werdende Nation das erst auf den nationalen Vorstufen angelangte Volk, die gereifte Nation die werdendo überwuohs.
Wie die Neger noch heute in Amerika, so wurden die Juden in der Zeit der Ghettos im christlichen Abendland als ein unreiner Fremdkörper empfunden und abgewehrt. Nach dem Siege der christlichen Waffen war auch für die spanischen Juden die glückliche Periode vorbei, in der sie sich unter maurischer Herrschaft in den Wissenschaften und selbst in den ritterlichen Künsten glänzend hervortun konnten, doch fanden diejenigen, die sich entschlossen, das Land zu verlassen, welches ihnen zur Heimat geworden war, ihre Zuflucht in Ländern, in denen sie freie Bewegung hatten, und man braucht sich nur des großen Namens Spinozas zu erinnern, um zu erkennen, daß sie auch am europäischen Kulturwerk ihren Anteil nahmen. Selbst den jüdischen Massen, die in der engen Abgeschlossenheit der Ghettos lebten, gab der Glaube an Jehova, den sie von ihren Vorvätern übernommen hatten und treu bewahrten, ungebrochene Zuversicht, und die Beschäftigung mit ihren gedankenvollen religiösen Schriften hielt ihre eigentümliche Begabung zu abstrahierendem Denken und zu geschärftem spachlichen Ausdruck in beständiger Übung. Vor allem aber hatten sie die Gelegenheit, die geschäftliche Erfahrung, die sie gleichfalls von ihren Vorvätern übernommen hatten, gewinnbringend auszunützen. Ihr rechnerischer Sinn machte sie in der Periode überwiegender Naturalwirtschaft dazu geeignet, das Geldgeschäft zu führen, und als später dem Geldkapital seine große Rolle in der Volkswirtschaft zufiel, waren sie mehr ab alle anderen zu seiner Verwendung geschult. Den Freigeistern der Aufklärung war es eine erste Pflicht, für die Juden religiöse Freiheit und gesellschaftliche [369] Anerkennung durchzusetzen. Bei der aufsteigenden Bewegung des Judentums, die damals begonnen hatte, waren es, wie immer bei aufsteigenden Bewegungen, die hervorragendsten Männer und Frauen, die zuerst in die Höhe kamen. Nach Moses Mendelssohn dem Philosophen war es Heinrich Heine der Dichter, Felix Mendelssohn der Komponist und eine glänzende Reihe von Schriftstellern und von Gelehrten, welche die lange zurückgehaltene Begabung ihres Volkstums an den allgemeinen Aufgaben von Staat und Gesellschaft zur Geltung brachten. Als Lessing seinen Freund Moses Mendelssohn zum Vorbild für Nathan den Weisen nahm, mochte er der vollen Überzeugung sein, in dieser Gestalt die Vorzüge zu charakterisieren, die das jüdische Wesen gegenüber dem im Tempelherrn charakterisierten christlich-ritterlichen Wesen auszeichnen.
Die Gesinnung, aus welcher Nathan der Weise geschrieben wurde, hat nicht auf die Dauer angehalten, weder bei Christen noch bei den Juden konnte so rasch das geschichtliche Band der völkischen Bildungen gelöst werden, die sich durch fast zwei Jahrtausende gegen einander abgeschlossen hatten, und noch dazu hat der großartige Aufstieg, den das freigewordene Judentum machte, die bestehenden Reibungen außerordentlich vermehrt.
Der auffälligste Akt dieses Aufstieges vollzog sich im wirtschaftlichen Bereich. Die Juden stellten für die Weltmärkte die großen Bankiers, sie betrieben vor allen andern das spekulative Geschäft an den Börsen, sie traten im Handel, der ihre Domäne von lange her gewesen war, nun noch mehr hervor und dehnten ihr Geschäft auch auf dem Lande aus, wo immer der Bauer der wirtschaftlichen Tüchtigkeit entbehrte. Einen hervorragenden Anteil erhielten sie an der aufwachsenden Großindustrie, besonders in den jüngeren Volkswirtschaften, in denen noch kein nationaler Stand von Unternehmern hatte groß werden können. Der jüdische Unternehmer brachte für das große Geschäft außer seinem rechnerischen und spekulativen Sinn auch noch eine ausgesprochene organisatorische Fähigkeit mit, die Frucht einer langen Übung aus der Zeit der Gedrücktheit, in der man sich hatte dareinfügen müssen, mit Menschen aller Schichten gut auszukommen.
Zusammen mit dem wirtschaftlichen Aufstieg hat das Judentum den Aufstieg in die obere Bildungsschicht vollzogen. Seine große geistige Begabung und Schulung, wie sein zäher Fleiß haben ihm neben den leitenden Stellungen der Wirtschaft auch noch die intellektuellen Berufe und einen guten Teil der künstlerischen Berufe eröffnet, namentlich jene der darstellenden und ausführenden Künste, für welche es durch sein starkes Talent der Nachahmung befähigt war, während es über [370] schöpferische Kraft nicht in gleicher Weise verfügt. Wie sollte auch seiner fremdartigen Empfindung das schöpferische Werk der Kunst gelingen, die der begleitende Ausdruck des Volkslebens ist! Bei allen Völkern nimmt heute das Judentum in der gebildeten Schicht einen Raum ein, der über seine Volksquote hinausgeht, und bei den Völkern, wo seine Volksquote hoch ist, ist es nahe daran, in den ihm besonders gelegenen Gruppen die Mehrheit der Posten zu besetzen, oder hat sie sogar schon besetzt. Da die gebildete Schicht heute überall der Gesellschaft die große Zahl ihrer Führer liefert, so wird die Tatsache ihrer starken jüdischen Besetzung nicht nur persönlich von den arischen Mitbewerbern als nachteilige Einengung ihrer Erwerbssphäre empfunden, sondern es wird dadurch auch die gesellschaftliche Führung mehr oder weniger aus der Richtung abgelenkt, die sie der Volksanlage gemäß zu nehmen hätte. Jüdische Schriftsteller, jüdische Anwälte, jüdische Abgeordnete üben heute auf die Bildung der öffentlichen Meinung, der Rechtsanschauung und der politischen Ideen einen merklichen Einfluß. Von seinem Kapital unterstützt, verfügt das Judentum in manchen Ländern über den machtvollen Apparat der Presse. Die Tatsache, daß der Druck der alten geschichtlichen Mächte solange und schwer auf den Juden gelastet hat, erklärt es, daß sie ihre politische Stellung zunächst auf Seite der oppositionellen Freiheitsparteien gewählt haben. Ihre analytische Kraft hat es ihnen dabei möglich gemacht, die politische Theorie im Sinne der Freiheitsideen weiter auszubauen, die sozialistische Wirtschaftsdoktrin zumal hat ihre Fassung durch die verführerische Beredsamkeit von Lassalle und ihre kritische Schärfe durch den zersetzenden Geist von Marx erhalten. Dadurch ist das jüdische Denken zu einer Weltwirkung gelangt, deren volles Ausmaß uns vielleicht selbst der russische Bolschewismus noch nicht erkennen läßt.
Der jüdische Einfluß ist im europäischen Westen weniger fühlbar, weil hier das jüdische Volk weniger verbreitet ist. In der deutschen Mitte Europas und im slawischen Osten ist er im Kulturwerk und im politischen Werk und vor allem im wirtschaftlichen Werk mehr und mehr angewachsen. Im äußersten Osten in Rußland war die zahlreiche jüdische Bevölkerung fast bis auf die Gegenwart noch durch Regierung und Gesellschaft zurückgedrängt, was die eigentümliche Folge hatte, daß große jüdische Massen von dort nach dem Asyl der Vereinigten Staaten wanderten, wo sich nun der Unternehmungsgeist des Yankee mit dem des Juden zu messen hat. Weitaus bedeutungsvoller war die andere Folge, daß aus dem Judentum, welches in Rußland zurückblieb, die revolutionäre Bewegung die meisten jener Führer erhalten hat, denen [371] es beschieden war, die Regierung des Zaren zu stürzen und die bolschewistische Herrschaft einzurichten.
Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß das Judentum, welches in der kapitalistischen Bewegung so hervortritt, zugleich die Bewegung des Umsturzes führt. Man kann dem Volke, das dieser doppelten Leistung fähig ist, Bewunderung nicht versagen. Der alttestamentarische Machttrieb ist in ihm immer noch rege, mit treffsicherem Instinkt hat es die Wege der Macht ausgespürt, die durch die besonderen Verhältnisse der Gegenwart eröffnet sind. Das Glück war ihm dabei gewogen, weil ihm auf diesen Wegen die Fähigkeiten zugute kamen, die durch alle die Zeiten des Druckes in ihm geübt worden waren. Die Gegenwart verlangt bei ihrem wirtschaftlich aufbauenden wie bei ihrem umstürzenden Werk den rechnerisch konstruierenden Sinn, den sich das Judentum mit einer Zähigkeit sondergleichen aus den guten Verhältnissen seiner Vergangenheit bewahrt hat.
Von Seite der Juden werden die Angriffe, denen sie heute mehr und mehr ausgesetzt sind, als Ausbrüche eines beschränkten Glaubenshasses, eines pöbelhaften Rassenhasses angeklagt, die durch den Neid auf ihre Erfolge hervorgerufen seien. All dies wirkt in der Tat mit und es geht nicht an, die Roheiten des antisemitischen Treibens zu beschönigen, die auch dadurch nicht zu rechtfertigen sind, daß man auf die lächerlichen und ärgerlichen Mißgriffe verweist, deren sich der jüdische Emporkömmling schuldig macht. Es kommen aber auch Motive in Betracht, die den besonnenen Vertreter des heimischen Volkstums dazu bewegen müssen, gegen die Macht des Judentums Stellung zu nehmen. Ein Machwerk wie „Die Weisen von Zion“ hat nur deshalb solchen Anklang finden können, weil es bei all seiner Willkür eben auch an Saiten rührt, die im Leben auf das empfindlichste angespannt sind. Lessbig würde heute seinen Nathan nicht geschrieben haben. Das Thema der Religionsfreiheit ist nicht mehr in Frage, der weise Richter, auf welchen Nathan den Sultan Saladin in dem wundersamen Märchen von den drei Ringen verweist, hätte, wenn er heute angerufen würde, um die Sache zwischen Juden und Christen ins reine zu bringen, nicht mehr über die Echtheit der Ringe sein Urteil zu sprechen, heute sind ganz andere Dinge in fetreit.
Die Juden sind als Religionsgenossenschaft nicht mehr angefochten und die Tatsache, daß sie eine besondere Religionsgenossenschaft bilden, wäre überhaupt ganz gleichgültig geworden, wenn sie nicht das Erkennungszeichen dafür wäre, daß die Juden innerhalb des Volkes und der Welt ein in sich geschlossener völkischer Verband geblieben sind. [372] Die Zahl der Individuen, die sich als Konvertiten von diesem Verband absondern, ist in den oberen Sclüchten nicht ganz gering, aber vorerst bleibt er in seiner Hauptmasse doch unberührt. Die große Masse der Juden heiratet unter sich, was das sicherste Merkmal völkischer Geschlossenheit ist. So unzweifelhaft aber auch diese ihre völkische Geschlossenheit ist, so unzweifelhaft ist es auch, daß die Juden keine Nation sind. Sie sind keine politische Nation, denn sie haben keinen eigenen Staat, sie sind auch keine Kulturnation, denn sie haben keine eigene Kultur. Sic besitzen in ihrem Glauben und dessen Einrichtungen und vor allem in ihren religiösen Dokumenten hohe eigene Kulturwerte, im übrigen aber haben sie die Kulturen ihrer Wirtsvölker angenommen. Wenn die Zionisten es erreichen sollten, daß Palästina wieder ein jüdischer Staat wird, in welchem die hebräische Sprache die allgemeine Umgangssprache nicht nur, sondern die Sprache des gelehrten Unterrichtes würde, so wären die Juden auch damit noch keine Nation geworden, denn ihre weit überwiegende Masse wird in den Staaten eingebürgert bleiben, in denen sie bisher eingebürgert war, und wird nach wie vor die Kultur dieser Staaten teilen. Die Wiedererwerbung Palästinas und seine staatlich-völkische Durchdringung sind Wünsche der jüdischen Seele, an deren Erfüllung sie die Größe des erreichten Aufstieges genießen will, ohne daß man sich doch der Weltstellung begeben wollte, zu der man aufgestiegen ist. Außer einigen wenigen ideal gesinnten Schwärmern wird Palästina nur einen gewissen Bruchteil des jüdischen Proletariates an sich ziehen, im übrigen wird das Judentum bei den Nationen Europas und Amerikas die Machtstellung behaupten und erweitern wollen, die es heute einnimmt. Lord Beaconsfield hätte nie darauf verzichten wollen, ein Engländer zu sein, noch Rathenau darauf, ein Deutscher zu sein. Die gebildeten Juden werden der Kultur ihrer Siedlungsländer nicht absagen wollen, sie sind zu tief mit ihr verbunden, die Masse der altansässigen Juden ist auch ihrem Bürgergefühle zu treu ergeben. Diezionistische Bewegung löst den Konflikt nicht, der zwischen dem jüdischen Volke und den Kulturnationen besteht, unter denen sie wohnen.
Dieser Konflikt ist in letzter Zeit durch die jüdische Zuwanderung aus dem Osten noch wesentlich verschärft worden. Bevor diese Zuwanderung erfolgte, waren die gebildeten Juden überall schon in den zugehörigen Nationen aufgegangen oder im Begriff, in ihnen aufzugehen, sie waren überall schon als Mitglieder der Nation gezählt und empfunden und sie haben sich nicht selten in die Reihen der nationalen Führungen gestellt. Erst durch die Wanderungen der letzten Zeit wurde dieser [373] Prozeß der nationalen Verschmelzung gestört, der bei den neuangekommenen Massen neuen Widerständen begegnete. Es wäre anders gekommen, falls die eingebürgerten nationalisierten Juden zwischen sich und den neuen Ankömmlingen eine klare Scheidungslinic gezogen hätten. Das ist indes, wenigstens nach außen hin, nicht geschehen und eigentlich darf man sich hierüber nicht verwundern, denn die antisemitischen Angriffe gingen gegen die einen wie die andern, sie gingen gegen das Judentum schlechthin, und man begreift, daß das Selbstbewußtsein gerade der gebildeten Juden auf diese Herausforderung mit dem Bekenntnisse zu ihrem Volkstum antwortete.
Bei den Juden ist durch die Erniedrigung der vielen Jahrhunderte das Selbstbewußtsein des auserwählten Volkes nicht erdrückt worden, im Innersten haben sie für den schwerfälligen und trägen Arier ein Gefühl von Geringschätzung, das die heißblütigsten von ihnen ohne Rückhalt aussprechen. Ist es nicht in den Romanen von Disraeli klar genug ausgesprochen ? Der Held seines vielgenannten Romanes Coningsby ist nicht der Engländer Coningsby, sondern der Jude Sidonia, in welchem Coningsby seinen Mentor verehrt. Ohne Zweifel hat der Erfolg in unserer Zeit den Juden in weitem Maße Recht gegeben — ist aber dadurch wirklich der Beweis für ihre Überlegenheit erbracht ? Die Juden hatten in einer Reihe von Ländern in der Periode, als das Kapital zur Herrschaft kam, den Vorsprung der geschäftlichen Erfahrung voraus, und als die öffentliche Diskussion in Parlament und Presse eröffnet wurde, hatten sie auch den Vorsprung der dialektischen Übung voraus. Sie waren die Erstgekommenen und haben diesen Vorteil reichlich ausgenützt. Es kommt den Juden auch zugute, daß sie vermöge ihres rascher reifenden orientalischen Wesens ihren langsamer erwachsenden arischen Altersgenossen beim Eintritt in die Berufe zuvorkommen. Durch all dies haben sie sich in gewissen höheren Schichten der Gesellschaft stark festgesetzt. An der Fortsetzung ihres Aufstieges hat aber neben der persönlichen Tüchtigkeit auch ihre völkische Geschlossenheit ihren reichlichen Anteil. Die zur Macht gelangte jüdische Schicht umgibt sich vorzugsweise mit jüdischem Zuzug, während sie arischen Zuzug nicht leicht aufnimmt. Sie bildet eine völkisch geschlossene Machtschicht, die Bich in ihrer Geschlossenheit zu behaupten sucht, ähnlich wie sich einstmals die Normannen in den Körper des sächsischen Volkes einschoben, wenn sie auch nicht wie diese das gesamte Werk des Herrentums übernehmen konnten. Was Wunder, daß die Arier sich ihrerseits zusammentaten, um im Machtkampfe durchzudringen! Sie sind dazu als Individuen vollauf berechtigt, soweit ihr persönliches Interesse in [374] Frage kommt, sie sind durch ihr Volksgefühl dazu verpflichtet, wo sie davon überzeugt sind, daß die jüdische Führung die Bahnen störe, die dem Volke durch Anlage und Geschichte gewiesen sind.
Es fällt nicht in unsere Aufgabe, den Wegen nachzuforschen, wie dieser völkische Konflikt zu lösen ist. Unsere Aufgabe gesellschaftlicher Beschreibung ist damit erfüllt, daß wir feststellen, die Juden seien nicht als eigene Nation zu zählen, sondern sie seien dort, wo sie mächtig sind, als eine Überschicht in den nationalen Körper eingeschoben, die in diesem ihren völkischen Zusammenhang bewahrt und in ihrem Machtinteresse ausnützt, und so als fremdes Element innerhalb der Nation wirksam wird.
Bei keiner selbst der entwickeltsten Nationen ist der Kreislauf der Macht schon ganz vollendet. Nirgends noch ist der Zustand gesunden gesellschaftlichen Gleichgewichtes gesichert erreicht, überall noch ist die Überschichtung schärfer angespannt, ab es um des gesellschaftlichen Werkes willen erfordert wäre, das zu vollziehen ist, überall noch sind Reste geschichtlicher Macht forterhalten, die keinen gesellschaftlichen Dienst mehr zu verrichten haben, nirgends ist der Aufstieg der Massen schon bis zu dem Punkte vollzogen, daß die geschichtliche Erziehung ihre zurückgebliebenen Kräfte ganz entfaltet und ihre Entartungen wieder ganz gutgemacht hätte, so daß sie in der Verfassung wären, am gesellschaftlichen Werke vollgültig mitzutun. Immer zwar haben große Fürsten es sich angelegen sein lassen, auf einen angemessenen Ausgleich der Volkskräfte hinzuarbeiten, schon in der Frühzeit germanischen Staatslebens hat ein Karl der Große seine gewaltige Macht in solchem Sinne gebraucht, das Werk solcher Fürsten war aber an ihre Person gebunden, nach ihrem Tode ist ein großer Teil ihrer Einrichtungen wieder verfallen, ihre streitsüchtigen und unfähigen Nachfolger waren einer so hoch gestellten Aufgabe nicht gewachsen. Die aufgeklärten Fürsten des 18. Jahrhunderts konnten fruchtbarer wirken, weil sie gereiftere Völker regierten, doch auch sie konnten ihr Werk nicht davor bewahren, daß ihre Nachfolger mit ihm nach Maß ihrer geringeren Einsicht verfuhren. Von den Einrichtungen Maria Theresias und Josefs IX, die sich mit Staatsmännern umgaben, welche des Geistes der Aufklärung voll waren, blieb nur so viel übrig, als der von Metternich beratene Kaiser Franz mit seinem Herrenwillen vereinbar fand; auf Friedrich den Großen folgte der schwächliche Friedrich Wilhelm II. Um dauernd zu wirken, müßte der erziehende Herrscher sein Werk der Erziehung so [375] weit geführt haben, daß die Volkskraft freier Betätigung fähig ist, und von da an müßte dem Volke, um auszureifen, auch noch die Zeit gegeben sein, sich in seinen Kräften zu versuchen und mit den Irrungen fertig zu werden, ohne deren schmerzliche Erfahrungen die Menschen nun einmal nicht auslernen. Es braucht seine Zeit, bis sich das zur Nation gereifte Volk in seiner Einheit erkennt und in Würdigung des Wertes seiner Einheit dem aufsteigenden Triebe der einzelnen Gruppen die Unterstützung aus der gemeinen Kraft gibt. Nicht als ob in der freien Nation alle Scheidungen und Gegensätze aufgehoben wären, die Nation braucht reiche Gliederung und Schichtung, wenn anders sie reicher Wirkung fähig sein soll, es wird aber jeder Gruppe und jeder Schicht ihr Lebensrecht zuerkannt, das ihr im Sinne des allgemeinen Gleichgewichtes zukommt. Was im aufgeklärten Fürstenstaate die Einsicht und Gnade des Herrschers zugebilligt hat, ist in der Nation zu Rechtebesitz gesichert, für alle ist gleiches Recht gegeben. Gleiches Recht bedeutet in wirtschaftlichen Dingen zunächst freilich nur gleiche Rechtsfähigkeit, mit der allein, bei mangelnden Mitteln, dem Bedürfnisse noch nicht gedient ist, aber auch dafür schafft das System nationaler Freiheit die Voraussetzungen des Ausgleiches. Im gleichen Wahlrecht ist der Masse nicht nur die gleiche Rechtsfähigkeit, sondern auch die starke Rechtswirkung zugeteilt. Die Wähler der unteren Schichten sind vor denen der oberen sogar darin bevorzugt, daß sie die breiten Ziffern für sich haben; wenn sie es verstehen, ihre Massen zu organisieren, so können sie ihr Übergewicht der Zahl ausnützen. Der einzelne Proletarier, auf sich allein gestellt, hat nur bei äußerstem Fleiß und äußerster Wirtschaftlichkeit die Aussicht, sich in seinem Stand zu verbessern, nur bei besonderem Glück und außerordentlicher Tüchtigkeit gelingt es dem einen oder dem andern, sich in eine höhere Schicht zu heben, dafür ist aber nun der proletarischen Organisation die Möglichkeit geboten, den Zustand der ganzen Gruppe zu heben, die sie vertritt.
Vom Bürgertum der Kulturländer kann man, wenn man von seinen untersten Schichtungen absieht, sagen, daß es seinen Aufstieg ziemlich vollendet hat. Es ist nicht nur zu voller politischer Macht gelangt, sondern es ist auch der Hauptträger der Kulturmacht geworden. Das Kulturwcrk, welches das Bürgertum in Religion und Dichtung und in den Künsten seit der Reformation geschaffen hat, steht mit den Werken der glänzendsten Herrenkulturen in gleicher Linie. Der Aufstieg zu dieser Höhe konnte ihm nur gelingen, wo es durch den Auftrieb freier tragender Kräfte emporgehoben wurde. Auch im Reiche Harun al Raschids lebte ein blühendes Bürgertum, dessen Geschick jedoch, weil [376] es eben kein selbstbewußt freies Bürgertum war, von der Weisheit und Gnade des Kalifen abhängig war; unter einem schlimmen Kalifen war es wehrlos. Auch der trotzige Sinn des kräftigen Bürgers in der mittelalterlichen Stadt kommt an Wirkung dem Freiheitssinne noch nicht gleich, den das Bürgertum einer selbstbewußten Nation besitzt. Der freie Staatebürger muß aus dem engen Gesichtekreise des Stadtbürgers herausgewachsen sein und muß für die großen Interessen der Nation Verständnis und Aufopferungsfähigkeit haben.
Innerhalb der freien Nation ist durch den Auftrieb des Kreislaufes auch der Bauer wieder frei geworden, wie er es war, bevor die kraftvollen Stämme der Anfänge vom Druck der Geschichte niedergetreten wurden. Um die ganze Hohe des Aufstieges zu ermessen, den der Bauernstand nach seinem Falle wieder vollzogen hat, muß man sich die Lage vergegenwärtigen, in der die ländliche Bevölkerung des Orients fast überall vegetiert, in der die unfreien und halbfreien Kolonen ihr mühsames Leben führten, welche in der Periode griechischer und römischer Volksfreiheit den Boden zu bebauen hatten, und muß man sich die Zustände vergegenwärtigen, unter denen im freien England die Bauernschaft von den Grundherren fast ganz um ihren Besitz gebracht war, in denen sich die französische Bauernschaft vor dem Ausbruch der großen Revolution befand, in denen die untertänige Bauernschaft Deutschlands und Österreichs bis ins 19. Jahrhundert hinein den Grundherren mit Hand und Gut dienstbar war und in denen die leibeigenen Bauern Rußlands bis gegen Ende des 19. Jahrhunderte schmachteten. Auch innerhalb der freien Nation muß sich der Bauer angestrengt bemühen, um sich aufrecht zu erhalten, der nachlässige Besitzer hat sehr bald ausgespielt und sinkt in die Tiefe, doch der Bauernstand im ganzen ist eine politische Macht geworden, die sich für ihre Angehörigen mit starker Wirkung einsetzt. Für die nationale Kultur bedeutet der gesunde Bauernstand, wie ihn viele Länder heute besitzen, den reichen Quellboden der Kraft.
Am weitesten ist das Proletariat zurückgebheben. Das Urteil ist schlimm genug, das man über seine Lage erhält, wenn man den gegenwärtigen Zustand überblickt, auch hier muß man jedoch, um die Größe der erreichten Besserung zu ermessen, darauf achten, aus welchen Tiefen die Wiedererhebung zu machen war. Man muß auf die Zustände der antiken Sklaverei zurückblicken und auf die Zustände in den Anfängen des modernen Maschinenwesens. In der englischen Arbeiterschaft von heute ist die herabgekommene Arbeiterschaft nicht wieder zu erkennen, die durch die Fabriksgesetzgebung aus ihrem Elend erlöst werden mußte. [377] In England und überall auf dem Kontinent ist das organisierte Proletariat eine gToße Macht, die von sich erwartet, daß sie bald die dominante Macht sein werde. Die hervorragenden Männer der englischen Arbeiterführung, und zwar gerade auch solche, die aus der Arbeiterschaft selber hervorgingen, sind in den Augen der englischen Gesellschaft ministrabel geworden, sie sind englische Gentlemen. Der orthodoxe Marxismus stellt sich wider Staat und Nation, und bei der Geltung, welche die Lehre von Marx im Proletariat besitzt, sollte man daher meinen, daß das Proletariat sich vom nationalen Leben fernhalte, indes wie so oft unterscheidet sich auch hier die Lehre, zu der sich der Mund bekennt, von dem Sinn, der sich im Handeln betätigt. Im Weltkrieg ist die übergroße Masse des Proletariats aller beteiligten Nationen fürs erste der nationalen Fahne gefolgt und dies hat sich erst später dort geändert, wo die nationale Zuversicht ins Wanken kam. Nach dem Umsturz und dem Siege des Proletariates ist dann eine weitere Änderung eingetreten. Wo das Proletariat nicht mehr den Klassenstaat zu bekämpfen hatte, hat die marxistische Losung ihren Boden verloren, der Jungsozialismus, der nun emporkommt, bekennt sich offen zur Nation.
Noch nicht ganz vollendet, wie es der nationale Kreislauf heute überall ist, hat er gleichwohl die Volkskraft in erstaunlicher Weise gehoben. Der Staat des römischen Urvolkes war nach einem Bestände von 1200 Jahren geschichtlich abgetan, die alte Volkskraft der Römer war geschwunden und die übrige freie Bevölkerung des Reiches war zum Staatsgefühl nicht erzogen, von der Masse der Unfreien nicht zu reden. Um sich der Barbaren zu erwehren, mußten die Kaiser barbarische Völker in ihren Sold nehmen, in der Völkerschlacht auf den Katalaunisehen Gefilden hat der römische Feldherr Aerius, der selber barbarischer Abkunft war, mit Franken, Goten und andern Barbaren die wilden Scharen Attilas zurückweisen müssen, und ein paar Jahrzehnte später hat Odoaker im römischen Volk überhaupt keinen Gegner mehr vor sich gehabt, als er den letzten Kaiser vom Thron stieß. In der gleichen Weise haben alle großen Völker Asiens mit einem Zustand geendet, in welchem die Masse der Bürger und Bauern, jedes Widerstandes unfähig, der Gewalt ihrer Despoten und der feindlichen Einbrüche preisgegeben war. Die untertänige Bevölkerung hat es mitunter selber mit dem Eroberer gehalten, um nur ihres Zwangsherrn ledig zu werden, in der Erwartung, es unter dem neuen Herrscher vielleicht doch besser zu haben. Die Nationen des heutigen Europa haben eine geschichtliche Entwicklung hinter sich, die etwa so lange oder sogar noch länger läuft wie die römische Geschichte, aber in welcher Stärke wirtschaftlicher, politischer und [378] militärischer Kraft stehen sie nicht da! Sie haben die Barbaren nicht zu fürchten, sie sind selber die Herren der Welt, und der Völkerkrieg, den sie eben geliefert haben, so furchtbar er war und so tief er zu beklagen ist, hat doch den Beweis dafür gegeben, daß in ihnen wundersame Kräfte aufgesammelt sind, die bei weiser Verwendung die schönsten Frücht© bringen müßten. Nationen von solcher Kraft könnte der Untergang nur bereitet werden, wenn sie mit ihrer Kraft selber gegeneinander wüten.
In der Nation wird durch den Kreislauf, der in ihr pulsiert, dafür gesorgt, daß alle abgenutzten Schichten auch wirklich abgetragen werden und alle aufstrebenden auch wirklich emporkommen. Das zur Nation gereifte Volk erneuert sich stets zu voller Frische, solange die Volkskraft nicht überhaupt verbraucht ist. Jeder Schluß, der von den Verhältnissen des nicht zur Nation gereiften Volkes auf den Ablauf der Geschichte der Vollnationen gemacht wird, ist voreilig. Mit dem Aufkommen der Nationen tritt die Geschichte in einen neuen Abschnitt, der infolge der nationalen Langlebigkeit auf weit größere Zeitdauer angelegt sein wird, als die Abschnitte vorher, welche ihr Maß von der Lebensdauer einzelner Herrenschichten erhielten. Daraus ergibt sich freilich die schlimme Folge, daß auch die Konflikte schwerer verlaufen müssen, wo die ausdauernden Kräfte geschlossener Nationen aufeinanderstoßen.
Die europäischen Nationen, zu denen wir die Nationen europäischer Abkunft in der Neuen Welt zu zählen haben, empfinden ihre Kultur als europäische Gesamtkultur und in ihrem stolzen Herrengefühle empfinden sie sie noch dazu als Blüte der Menschheitskultur. Innerhalb der europäischen Kultur geht eine Scheidungslinie durch, welche die Mitte und den Westen, das Abendland, vom russischen Osten und dem Südosten des Balkan abtrennt, woselbst der Fausteche Drang des europäischen Westens der Beschaulichkeit des Orientes weicht. Rußland und der Balkan haben ihre erste Kulturbelehrung nicht von Rom und der römischen Kirche, sondern von Byzanz und der orientalischen Kirche empfangen, es ist aber auch das Blut ihrer Völker asiatisch gemischt. Die Russen haben die Scheidungslinie nicht gleich erkannt, seit Peter dem Großen war es ihr eifriges Verlangen, mit der europäischen Kultur mitzugehen, erst spät hat sich ihre nationale Eigenart auch in ihrer Kulturweise auszudrücken versucht. Turgeniew, Tolstoi, Dostojewski bezeichnen in ihrer Literatur die Wendung von [379] der westlichen zur heimischen Orientierung. Alle drei waren bemüht, die russische Volksseele zu deuten, der erste hat sich dabei als Europäer gefühlt, der zweite als Verkünder eines höheren Menschentums, der letzte schlechthin als Russe. Im Abendland hat man im Russentum, wie es sich immer mächtiger entfaltete, anfangs die Wiederkehr der tatarischen Gefahr gefürchtet, welche die abendländische Freiheit bedrohte, zuletzt, als man in dem Wirrsal des Weltkrieges an sich selber irre wurde, hat man in ihm das neue Licht aus dem Osten sehen wollen, das den in der Ichsucht seiner Völker zusammenbrechenden Westen wiederum zu erlösen hätte.
Die westlich-abendländische Kultur ist durch ihre gemeinsame Abkunft von der des antiken Rom und der Kirche wie durch die Blutnähe der Völker enge verbunden, aber auch diese Verbindung hat sich nach und nach gelockert. Dies wird von der Zeit an deutlich, da die Sprache Roms und der Kirche aufhörte, die Bildungssprache der Welt zu sein, und die nationalen Sprachen an ihre Stelle traten. Nun wurden die Kulturen bodenständig und nahmen die eigenartigen Elemente des nationalen Wesens in sich auf, die gemeinsame abendländische Kultur sonderte sich langsam aber unaufhaltsam in eine Anzahl von Nationalkulturen, doch ist deren Zusammenhang noch lange Zeit hindurch so nahe, daß sich die Entwicklung wie eine gemeinsame Entwicklung anmutet. Für diejenigen Künste, die des Wortes nicht bedürfen, für die Baukunst, die Bildhauerei, die Malerei wie für die Musik in ihren reinsten Formen, in denen sie mit dem Worte nicht verbunden ist, machte es nichts aus, welche Sprache gesprochen wurde, für die Wissenschaft und die Technik war die Verschiedenheit der Sprache keine Hemmung des gemeinsamen Fortschrittes, und da die Wissenschaft und die Technik immer mehr in den Vordergrund traten, so war damit allein schon ein weites Gebiet gemeinsamer Entwicklung gegeben. Die Gedanken wanderten im freien Schwünge über die Grenzen, und auf den nationalen Bezirk blieb nur jene Schulweisheit beschränkt, die sich mehr durch die überkommene Autorität der Lehrer erhielt als durch 1 ihren inneren Gehalt, welche Schulweisheit allerdings verbreiteter ist als der gelehrte Hochmut zugeben will. Es gehört zu den Widersprüchen der menschlichen Natur, daß ebenso eifrig wie die fruchtbaren Erkenntnisse zugleich die Fortschritte verbreitet wurden, die man in der Erzeugung der Vernichtungsmittel des Krieges machte.
Kirche und Staat hatten um ihrer eigenen Macht willen der Entwicklung der Gedanken gewisse Schranken ziehen wollen, und die Nationalkulturen mußten sich ihre Freiheit daher erst erkämpfen. [380] Der Kampf, der zu führen war, wurde von allen vorwärtsstrebenden Nationen gemeinsam geführt, wodurch ein neues Element geschaffen war, das die Nationalkulturen verband. Die Kultur des 18. Jahrhunderts war weltbürgerlich gedacht, wie es der politische Liberalismus war, der an dem Kampfe teilnahm. Am Prüfstein der realen Interessen hat dieses Weltbürgertum nicht lange standgehalten. Die Bewunderung, die Friedrich der Große für die französische Kultur empfand, hat die Energie seines Angriffes in der Schlacht von Roßbach um nichts gemindert, Im 19. Jahrhundert war von dem Weltbürgertum der Kultur nur wenig übrig geblieben, aber auch jetzt wurden die Nationalkulturen, die nun ihrer Selbständigkeit ganz bewußt waren, einander nicht fremd, man verstand sich wechselseitig in guter Harmonie, man gab und empfing, man hielt sich einander geistig für immer verbunden, wie die Angehörigen solcher Familien, die sich gemeinsamer Abkunft wissen, oder eigentlich mehr als diese, denn während bei den Familien gemeinsamer Abkunft in jeder Generation, die vom gemeinsamen Stammvater weiter getrennt ist, die Beziehungen erkalten, bringt die gemeinsame Arbeit im Kulturdienste die Nationen einander immer näher. Die Zahl der Kultureinrichtungen und Organisationen, welche die Völker verbinden, wuchs immer mehr an, internationale Kongresse zur Beratung von wissenschaftlichen oder Kulturangclegenheiten waren an der Tagesordnung. Wie viele Menschen, und zwar nicht etwa schwärmerische Geister, sondern Männer besonnensten Urteils waren nicht der Meinung, daß das internationale Kulturgewebe fest genug sei, um die Kulturvölker für immer in Frieden miteinander zu verbinden ! Der Weltkrieg hat diese Meinung Lügen gestraft, vor seinem ersten Hauche schon ist das ganze Netz der internationalen Kulturbeziehungen wie Spinngewebe zerrissen.
Während das Kulturgefühl sich als zu schwach erwies, um die Staaten untereinander zu einigen, hat es zum Aufbau der einzelnen Nationalstaaten auf das wirksamste mitgeholfen. Das Netz der nationalen Kulturbeziehungen ist eben ungleich dichter gewoben als das der internationalen. Das Kulturwerk ist schon durch seinen Stoff überall zu einem großen Teil national gerichtet, die große Dichtung beginnt mit dem nationalen Epos, das die Heldentaten des eigenen Volkes besingt. Auch ist jede Dichtung durch ihren sprachlichen Ausdruck national geboren, sie empfängt von den Worten der Muttersprache, in denen sie dem Dichter eingegeben wird, ihren Rhythmus und ihre Musik und durch deren sprachliche Assoziationen, wenn man so sagen darf, ihre geistigen Obertöne, was alles selbst in der besten Übersetzung so ziemlich verloren geht. Lewes, der englische Biograph Goethes, sagt treffend, daß der [381] übersetzte Faust gar nicht der Faust sei. Selbst die Künste, die ohne Hilfe des Wortes wirken, haben doch ihre nationale Eigenart; der Italiener empfindet seine Musik italienisch, der Deutsche empfindet sie deutsch. Immer und überall gab es und gibt es Geister von besonderer Aufnahmsfähigkeit, die für das Fremdnationale eigentümlich empfänglich sind, weil sie vielleicht aus ihm Werte herausspüren, die dem Nationalen fehlen und die ihr durch die Entbehrung gereizter Sinn begierig aufnimmt. Lessing hat Shakespeare verstanden wie kaum ein Engländer seiner Zeit, Carlyle hat Goethe verstanden wie wenig Deutsche. Das will nicht sagen, daß durch die Vermittlung Leasings Shakespeare in Deutschland so zur Geltung gekommen ist wie in England, oder durch die Vermittlung Carlyles Goethe in England wie in Deutschland; die Vermittlung wird die Wirkung des Originales niemals erreichen. Carlyles Dienst bei der Vermittlung zwischen deutschem und englischem Wesen hatte seine größte Wirkung darin, daß er selber sich an deutschem Wesen bildete und in seinen Schriften den Engländern Werte zubrachte, die ihnen sonst fremd geblieben wären. Schließlich fühlt jede Nation auch dasjenige an ihrem Kulturwerk, was fremden Ursprunges ist, als die eigene Leistung ihrer Kulturführer, und indem sich Volk und Führer als ein Ganzes empfinden, fühlt sie ihr Kulturwerk in seiner ganzen Ausdehnung mit freudigem Stolze als ihr nationales Eigenwerk. Dieses Gefühl durchdringt in seinen Ausstrahlungen alle Schichten der Nation, die kulturempfänglich sind, während die alte Herrenkultur und auch noch die höfisch-ritterliche Kultur auf eine enge Oberschicht beschränkt waren. Die kirchliche Kultur, welche Gemeinbesitz des Volkes geworden ist, hat sich doch von einer wahrhaft nationalen Kultur noch dadurch unterschieden, daß sie von der kirchlich führenden Schicht, wenn auch oft im besten volkstümlichen Sinne, den Massen zugebracht wurde, ■während die Nationalkultur aus einer freieren Bewegung erwachsen ist. Der kirchlichen Kultur ist das Volk nachgefolgt, die Nationalkultur geht aus dem Volke hervor.
Durch die innere Macht, die sie über die Gemüter der Nation übt, erzeugt die Nationalkultur die nationale Idee, die den Nationalstaat vollendet hat. Durch die nationale Idee hat der Nationalstaat den Sieg über den dynastischen Staat gewonnen, welchen die demokratische Idee für sich allein nicht hätte gewinnen können. Die demokratische Idee hat erst dadurch ihre volle Macht erlangt, daß die Volksmassen durch die Nationalkultur zu innerer Geschlossenheit verbunden waren. Der wirtschaftliche Aufstieg, der den kulturellen Aufstieg begleitete, hat seinerseits zwar auch dazu beigetragen, daß die Masse die Solidarität [382] ihrer Interessen erkennen lernte, und er hat auch dazu beigetragen, das Freiheitsverlangen zu steigern, weil der wirtschaftliche Fortschritt nur in Freiheit gelingen konnte — wäre aber die demokratische Idee nur wirtschaftlich fundiert gewesen, so wäre der Idealismus niemals groß geworden, den der Stolz auf den gemeinsamen Kulturbesitz erzeugte. Dem wirtschaftlichen Auftrieb hätte es Genüge getan, wenn ihm Freiheit in wirtschaftlichen Dingen zugestanden worden wäre, erst durch das Kulturgefühl wurde der demokratische Drang zur nationalen Idee gesteigert, erst das nationale Kulturgefühl hat der Freiheitsbewegung ihren begeisterten Schwung gegeben, erst dadurch wurde die nationale Idee so stark, daß sie gebieterisch nach nationaler Selbständigkeit und Einheit drängte. Zur Begründung des einigen italienischen Staates wie zur Wiederaufrichtung des deutschen Reiches wäre es nie gekommen, wenn das italienische wie das deutsche Volk nicht durch da.« große von ihnen geschaffene und genossene Kulturwerk in sich verbunden gewesen wäre. Dante und Michelangelo haben am italienischen Nationalstaat so viel Anteil wie Mazzini, Garibaldi und Cavour, ja noch mehr, weil diese als Nachfolger in den Bahnen weiter schritten, die jene eröffnet hatten. Dasselbe gilt im Verhältnis der geistigen Vorarbeiter deutscher Kultur zu Bismarck und Moltke.
In der Habsburgischen Monarchie hatte eine ganze Reihe von Nationen dem kaiserlichen Zepter willig gehorcht, bevor dort die Nationalkultur und mit ihr die nationale Idee lebendig geworden war. Die Regierung meinte, sich mit der nationalen Bewegung abfinden zu können, wenn sie sie kulturell gewähren ließ, und die Nationen selber schienen sich zunächst damit zufrieden zu geben, daß sie sich kulturell organisierten. Die Logik der Tatsachen trieb jedoch die Bewegung immer weiter, ganz von selbst setzte sich die Kulturmacht in politische Macht um. Die gemäßigten Parteien des Anfangs, die sich bei geringeren politischen Zugeständnissen bescheiden wollten, wurden von der nächsten Generation, die schon in der Atmosphäre der Nationalkultur aufgewachsen war, beiseite gedrängt und die radikalen und radikalsten Führungen rissen die Nation mit sich.
Ohne den nationalen Idealismus wäre der Weltkrieg nicht zum Völkerkrieg geworden. Keine der beteiligten Nationen hatte den Krieg gewollt, aber sobald er ausgebrochen war, wußte jede, daß sie um ihre Existenz als freie Nation zu kämpfen hatte, und jede hat begeistert ihr Äußerstes getan, um ihn aufrecht zu bestehen. Kein Dynast hätte den Nationen die Opfer an Gut und Blut abzufordern vermocht, die sie in ihrem nationalen Idealismus freiwillig darbrachten. Wie hätte es ohne [383] nationalen Idealismus sein können, daß die deutschen akademischen Regimenter bei Ypern singend in den Tod stürmten ! Die Reverswirkung des nationalen Idealismus war es, daß es keiner der Nationen möglich gewesen ist, den Gegnern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, jede hat in den Gegnern nur die böswilligen, verabscheuungswürdigen Angreifer sehen können. Darum war der militärische Krieg der Entente von einem Verleumdungskrieg gegen Deutschland begleitet, und auf der andern Seite hat der Haßgesang gegen England, zu dem ein deutscher Dichter sich hinreißen ließ, in der Nation weitesten Widerhall gefunden. Der Nationalkampf wurde zu einem Kampfe der Nationalkulturen verzerrt, und das hat so sein müssen. Da das Wesen einer Nation in ihrer Kultur seinen vollsten Ausdruck erhält, so hat die Feindschaft gegen die Nation in Feindschaft gegen ihre Kultur ausschlagen müssen. Die leidenschaftliche Verbitterung ist auch heute noch nicht ganz besänftigt, auch heute sind die internationalen Kulturgemeinschaften, die durch den Krieg gesprengt wurden, noch nicht ganz erneuert.
Wird das verbindende Werk internationaler Kulturarbeit, selbst wenn es voll wieder aufgenommen würde, dazu ausreichen, den Haß zu überwinden, den der furchtbare Krieg in den Gemütern zurückgelassen hat ? Und könnte seine verbindende Kraft stark genug sein, um einen neuen Weltkrieg zu verhüten ? Nach den Erfahrungen, die wir beim Ausbruch des abgelaufenen Weltkrieges zu machen hatten, wird dies letztere niemand erwarten dürfen, der aus der Geschichte zu lernen vermag. Wir müssen es hinnehmen, daß die Kulturgemeinschaft der Welt nicht, wie wir es so gerne glauben wollten, schon für sich allein eine wirksame Friedensbürgschaft ist, wir müssen es hinnehmen, daß, falls aus Ursachen, die außerhalb der Kultur hegen, ein neuer Weltkrieg erregt würde — denn innerhalb ihrer gibt es keine Ursache zum Kriege — der Idealismus, mit dem die Nationalkultur die nationale Leidenschaft umhüllt, den Weltkrieg wiederum zur Furchtbarkeit eines Ideenkrieges steigern wird. Trotzdem darf gesagt werden, daß in den Nationalkulturen ein großer Friedenswert aufgesammelt ist. Die Nationalkulturen sind wechselseitig so ineinander verflochten, daß ihr Bund auf die Dauer nicht getrennt werden kann. Keine Kulturnation kann umhin, sich den andern verpflichtet zu fühlen, die mit ihr am menschlichen Kulturwerke tätig sind, sie würde ihrer Selbstachtung verlustig gehen, wenn sie den andern nicht gebührende Achtung zuteil werden ließe. Die wechselseitige Achtung, die aus der Kulturgemeinschaft fließt, kann für sich allein den Weltfrieden nicht sichern, aber sie ist gleichwohl einer der höchsten Friedenswerte, die bisher von der [384] Menschheit geschaffen wurden. Ihr Friedenswert wird seine ganze Größe erweisen, wenn einmal diejenigen Gegensätze ausgesöhnt sind, die von andern Quellen her den Frieden gefährden.
Das griechische Herrenvolk hat seine wunderbare Kultur geschaffen, ohne in einem Nationalstaate vereinigt zu sein, und man muß zweifeln, ob ca den vollen Reichtum seiner Begabung zur Blüte gebracht hätte, falls es so strenge in einem Staat zusammengeschlossen gewesen wäre wie die Römer. Hätte der ionische Stil sich neben dem dorischen entfaltet, falls Ionier und Dorcr ohne Rest zu Griechen verschmolzen gewesen wären ? Hätte Korinth mit Athen gewetteifert, falls eines von ihnen die thronende Hauptstadt des Griechentums gewesen wäre ? Den staatlichen Schutz, den jede Kultur braucht, um vor fremder Überflutung bewahrt zu sein, hat jeder einzelne griechische Stadtstaat bereitwillig gegeben, soweit seine Kraft ausreichte, und das griechische Gesamtgefühl war stark genug, um gegen gemeinsame Gefahr gemeinsamen Schutz zu geben. Es wäre mit der griechischen Kultur zu Ende gewesen, falls die Persergefahr nicht durch griechische Waffengemeinschaft abgewehrt worden wäre, und auch die reiche Kultur der griechischen Städte, die an der Küste und auf den Inseln Kleinasiens den Persern untertan waren, hätte sich ohne den Rückhalt der freien griechischen Heimat nicht behaupten können.
Auch die italienische und deutsche Kultur hat sich ohne Nationalstaat entfaltet, auch für sie hat der Schutz und die Pflege genügt, die sie an den Höfen der geistlichen und weltlichen Fürsten und in den freien Städten gefunden haben. Wiederum war es der Wetteifer der kleinen Gemeinwesen, welcher der Entwicklung den Reichtum gab. Wäre Rom im Mittelalter schon die weltliche Hauptstadt des geeinigten Königreiches gewesen, so hätten Florenz und Venedig nicht den Antrieb gehabt, mit ihm um die Krone der Kultur zu ringen, und der schönste Blütensegen der Kunst wäre ausgeblieben, der, durch die Eifersucht von Fürsten und Städten genährt, Italien überwucherte. Wäre das weltliche Rom das Rom Julius' II. und Leos X. geworden ? Hätte das national bef riedigte Italien die sehnende Kraft der geistigen Wiedergeburt gehabt ? Was Deutschland betrifft, so hat Richard Wagner, da er Bich entschloß, seine Weihebühne in Bayreuth aufzuschlagen, sich darauf berufen, daß in Deutschland die Kultur seit je „im Winkel“ groß geworden sei. Eis war nicht anders als in Italien, auch die deutsche Kultur hatte so viele [385] Stätten des Schutzes und der Pflege, als das Reich aufstrebende Lartdesherrn und gedeihende Städte besaß. Die Kleinstaaterei, Deutschlands politisches Unheil, wurde das Heil seiner Kultur. Die Städte, in welchen der deutsche König oder Kaiser Hof hielt, waren allerdings bevorzugt, noch heute geben dafür Aachen, Goslar, Prag und Wien in dem Stolze ihrer Bauten Zeugnis. Wien wurde die klassische Musikstadt, nicht bloß zufolge der besonderen Anlage des österreichischen Stammes, sondern auch durch die persönlichen Bestrebungen der Kaiser des 17. und 18. Jahrhunderts, die als ausübende und als schaffende Musiker mit Eifer tätig waren. Mehr noch als die katholische hat die protestantische Kirche, der Tradition Luthers folgend, den ernsten geistlichen Stil gepflegt, der in Leipzig durch Johann Sebastian Bach seine Höhe erreichte. Deutschlands literarische Hauptstadt wurde das kleine Weimar. In Deutschland war das Hauptwerk der Kultur lange vor Aufrichtung des Nationalstaates vollendet worden. Nicht anders in Italien; man wird in den sorgfältigst gearbeiteten Reisehandbüchern nur wenig Orte verzeichnet finden, für die über modernes Kulturwerk etwas Sonderliches zu berichten wäre. Im wiederaufgerichteten Deutschen Reiche hat die nationale Begeisterung nach den großen Waffentaten neue Kulturtaten von gleicher Größe erwartet; der Geschichtschreiber weiß nicht viel davon zu erzählen, die Schweizer Gottfried Keller und Konrad Ferdinand Meyer sind wohl die einzigen Klassiker des deutschen Schrifttums in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung des Reiches. Richard Wagners großes Schaffen gehört der Zeit vorher an, und sein Bayreuth verdankt er der Huld eines Landesherrn. Wien, die Hauptstadt des besiegten und aus dem Reiche ausgeschlossenen Österreich, ist immer noch die große Musikstadt geblieben, sie hat in Brahms, den sie aus dem Reiche an sich zog, und in Bruckner und Wolf die Schöpfer einer klassischen Nachblüte versammelt.
In England und Frankreich sind Nationalstaat und Nationalkultur inniger verbunden, aber auch hier bringt die Entwicklung nicht den Beweis dafür, daß die Nationalkultur des Nationalstaates notwendig bedürfe, denn auch hier ist eine örtliche Kultur voll reicher Triebe dem Zusammenschlüsse des Nationalstaates vorausgegangen. Der Nationalstaat war jedoch so früh zusammengeschlossen, daß die große weitere Kulturentwicklung in seine Zeit fällt, ein zeitliches Zusammentreffen, das nicht auch ein kausales ist. Von nun an sammeln sich die führenden Träger der Kulturentwicklung in London und Paris am Hofe oder in den tonangebenden Salons oder an sonstigen gemeinsamen Treffpunkten bis zu den Buden der geistigen Bohemiens. Was außer London und [386] Paris ist, wird Kulturprovinz, in der man sich den Weisungen der Hauptstadt gehorsam unterwirft. Paris hat als Weltzentrale in den Dingen des Geschmacks und des verfeinerten Luxus eine Stellung erreicht, die ihm der Nationalstaat als solcher nicht hätte bereiten können.
Während die Entwicklung in Italien und in Deutschland darin übereinkommt, daß der Weg zum Nationalstaat über die National kultur geht, unterscheidet sie sich wesentlich in ihrem Tempo.
In Italien war die Kulturvorbereitung für den Nationalstaat seit Jahrhunderten beendet, Italien war schon in der Zeit Julius' EL und Machiavellis innerlich für den Nationalstaat reif. Es hätte noch gewisse Kämpfe gekostet, um ihn gegen die regionalen Mächte durchzusetzen, aber die nationale Idee war so stark, daß sie ohne Zweifel den Sieg davongetragen hätte. Das Hindernis der nationalen Einigung waren die fremden Mächte. Die politische Geschichte Italiens seit der Renaissance ist eine fast ununterbrochene Leidensgeschichte feindlicher Einbrüche und Besitzergreifungen. Als Napoleon das italienische Königreich schuf, das den Norden und die Mitte Italiens vereinte, hatte er im Volke nur wenig Gegnerschaft zu überwinden. Nach der neuen Teilung der Nation, die der Wiener Kongreß verfügte, gingen die nationalen Verschwörungen ununterbrochen fort, bis das langersehnte Werk der Einigung endlich damit vollzogen ist, daß es gelingt, sich von der letzten fremden Militärgewalt freizumachen.
In Deutschland waren ab und zu auch äußere Hinderungen im Wege, der Hauptwiderstand der Einigung ging aber von innen aus, von den vielen und vielen kleinen Souveränen, die sich unter der nominellen Oberhoheit des Reiches tatsächlich in die Herrschaft teilten. Es ist üblich geworden, den Egoismus der deutschen Fürsten dafür verantwortlich zu machen, daß er die nationale Einigung aufgehalten habe, die Anklage trifft jedoch in ihnen nicht alle Schuldigen, die freien Städte behüteten ihre Selbständigkeit ebenso eifersüchtig wie die Fürsten, und im deutschen Volke selbst ging das landsmännische Wesen überall dem nationalen weit vor. Der große nationale Kulturtrieb, der sich in der Reformation so voll angekündigt hatte, ist in der Glaubensspaltung, welche die nationale Einheit zerriß, und in den folgenden Religionskämpfen verkümmert. In zahlreichen Gegenden der deutschen Mitte und des deutschen Nordens zeigt uns das Stadtbild eine langdauernde Unterbrechung in den Werken der Baukunst, die von der Reformation an bis weit ins 19. Jahrhundert hinein währt. In der langen Stille deutschen Lebens, die dem Dreißigjährigen Kriege folgte, hat sich der Sinn des Volkes nach innen gekehrt, während das Volksleben 387] damals trotz der staatlichen Zerklüftung in vollen Zügen pulsierte. Die allmählich gesammelte deutsche Kraft hat ihren ersten Ausdruck in meisterlichen Schöpfungen der Musik und ihren nächsten in der literarischen Sturmund Drangperiode erhalten, die in die klassische Weimarer Periode ausging. Zu einer großen politischen Bewegung war die Nation noch nicht reif. Die schweren Kämpfe mit dem revolutionären Frankreich und mit Napoleon ließen dazu auch kaum Kraft ührig, erst der Befreiungskrieg gegen Napoleon vereinigte die Geister, freilich war die Zahl und Kraft der national gestimmten Herzen noch viel zu gering, um gegen die Machtmittel der Heiligen Allianz aufkommen zu können.
Aus den geschilderten Umständen läßt sich die eigentümliche Gestaltung verstehen, welche die nationale Idee damals in Deutschland erhielt. Wer hierüber eingehende Belehrung sucht, findet sie in Friedrich Meineckes ausgezeichnetem Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“, welches die nationale Idee in Deutschland bis zu ihrer Ausmündung in die deutsche Reichsidee verfolgt. Die eigentümliche Gestaltung der nationalen Idee in Deutschland, von der wir sprechen, hat ihren klassischen Ausdruck durch die Führer des klassischen Weimar, durch Goethe und Schiller erhalten, die als wahre Seelenführer des deutschen Volkes uns als die berufensten Zeugen seines Empfindens gelten dürfen. Es hat ein besonderes Interesse, heute ihrer Auffassung zu gedenken, weil die äußere politische Lage, in der sich Deutschland nach dem Weltkriege befindet, mit der damaligen Lage sehr ähnlich ist, welche die nationale Idee bei den Klassikern beeinflußte. Sollten wir aus der Art und Weise, wie die beiden Größten jener Zeit sich ihr Urteil über die Bestimmung ihres Volkes bildeten, nicht auch für die Gegenwart lernen können ? Schiller hat seine Auffassung, in der wir auch die von Goethe erkennen dürfen, in der von beiden Freunden herausgegebenen Xeniensammlung von 1796 in einem Dystichon, dem er die Aufschrift „Deutscher Nationalcharakter“ gab, in kürzester und klarster Form zusammengedrängt. Die Xenie lautet: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens — Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“ In einem im Jahre 1801 niedergeschriebenen Entwürfe „Deutsche Größe“ hat er seinen Gedanken in einer Prosafassung ausgeführt, die vom Schwünge der Versform mitgetragen ist, in die sie gekleidet werden sollte, und die ein beredtes Zeugnis dafür gibt, welcher Pracht die deutsche Prosa fähig sein kann, wenn sie der volltönende Ausdruck tiefempfundener Gedanken ist. Der Entwurf beginnt mit einer schmerzlichen Klage über die Demütigung, welche Deutschland eben durch die fremden Mächte erlitten hatte, und findet den Trost [388] darin, daß die Majestät des Deutschen nie auf dem Haupte seiner Fürsten ruhte und daß die deutsche Würde unangefochten bliebe, wenn auch das Imperium unterginge, und er schließt mit den stolzen Worten, daß dem Deutschen das Höchste bestimmt sei, die Menschheit in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen. „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit!"
Dem hoch gestimmten Nationalsinn, wie er nach der Wiederbegründung des Reiches im Schwünge war, mußten Schillers Worte befremdlich klingen als Äußerung nationalen Kleinmutes oder gar eines geradezu unnationalen Empfindens. Wenn man sie aus ihrer Zeit heraus beurteilt, bekunden sie die reinste nationale Gesinnung. Wenn Schiller den Deutschen die Fähigkeit abspricht, sich zur „Nation“ zu bilden, so meint er damit die politische Nation, und damit hatte er für die lebende Generation und für die beiden folgenden recht, und wer dürfte ihm daraus einen Vorwurf machen, daß er des Scherblickes entbelirte, in weitere Zukunft vorauszuschauen ? Die Fähigkeit der Deutschen zur Kulturnation erkennt Schiller genau, denn, wenn er sie auffordert, sich freier zu Menschen auszubilden, so meint er nicht ein national entmanntes Menschentum, sondern er meint — und er sagt es in dem Entwürfe „Deutsche Größe“ mit deutlichen Worten — daß die Deutschen vor den andern Nationen dazu berufen seien, ihre National kultur dadurch zu adeln, daß sie von überall her die menschhehen Ewigkeitswerte in sie aufnehmen. Wie dies zu verstehen ist, offenbart uns Schillers und Goethes dichterisches Werk, welches das größte Kulturdokument des deutschen Geistes ist. Da und dort begegnen uns in diesem Werke, man darf es nicht leugnen, Entrückungen in einen undeutschen Klassizismus — was wollen diese aber gegenüber den nationalen Erfüllungen bedeuten, die es überreich bringt! Schiller hat die deutsche Jugend längst als ihren nationalen Dichter verehren gelernt; wie oft hat sie sich nicht an Versen erhoben wie der „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!“ Wilhelm Teil ist in schweizerischem Gewand eine deutsche vaterländische Dichtung, die Worte des sterbenden Attingshausen „Seid einig, einig, einig!“ sind für die deutsche Nation gesprochen. Hätte Schiller den Befreiungskrieg miterlebt, so wäre er der führende Dichter der deutschen Freiheit geworden, und man hätte erkannt, dal3 es in schmerzlicher Resignation geschehen war, als er dem deutschen Volke die Bestimmung zur politischen Nation abgesprochen hat. Goethes nationale Sendung ist weniger offenliegend als die Schillers, er liefert dem Kommersredner und Volksredner nicht die gewünschten schlagkräftigen [389] Formeln. Hätte aber Goethe mit dem Götz begonnen, wenn er nicht in tiefster Seele mit seinem Volke gefühlt hätte ? Und beweist „Hermann und Dorothea“ nicht, daß er in seinem Alter der Gesinnung seiner Jugend treu geblieben ist ? Hätte Goethe das deutsche Volkslied wieder erwecken können, wenn er nicht in tiefster Seele mit seinem Volke gefühlt hätte ? Und beweist sein „Westöstlicher Di van“ nicht, daß er auch in seinem Alter der Musik der deutschen Lyrik noch ihren Ausdruck geben konnte ? Der westöstliche Divan ist eine der Dichtungen, die am schönsten zeigen, wie deutsches Wesen durch fremdes Wesen bereichert werden könne. Das gewaltigste Zeugnis deutschen Sinnes ist der Faust. Die Sage des Volksbuches ist zur weltumspannenden Dichtung gesteigert, die doch vom Grunde aus deutsch ist. Das deutsche Volk hat sich nicht nur die Verse des Faust unvergeßlich eingeprägt, sondern es hat auch in seinen Gestalten denken gelernt: Gretchen ist die deutsche Jungfrau, Mephisto hat fast den Teufel verdrängt, in der Gestalt des Faust selber aber ist das Höchste vollbracht. Im Faust ist mit dem deutschen Wesen zugleich, wie Spengler mit Recht sagt, das Wesen des abendländischen Menschen verkörpert, im Faustschen Unendlichkeitsdrang ist der Charakter nicht nur des Jahrhunderts, sondern des ganzen Zeitalters der europäischen Vorherrschaft wiedergegeben mit seinem unbezähmbaren Verlangen ins Große und Weite bis ins Unerreichbare. Was Schiller unter deutscher Größe dachte, konnte nicht großartiger in die Welt treten.
So unbefriedigend die klassische Fassung von Deutschlands nationaler Bestimmung später dem vollerwachten Nationalgefühl erschien, so stolz und aufrecht war sie für ihre Zeit. In dieser Zeit äußerster politischer Schwäche Deutschlands war es der Beweis hohen Mutes, an seiner Größe dennoch nicht zu zweifeln, und es war der Beweis hohen Sinnes, der deutschen Nation Kulturziele zu weisen, die sie über die andern Nationen erhoben. Und hat der Weg, den die Klassiker wiesen, nicht wirklich in jedem Sinne zu Deutschlands Größe geführt ? Auf diesem Wege haben sich innerhalb Deutschlands die Geister national zueinander gefunden, auf diesem Wege wurde die teilnehmende Bewunderung der Welt für Deutschlands Kulturwerk gewonnen, und als die nationale Einigung der Geister durch die Wiedererrichtung des Reiches politisch gekrönt wurde, hat es niemand in der Welt gegeben, der diesem Akte die geschichtliche Berechtigung hätte absprechen können.
Durch die politische Demütigung im Weltkriege ist das Kulturziel, da« die Klassiker gewiesen haben, unberührt geblieben. Noch immer ist der von ihnen gewiesene Weg der sicherste zu Deutschlands Größe. [390] Wenn die Nation die Höhe ilirer Kultur in dem Sinne krönender Menschheitskultur zu wahren versteht, wie ihn die Klassiker lehrten, so kann ihr die innere Macht über die Gemüter der Welt nicht fehlen, durch welche einem Staate die höchste äußere Sicherung zuteil wird.
Der Nationalstaat ist das Schlußergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung, die, mit den einfachsten Formen der Gemeinschaft beginnend, vom Streben nach Erfolg geleitet, immer mehr völkische Elemente versammelt und durch mannigfache und sich immer erweiternde Zwischenformen des Zwanges sich endlich zur Freiheit emporhebt. Nach dem Gesetze der Erhaltung des Stärksten, das in der Gesellschaft ebenso gilt wie in der äußeren Natur, überwindet der Nationalstaat bei den entwicklungsfähigen Völkern endlich alle vorausgehenden schwächeren staatlichen Bildungen.
Der Staat ist seiner Idee nach die bürgerliche Gemeinschaft der ganzen Bevölkerung eines Gebietes, für dessen Umfang einfachere Gemeinschaftsformen nicht mehr ausreichen. Erst der Nationalstaat erfüllt diese Idee des Staates in Wahrheit, weder der orientalische noch der antike und der mittelalterliche Herrenstaat des Abendlandes hat sie erfüllt und erfüllen können, denn sie waren darauf angelegt und mußten darauf angelegt sein, die Völkerschaften in den Staat hineinzuzwingen, dem sie widerstrebten und dessen Einheit nur durch das Herrenvolk erhalten werden konnte, welches den Staat wollte. Mit dem Verfalle des Herrenvolkes mußte der Staat zerfallen — wenn dem starken Fürsten ein schwacher folgte, so war der Staat geschwächt — wenn das Thronrecht streitig war, so konnte der stärkste Fürst sich nicht ohne aufreibenden Kampf auf dem Throne behaupten. Österreich-Ungarn, der dynastische Völkerstaat, ist daran zugrunde gegangen, daß seine Völker sich zur Nation nicht zu einigen vermochten, seine Niederlage im Felde war in erster Linie dadurch veranlaßt, daß gewisse nationale Gruppen des Heeres unverläßlich waren und in der entscheidenden Stunde schließlich den Kampfplatz verließen — nicht die italienische Armee hat über seine Armee, sondern der Nationalstaat Italien hat über den Habsburgischen Völkerstaat gesiegt. Der Nationalstaat ist den geschichtlich vorausgehenden yStaatsgestalten dadurch überlegen, daß die Nation in ihrer Gesamtheit den Staat will und sich durch ihre Erneuerung im Kreislauf der Geschichte nach allen Schwierigkeiten wieder zu unverminderter Kraft erholt.
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Im gereiften Nationalstaat hat die Staateidee im Innern und nach außen ihr natürliches Maß erreicht.
Im Innern hat der Nationalstaat seine natürliche Bindung erreicht ; er ist die Angelegenheit der ganzen Bevölkerung und daher ist das Baugerüst des Zwanges unnötig geworden, das der werdende Staat brauchte, um zur Einheit, Fülle, Ordnung und Freiheit zu gelangen. Die Regierung handelt nicht mehr im Interesse ihrer eigenen Macht, sondern sie ist für das Volk da, als die durch das allgemeine Vertrauen berufene Führung. Wenn der Nationalstaat, wie es ja sein kann, das fürstliche Haus auf dem Throne beläßt, so ist der Fürst nicht mehr der Herrscher von Gottes Gnaden, sondern er herrscht durch den Willen des Volkes. Er braucht deshalb die Weihe der Macht nicht einzubüßen, die ihm der Gedanke der Legitimität verleiht, im Gegenteil, der Gedanke der Legitimität wird dadurch gesteigert, daß er statt aus dem eigenen Rechte des Fürsten aus der rechtserzeugenden Kraft des ganzen Volkes abgeleitet wird. Die Armee hört auf, das Werkzeug des Fürsten zu sein, das er auch gegen das Volk wenden kann, sie wird die nationale Waffe, und eine Nation, die nach außen hin gedeckt ist, wie die Vereinigten Staaten durch ihre Küstenlage oder England durch seine Insellage, braucht diese Waffe nicht beständig zur Hand zu haben, sondern mag sich daran genügen lassen, sie für den Ernstfall vorbereitet zu haben. Wie die Armee wirkt auch die Beamtenschaft im Dienste der Nation. Wie der alte geschichtliche Gegensatz von Regierung und Volk versöhnt ist, so ist auch innerhalb des Volkes den Gegensätzen der Parteien ihre Schärfe genommen, weil über ihnen das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit seine bindende Kraft übt. Wenn der Nationalstaat einmal wirklich festgefügt ist, so wird die proletarische Bewegung ihn nicht lockern; die französische Nation des Jahres 1848 und so auch die des Jahres 1871 war politisch noch in solcher Gärung, daß sie den Ausbruch des Klassenkrieges über sich ergehen lassen mußte, seither hat das französische Proletariat bei aller Unruhe den Frieden des Landes nicht mehr gebrochen, die englische Nation als die reifste Europas ist über das revolutionäre Krisen jähr 1848 in Frieden hinweggekommen, in den Vereinigten Staaten hat die Gefahr des Klassenkrieges bisher überhaupt noch nicht gedroht. In der gereiften Nation wirkt die demokratische Bewegung, auch wenn sie in die proletarische Schicht weitergreift, nicht umstürzend, sondern im Sinne des Xreislaufes vertiefend, dem Pfluge gleich, der die bisher noch nicht aufgeschlossene Krume umbricht.
Es begreift sich, daß eine Kulturnation sich der nationalen Idee hingibt, wenn sie alle Voraussetzungen zum Großstaate in sich hat, [392] aber bisher staatlich noch zerrissen ist, wie dies der Fall der deutschen und der italienischen Nation gewesen ist. Sie nimmt die Macht und Majestät der benachbarten politischen Nationen wahr und muß es bitter empfinden, daß sie ihnen nicht gleichgekommen ist. In Deutschland hat das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit schon ein paar Jahrzehnte vor der Wiedererrichtung des Reiches die Zollgemeinschaft durchgesetzt, wodurch es möglich wurde, daß an Stelle der wirtschaftlichen Kleinstaaterei die geeinigte deutsche Volkswirtschaft sich entwickeln konnte mit ihrer natürlichen Arbeitsteilung, befreit von den Hemmungen der Binnengrenzen. Zur großen volkswirtschaftlichen Politik nach innen und nach außen, zur Sozialpolitik und Kolonialpolitik konnte freilich erst das Reich die Geschlossenheit haben, erst das Reich hat den Deutschen auch die Einheit der Währung gegeben, durch die das Geld allein seinen Sinn erfüllt, weil es aufhört selber noch Ware zu sein, erst das Reich hat den Deutschen die Einheit des Rechtes gegeben, durch die das Recht seinen Sinn erfüllt, weil die Spaltungen behoben werden, die ihm seine Klarheit und Würde nehmen und den Arm des Richters hemmen. Im national geeinigten Reiche hat sich der Bayer nicht mehr bloß als Bayer, der Sachse nicht mehr bloß als Sachse und selbst der Preuße nicht mehr bloß als Preuße gefühlt, sondern sie alle fühlten, daß sie als Angehörige einer Großmacht einen neuen Wert hinzugewonnen hatten.
Selbstverständlich muß sich der Nationalstaat einer kleinen Nation mit geringerer Macht bescheiden als der große, er wird jedoch zu gleicher innerer Sicherheit gedeihen.
Nach außen gibt sich der Nationalstaat seine natürlichen Grenzen, denn da Staaten ihrer Natur zufolge nicht Staatsgebiete, sondern bürgerliche Gemeinschaften sind, so sind ihre natürlichen Grenzen dort gegeben, wo die bindende Kraft endigt, welche die Gemeinschaft zusammenhält. Indem der nationale Vollstaat alle Angehörigen der Nation, die in geschlossener Siedlung beisammen sind, als Bürger erkennt und indem seine nationale Einheit durch keinerlei geschlossene fremdnationale Siedlung gestört wird, so hat er in dem entscheidenden völkischen Sinne seine natürlichen Grenzen gefunden, wenn er auch nicht überall seine natürlichen Grenzen im geographischen Sinne gefunden haben sollte. Daß die Franzosen noch heute im Rhein ihre natürliche Grenze gegen Deutschland sehen wollen, ist wider das Gesetz der Zeit; er konnte ihnen als natürliche Grenze gelten, solange die Deutschen sich selber noch nicht als Nation fühlten und die Franzosen hoffen durften, sich das übrige linksrheinische deutsche Gelände in demselben Grade zu [393] amalgamieren, wie es ihnen mit dem Elsaß gelungen war. Seit die Deutschen sich selber ab Nation fühlen, ist diese Hoffnung eitel geworden, und seither hegen die unveränderlichen natürlichen Grenzen zwischen den beiden Staaten dort, wo die beiden Nationen aufeinanderstoßen. Innerhalb dieser Grenzen ist jede von ihnen in sich geeinigt und auf ihre Unabhängigkeit eifrig bedacht, für deren Wahrung sie freudig zu allen Opfern entschlossen ist. Was man sich über diese Grenzen hinaus noch einzuverleiben sucht, bleibt ein Fremdkörper, der den gesunden Kreislauf stört und den Frieden bedroht, weil dieser Fremdkörper immer zu seinem nationalen Stamme zurückverlangt, welcher seinerseits alles aufbietet, um ihn wieder an sich zu ziehen. Zwischen England und Frankreich wurden durch viele Jahrzehnte hindurch Kriege geführt, solange die normannischen Dynastien, welche die Herren von England geworden waren, ihren normannischen Besitz mit Hilfe ihrer englischen Machtmittel noch weiter ausdehnen wollten, bis sie auch Herren von Frankreich geworden wären. Diese Kriege sind zu Ende, seit England sich gegenüber Frankreich in seinen natürlichen nationalen Grenzen bescheiden gelernt hat.
Zwischen den entwickelten Nationen haben die Kriege ihren Sinn verloren, wie sie die Dynastien um die Mehrung des Reiches über die nationalen Grenzen hinaus zu führen pflegten. Man hat damit zu rechnen, daß jede Nation in sich unbeweglich ist, und muß darauf gefaßt sein, den Gewinn eines Krieges in einem nächsten wieder einzubüßen. Dafür hat der französische Revanchekrieg den welterschütternden Beweis gegeben. Im Frankfurter Frieden haben die preußischen Generale die Forderung durchgesetzt, die sie im Interesse der militärischen „Sicherung“ stellten, daß ein Stück des französischen Lothringen um Metz herum an Deutschlang abgetreten werde. Man hätte voraussehen sollen, daß das hochgespannte französische Nationalgefühl diese Wunde am eigenen Körper niemals verschmerzen werde. Hätten die Deutschen den Franzosen, die es in seinen Staat hereinzwang, befreiende Ideen zugebracht wie die Franzosen den Deutsch-Elsässern, so hätte es anders kommen können, die preußischen Staatsmänner waren aber nicht einmal imstande, im zurückgewonnenen Elsaß, wo die deutsche Sprache für den Bauern und den kleinen Mann immer noch die Muttersprache war, das Volksgefühl für Deutschland zurückzugewinnen. Es ist furchtbar zu sehen, daß der welterschütternde Beweis des Revanchekrieges nicht dazu ausgereicht hat, die Staatsmänner zu belehren, die nach dem Weltkriege den Frieden zu diktieren unternahmen. Wiederum haben die Generale, denen die kurzsichtigen Staatsmänner eifrig beistimmten, die Forderung durchgesetzt, [394] um der militärischen „Sicherung“ willen die nationalen Grenzen zu überschreiten. Jede selbstbewußte Nation — und es gehört zum Wesen der Nation, daß sie selbstbewußt ist — wird ihren Besitz als unbcrührbares Erbgut mit den äußersten Mitteln zu wahren suchen und der Irrtum des Gewaltfriedens, der den eingebornen nationalen Selbsterhaltungstrieb herausfordert, macht sich daher eines schweren Frevels wider die Natur schuldig, der sich bitter rächen wird. Der Gegner, der sich eines Stückes des fremdnationalen Erbgutes bemächtigt, um sich militärisch zu „sichern“, hat im nächsten Krieg einen gewissen Anfangsvorteil, aber gegen diesen Krieg selbst ist er nicht gesichert, er macht ihn vielmehr zur Gewißheit.
Das Beispiel Frankreichs und Englands läßt erkennen, daß zwischen gereiften Nationalstaaten zuverlässigere Sicherungen zu haben sind als die militärischen, die sich selber aufheben. Zwischen diesen beiden Staaten sind die Grenzen moralisch gesichert. Diesseits und jenseits des Ärmelkanals weiß man, daß man die natürlichen Grenzen erreicht hat, die national klar gezogen sind, und man denkt nicht daran, am andern Ufer Besitz zu suchen. Es wäre dies so ungereimt, als wenn jemand daran dächte, in seinen gesunden Körper Gliedmaßen eines andern Körpers einzupflanzen, um seine Organe zu mehren. Man denkt daher auch nicht daran, die natürlichen Grenzen durch militärische Sicherungen zu verstärken, man weiß, daß sie solcher Sicherungen nicht weiter bedürfen. Dieses Sicherheitsgefühl gilt zwischen vollgereiften Nationalstaaten überall, wo ihre Gebiete den nationalen Grenzen entlang reibungslos aneinanderstoßen. Der Gedanke der nationalen Selbstbestimmung ist in den Gemütern in keinem andern Punkte schon so fest geworden wie in dem der nationalen Selbstbegrenzung, es ist aus dem Herzen unserer Zeit gesprochen, wenn Wilson in einem seiner 14 Punkte sagt, daß die Völker nicht wie Steine im Spiel hin und her geschoben werden dürfen. Bedauerlicherweise hat er selbst und die Entente, die den Gedanken der nationalen Selbstbestimmung als eines ihrer großen Kriegsziele verkündete, sich nur darin an ihn gehalten, daß England sich auf europäischem Boden keines Übergriffes schuldig machte und daß man Frankreich, welches begierig nach der Rheingrenze verlangte, so ziemlich in Schranken hielt, so daß es sich mit einer Zukunftserwartung hinsichtlich des Gebietes von Saarbrücken begnügte. Die argen Versündigungen im Punkte der nationalen Selbstbegrenzung wurden zu Gunsten der Verbündeten begangen, deren Verlangen nach des Nächsten Land man im Süden und Osten gewähren Heß. Der Gedanke der nationalen Selbstbegrenzung mußte immerhin bereits große Macht über die [395] Gemüter gewonnen haben, daß sich ihm die Männer des Gewaltfriedens wenigstens so weit beugten; das Frankreich Ludwigs XIV. oder der Revolution oder Napoleons L und noch Napoleons III., wäre in der Ausbeutung seines Sieges minder enthaltsam gewesen. Wenn der Gedanke sich in den Gemütern in seiner Macht noch weiter in gleichem Grade ausbreitet wie in der kurzen Zeit seither, so wird es nicht lange dauern, bis er unangreifbar geworden ist, und es wird in naher Zukunft schon dahingekommen sein, daß die Nationen in der wechselseitigen Achtung ihres nationalen Wesens die höchste erreichbare Sicherung ihrer nationalen Grenzen gewonnen haben, womit wenigstens der Kampf um diese beruhigt sein wird.
Eine Nation ist nicht immer in der Lage, sich staatlich zur Vollnation abzuschließen. Sie kann es nur, wenn ihr Siedlungsgebiet geschlossen zusammenhängt und wenn ihr nicht hemmende geschichtliche Mächte im Wege stehen.
Das Siedlungsgebiet der englischen Nation war vom Ursprung an durch seine Insellage gegen den Kontinent abgeschlossen, und nachdem die englische Staatskunst gelernt hatte, die Folgerungen hieraus zu ziehen, so hatte sie nur noch die geringeren Reibungen zu überwinden, die durch die Nachbarschaft von Schottland und Irland gegeben waren. Dies änderte sich, als das britische Weltreich aufwuchs. Die freien Engländer wurden ein weltgebietendes Herrenvolk, das sich mit all den unterworfenen Völkern abzufinden hatte, und außerdem mußte es über die Reibungen hinwegkommen, die zwischen dem Mutterland und den englischen Ansiedlern entstanden, welche in den überseeischen Gebieten des Weltreiches ihre neue Heimat gründeten. Das besondere Heimatsgefühl Neuenglands entfremdete sich sehr bald dem alten Reiche bei seinen eigenartigen Verhältnissen und bei der weiten Entfernung. Die Ansiedler brachten ihren Freiheitssinn mit hinüber, der sich drüben noch freier als zuhause entfaltete. Wer sich drüben nicht selber helfen konnte, kam nicht durch, und das galt wie für den einzelnen Ansiedler, so auch für die entstehenden staatlichen Bildungen. Das Ende war, daß die Ansiedler sich auch staatlich selber halfen und als eigene Nation absonderten.
Das deutsche Volk hat die großen Überschüsse, die der Trieb der Volksvermehrung ins Leben rief, nach dem Osten entsandt, zum Teil so, daß es sie in den Gebieten ansiedelte, die es in seinem Vorwärtsdrängen den angrenzenden Slawen abgewann, zum Teil so, daß es sie zu abgesprengten Siedlungen entließ, wie sie der Wandertrieb ausspürte und das Entgegenkommen fremder Herrscher begünstigte. Von den abgesprengten [396] Siedlungen haben sich manche der deutschen Kulturnation bis heute noch erhalten, sie mußten indes der politischen Nation verloren gehen, es sind aber dieser auch solche Volksteile verloren gegangen, deren Siedlungen dem politischen Verbände geschlossen angrenzten. Wir haben hierüber schon an einer früheren Stelle gesprochen und haben gezeigt, daß die geschichtliche Macht, mit der die Schweiz ihre deutschen Bürger an sich schloß, stärker war als deren Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber dem Deutschen Reiche. Dasselbe galt im Grunde auch für die Deutschen in der Habsburgischen Monarchie, die übrigens mit dem Reich einen gewissen politischen Zusammenhang bewahrte. Die Eigenart des deutschen Absonderungstriebes hat sogar den politischen Zusammenhang des Reiches selbst sehr gelockert und dadurch die Entwicklung des deutschen Nationalgefühles in hohem Grade zurückgehalten. So erklärt es sich, daß im deutschen Elsaß das Nationalgefühl noch nicht erwacht war, als das französische schon die stärkste werbende Kraft besaß. Noch in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist in der Habsburgischen Monarchie, die von einem Fürsten regiert war, welcher sich kurz vor 1 866 selbst als deutscher Fürst bekannt hatte, das städtische Deutschtum Ungarns zum magyarischen Volkstum und die dortige deutsche Bauernschaft zum magyarischen Staatsgedanken übergegangen. Bei der Wiedererrichtung des Reiches war die Zeit für den großdeutschen Gedanken noch nicht reif, für die deutsche Kulturnation waren selbst dort wo sie geschlossen lebte, die Voraussetzungen zur Vollnation geschichtlich noch nicht erfüllt.
In dem Gebiete der Habsburgischen Monarchie so wie im Balkangebiete und zum Teil auch in dem des alten Polen bestand von der Völkerwanderung her nationale Gemengelage. Hier war für den nationalen Großstaat nirgends Raum. Völker, die der Förderung teilhaftig werden sollten, welche ein Großstaat gewährt, mußten unter einem andern Staatagedanken geeinigt werden, welcher unter den gegebenen Umständen nur der dynastische sein konnte. Daß die Habsburger ihr Reich durch glückliche Heiraten mehren konnten, haben sie dem Umstand zu danken, daß sich diese Heiraten durch die Aussicht empfahlen, den vereinigten Völkern die erhöhte Widerstandskraft zu geben, wie sie die allgemeine Unsicherheit und insbesondere die schwere Türkengefalir forderte. Als dann später die Völker der Monarchie national bewußt geworden waren und sich nun aus eigenem Willen im Staate einigen sollten, war der Reibungen kein Ende. Die Regierung und die vorausblickenden Politiker waren bestrebt, die Völker im Gedanken nationaler Gerechtigkeit zu versöhnen, und man darf nicht sagen, daß ihre Bestrebungen [397] aussichtslos waren. Der Verfasser dieses Buches ist immer der Ansicht gewesen, daß in der Monarchie und insbesondere in der österreichischen Reichshälfte für die Saehe der nationalen Gerechtigkeit mehr an Gedanken und Taten geleistet wurde als irgendwo sonst in der Welt, und er ist auch heute noch der Ansicht, daß den Völkern ÖsterreichUngarns die Vorteile der Großmacht und der Besitz ihrer Nationalkulturen gewahrt geblieben wären, wenn der gewaltsame Zugriff von außen, der im Weltkrieg erfolgte, die nationalen Sonderbestrebungen nicht bis zum äußersten aufgeregt und das mühsame Werk über den Haufen geworfen hätte. Das Ende war, wie man es mit einem zutreffenden Namen bezeichnet, die Balkanisierung eines ausgedehnten Gehietes von Mitteleuropa.
In den Balkanländern und den neuerdings balkanisierten Ländern ist die nationale Gemengelage vielfach so verwickelt, daß auch für den nationalen Kleinstaat der Raum nicht gegeben ist. Wir wollen davon absehen, daß in den Balkanländern allerlei Volksgruppen schwankenden Nationalcharakters leben, die für verschiedene Nationen in Anspruch genommen werden, und wollen bloß dabei verweilen, daß sich die nationalen Grenzen dort, wo sie klar erkennbar sind, oft mit den geographischen Grenzen nicht decken. Nun sind die geographischen Grenzen für den national nicht gefestigten Staat wichtiger als für die Nationen alten staatlichen Bestandes. Österreich-Ungarn wie die Türkei haben auf die geographischen Grenzen deshalb achten müssen, weil sie ihre gegebenen Verteidigungslinien waren. Dazu kommt, daß sich nach den geographischen Grenzen nach und nach die Produktionsund Marktgebiete abgegrenzt haben. Österreich mit all seinen Nationen bildete zufolge seiner Zollgemeinschaft ein volkswirtschaftliches Gebiet, das Donau-Theißbecken um Budapest herum ist für alle dort ansässigen Nationen ein Produktionsund Marktgebiet. Die nationalstaatliche Zerreißung im Gewaltfrieden hat diese Wirtschaftsgebiete zum Schaden aller Beteiligten zerrissen. Außerdem muß bemerkt werden, daß die nationale Zerreißung infolge der Gemengelage und aus andern Gründen, die hier zu erörtern zu weit ginge, nicht ganz durchgeführt werden konnte, so daß die Neustaaten, die man bildete, mehr oder weniger national gemischt sind. An Stelle des einen nach nationaler Gerechtigkeit strebenden Großstaates Österreich-Ungarn ist nun eine Zahl von kleineren Staaten gemischter Nationalität da, die der Vorteile des Großstaates entbehren und bei denen das Verlangen, sich national auszuleben, nationale Gerechtigkeit nicht aufkommen läßt.
Für Staaten und Nationen dieses Zustandes gibt der nationale Gedanke keinerlei Sicherungen des Friedens, er bringt vielmehr Unruhe und Kampf.
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Mit Recht bezeichnet man die Geschichteperiode, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum anhebt, als die des Nationalismus. In dieser Periode ist die nationale Macht die dominante Macht in Europa und fast in der ganzen staatlich geordneten Welt, die Kationen sind die Einheiten von Kultur und Staat, das staatliche Werk und das Kulturwerk werden im nationalen Zusammenhang aller Kräfte vollzogen, die sich im Kreislauf stets erneuern. Dadurch, daß man fremde geistige wie materielle Werte aufnimmt., ist der Nationalcharakter nicht aufgehoben, denn auch diese werden dem heimischen Werke nutzbar gemacht. Der nationale Charakter ist auch dort nicht aufgehoben, wo man von fremdem Lande Besitz ergreift, denn auch dies geschieht nur zur Erweiterung der nationalen Oberherrschaft. Ebensowenig ist ej dadurch aufgehoben, daß man manche Kulturarbeit in Gemeinschaft mit andern Nationen vollzieht, denn die Erfolge, die man damit erzielt, werden auch dem nationalen Werke zugerechnet, nirgends hat bisher das internationale Werk den nationalen Zusammenhang aufgelöst. National wird auch das wirtschaftliche Werk geführt; die große Lebensmacht der Wirtschaft zählt mit zum nationalen Machtbestand, und auch hier ist die Nation die tragende Einheit, auch hier erneuert sich im ständigen Kreislauf die nationale Kraft, auch hier ist der nationale Zusammenhang entscheidend und der Weltzusammenhang hat nur dazu zu dienen, den nationalen Machtbestand zu steigern.
So betrachtet ist der Nationalismus die Leistung des nationalen Werkes aus nationaler Kraft. Da indes die Äußerungen der nationalen Kraft auch vom nationalen Machtgefühl begleitet werden, so ist er zugleich der Ausdruck nationaler Macht. Dem Nationalismus ist das Machtgefühl immer assoziiert; die Gemüter der Nation verfolgen eifrig den Gang des nationalen Werkes, man vertieft sich in die statistischen Ziffern seiner Werte, jeder große Erfolg ist ein nationales Fest, jede große Schädigung ein empfindlicher nationaler Schmerz, jedes Emporkommen fremder Kraft eine nationale Besorgnis. Schon seit langem hat die englische Regierung darüber gewacht, jeden Engländer auf jedem Punkte der Erde vor Kränkung zu behüten, und hat die englische Macht dafür eingesetzt, die geschehene Kränkung zu sühnen; heute geht die ganze englische Nation darin mit der englischen Regierung mit. Der Zusammenstoß von Faschoda, wo eine englische Expedition unvermutet von einer französischen überholt wurde, hat die Nation in kriegerische Aufregung versetzt, der Ausbau der deutschen [399] Kriegsflotte war Sache schwerster allgemeiner Beängstigung, jedes unüberlegte Wort Kaiser Wilhelms wurde so überhitzt aufgenommen wie es mit allem geschieht, was von dem Wirbel der Öffentlichkeit erfaßt wird. Der kühle Engländer ist in allen Dingen von nationaler Bedeutung fieberhaft erregbar, denn dann geht die ganze nationale Masse zusammen, und die Masse wird in England wie überall mehr durch ihr Gefühl als durch ihr Urteil .geleitet. Geschichtlich genährt wie er ist, wird der englische Nationalstolz auf jede Herausforderung oder auf alles, was er für Herausforderung hält, besonders empfindlich reagieren.
Nicht selten hat der Name des Nationalismus jenen schlimmen Sinn, wie ihn der Zusatz „ismus“ gerne anklingen läßt. Es ist dies ein Nationalismus, in welchem das nationale Machtgefühl über die nationale Kraft hinausgeht, der Nationalismus der Begehrlichkeit und der Phrase, der nationale Chauvinismus. Eine nicht geringe Zahl der kleinen Nationen in Europa ist von diesem Nationalismus angesteckt. Man hat die nationale Idee aufgefangen, die, von den starken Nationen an ihren großen Werken entzündet, heute überall in der Luft liegt, und nimmt die stolze nationale Gebärde an, ohne dazu durch die eigene Leistung berechtigt zu sein. Heute gibt es Nationalismus sogar dort, wo die Nation selber noch gar nicht da ist. Es gibt einen ägyptischen, indischen, chinesischen Nationalismus, ohne daß die ägyptische, die indische, die chinesische Nation ausgebildet wäre. Jedes dieser Völker kann auf höchste geschichtliche Werte verweisen, die von seinen Vorfahren geschaffen wurden, man bedenkt indes nicht, daß diese Werte doch nicht von der Nation, sondern von einer Herrenschicht geschaffen wurden, die längst untergegangen ist, während die Masse des Volkes, untertänig gedrückt, damals so wenig eines Kulturwerkes fähig war wie sie es noch heute ist. Die kleine europäisch gebildete Gesellschaft, die in diesen Ländern heute die Führung besitzt, hat nach europäischem Beispiel die Parole der nationalen Unabhängigkeit ausgegeben und hat dabei den Zulauf der Masse, die ihre Abhängigkeit von fremden Machthabern schmerzhaft zu fühlen bekommen. So ist ein Arabi Pascha mit kurzem Erfolg gegen England in Ägypten aufgestanden und ein Sunyatsen in China mit stärkerem Erfolg gegen die Dynastie und die Fremden. Man darf gegen die Männer keinen Vorwurf erheben, die für die Freiheit des Vaterlandes ihr Leben wagten, aber man muß sich darüber klar bleiben, daß hinter ihnen bei aller Begeisterung ihres nächsten Gefolges doch keine tiefere nationale Kraft steht. Hinter Washington und Franklin stand die Kraft der neuenglischen Nation, die, alle Krisen eines langjährigen Krieges überwindend, schließlich ihre Unabhängigkeit [400] erkämpfte und den Staat, den sie errichtete, als wahren Nationalstaat zu Wachstum und Blüte erheben konnte. Gesetzt, daß die Ägypter ihre äußere Unabhängigkeit erreichen sollten, so wird es ihnen doch nicht gelingen, einen innerlich gefestigten Nationalstaat zu schaffen, denn die Massen werden in ihrer Untertänigkeit verbleiben. Die von Gandhi geführte indische Bewegung ist stärker, weil in ihr sittliche und religiöse Mächte mitwirken, die im Volke tief gewurzelt sind, aber auch sie wird den Nationalstaat nicht schaffen können, denn es gibt keine freie iridische Nation, die auch nimmermehr kommen wird. Um aber wieder auf die kleinen Nationen Europas zurückzugreifen, von denen wir zu sprechen begonnen haben, so muß man zugestehen, daß diejenigen von ihnen, deren Massen frisch sind — was zum Beispiel von der rumänischen Bauernschaft keineswegs gilt — und deren Oberschichten kulturell erzogen sind, sich auf dem Wege zur Nation befinden, von dessen Kreislauf aber auch die entwickeltsten von ihnen doch noch ein gutes Stück zurückzulegen haben, bis sie sich an ihrem Kulturwerk zur Höhe erheben werden. Manche von ihnen — wiederum müssen wir sagen, nicht alle — haben im Weltkrieg die nationale Feuerprobe mit Ehren bestanden, wie sich insbesondere die Serben mit dem Mute des Naturvolkes, mit Beherrschung der militärischen Hilfsmittel und mit voller' nationaler Hingebung geschlagen haben. Vergessen wir aber nicht, daß das kriegerische Staatswerk erst der Anfang des nationalen Werkes ist und daß das folgende Kulturwerk an die Kraft der Massen Anforderungen stellt, die viel schwerer zu erfüllen sind. Ein bekannter Ausspruch Lichtenbergs sagt, daß die Menschen lieber für ihren Glauben kämpfen als nach ihm leben, man kann ebenso sagen, daß die Menschen eher dafür zu haben sind, für ihre Nationalität zu kämpfen als den nationalen Gedanken in seinem Friedenswerke zu erfüllen. Dafür hat man in den Neustaaten des Gewaltfriedens noch gar viel zu tun. Ein Staat ist noch lange nicht konsolidiert, wenn er sich seine Verfassungsform gegeben hat, und diese Staaten haben schwerere Aufgaben vor sich, als die nationalen Vollstaaten, weil sie national gemischte Staaten mit willkürlichen Grenzen sind, und nun sollen sie diese Aufgaben ohne rechte Schulung im Staatsgeschäft und ohne tragende geschichtliche Mächte erfüllen. Ihr Siegesgefühl läßt sie glauben, daß sie stark sind, aber täuschen sie sich nicht mit diesem Gefühle ? Ihr Siegesgefühl ist kein Siegergefühl, die Entente hat den Sieg für sie gewonnen. Welchen Anteil haben die Tschechen und haben die Polen an den Entscheidungen des Weltkrieges ? In ihrer großen Zahl haben sie auf der besiegten Seite oder ganz abseits gestanden und sie konnten daher das echte Siegergefühl nicht kennen lernen, welches das [401] Bewußtsein schwergeprüfter Kraft gibt und das unter Führern, die sich im ernsten Kampf ausgelesen haben, stolze Festigkeit gewonnen hat.
Die kleinen Nationen des germanischen Nordens, die Schweden und Norweger, die Dänen und die Holländer sind national vollwertig. Ihr nationales Bewußtsein ist durch die reiche Entwicklung ihrer Kraft gerechtfertigt, am Kulturhimmel Europas glänzen sie mit Sternen erster Ordnung und dabei haben sie sich alle national bescheiden gelernt. Die Zeit, in der die Wikinger der Schrecken Europas waren, ist vorüber, ebenso die Zeit, in der die Schweden ihren Platz unter den europäischen Großmächten hatten, auch für Holland ist die große Zeit vorüber, da seine Flotte mit der englischen um die Seeherrschaft rang und Wilhelm von Oranien im Kampfe für das europäische Gleichgewicht dem mächtigen König Frankreichs trotzte. Alle diese Staaten sind jetzt in tiefem Frieden auf ihre kleine heimische Welt eingestellt und müssen sich darein fügen, daß ihre Volksüberschüsse durch Auswanderung über See national verloren gehen, nur Holland ist durch seine Plantagenwirtschaft etwas andere daran. In den nationalen Konflikten Europas haben sie eine Stellung, welche der der national gemischten Schweiz gleichkommt. Wie diese sind sie neutral geblieben, und der Entschluß dazu war ihnen durch ihr Wesen von selbst geboten. Dem prüfenden Beobachter sind sie der erwünschte Beweis, daß sich in der Nation Mannhaftigkeit mit Friedfertigkeit vereinigen läßt, und sie sind ferner der Beweis, daß finden Staat die moralische Sicherung höher zu bewerten ist als die militärische. Wodurch sonst ist ihr Bestand gesichert als durch die Achtung, die sie im Kreise der Nationen genießen ? Welche militärischen Machtmittel von Belang könnten sie den Großmächten entgegenstellen ? Vielleicht hatte Schweden, das seinen finnischen Besitz den Russen überlassen mußte, noch weiteren russischen Angriff zu fürchten, solange Rußland im Sinne einer asiatischen Despotie auf Eroberung ausging, jede Kulturnation aber würde sich der Verurteilung durch die Welt aussetzen, wenn sie den Frieden dieser kleinen Nationen stören wollte. Dem europäischen Sinn gelten diese Staaten als glückliche Inseln, die sich aus dem Meere des ruhelosen Kampfes erhoben haben, dessen Stürmen sie ausgesetzt waren, solange ihre Bewohner es noch nicht gelernt hatten, sich den Versuchungen äußerer Macht zu entziehen. Wenn einmal alle Völker des gleichen Sinnes sind, dann wird die Unterlage für einen Völkerbund geschaffen sein, der seinen tiefsten Trieben nach ein Bund des Friedens ist.
Wie diese nordischen Staaten sind auch Belgien, Spanien und Portugal heute den Weltaspirationen entnommen und, alles in allem, soweit [402] es auf sie ankommt, auf äußeren Frieden eingestellt. Ihr innerer Friede allerdings ist nicht recht gefestigt. Belgien ist national gespalten, und in Spanien und Portugal sind bei den Massen die Nachwirkungen des Absolutismus und der geistlichen Herrschaft noch nicht überwunden.
Mit den Neustaaten, die auf dem Boden Österreich -Ungarns, der Türkei und des westlichen Rußland gebildet oder erweitert wurden, steht es anders, sie sind Herde der nationalen Unruhe im Innern und nach außen. Wie soll dies anders sein, da sie keine natürlichen nationalen Bildungen sind? Sie sind künstliche Schöpfungen, die von den Siegern des Weltkrieges ausgezirkelt wurden, um die Bundesgenossen Deutschlands aus dem Spiele zu bringen und Deutschland im Osten zu verkleinern und zu umwallen. Überall hat man, rücksichtlos dieser Absicht folgend, ins Lebendige von Nation und Wirtschaft und geschichtlicher Macht hineingeschnitten. Deutschöstexreieh ist ein Rumpf, um dessen Erhaltung die Ärzte des' Völkerbundes ängstlich bemüht sein müssen, den Magyaren und Bulgaren ist Besitz genommen, auf den sie nicht verzichten wollen, noch auch leicht verzichten können, den Polen. Tschechoslowaken, Rumänen und Jugoslawen ist zu ihren nationalen Stammkörpern noch anderer Besitz hinzugegeben, den sie niemals aus eigener Kraft hätten gewinnen können und von dem es überaus zweifelhaft ist, ob sie ihn werden behaupten können. Auch von den noch übrigen Neustaaten, die wir nicht einzeln aufzählen wollen, sind die meisten unbefriedigt und tragen nach ihrem Vermögen das Ihrige dazu bei, sich und ihre nähere und entferntere Umgebung in Unruhe zu erhalten. Wir wollen uns daran genügen lassen, das Übel des Nationalismus an den eben genannten Staaten zu analysieren.
Im alten Österreich, in der europäischen Türkei und im westlichen Rußland — und dasselbe gilt für das preußische Polen — hatten Eroberung oder sonstige Gewaltakte oder auch freiwillige Unterwerfung unter den Schutz des Mächtigen eine ganze Zahl von Völkern eingegliedert, die früher selber ansehnliche Macht besaßen und als Staatsvölker wie al* Kulturvölker ihre stolzen Erinnerungen hatten. Einige von ihnen hatten bei aller Resignation, die ihnen durch die Umstände auferlegt war, ilire völkischen Ansprüche niemals aufgegeben, andere hatten ihr völkisches Selbstbewußtsein fast eingebüßt, bei den einen und den andern hat aber die aufkommende nationale Idee, die sich mit der Macht der geschichtlichen Erinnerungen verband, das völkische Bewußtsein und die völkischen Ansprüche nicht nur wiedererweckt, sondern noch vertieft, weil sie sie in die Massen hineintrug, die früher keinen Anteil daran hatten. Nach dem Zusammenbruche Rußlands, der Türkei, Österreich-[403] Ungarns und Deutschlands rückten sie alle in freudiger Begierde in die Machtstellungen ein, die ihnen die freigebige Hand der Entente zuwies. Selbst Masaryk, ein Mann von hohem geistigen Rang und einer der überzeugtesten Fürsprecher des nationalen Ausgleiches mit den Deutschen im alten Österreich, ist zum ausgesprochenen Nationalisten geworden. Er hat dabei mitgetan, die tschechoslowakische Republik auf eine Grundlage nationaler Ungerechtigkeit aufzubauen, die das alte Österreich in ehrlichem Bemühen in allen Hauptsachen schon überwunden hatte. Viel schlimmer noch als in der Tschechoslowakei wirkte sich der Nationalismus der andern Neustaaten aus; die Widerstandsfähigkeit der Deutschen in der Tschechoslowakei ist so groß, daß man nicht umhin konnte, ihr in einem gewissen Maß Rechnung zu tragen, in den andern Neustaaten sind die nationalen Minoritäten weit schwächer und daher weit übler daran. Keiner der Neustaaten verdient den Namen eines Nationalstaates, sie sind alle durchaus nationalistische Staaten, in denen die nationale Begehrlichkeit übermütig über das nationale Vermögen hinausgeht. Nehmen wir das Staatsvolk der Schweiz zum Vergleich! Die Schweiz ist völkerrechtlich für unantastbar erklärt, sie ist es indes schon durch ihre innere Kraft und Würde, sie ist es durch die Kraft ihrer Bürger, in denen die Kraft der Väter fortlebt, welche die Schweiz in schwerem Kampf gegründet haben und nach der Weisheit der Zeit zu regieren vermochten. Die Neustaaten haben ihre Machtstellung nicht im Kampfe gewonnen, nur die Rumänen und die Serben standen auf Seite der Sieger und auch sie, so mannhaft und ehrenvoll sich insbesondere die Serben schlugen, haben nicht durch eigene Kraft gesiegt. Ohne Lehrzeit und Probestück sind die Neustaaten durch das voreingenommene Verdikt der Entente für staatsreif erklärt worden, ohne Vorschule und Erfahrung haben sie ihren hoheitlichen Beruf angetreten, unter Verhältnissen, die so schwierig sind, daß höchste Schulung und Erfahrung für sie kaum ausreicht. In sich unsicher und gegeneinander erregt, sind sie eine Gefahr für Europa, sie sind es umsomehr, weil sie die willkommenen Spielbälle im Machtspiel der Großmächte sind, wie Serbien vor dem Weltkrieg im Machtspiel Rußlands. Die Unruhe ihres Nationalismus kann, so wie es bei Serbien der Fall war, wieder im ganzen Europa und in der Welt den Kampf in Bewegung bringen.
Italien, das älteste unter den Kulturländern des heutigen Europa, reich an gebildeten Bürgern und die Wiege der modernen Staatskunst, darf mit den Neustaaten des Ostens nicht in einem Atem genannt werden, aber die Diagnose seines Befindens muß doch dahin lauten, daß es mit diesen die Krankheit des Nationalismus teilt, es ist geradezu das Mutterland [404] des nationalen Chauvinismus. Sein Nationalismus unterscheidet sich von dem der andern Großstaaten darin, daß er noch nicht stark genug ist, sich imperialistisch in die Ferne zu wenden, und er ist dadurch seinen Nachbarn um so gefährlicher. Als Bismarck die deutsche Kolonialpolitik einleitete, tat er dies unter vorsichtigem Zögern ; der Kaufmann müsse die Kolonien machen, so sagte er, der Staat habe ihn dabei nur zu unterstützen. Darin ist der moderne Imperialismus der Nation au innerer Kraft dem der alten welterobernden Herrscher überlegen, er folgt nicht einem Befehle von oben, sondern geht aus einem überquellenden Drang der Bürger hervor, der sie in die Welt hinaus treibt wie die Bienen, die den Honig weit herum sammeln. Venedig und Genua hatten diesen Drang, als sie am Mittelmeer Besitz erwarben, das moderne Italien hat ihn auch noch nicht über das Mittelmeer hinaus. Es findet die nationalen Sendlinge für die Welt in der Hauptsache in seinem dürftigen und fleißigen Landproletariat, das den Lohn für seiner Hände Arbeit draußen sucht, wo große Unternehmer Arbeit zu vergeben haben ; die eigentlichen Träger der nationalen Bewegung, das Bürgertum und die Jugend der gebildeten Stände, gingen ganz in dem Gedanken der Italia irredenta auf, der danach begehrt, die Konnationalen zu befreien, welche den Staatsgrenzen entlang und am andern Ufer der Adria fremder Herrschaft Untertan waren. Ursprünglich war die nationale Bewegung gegen die Fremdherrschaft in Italien selbst gerichtet, es war dies die Heldenzeit der nationalen Begeisterung und Aufopferung, die unter Führung von Garibaldi, Mazzini und Cavour in der Errichtung des einigen Italien ihren triumphierenden Sieg gewann. Die Bahnen dieser Bewegung sind durch die lange Dauer, die der nationale Kampf erforderte, zu tief ausgefahren, als daß man sich über sie hätte erheben können. Crispi, ein Mann der Tat und der Überlegung, der selber als einer der Zehntausend mitgekämpft hatte, versuchte sein Bestes, um die Bewegung zur Ruhe zu bringen, aber es war vergebens. Die Nation konnte sich an den großen Worten nicht sättigen, dem Heldenzeitalter folgte das Zeitalter der Phrase, wo man den berauschenden Worten eines Gabriele d'Annunzio lauschte. Man war ja auch nach der langen Mißgunst des Schicksals zuletzt durch das Glück verwöhnt worden und überschätzt« seine Kraft. Das Wort Cavoure „Italia farà da se“ war nicht ganz zur Wahrheit geworden; wohl hat der piemontesische Soldat und Beamte seine volle Pflicht getan und viele andere neben ihm, der letzte Erfolg war aber doch immer fremder Mithilfe zu danken, welche die italienische Staatskunst zu schaffen wußte. Die Lombardei ist durch die Franzosen bei Magenta und Solferino, Venezien trotz Custozza und Lissa [405] durch die Preußen bei Königgrätz gewonnen worden, auch der Sieg im Weltkrieg ist nicht durch italienische Siegeskraft entschieden worden, und man kann daher vom italienischen Nationalismus mit Recht sagen, daß er über die nationale Kraft hinausgeht. In seiner chauvinistischen Übertreibung hat er im Gewaltfrieden nach fremdnationalem Gut gegriffen, im Heimattal von Andreas Hofer ist die Trikolore aufgepflanzt, neben deutschem Nationalgut hat er auch jugoslawisches in Besitz genommen und schon richtet er die Augen begehrlich nach der ltalia irrcdenta im französischen Besitz. Wo wird Italien den Helfer finden, wenn es einmal alle diese Konflikte auszutragen hat, denen seine eigene Kraft doch nicht gewachsen ist ? Dazu kommt, daß es auch in seinem Innern noch nicht zur Ruhe gelangt ist, es fehlt ihm auch im Innern die Ordnung, die der Menschenstaat wie der Bienenstaat braucht, um seine Früchte zu genießen. Das junge Königreich hatte sich in seinen Anfängen des Besitzes einer Reihe von gewiegten Staatsmännern zu erfreuen und ging seinen Weg sicherer als die meisten jungen Demokratien, nach und nach verfiel es aber doch auch in allzu rascher Demokratisierung der Parteianarchie, welche die jungen Demokratien überall zeigen, wo es an festen geschichtlichen Mächten fehlt. Allerdings hat in einer bemerkenswerten Gegenwirkung der Nationalismus den Fascismus gezeitigt, welcher der verderblichen Parteizerklüftung Herr zu werden sucht. Vermöchte es der Fascismus, sich so rein zu erhalten wie er gedacht ist, so würde er dem Land ein Segen werden; da er aber auch in den eingefahrenen Bahnen des leidenschaftlichen Nationalismus geht, so muß es dahingestellt bleiben, welches die Folgen sein werden, die er über das Land bringt.
Das zaristische Rußland war seit Peter dem Großen und noch entschiedener seit Katharina eine imperialistische Großmacht, sein Imperialismus war aber zunächst noch kein nationaler, sondern ein dynastischer, er war immer nur so stark als der Herrscher, der gerade regierte. Die Organe eines nationalen Imperialismus haben sich erst nach und nach und nur zum Teil ausgebildet. Am frühesten war der russische Bauer durch seinen Landhunger und seinen Wandertrieb in Bewegung gesetzt, wie dies überall bei den Völkern der Fall war, deren große Massen den Boden bebauten und bei ihrer extensiven Arbeit für die rasch zuwachsende Bevölkerung den Unterhalt zu Hause nicht schaffen konnten. Die Eroberung Sibiriens, die durch die russischen Waffen eingeleitet wurde, ist durch den russischen Bauernkolonisten beendet worden. Erst die mächtige Kulturbewegung, welche die besten russischen Geister beseelte, hat die russische Gesellschaft mit nationalem Sinn erfüllt. Echt [406] und tief wie die russische Kulturbewegung war, hat sie indes noch nicht die Zeit gefunden, ihre Früchte der großen Masse mitzuteilen, mit der sie vergeblich die Berührung sucht, aber sie war doch eben dadurch echt und tief, daß sie ihre Wurzeln im Volkstum hatte. Die russischen Schriftsteller, vor deren Größe sich das erstaunte Europa beugte, waren dadurch groß, daß sie die Innerlichkeiten der russischen Volksseele in Worten aussprachen, die ihnen der Reichtum der Volkssprache darbot, ebenso schöpften die Komponisten aus der Quelle des Volksgesanges, wie sich auch im Theater eine ursprüngliche Kraft offenbarte. Trotz alledem waren die Russen vor dem Weltkrieg noch keine vollwertige Nation. Die durchnationalisierte Oberschicht, welche die öffentliche Meinung im Sinne einer leidenschaftlichen Nationalpolitik fortriß, reichte gerade dazu aus, die Stellen der Führung und Unterführung in Staat und Armee zu besetzen. Wenn wir alles genau erwägen, so müssen wir sagen, daß der Weltkrieg, der für Rußland ein Krieg mit weit gesteckten imperialistischen Zielen war, weder ein dynastischer noch ein nationaler, sondern daß er ein durchaus nationalistischer Krieg war, vom Nationalismus der russischen Gesellschaft geführt, ohne daß die Masse des Volkes vom Herzen dabei war. Zwar wurde seine Ankündigung in den großen Städten von der Menge mit stürmischen Ausbrüchen der Begeisterung begrüßt und die Millionen der einberufenen Soldaten stellten Bich willig dem Befehl des Zaren, dennoch fehlte die durchgängige nationale Kraft, um den Krieg bis zu Ende zu führen. Das aktive Offizierskorps war die Klammer, welche die Armee zusammenhielt, und sobald es im Felde verbraucht war, mußte die Armee auseihanderf allen, denn die Masse der Soldaten war durch kein nationales Motiv bei der Fahne gehalten und für sie war daher der Krieg mit seinen ungeheuren Forderungen eine sinnlose Aufopferung. Was von Truppen beisammenbüeb, geriet in die Hände der bolschewistischen Führer und wurde die Waffe, um den Staat des Zarismus zu zertrümmern. Die Losung, unter der es dazu kam, war die des Friedens, noch aber war dem russischen Volk Friede nicht gegönnt. Die neuen Machthaber hatten sich zunächst der Gegenrevolutionen der zaristischen Generale zu erwehren und dann gingen sie selber zum Angriff vor, um den alten Umfang des Reiches wieder herzustellen und wenn möglich die kommunistische Weltherrschaft einzuleiten. In der Abwehr erfolgreich, waren sie zum Angriff noch zu schwach und halten seither Friede. Auf wielangc ? Das Geheimnis der russischen Sphinx ist so leicht nicht zu deuten, sicher ist nur das eine, daß die in Rußland gesammelte Kraft zu gewaltig und in sich noch zu gärend ist, um ihren Expansionsdrang auf die Dauer zurückzuhalten. [407] Da das bolschewistische Experiment die innere Gärung erhöht, so muß auch der Expansionsdrang erhöht sein, vielleicht wird er, falls das neue Sj'stem nicht früher zusammenbricht, in einem bolschewistischen Imperialismus zum Ausbruch kommen, der die nationalistischen Überlieferungen überdies noch auszunützen weiß.
Die Engländer sind die geborenen Imperialisten. Die englische Insel hat die Wikinger auf ihren Seefahrten verlockend angezogen, und die Kraft der Angeln und Sachsen, der Dänen und Normannen summierte sich zu einer völkischen Energie sondergleichen. In der Abgescldossenheit ihrer Insel ordnete sich diese Energie verhältnismäßig bald zu fester staatlicher und dann auch nationaler Einheit. Verhältnismäßig frühe haben die Engländer gelernt, den aussichtslosen Plänen kontinentaler Herrschaft zu entsagen, auch der Kontinentalbesitz ihrer hannoverischen Könige hat sie nicht zu dessen Mehrung verleitet. Die große Kontinentalpoktik, die sie führten, hielten sie für notwendig, um das Aufkommen einer dominanten europäischen Macht zu verhindern, die ihnen hätte gefährlich werden können. Da ilire Hauptziele außerhalb Europas lagen, so dienten ihnen die europäischen Kriege dazu, um diejenigen Mächte zu treffen, die ihnen über See im Wege waren. Während ihre kontinentalen Bundesgenossen und Gegner sich um weniger Meilen Landes willen, die aus einer Hand in die andere gingen, in aufreibende Kriege verstrickten, war es ihnen um die endlosen Überseegebiete zu tun, zu deren Erwerbung sie sich in den begleitenden Kolonialkriegen durch die Vernichtung der rivalisierenden Flotten die Voraussetzung schufen. Für die Ausbreitung der Weltherrschaft bot ihnen die überquellende Kraft der Heimat alles was sie brauchten, den Seemann, den Reeder und den Schiffbauer, den Unternehmer jeder Art zu Hause und draußen, den Offizier, den Beamten und den Kolonisten, die Waren des Exportes und das Kapital ; der englische Unternehmungsgeist schuf sogar aus privaten Mitteln die Handelskompagnie, die das große Indien unterwarf und beherrschte, bis der Staat es aus ihren Händen übernahm. Der Staat hat niemals gesäumt, das Seinige an militärischer und an politischer Leistung hinzu zu tun, die englischen Prokonsuln hatten die starke Hand, den großen Blick und die weise Besonnenheit, die das Imperium fordert. Der englische Imperialismus war zu Hause nationalfreiheitlich, auf dem Kontinent ließ er die fremden Nationen frei gewähren, solange sie seine Kreise nicht störten, gegen die Völker der Halbkultur und der Unkultur trat er erobernd mit dem gebieterischen Sinn des Herrn auf. Zu Hause ein vollwertiger Nationalstaat, wurde England draußen ein nationaler Herrschaftsstaat über Hunderte von Millionen fremder Untertanen, [408] denen die nationale Selbstbestimmung vorenthalten blieb. Man berief sich darauf, daß dies zum Wohle der unterworfenen Völker geschehe, denen die Kraft der Selbstbestimmung fehle und für welche die englische Herrschaft die Befreiung von den Gewaltherrschaften bedeute, denen sie früher unterworfen waren und denen sie unterworfen geblieben wären, falls sie für sich weiter bestanden hätten. Wie immer es sich damit verhalten mag, so muß das eine zugegeben werden, daß die nationale Idee bei diesen Völkern durch die englische oder irgend eine andere europäische Herrschaft nicht verletzt werden konnte, denn keines dieser Völker war zur Nation gereift. Es ist kein heuchlerisches Doppelspiel, wenn England zu Hause die nationale Selbstbestimmung hat und draußen als Herr befiehlt. Sein nationaler Herrschaftsstaat ist der folgerichtige Machtausdruck der Kraftverteilung in der Welt. Er ist nicht nationalistisch im üblen Sinne, denn der englische Imperialismus hat sich bisher nicht über die nationale Kraft erhoben — vielleicht kommt die Zeit, vielleicht ist sie nicht einmal so ferne, wo die Kraftverhältnisse sich ändern.
Dem französischen Imperialismus fehlt die völkische Unterlage des englischen, Frankreich liefert keinen Menschenüberschuß für das Werk der Kolonisation. Sein Imperialismus ist militärisch gefügt und hat seine letzten Ziele immer noch im nahen Europa, Ziele, die nur mit militärischer Macht aufrecht erhalten werden können.
Der deutsche Imperialismus ist spät aufgeschossen, hat sich aber umso rascher entwickelt, da das junge Deutsche Reich nicht wenige der Voraussetzungen mitbrachte, wie sie England zur Weltherrschaft befähigen, dessen Welterfahrung es freilich zu seinem großen Schaden entbehrte. Das rasche Aufkommen des deutschen Wettbewerbes in der Welt wurde von den alten imperialistischen Mächten wie begreiflich mit besorgter Eifersucht verfolgt. Ob der deutsche Imperialismus herrschsüchtiger war als der von England, Frankreich und Rußland, ist eine Frage, die uns hier nicht zu beschäftigen hat. Der Gewaltfriede hat dem deutschen Imperialismus die Triebe gekappt, soweit sie das Messer der Sieger erreichen konnte. Sollte er aus seinen Wurzeltrieben nicht noch einmal zum Wachsen kommen ?
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind noch zu sehr im eigenen Lande beschäftigt, als daß sie die notwendige Menschenzahl für das imperialistische Werk übrig hätten, sie haben aber heute schon das Kapital bereit, um die wirtschaftliche Weltherrschaft zu erobern. Ihre großen Bankiers sind bereits darangegangen, die europäischen Staaten und Volkswirtschaften im kapitalistischen Sinne zu kontrollieren.
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Die Japaner haben ihre imperialistische Interessensphäre im östlichen Asien ; vielleicht sind sie dazu berufen, die asiatische Kraft gegen Europa zu sammeln.
Der nationale Imperialismus der Gegenwart darf nicht an dem Maße des persönlichen Imperialismus eines der alten Welteroberer gemessen werden. Am nächsten kommt ihm in der alten Geschichte der römische Imperialismus, der im Wesen des römischen Volkes begründet war wie der moderne im Wesen der modernen Nationen; darum war der Imperialismus eines Cäsar ungleich wirksamer als der eines Alexander oder eines Tamerlan, so daß sein Werk weiter bestehen konnte, nachdem er selber unter den Dolchen der Verschwörer gefallen war. Weil der moderne Imperialismus nicht bloß wie der römische von einem Herrenvolk getragen ist, das sich erschöpfen muß, sondern von Vollnationen, die sich in sich erneuern, so muß er noch um vieles ausgiebiger und nachhaltiger sein. Werden aber die fremden Völker, die der europäische Imperialismus sich heute unterworfen hat, sich nicht an der europäischen Kultur zu Gegenstößen stark machen, die ihm durch die Überzahl der Menschen gefährlich werden müssen ? Und wird der europäische Imperialismus sich nicht in sich selbst aufreiben müssen, weil er von einer Reihe von Nationen nebeneinander getragen ist ? Der Weltkrieg war der erste große Zusammenstoß der imperialistischen Mächte, die fast alle andern Völker, so weit sie sich nicht freiwillig zu Diensten stellten, in ihren Dienst zwangen. Werden nicht weitere und schlimmere Zusammenstöße folgen müssen ?
Nationalismus und Imperialismus sind durch den jugendlichen Überschwang der nationalen Bewegung gegeben, die es, wie jede starke Machtbewegung, in sich hat, nach ihrem Maximum zu streben. Um die ungeheuren Energien zu meistern, die von den Millionen der erregten nationalen Massen ausgehen, bedarf es härtester geschichtlicher Erziehung in der Schule des Lebens. Vorerst sind auch die entwickelten Nationen zumeist noch nicht zur vollen Reife im Gebrauche ihrer Freiheitsorgane gelangt. Der Kreislauf der Entwicklung im Innern von Volk und Staat hat in seinem unaufhaltsamen Aufstieg zur Freiheit die geschichtlichen Führungen zumeist geschwächt oder aufgelöst, ohne sie durch gleich starke freiheitliche Führungen zu ersetzen, es fehlt daher fast überall die sichere Leitung, die das Staatsschiff vor dem drohenden Zusammenstoß bewahren und nach den Erschütterungen, die dieser bringen mußte, in den ruhigen Hafen zurücklenken konnte.
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Die moderne Freiheitsbewegung hat einen doppelten Inhalt, sie fordert die Selbstbestimmung für das Volk und sie fordert sie für das Individuum. Die beiden Forderungen hängen auf das engste zusammen, für beide wird die gleiche Begründung gegeben. Welche Kraft sollte ihre Ziele und ihre Mittel besser kennen als die Eigenkraft des Volkes und des Individuums ? Welche sollte höherer Energie fähig sein als sie, die ihr Motiv in der eigenen Wohlfahrt, hier des Volkes, dort des Individuums hat ? Und wann sollte sich die Eigenkraft bei Volk und Individuum voller entfalten, als wenn sie von allen Hemmungen fremder Gewalt befreit ist ? Diesen einfachen Gedanken hat die individualistische WirtHchaftslehre noch gewisse Ausführungen hinzugefügt, die ihren besonderen wissenschaftlichen Reiz und Wert ausmachen, so bedeutend auch die Irrtümer sind, die man gerade dabei begangen hat. Es sind Ausführungen, die einen tiefen Einblick in die Zusammenhänge der wirtschaftenden Gesellschaft und damit zugleich in das gesellschaftliche Kräftespiel überhaupt geben. Die klassische Wirtschaftslehre sucht zu zeigen, daß der Egoismus die wirtschaftenden Individuen nicht trenne, sondern vielmehr zusammenhalte, indem jedermann so in den allgemeinen Verband hineinverwoben sei, daß sein Egoismus seine Rechnung dabei findet, seine Kraft zum gesellschaftlichen Besten zu verwenden. Bei einigermaßen entwickelten wirtschaftlichen Verhältnissen kommt jedermann am besten weg, wenn er, statt abgesondert für sich zu produzieren, am arbeitsteiligen Verbände der Tauschgemeinschaft teilnimmt, und da unter zutreffenden Bedingungen in diesem Verbände das Gesamtprodukt weit größer ausfallen wird, als die Summe der Produkte der isolierten Einzelwirtschaften sein könnte, so muß auch der Anteil, der dem einzelnen Mitgliede herausgegeben werden kann, weit größer ausfallen, als sein Eigenprodukt bei isoliertem Betrieb sein könnte. Die Folge davon ist, daß der Egoismus sich gesellschaftlich richtet, jeder Produzent wird für fremden Bedarf produzieren, um einen Erlös zu erzielen, den er auf dem Markte gegen die Artikel des eigenen Bedarfes umsetzt. Unter dem Druck des freien Wettbewerbes sind nun aber alle Produzenten gezwungen, ihre produktive Leistung auf das höchste zu steigern und sich mit dem geringsten Erlöse zu begnügen, und so sind unter der Herrschaft der wirtschaftlichen Freiheit alle Mitglieder der Gesellschaft [411] mit solcher Strenge in den allgemeinen Dienst gestellt, daß sie das wirtschaftliche Optimum für die Gesellschaft schaffen müssen. Sollten diese Ausführungen der wirtschaftlichen Freiheitsichre nicht auch für die gesellschaftliche Freiheit im allgemeinen gelten ? Werden nicht so wie die wirtschaftlichen Kräfte auch alle gesellschaftlichen Kräfte sonst zur höchsten Leistung aufgerufen sein, wenn man sie dem Kampfe des Lebens freigibt und die Allgemeinheit darüber entscheiden läßt, wem sie als Sieger den Preis zuerkennt? Wenn sich dies so verhält, so bliebe dem Staate nur noch das zu tun übrig, was im freien Zusammenwirken der Bürger nicht getan werden kann, sondern der gesammelten gemeinen Kraft bedarf. Wird aber nicht auch im Staate die Freiheit ihr gesellschaftliches Werk tun ? Wird im freien Staate des allgemeinen Wahlrechtes die Wahl nicht diejenigen zu Volksvertretern und Volksbeauftragten erheben müssen, die der Mehrheit als die Besten des Volkes gelten? Sind die Volksvertreter und Volksbeauftragten, die sich von den Wählern abhängig wissen, nicht dazu aufgefordert, ihre beste Kraft an die allgemeinen Interessen zu wenden ? Und ist daher nicht wie das wirtschaftliche Angebot, so auch die politische Vertretung den Bedürfnissen der Masse dienstbar gemacht ? In diesem Sinne reiht sich nach der individualistischen Lehre dem wirtschaftlichen Optimum der Freiheit auch das staatlich-gesellschaftliche an.
In den Generationen vor der Periode der Aufklärung und der Revolutionen, in der Periode der fürstlichen Vorherrschaft hätte die individualistische Freiheitslehre bei der Menge, die im Banne der fürstlichen und kirchlichen Autorität war, vergebens auf Beifall gehofft. Die Wissenschaft kann dem Leben die bewegenden Gedanken so wenig vorschreiben wie der Natur die bewegenden Kräfte, sie muß sie jenem wie dieser beobachtend entnehmen. Während aber die Naturbeobachtung das ewig gleiche Spiel der Kräfte vor sich findet und erst riickschließend eine Entwicklung feststellen kann, so findet die gesellschaftliche Beobachtung bei allen kräftigen Völkern die Entwicklung unmittelbar gegeben, die durch das Gesetz des Kreislaufes in Atem gehalten ist. Von Periode zu Periode ändert sich in deutlichen Abschnitten das gesellschaftliche Werk, das zu vollziehen ist, und die wissenschaftliche Erklärung hat daher von Periode zu Periode eine Änderung in den bewegenden Gedanken festzustellen. Ist es da zu verwundern, daß sie ihrer Aufgabe der Erklärung nicht mit der erhabenen Unvoreingenommenheit des Naturforschers nachzukommen vermag? Könnte sie denn ihrer Aufgabe genügen, wenn sie den neuen Gedanken, die sie zu verkünden hat, ganz unbeteiligt gegenüberstünde? Der gesellschaftliche Denker hätte für [412] das ungereifte Neue nicht den geschärften Blick, den er braucht, wenn er es nicht innerlich miterleben könnte. Der große gesellschaftliche Denker wird immer etwas von einem Propheten an sich haben ; vor den andern sieht er die Zukunft aufdämmern, deren Kommen er zu beschleunigen und deren Glanz er zu steigern bestrebt sein wird.
So sind denn auch die wissenschaftlichen Verkünder der gesellschaftlichen Freiheit vorgegangen. Sie hatten den Gedanken der Freiheit nicht zu ersinnen, sie haben ihn im Leben entdeckt, als er daselbst im Werden war, und sie haben ihn nun vorauseilend zu seiner fertigen Gestalt entwickelt. In der Periode der Aufklärung und der Revolutionen war das wissenschaftliche und das wirtschaftliche Werk unter neue Bedingungen eingetreten, neue große Gedanken waren zu denken und auszuführen, die ohne Freiheit nicht gedacht noch ausgeführt werden konnten. „Gehen lassen, gewähren lassen,“ war das Schlagwort des Tages, das von einem der tätigen Unternehmer der Zeit ausgegeben wurde. Für die erregte öffentliche Meinung bedurfte der Gedanke der Freiheit kaum mehr eines Beweises, von ihr wurde er fast wie ein Axiom hingenommen, dafür hatte man es aber mit dem Widerstande der alten Mächte zu tun und mußte den Gedankenwall abräumen, den diese zu ihrer Rechtfertigung um sich aufgeworfen hatten. Die Doktrin hat an dem Sturme gegen die Bollwerke der alten Mächte mit Eifer teilgenommen und hat den kritischen Teil ihrer Aufgabe in glänzender Weise erfüllt ; die Widerlegung des Merkantilsystems durch Adam Smith ist eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges. In ihrem aufbauenden System ist die Doktrin nicht mit der gleichen Sorgfalt vorgegangen, hier konnte sie es sich leichter machen, hier hatte sie ihre Anhänger zu Lesern und zu Hörern, ihre Lehren konnten bei dem favor libertatis, der in der Gesellschaft herrschte, des Beifalls der führenden Geister und der großen Menge gewiß sein. Erst der Kritik des folgenden gesellschaftlichen Abschnittes war es vorbehalten, die Fehler nachzuweisen, die der Freiheitslehre anhafteten.
Zunächst gab ihr der Erfolg im weitesten Maße Recht. Das Neuland, das die Gesellschaft betrat, nachdem die schützenden zünftigen und geistigen Schranken gefallen waren, erschloß sich in einer Ausdehnung, welche die kühnsten Erwartungen übertraf ; nicht nur in Übersee sondern auch im alten Europa selbst tat sich eine neue Welt auf. Ihre Möglichkeiten sind auch heute noch lange nicht ausgeschöpft, immerhin begegnet die Gegenwart schon beträchtlicheren Hemmungen und rückt langsamer vor, das sichtbare Neuland ist schon so ziemlich in Besitz genommen und seine vertiefende Ausnützung kann nicht so rasch gelingen [413] wie seine Besitzergreifung. Man hat nach und nach reichliche Erfahrung darin gesammelt, daß es mit dem „Gehenlassen und gewährenlassen“ allein noch nicht getan ist. Schon die Gewaltsamkeit des ersten Ausbruches der Massenfreiheit war erschreckend, dann zeigte sich, daß das Neuland nicht Frciland blieb, sondern daß sich auch auf ihm wie in der vorausgegangenen Gewaltzeit drückende Mächte aufbauten, die den wenigen die Herrschaft über die vielen gaben ; dort wo es gelang, Demokratien aufzurichten, zeigte es sich, daß nicht wenige von diesen in kläglicher Schwäche die Hoffnungen der Freiheit zu schänden machten. Nun sah man die Freiheit in ihrer wirklichen Erscheinung und erkannte, daß die idealisierende Annahme, unter der die Doktrin das System der Freiheit ausgedacht hatte, von der Wirklichkeit nicht recht bestätigt wurde. Man begann zu zweifeln und zu bekritteln, und ehe man es gedacht, wurde von den extremen Parteien rechts und links die Losung der Freiheit fallen gelassen und die der Diktatur ausgerufen.
Der erste Angriffspunkt der Kritik war der „Individualismus“ der Freiheitslehre, oder wie man es mit einem noch stärkeren Namen nannte, ihr „Atomismus“. Sie habe nur das einzelne Individuum im Auge und lasse daher die Gesellschaft nicht zu ihrem Rechte kommen, eine Anklage, die, von so vielen Seiten sie auch erhoben wurde, doch in dieser Weite gewiß nicht begründet ist. Die Freiheitelehre will dem Staate auch sein Recht geben, sie verlangt Wahrung der Schranken von Recht und Sittlichkeit, und es ist nur innerhalb dieser Schranken, daß sie dem Individuum Bewegungsfreiheit zugesteht, wobei sie allerdings glaubt erweisen zu können, daß die Ausschreitungen des persönlichen Egoismus durch den allgemeinen Wettbewerb in aller Regel abgeschnitten werden. Man könnte ihr vorwerfen, daß sie die Grenze der persönlichen Bewegungsfreiheit zu weit gezogen habe, und wenn man den Erfahrungen nachgeht, die dort gemacht wurden, wo die Freiheitslehre in Gesetzgebung und Verwaltung durchgegriffen hat, so findet man in der Tat, daß sie dadurch viel Übles gestiftet hat. Dafür, daß man die Grenze nicht richtig bestimmte, liegt aber der letzte Grund nicht darin, daß man das Individuum aus der Gesellschaft herausreißen wollte, sondern er liegt darin, daß man die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft, die man durchaus forderte, nicht recht zu formulieren vermochte, weil man noch nicht zu einer rechten Gesellschaftslehre gelangt war. Die individualistische Lehre hat in ihren Ausführungen über Arbeitsteilung, Arbeitsgemeinschaft und Wettbewerb reiche Bausteine zur Gesellschaftslehre gelegt, aber wieviel fehlte noch dazu, den Bau fertig zu machen! Übrigens ist dies den Kritikern des [414] Individualismus nicht besser gelungen wie den Vertretern des Individualismus selbst, ja wenn man alles genau abwägt, so muß man sagen, daß es ihnen noch viel weniger gelungen ist. Was war damit getan, daß man der individualistischen Auffassung der Gesellschaft die „organische“ gegenüberstellte ? Was ist über die Grenzen von Freiheit und Gebundenheit damit erkannt, daß man in der Gesellschaft einen Organismus erblickt, der die Individuen wie die Glieder des Körpers verbindet ? Wie wir schon an einer früheren Stelle gezeigt haben, fehlt im Organismus gerade derjenige Zug, auf den es für das Verständnis der Gesellschaft in erster Linie ankommt: in der Gesellschaft ist den Mitgliedern eine gewisse Sphäre der Selbständigkeit eingeräumt, im Organismus gibt es überhaupt keine Selbständigkeit der Teilt*. Die Freiheitslehre hat die Sphäre der individuellen Bewegung zu weit begrenzt und damit ohne Zweifel einen Fehler begangen, die organische Gcsellschaftslchrc begeht einen größeren Fehler, sie vernachlässigt diese Sphäre ganz und gar. Wenn das Bild des Organismus wirklich zuträfe, so müßte den Mitgliedern der Gesellschaft jede Freiheit der Bewegung genommen sein.
Das Stärkste, was bisher zur Kritik der Freiheitslehre gesagt wurde, ist die Darlegung, daß sie das Recht auf Freiheit mit der Tatsache der Freiheit verwechselt. Die Schwachen in der Gesellschaft werden dadurch noch nicht tatsächlich frei, daß sie rechtlich als frei erklärt werden, im Gegenteil, die rechtliche Freierklärung gereicht ihnen zum Schaden, wo sie die Schranken niederreißt, durch welche die Starken in der Gesellschaft bisher verhindert waren, ihre Kraft gegen die Schwachen zu mißbrauchen. Hierüber sind in der Zeit der liberalen wirtschaftlichen Gesetzgebung Erfahrungen ohne Zahl gesammelt worden: die Schwachen unter den Schuldnern wurden den wuchernden Gläubigern, die Schwachen im Arbeiterproletariat wurden den ausbeutenden Fabrikanten, die Schwachen im sparenden Publikum wurden den Manövern der Gründer ausgeliefert. Das Mutterland des wirtschaftlichen Liberalismus, England, war das erste Land, das sich zu einer schützenden Fabriksgesetzgebung entschloß, welche überaus segensreich wirkte und allenthalben nachgeahmt und im Laufe der Zeit mehr und mehr ausgestaltet wurde. Sicherlich ist noch manches zu tun, um die Menge vor Ausbeutung durch die „Starken“ zu schützen und die Raubritterburgen zu brechen, die an den öffentlichen Heerstraßen des Verkehres von den vorbeiflutenden Massen ihren Zoll erheben. ' Der moderne Raubritter geht nicht mit der Gewalt der Waffe vor, er bedient sich verhüllender Formen und weiß seine Stellung dadurch zu decken, daß er [415] sich auf den Namen der Freiheit beruft, was das Publikum in heiliger Scheu vor diesem großen Worte untertänig hinnimmt. Man darf nicht in Abrede stellen, daß die Gesellschaftslehre an diesem Punkte ihre wissenschaftliche Aufgabe noch nicht recht erfüllt hat. Zwar fehlt es nicht an beherzten und beredten Kritikern dieser Pseudofreiheit, dabei es aber immer auch noch Verteidiger und Lobredner, die sich vom äußeren Scheine betören lassen. Man weiß sehr gut, daß der Schwache nicht das Maß des gesellschaftlichen Niveaus bestimmen dürfe und daß die Gesellschaft den Starken brauche, aber man weiß nicht, wo zwischen den beiden Forderungen, den Schwachen zu schützen und den Starken wirken zu lassen, die gedankliche Abgrenzung zu ziehen ist.
Um zwischen Freiheit und Gebundenheit die richtige Mitte zu finden, brauchte man eben eine ausgebildete Gesellschaftslehre, die man weder in der individualistischen Freiheitslehre noch vollends in der organischen Lehre besitzt. Auch die vielverbreitcte Formel ist ungenügend, daß die volle Freiheit nur für eine wirklich gereifte Gesellschaft tauge, wie sie ja nicht für das Kind, sondern erst für den gereiften Mann taugt. Es ist dies eine unanfechtbare Wahrheit, die aber die ersehnte Aufklärung nicht bieten kann, solange man nicht weiß, was unter gesellschaftlicher Reife zu verstehen ist. Weder die individualistische noch die organische Lehre sagt uns irgend etwas darüber, was es bedeutet, für gesellschaftliches Handeln reif zu sein, keine von beiden Lehren sagt uns ja irgend etwas darüber, worin das eigentümliche Wesen des gesellschaftlichen Handelns besteht. Kein Techniker wird über die Art der Steuerung einer Maschine entscheiden wollen, bevor er nicht den Gang der Maschine versteht; darf es der gesellschaftliche Denker anders halten, darf er über das Maß von Freiheit und Gebundenheit entscheiden, bevor er klar sieht, wie sich das gesellschaftliche Handeln überhaupt vollzieht?
Die Lehre von der Massenpsychologie ist ein großer Fortschritt in der Erkenntnis des gesellschaftlichen Handelns gewesen, indem sie uns zeigte, daß das Handeln in Masse sich anders vollzieht als das rein persönliche Handeln; es ist nicht sicher, daß eine Masse von gescheiten Männern als Masse gescheit handeln werde, Le Bon meint sogar, es sei sicher, daß sie nicht gescheit handeln werde. Die Lehre von der Massenpsychologie erschöpft jedoch, wie wir an seiner Stelle ausgeführt haben, das Thema des gesellschaftlichen Handelns durchaus nicht, sie weiß außerordentlich viel über das Handeln einer führerlosen oder schwächlich geführten Masse zu sagen, vieles und Fruchtbares, aber sie zieht gerade denjenigen Fall nicht in Betracht, der doch der regelmäßige Fall ist, [416] nämlich das Handeln der fest geführten Masse. Die geistvollen Männer, welche die Lehre von der Massenpsychologie vortragen, haben ihre Aufmerksamkeit fast nur den Erscheinungen des unruhigen und krankhaften Masseiüebens zugewendet, unter dem die moderne Gesellschaft leidet, und sie haben dessen Symptome mit dem sichern Bücke des Arztes beobachtet. Muß aber der Arzt, wenn er am Krankenbett seinen Dienst tun soll, nicht vorher über den gesunden Verlauf belehrt sein ?
Bei der Untersuchung über die Grundform des gesellschaftlichen Handelns, die wir am Eingange dieses Buches anstellten, haben wir uns an den gesunden Verlauf gehalten, und der Leser wird sich erinnern, daß wir als Grundform des gesellschaftlichen Handelns das Vorangehen des Führers mit der Nachfolge der Masse zu erkennen glaubten. Indem wir zeigten, wie aus dem Erfolge des gesellschaftlichen Handelns sich die Macht aufbaue, haben wir das gesellschaftliche Handeln als machtbestimmt erklärt, wobei wir übrigens auch das sogenannte rein persönliche Handeln auf die Mitwirkung von Machteinflüssen zurückführten. Wir werden jetzt die entscheidende Probe auf die Richtigkeit und Vollständigkeit dieser unserer Darstellung zu machen haben, indem wir prüfen, ob sie uns das Maß für das Verhältnis von Freiheit und Gebundenheit in der Gesellschaft zu geben vermöge.
Durch den Erfolg seines Vorangehens gewinnt der Führer Macht über die Masse, und diese seine Macht wird noch gesteigert, wenn ihm der Erfolg treu bleibt und ihm nach den ersten verstehenden Nachfolgern noch die große Masse zufällt. So unabwendbar es ist, daß beim erfolgreichen gesellschaftlichen Handeln die Masse sich an den Führer hält, so ist dadurch die unfreie Unterwerfung der Masse unter den Führer keineswegs notwendig gemacht. Nur bei der herrschaftlichen Führung kommt die Masse um ihre Freiheit, nur hier ist sie zur Nachfolge unter einem Führer gebunden, welcher Herr eigenen Rechtes ist, es hat aber immer, selbst in der Zeit härtester Strenge, zahlreiche Fälle freier Nachfolge gegeben und selbst in den Fällen gebundener Nachfolge gewinnt die Masse mit der Vollendung des geschichtlichen Kreislaufes dadurch ihre Freiheit, daß ihr die Bestellung und Kontrolle des Führers zufällt. Das stolze Römervolk war dadurch stark, daß es sich dem Führer in freier Nachfolge fügte, jedes große Volk muß zu jeder Zeit dasselbe tun. Wir haben über diese Dinge im Zuge unserer Darstellung so oft [417] zu sprechen gehabt, daß uns jetzt nur noch übrig bleibt, in wenigen zusammenfassenden Worten das Schlußergebnis zu ziehen.
Das gesellschaftliche Werk scheidet sich in Sonderwerk und Gesamt werk. Beim Gesamtwerk geht es um die Gesamtwirkung und ist daher die gebundene Nachfolge der Masse gefordert. Beim Sonderwerk — dem die individualistische Lehre gilt — geht der Erfolg im Grunde das handelnde Individuum allein an, während für die Gesamtheit kein zwingendes Interesse besteht, daß das Individuum handle und Erfolg gewinne. Trotzdem ist auch das Sonderwerk keine reine Privatsache, denn es kann außerhalb der gesellschaftlichen Verbindung überhaupt nicht oder doch nur mit verschwindend geringem Erfolge vollzogen werden, und man vollzieht es daher immer schon seit den Anfängen reicherer Entwicklung innerhalb erweiterter gesellschaftlicher Verbände und im Zusammenhange mit andern. Man will mit den andern gehen und sucht den Führer, wenigstens um das Beispiel vor sich zu haben, das man nachahmen kann, und so steht man denn auch unter dem Einflüsse gesellschaftlicher Mächte, die allerdings nicht als äußere Zwangsmächte strengen Befehles und harter Sanktionen wirken, sondern nur moralischen Einfluß nehmen und dem Willen daher freie Wahl lassen, wenn man sich ihnen auch nicht leicht entziehen kann. Die große Masse hält sich ziemlich genau an die allgemeine Heerstraße, und erst das kräftige Individuum findet einen etwas größeren Spielraum persönlichster Entscheidung. Bei alledem hat man doch überall Sonderwerk vor sich, wo immer dem Individuum die Entscheidung über die Nachfolge offen gehalten ist, denn die Gesellschaft bietet hier dem Individuum doch erst die Möglichkeiten erfolgreichen Handelns und es hängt von seiner Entscheidung zur Nachfolge ab, was von den Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden soll. Wir werden es daher bei der begrifflichen Unterscheidung von Gesamtwerk und Sonder werk schließlich darauf ankommen zu lassen haben, daß bei jenem die Nachfolge gebunden, bei diesem aber frei ist.
Sogar das Tun und Lassen der noch nicht zu eigenem Willen gereiften Kinder in der Schule ist Sonderwerk, obwohl es im gemeinsamen Räume zu gemeinsamer Stunde unter Leitung und Zucht des gemeinsamen Lehrers nach einem allgemeinen Plane und, was nicht zu vergessen ist, unter der gesellschaftlichen Macht des Wetteifers und des kameradschaftlichen Gefühles vor sich geht; es ist Sonderwerk, weil sein Erfolg doch das einzelne Kind für sich angeht und weil er letztlich in entscheidendem Grade von seiner Bemühung zur Nachfolge abhängt. Man braucht nur zu vergleichen, mit welchen Mitteln äußersten [418] Zwanges die militärische Erziehung wirkt, die um der notwendigen Gesamtkraft willen jeden einzelnen Soldaten in Reih und Glied verhält. Das wirtschaftliche Werk ist fast durchaus Sonderwerk, obwohl es im regsten gesellschaftlichen Zusammenhange vollzogen wird, wie in dem der Nachahmung, des Wetteifers, des Tauschund sonstigen Verkehres, der Erwerbsverbände und sonstigen Verbände, des gewerkschaftlichen Zusammenhaltens und sonstiger sozialer Verkettungen und endlich auch der rechtlichen und sittlichen Gebote und Verbote; es ist Sonderwerk, weil sein Erfolg doch das einzelne handelnde Individuum für sich angeht und weil er letztlich in entscheidendem Grade von seiner Bemühung zur Nachfolge abhängt. Es ist erst recht Sonderwerk, wo der einzelne sich zur Selbständigkeit des anonymen oder gar des öffentlich hervortretenden Führers erhebt und der Nachfolge der Masse das Beispiel gibt. Wenn einmal religiöse Toleranz sich durchgerungen hat, ist selbst das religiöse Verhalten des einzelnen, unter so starken gesellschaftlichen Mächten es steht, Sonderwerk, weil mit freier Nachfolge vollzogen, es ist Privatsache, um diesen Namen zu gebrauchen, der freilich die mitwirkenden gesellschaftlichen Mächte ganz unterschlägt.
Der freien Nachfolge entspricht die freiheitliche Führung. Der Führer des Sonderwerkes mag höchste persönliche Autorität besitzen wie der Lehrer in der Schule oder der Seelenführer im Leben, seine Führung ist aber doch nur bloße Erfolgsführung, nicht Führung eignen Rechtes, und wenn er der wahre Seelenführer ist, wird er es gar nicht anders halten wollen, als daß er auf die Nachfolge derer verzichtet, die ihm nicht aus innersten Trieben anhängen. Die verbreitetste Form der Führung beim Sonderwerke ist die anonyme Führung durch Führer, die mit ihrer Persönlichkeit im Großen der Gesellschaft ganz zurücktreten und deren Werk sich endlich zu anonymen Mächten verdichtet, welche anscheinend subjektlos sind, indem sie ihre Wirkung in der Hauptsache davon haben, daß die Masse nach und nach zu einer fast selbsttätigen Befolgung erzogen ist, die sich kaum mehr als Nachfolge erkennen läßt.
Wie bereits erwähnt, fordert alles Gesamtwerk gebundene Nachfolge, weil sonst die Gesamtwirkung nicht erzielt werden könnte. Man darf freilich nicht übersehen, daß die Nachfolge des menschlichen Willens niemals im strengsten Sinne gebunden ist. Wie immer es sich mit dem Satze der Willensfreiheit verhalten mag, so gehorcht der Mensch dem drückendsten Zwange doch nicht mit der mechanischen Präzision der Maschine, und wenn er dem Befehle gehorcht, [419] so bleibt immer noch ein Spielraum für einen persönlichen Einschlag übrig, von dem es abhängt, mit welcher Wirkung der Befehl vollzogen wird.
Was die Führung anlangt, so ist in der Zeit, da die Masse dem Gesamtwerke noch widerstrebt, herrschaftliche Führung erfordert. Wie sich die Masse nach und nach dem Gesamtwerke zuwendet, wird diese im Wandel des geschichtlichen Kreislaufes nach und nach durch genossenschaftlich. freiheitliche Führung ersetzt, wo die Masse den Führer bestellt oder bei seiner Bestellung entscheidend mitwirkt und außerdem noch seine Tätigkeit kontrolliert.
Es ist von besonderer Wichtigkeit, zu erkennen, daß auf der Höhe der herrschaftlichen Führung die führende Schicht über die Masse nicht nur in Ansehung jenes Werkes gebietet, welches der Natur der Sache nach Gesamtwerk ist, sondern daß sie auch in die Sphäre des Sonderwerkes eindringt, welches sie seiner Selbstbestimmung entkleidet, um sich dessen Erfolg mehr oder weniger zuzueignen. Sie unterwirft sich den Arbeiter als solchen oder wenigstens seine Arbeitsmittel in irgendwelchen Formen des Rechtes oder der tatsächlichen Macht, um sich an der Frucht seines Werkes zu bereichern. Die Freiheitsbewegung hat darum ein doppeltes Ziel haben müssen, sie mußte in der Sphäre des Sonderwerkes die freie Nachfolge zur Geltung bringen, zu welchem Ende sie vor allem die persönliche Freiheit zu sichern hatte, und sie mußte in der Sphäre des Gesamt werkes die freiheitliche Führung zur Geltung bringen.
Zur Erreichung dieses doppelten Zieles bedurfte es strenger geschichtlicher Erziehung. Die Masse mußte geschichtlich durch Zwang zur Beteiligung am gesellschaftlichen Gesamtwerke erzogen werden, das ihr von Anfang an fremd ist, sie mußte sich selber zur Nachfolge binden lernen, wenn sie des herrschaftlichen Zwanges ledig werden sollte, sie mußte außerdem in ihrem Sonderwerke zur tätigen Nachfolge erzogen werden, wodurch sie die tragenden Kräfte zum Widerstande gegen die Übergriffe der herrschaftlichen Führung und zur Erkämpfung der freiheitlichen Führung in sich hervorbringt. Der herrschaftliche Führer mußte durch geschichtliche Erziehung zum freiheitlichen Führer gewandelt werden und mußte als solcher alle wahren gesellschaftlichen Ziele erfassen und alle diejenigen fallen lassen lernen, die bloß seiner Herrschsucht, seinem Ehrgeiz oder gar seiner entarteten Genußsucht dienen, und er mußte lernen, als Mittel zum Ziele alle gesellschaftlichen Kräfte wirken zu lassen und nicht nur diejenigen, über die er selbstherrlich verfügen kann.
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Der freiheitliche Führer vermag das gesellschaftliche Führeramt im höchsten Sinne zu erfüllen, er vergibt sich nichts damit, daß er auf das eigene Herrenrecht verzichtet. Wer ist Richter über den großen Seelenführer ? Er ist sich allein dafür verantwortlich, wo er die Grenzen des menschlichen Wesens zieht, und dabei bleibt er ohne Bestellung und ohne Beschränkung doch immer ein freiheitlicher Führer, weil er es durchaus auf freie Nachfolge anlegt. Im Werke der äußeren Macht ist es besonders schwer, den Versuchungen der Machtbegierde in ihren tausend Gestalten zu widerstehen und sich selber die unübersteigbaren Schranken zu weisen. Napoleon hat es nicht vermocht, Alexander hat sich selbst seinen Freunden gegenüber bis zu frevelhaftem Übermut hinreißen lassen, vielleicht war Julius Cäsar dem Gebote der Selbstbeschränkung näher als irgend einer der Übermächtigen der Welt. Die Masse muß wohl zu starker Freiheitskraft gereift sein, um dem Willen zur Macht das Gleichgewicht zu halten, der dem führenden Übermenschen mitgegeben ist. Wo sich Führer und Masse in dieser Weise auf den Höhen der Kraft begegnen, dort wird das höchste Führerwerk und das höchste Massenwerk zugleich geschaffen, wie wir dies etwa in der Geschichte Athens unter Perikles sehen.
Man irrt, wenn man glaubt, daß der schrankenlose Wille zur Macht das Höchste der Persönlichkeit ausschöpft, höher als er beglückt der Wille zur Kraft, der die allzumenschhchen Begleitungen der Herrschsucht, der Machtbegierde, des Ehrgeizes von sich wirft und sich allein daran genug tut, die Kraft, die das persönliche Wesen bis zum Zerreißen spannt, im gesellschaftlichen Erfolg ausströmen zu lassen. Wer ganz dem Eigenwillen der Kraft lebt, die ihrem inneren Gesetze gehorcht, der genießt das vollste Glück der Persönlichkeit, wenn es ihm gegeben ist, sein Werk auch gesellschaftlich bestätigt zu finden.
Die modernen Verkünder der Freiheit haben den schweren Irrtum begangen, nicht zu erkennen, daß die Menschen harter geschichtlicher Erziehung bedurften, um zur Freiheit zu reifen, und daß die Rute der Gewalt bei der geschichtlichen Erziehung nicht fehlen durfte. Ihnen galt die Kraft zur Freiheit als der natürliche Zustand des Menschen, und die Gewalt war ihnen ein böser geschichtlicher Spuk, den sie vermeinten, dadurch allein schon verscheuchen zu können, daß sie das Gesetz der Freiheit verkündeten. Endgültig hat aber ihr Ruf zur Freiheit nur dort gewirkt, wo die Führungen die innere Freiheit gewonnen hatten voranzugehen, ohne den Machtversuchungen zu unterliegen, und wo die Massen die innere Freiheit gewonnen hatten, prüfend und tätig nachzufolgen. Nur dort, wo die geschichtliche Erziehung diese [421] Kraft zur Freiheit gezeitigt hatte, war es gegeben, daß das Recht der Freiheit mit voller Wirkung erklärt werden konnte, denn dort war die äußere Freiheit der selbstverständliche Ausdruck der inneren Freiheit; dort wo Führung und Masse erat auf dem Wege zu dieser Kraft waren und wo insbesondere bei den langbedrückten tieferen Schichten der Masse die Erziehung dazu erst beendigt oder gar erst begonnen werden mußte, konnte es nicht anders sein, als daß der Erfolg der äußeren Befreiung den Erwartungen nicht entsprach und daß die Kämpfe hin und her gingen, um das Maß der Freiheit zu bestimmen, das durch den tatsächlichen Zustand gerechtfertigt war; und vollends dort, wo man bei der Erklärung der Freiheit mehr durch das von den fortgeschrittenen Nationen gegebene Beispiel als durch die eigne Kraft bestimmt war, mußte ilire voreilige Verkündigung dem schroffen Widerspruche der Tatsachen begegnen und die herrschaftliche Führung in irgendwelchen Formen wieder zu ihrem Rechte kommen, um bei den entwicklungsfähigen Völkern die geschichtliche Erziehung zu vollenden und um bei den andern sich als das durch die Umstände geforderte Recht dauernd zu behaupten.
In der Gegenwart hat das wirtschaftliche Werk sowohl den Führungen als den Massen erweiterte Aufgaben gestellt, die zugleich eine neue Herrenschicht in die Höhe treiben und die Widerstandskraft der Massen steigern. Hieraus erklärt sich die Verschärfung der sozialen Gegensätze, die überall bei den Kulturvölkern zu bemerken ist. Die geschichtliche Erziehung zur inneren Freiheit, die in Rücksicht auf das staatliche Werk fast schon beendigt schien, mußte für das wirtschaftliche Werk neu aufgenommen werden, denn was man darin für das bürgerliche Gewerbe und den bäuerlichen Besitz gelernt hatte, erwies sich als unzureichend für die Massendimensionen des Großbetriebes. In weiterer Folge wurden auch die politischen Kraftverhältnisse durch das Hervortreten der Großkapitalisten und des Arbeiterproletariates verschoben und darum mußte auch die politische Erziehung neu aufgenommen werden. Als die Verkünder der Freiheit im 18. Jahrhundert ihre Lehren ersannen, hatten sie diese Massenverhältnisse noch nicht vor sich, und ihre Konstruktionen des Freiheitsrechtes, die schon für ihre Zeit nicht genügten, mußten vor den neuen ins Riesenhafte gesteigerten Dimensionen der Gesellschaft gänzlich versagen. Im praktischen Leben hat der Eigenwille der Kraft und der noch leidenschaftlichere Wille zur Macht sehr bald gelernt, sich auf die neuen Umstände einzustellen, und sowohl auf Seite der Führungen wie auf der der Massen wurden im Kampfe Freiheitsorgane ausgebildet, um die neuen Möglichkeiten [422] auszunützen und den gesteigerten Widerständen der andern Seite zu begegnen. Die Doktrin ist den neuen Bildungen bisher kaum gerecht geworden, die sozialistische Dokt rin übertreibt die Gewalttätigkeit der herrschaftlichen Bildungen, die bürgerliche Doktrin übertreibt die Gefahr, die von den Massen droht, und beide Doktrinen gebrauchen bei ihren Darlegungen das Wort der Freiheit, das noch immer seinen Zauber übt, in einem zu äußerlichen Sinne.
Wir werden jetzt den Versuch machon, die Freiheitsorgane zu beschreiben und zu würdigen, die sich im modernen Massenleben ausgebildet haben oder sich auszubilden im Begriffe sind. Wir werden dabei sehen, daß wir der Idee der gesellschaftlichen Reife einen bestimmteren Inhalt werden geben können als wir es bisher tun konnten. Unter den Dimensionen des modernen Lebens ist bei Führungen und Massen die Reife zur Freiheit erst erreicht, wenn sie diese eigentümlichen Freiheitsorgane besitzen. Jeder Teil bildet sie für sich als Organe der eigenen Macht aus, der Teil, der sie vor dem andern ausbildet, droht diesem übermächtig zu werden, die gesellschaftliche Gesundheit fordert das Gleichgewicht der beiderseitigen Bildungen.
Als das Fürstentum davorstand, die absolute Herrschaft, die es gewonnen hatte, auf die Dauer einzurichten, bildete es die Armee und das Beamtenwesen zu verläßlichen herrschaftlichen Führungsorganen aus. Solange die Kriege mit Lehensaufgeboten geführt werden mußten, war der Fürst von den großen Vasallen abhängig, bei den geworbenen Truppen konnte ihm der Kondottiere gefährlich werden, dagegen waren in der stehenden Armee die Soldaten durch die Welirpf licht gebunden und die Offiziere waren dem Fürsten dadurch als seine Parteigänger gesichert, daß er sie aus den staatstreuesten Kreisen ernannte und daß ihr Standesinteresse mit seinem Machtinteresse zusammenging. Solange das Patrimonialsystem in Geltung war, mußte der Fürst in Gericht und Verwaltung die Grundherren und die städtischen Ämter mitsprechen lassen, die von ihm ernannte Bürokratie war dagegen an seine Weisungen gehalten und wie der Offiziersstand durch ihr Standesinteresse seinem Machtintcresse verbunden. Die protestantischen Kirchen hatten im Fürsten ihren Landesherrn, mit der katholischen Kirche fand er schließlich ein Abkommen, das die beiderseitigen Interessen wahrte. Was sich sonst an gesellschaftlichen Organisationen regte, wurde bis zu den Erwerbsgesellschaften hin staatlich überwacht, man duldete [423] keinerlei freiheitlichen Führungsorgane und keinerlei Organe des Massenwiderstandes, die sich den staatlichen Führungsorganen gegenüberstellen und ihrer Wirksamkeit abträglich sein konnten.
Die Doktrinäre der Freiheit haben der Erscheinung der Führungsorgane keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sahen es als selbstverständlich an, daß Armee und Beamtenschaft zu Organen des freien Volksstaates wurden, die Religion sollte Privatsache sein und alle die Organisationen sonst, die sich aus dem Eigenleben der Gesellschaft herausbilden, sollten freigegeben werden, soweit sie nicht für Recht und Sittlichkeit offenbar gefährlich waren. Daß man dem Fürsten, wo man ihn beließ, oberste Freiheitsorgane an die Seite setzte, die seine Souveränität einschränkten, und daß man dort, wo man ihn entfernte, oberste Freiheitsorgane einrichtete, die an seiner Stelle die Souveränität ausübten, schien den Doktrinären eine recht einfache Sache; man hatte übrigens, sobald man an die praktische Ausführung kam, vollauf Gelegenheit, zu erfahren, daß es unendliche Möglichkeiten der Lösung gab, bezüglich deren zwischen den Parteien endloser Streit hin und her ging und über welche die Staatsrechtlehrer aller Länder in ungezählten Schriften bis heute noch nicht zum einigenden Schluß kommen konnten — was nicht hinderte, daß zuletzt die doktrinäre demokratische Formel des allgemeinen Wahlrechtes fast überall zur Geltung kam. Daß man es auch noch mit andern Freiheitsorganen zu tun habe als mit denen, die im Verfassungsgesetze zu ordnen waren, wurde wissenschaftlich erst beachtet, als das Freiheitsorgan des Kapitales sich im Leben zum drückenden Machtorgan für die Masse der Lohnarbeiter herausgewachsen hatte, worauf die sozialistische Doktrin in echt doktrinärer Maßlosigkeit dem idealisierenden Optimismus der Freiheitslehre mit ihrem idealisierenden Pessimismus antwortete und die Verstaatlichung des Kapitales und mit ihm der ganzen Erwerbswirtschaft forderte, eine Forderung im Namen der Massenfreiheit, die den fürstlichen Staatsabsolutismus weit überbietet. Wie das Kapital haben auch diejenigen Freiheitsorgane, die zum Siege über die alten herrschaftlichen Mächte das meiste hinzugetan hatten, die Parteif ülirungen und die Presse, in einer großen Zahl von Fällen der Versuchung nicht widerstehen können, die gewonnene Macht im eigenen Interesse zu verwalten, und sie haben sich aus Ftihrungsorganen der Freiheit zu Führungsorganen der Eigenmacht verkehrt. Die Masse hat ihrerseits die neue Freiheit dazu ausgenützt, um sich Organe des Widerstandes und des Machtkampfes zu schaffen, für welche die Gewerkschaften das nächstliegende Beispiel sind.
Man kann über die gesellschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit [424] nicht zur Klarheit kommen, wenn man es verabsäumt, sich mit diesen durch die Freiheitsbewegung geschaffenen modernen Führungsorganen und Massenorganen zu beschäftigen. Im Leben sind sie der Gegenstand eifriger Bestrebungen und vielfacher Erörterung, auch wissenschaftlich ist über die meisten von ihnen schon viel gehandelt worden, es fehlt indes immer noch eine allgemeine Betrachtung, die sie auf ihr gemeinsames Wesen untersucht. Wir wollen mit dieser allgemeinen Betrachtung beginnen, bevor wir uns den einzelnen Gestalten zuwenden, wir werden indes auch diese allgemeine Betrachtung besser an einer einzelnen Gestalt vornehmen, an der sich dieses Wesen besonders deutlich zu erkennen gibt. Es ist dies das kapitalistische Führungsorgan der Unternehmung, das wir jedoch fürs erste nicht in seinem Verhältnisse zum Massenorgan der Gewerkschaft darstellen wollen, sondern in dem einfacheren Verhältnisse zur Masse der Konsumenten. Die Wirtschaft ist derjenige Abschnitt des gesellschaftlichen Handelns, in welchem sich die Größen am deutlichsten messen und die Formen am bestimmtesten ausprägen, darum hat die Gesellschaftslehre in der Wirtsc haftslehre ihre ersten klareren Erkenntnisse gesammelt und auch das Studium der Freiheitsorgane und Massenorgane wird daher am besten an ihren wirtschaftlichen Gestaltungen zu eröffnen sein. Um die eigentümlichen Verhältnisse der Gegenwart möglichst deutlich herauszustellen, werden wir gut tun, sie aus denjenigen Verhältnissen zu entwickeln, die ihnen vorausgegangen sind und von denen sie sich charakteristisch abheben, und wir beginnen darum unsere Darstellung mit einer kurzen Fassung der Dinge, wie sie in den gesellschaftlichen Anfängen bestanden.
Das wirtschaftliche Werk wird zuerst als Sonderwerk im engen Kreise der Familie getan, beim Übergange zur Jagd, zur Viehzucht und zum primitivsten Landbau erweitert es sich zum Werke der Horde und der Großfamilie. Sobald das gesellschaftliche Werk der Staatengründung und der Kulturbegründung die Krieger und Priester zur herrschaftlichen Führung im Volke berufen hat, bemächtigen sich diese des Bodens und der Volksschichten, die den Boden bebauen, und auch das aufkommende Gewerbe wird dann im weiten Maße im Auftrag der Herren zur Befriedigung ihres gesteigerten Bedarfes von Unfreien betrieben. Bei weiterer Entwicklung der Produktion wird das wirtschaftliche Sonderwerk in erweiterten Kreisen betrieben, die sich zur Tauschgemeinschaft zusammenfinden, immer aber noch bleibt es für lange ein untergeordnetes gesellschaftliches Werk, das nicht dazu ausreicht, gesellschaftliche Macht zu geben, es braucht lange Zeit, bis es mit wachsendem Wohlstand [425] tragende Macht gibt. Innerhalb der Tauschgemeinschaft ist der Erzeuger, selbst wo er persönlich frei geworden ist, mehr vom Konsu• menten abhängig als dieser von ihm. Der Konsument gibt den Auftrag zur Erzeugung, er ist der Besteller, dessen Bedürfnis der Erzeuger zu dienen hat, erst bei noch weiter fortgeschrittener gewerblicher Kunst wird der Erzeuger selbständiger und selbstbewußter. Er wahrt sich nun in der Zunft sein Recht auf Erzeugung, dennoch wird er dem Abnehmer vorerst noch nicht überlegen, denn auch dieser gehört in der Mehrzahl der Fälle dem selbstbewußten Bürgerstande, wenn nicht gar dem Herrenstande an und übt seine Nachfrage mit sorgfältiger Pflege seines Interesses. Im allmählichen Übergang kommt dann die Zeit der entwickelten Produktion und nun überwächst der gewerbliche Unternehmer in seiner gesellschaftlichen Stellung die Masse seiner Abnehmer. Er ist im wirtschaftlichen Werke, das nun gesellschaftliches Werk höheren Sinnes geworden ist, zum Führer aufgestiegen, der gesellschaftliche Macht zu gewinnen vermag. Selbstverständlich muß er immerfort mit der Nachfrage rechnen, bei der er seine Erzeugnisse unterzubringen hat, aber er tut dies jetzt so, daß er zugleich ihre Bahnen leitet und vorausblickend für den Absatz produziert. Nach und nach paßt sich die Nachfrage den Bedingungen der Produktion an, das im Sinne der großen volkswirtschaftlichen Bedingungen hergestellte Fabrikat setzt sich auf dem Markte durch, und die Nachfrage wandelt sich zuletzt zur Nachfolge. Da der einzelne Unternehmer es mit einer großen Zahl von Abnehmern zu tun hat, vermag er an der Menge der Produkte ein erhöhtes Einkommen zu gewinnen, das ihn über das gesellschaftliche Mittel emporhebt. Auch wenn die Unternehmer sich durch ihren Wettbewerb bedrängen, sind sie doch durch das gemeinsame Standesinteresse verbunden und vermögen die Gesetzgebung und Verwaltung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Dies war der Stand der Dinge, für den die klassische Lehre vom Optimum der freien Konkurrenz gedacht ist und im ganzen auch zutrifft. Die Unternehmer sind als Führer eines zur Bedeutung gelangten gesellschaftlichen Werkes in die höheren Schichten des Einkommens und der gesellschaftlichen Macht emporgehoben, ohne doch übermächtig geworden zu sein. Der gesellschaftliche Dienst, den die erfolgreiche Unternehmung bei diesem Stande der Dinge leistet, ist groß ; sie ist ein hochentwickeltes gesellschaftliches Organ geworden, das will sagen, eine wesenhafte Verbindung zahlreicher produktiver Elemente von Stoff und Arbeit, die als lebendige Kraft dem gesellschaftlichen Körper eingepaßt ist, sie ist ein Führungsorgan geworden, das durch [426] massenhafte Nachfolge lebendig erhalten werden muß, aber eben auch mit richtiger Erkenntnis auf massenhafte Nachfolge eingestellt ist, und sie ist dabei ein durchaus freiheitliches Führungsorgan, denn der Unternehmer hat keinerlei Vorrecht der Führung, er übt diese nicht aus dem Rechte des Herrn, seine Führung ist bloße Erfolgsführung, die Nachfolge ist in keiner Weise gebunden, sie ist nach wie vor darin frei, zu prüfen und zu wählen.
Die klassischen Ökonomen selbst haben schon erkannt, daß dies anders wird, wo der Unternehmer aus irgendwelchen Titeln des Rechtes oder der Tatsachen die Erzeugung und den Absatz als Monopolist beherrscht. Der Fall des Monopols war für sie aber von geringer Bedeutung, weil sie ihn bei einer verständigen Gesetzgebung als Ausnahme ansahen. Seitdem die klassische Lehre geschrieben wurde, hat sich darin eine merkwürdige Verschiebung ereignet, welche dadurch bewirkt wurde, daß die Produktion ins Große ging. Bei großen Verhältnissen hat die fertige Unternehmung einen ausgesprochenen Vorteil vor der neuen Unternehmung, die erst werden soll: sie hat es leichter, sich zu erweitern, als es eine neue hat, überhaupt aufzukommen. Allerdings sind die Fortschritte der Technik, der Märkte und des Kapitales in Friedenszeiten so gewaltig, daß sich immer neue Gelegenheiten des Schaffens auftun, und die Zahl der Unternehmungen wächst daher weiter an, dennoch ist dadurch der Vorteil der alten Unternehmung nicht aufgehoben, denn dieser Vorteil gilt, wo nichts Besonderes dawidersteht, auch den neuen Gelegenheiten gegenüber. Er gilt im höchsten Grade für die Riesenbetriebe, deren Zahl und Umfang sich in den großen Volkswirtschaften fort und fort steigert, namentüch wenn sie für den Weltmarkt arbeiten. Unter diesen Umständen findet die kapitalistische Macht immer mehr Gelegenheit zum tatsächlichen Monopol. Im Riesenbetriebe scheint die hergebrachte Lehre von der Arbeitsteilung auf den Kopf gestellt, die indes in seinem Innern bis ins subtilste ausgewirkt wird, wogegen allerdings nach außen hin der Riesenbetrieb alles Erreichbare an Leistung verzehrend in sich aufnimmt; er richtet sich im vertikalen Sinne, wie man heute zu sagen pflegt, darauf ein, die Erzeugung, der er sich zugewendet hat, vom Rohstoff an bis zum Schlußprodukt und dessen Versendungen vollständig in sich zu vereinigen, wobei ihm das ungeheure Einkommen, das er erzielt, zuletzt auch noch die horizontale Ausdehnung ins Weite erlaubt. Außerdem haben die Unternehmer gelernt, ihren Wettbewerb in den mannigfaltigsten Formen durch Ihre freie Organisation zu überwinden und sich dadurch ihr Monopol zu sichern. Die Erträgnisse der Kartelle und der [427] Trusts und der sonstigen Konzerne sind so groß, daß die Unternehmer der staatlichen Regulierung und Verbote spotten können. Ihre durch das Gesetz als rechtlich unwirksam erklärten Verbände bewähren sich tatsächlich als die wirksamsten aller wirtschaftlichen Verbindungen. Bei diesem Stand der Dinge hat die Unternehmung aufgehört, ein freiheitliches Führungsorgan zu sein, sie ist ein herrschaftliches Führungsorgan geworden, oder wenn man an diesen Namen Anstand nehmen sollte, doch jedenfalls ein Führungsorgan der Eigenmacht, dem die Nachfolge gebunden gegenübersteht. Die monopolistische Unternehmung kann der Nachfrage zwar nicht rechtlich gebieten, diese kann sich unter Umständen der Nachfolge durch Enthaltung zum Teile oder selbst ganz entziehen, sie ist aber dort, wo die Nachfrage durch das Bedürfnis gebunden ist, tatsächlich zur Nachfolge gebunden.
Über die Massenorgane, durch die sich die Konsumenten vom Druck der Führungsorgane der Unternehmer frei zu machen streben, wollen wir jetzt nicht weiter sprechen, wir werden später Massenorganen zäherer Widerstandskraft begegnen, an denen wir das allgemeine Wesen der Massenorgane besser deutlich machen können.
Noch weniger Beachtung als der Tendenz zur Übermacht, welche den Führungsorganen eignet, haben die klassischen Ökonomen einer andern schädigenden Tendenz des modernen Lebens geschenkt, welche die Grundforderungen der Wirtschaftlichkeit vernachlässigt und die Kraft der Unternehmer wie der ganzen Gesellschaft verschleudert. Die Klassiker hatten noch zu wenig Gelegenheit, die Entgleisungen der Spekulation und inabesondere die Wallungen des Gründungsfiebere zu beobachten, die der kapitalistische Aufschwung mit sich gebracht hat. Wenn die bestehenden Unternehmungen hochgesteigerte Gewinne machen und mit dem Kapital zugleich die Gelegenheiten der Kapitalverwendung sich mehren, so kommt es dazu, daß die Unternehmungslust neben vielen wohlüberlegten Anlagen, die sie für die Dauer einrichtet, auch ins Leere baut. Projektanten guten Glaubens, aber ohne Erfahrung, treten zusammen mit beutegierigen Abenteurern mit Plänen an die Öffentlichkeit, die bis ins Tollste und Verwegenste ausschweifen können, und finden dabei immer noch den freien Zulauf des Publikums, dessen Gewinnbegierde gereizt ist. Die Unternehmungen, die man gründet, haben die hergebrachte Form der freien Führungsorgane, es mangelt ihnen aber die notwendige Unterlage der redlichen Kraft. Ein paar gewissenlose und glückliche Spekulanten bereichern sich an ihnen, die Unternehmungen selber brechen nach kurzem Schein der Blüte zusammen [428] und die Masse der Beteiligten hat nichts als Verlust. Es hat sich hier klar erwiesen, daß man für den Gebrauch der wirtschaftlichen Freiheit in diesen Kreisen noch nicht reif geworden ist. Ganz der gleiche Vorgang spielt sich, wie wir sehen werden, im Gründungsfieber der politischen Freiheit ab. Man ahmt die Formen der bestehenden erfolgreichen Demokratien nach, während es noch an der Kraft fehlt, die notwendigen Führungsorgane und Massenorgane der Freiheit lebendig zu machen, man ist nicht einmal so weit gereift, um auch nur zu wissen, was deren wahres Leben ausmacht. Gutgläubige Schwärmer ohne Erfahrung und waghalsige Abenteurer ohne Gewissen finden sich immer zur Führung bereit und die Masse läuft begierig zu. Verwirrung und Ohnmacht folgt, der Übereifer der Kritik belehrt nun das Volk, daß es „mit der Freiheit überhaupt nichts sei“, und der Rest ist die offene oder maskierte Diktatur.
Die nationale Bewegung seit dem 19. Jahrhundert hat dem Gründungsfieber der politischen Freiheit reiche Nahrung gegeben. Sie hat große Massen ins politische Leben eingeführt, denen die geschichtliche Erziehung zur tätigen Nachfolge und zur Führerkontrolle ganz und gar mangelte. Im ersten Schwung der nationalen Idee folgten sie geschlossen den erfolgreichen nationalen Führern nach. In diesem Abschnitte brachten die großen Dimensionen des nationalen Lebens den großen Führer in die Höhe, wie es die großen Dimensionen der modernen Wirtschaft ihrerseits getan hatten. Die Wirkung konnte aber im politischen Leben einer unreifen Nation nicht so nachhaltig sein wie im wirtschaftlichen Leben mit seinen gewaltigen Kräften. Dem politischen Leben einer unreifen Nation fehlt die tragende Kraft der Freiheit. Eine Nation von Millionen in Führern und Masse bis zum vollen Gebrauch der Freiheit organisieren, fordert, wo es überhaupt gelingt, seine gemessene Zeit. In einer Nation, die sich vorzeitig mündig gesprochen hat, werden die freien Führungsorgane und Massenorgane gleich schwächlich sein.
In den freien Städten des Mittelalters war die Stadtvertretung aus den Männern zusammengesetzt, die in den Zünften als deren Häupter gewählt waren. Die Städte waren die Sitze des Gewerbes und in den Zünften war das Gewerbe organisiert, sie waren daher die naturgewachsenen [429] Wahlkörper für die Stadtvertretimg. Die Stadtvertretung, die aus den Häuptern der Zünfte zusammengesetzt war, trug ihren Namen mit gutem Grund, in ihr waren die Männer beisammen, die das gewerbliche Wesen der Stadt leiteten, sie war der getreue Spiegel und Auszug der gesellschaftlichen Gliederung der Stadtbevölkerung nach ihrer Massenverteilung und ihren Einkommensverhältnissen.
Dasselbe gilt für die Vertretungen, die sich die Arbeiterschaft eines Volkes in ihren gewerkschaftlichen Verbänden gibt. Diese sind aus den Delegierten zusammengesetzt, die aus den Betrieben, aus den Fachverbänden und Ortsverbänden gewählt werden, welche die naturgewachsenen Wahlkörper für die gewerkschaftliche Leitung sind. Die auf solche Weise zusammengesetzte gewerkschaftliche Leitung ist der getreue Spiegel und Auszug der Arbeiterschaft nach ihrer Massen Verteilung und ihren Lohnverhältnissen.
Nach der Idee der sogenannten Gildenverfassung sollte die Volksvertretung auf eben diese Weise gebildet sein. Sie sollte aus den Delegierten zusammengesetzt sein, die durch die Wahl aus den einzelnen Verbänden entsendet werden, in die sich das Volk gliedert. Wäre das Volk so gleichmäßig in Gilden durchorganisiert wie die Bevölkerung einer mittelalterlichen Stadt, die überwiegend aus Gewerbetreibenden bestand, in ihren Zünften durchorganisiert war, so wären die Gildenverbände die naturgewachsenen Wahlkörper für die Volksvertretung, und die aus ihren Delegierten zusammengesetzte Volksvertretung wäre der getreue Spiegel und Auszug der gesellschaftlichen Gliederung des Volkes. Im modernen Staat ist aber die Bevölkerung zu bunt zusammengesetzt und zu ungleichmäßig organisiert, als daß die Voraussetzungen für die Gildenverfassung tatsächlich gegeben wären. Ein großer Teil der Gildenverbände müßte erst künstlich zum Zwecke der Wahl aufgebaut werden und man hätte kein klares Maß dafür, welche Zahl von Mandaten den einzelnen Wahlkörpern nach ihrem gesellschaftlichen Machtgewicht zuzumessen wäre. Man hat der Idee der Gildenverfassung bei den Berufungen in die erste Kammer da und dort bis zu einem gewissen Grad Rechnung getragen, auch für die zweite Kammer wurde und wird sie von manchen Politikern empfohlen, die den Blick dafür besitzen, um die mißlichen Folgen zu erkennen, welche das übliche System der Wahl der Volksvertretungen hat, praktisch ist sie aber bisher nicht angewendet worden. Nur in seltenen Fällen wird das Wahlrecht in geschlossenen Wahlkörpern ausgeübt, in aller Regel ist es ein rein persönliches Recht des einzelnen Wählers, das ihm zusteht, ohne daß er sich einem bestimmten Wahlkörper anzuschließen hätte.
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Die Künste der Wahlgeometrie bei der Abgrenzung der Wahlbezirke, die Abstufung des Wahlzensus, die Bildung von Wählerklassen oder Interessenkurien hat allerlei Möglichkeiten an die Hand gegeben, das persönliche Wahlrecht so auszumessen, daß dabei die bestehende Machtgliederung des Volkes zum Ausdruck gelangt und die in der Herrschaft befindliche kleine Zahl sich gegen die große Zahl der Staatebürger durchsetzt, Vor der Reformbill verfügte der große Grundbesitz in England in den von ihm abhängigen Wahlbezirken der rotten borouglis über eine so bedeutende Zahl von Mandaten, daß er im Hause der Gemeinen der Mehrheit sicher war. So lange der große Grundbesitz in England die überragende gesellschaftliche Geltung besaß, brachte diese Wahlordnung, so willkürlich und sinnlos sie dem Beobachter erscheinen mochte, die Machtgliederung des Volkes zum zutreffenden Ausdruck. Ähnlich verhielt es sich zu seiner Zeit mit dem preußischen Klassenwahlrecht und dem österreichischen System der Interessenkurien. Der Aufstieg der Massen und die demokratische Bewegung haben mit allen Systemen eines bevorzugten Wahlrechtes aufgeräumt, die der Herrschaft der wenigen über die vielen dienen sollten. Wenn nun in der Volksvertretung der wahre Wille des Volkes zur Geltung kommen soll, muß sie da nicht durch freie Volkswahl bestellt werden und wie könnte dies anders geschehen, als daß die sämtlichen volljährigen Bürger und Bürgerinnen, aus denen das Volk besteht, zur Wahl berechtigt werden ? Und daß sie, wie sie im Volk als Personen gleich zählen, so auch bei der Ausübung ihres persönlichen Wahlrechtes mit gleichem Rechte bedacht werden ? In diesem Sinne ist in den Demokratien das persönliche Wahlrecht als allgemeines und gleiches Wahlrecht gestaltet worden.
Ist dabei der Gedanke der Volksvertretung aber auch wirklich erfüllt? Jeder von den Bewerbern, die bei der Wahl durchdringen, ist der Vertreter einer gewissen Zahl von Wählerindividuen, die ihm ihre Stimmen gegeben haben, keiner von ihnen für sich genommen ist Volksvertreter. Wenn aber kein einzelner Abgeordneter für sich Volksvertreter ist, geschieht es dann mit gutem Grund, daß man die Summe aller Abgeordneten als Volksvertretung bezeichnet? Daß bei der persönlichen Konstruktion des Wahlrechtes der Gedanke der Volksvertretung verlorengehen kann, erweist sich deutlich am Punkte der Minoritätenvertretung. Tn einem national gemischten Staate kommt die nationale Minderheit beim persönlichen Wahlrecht dort genau zur Geltung, wo die Nationen geschlossen nebeneinander wohnen, es fällt ihnen hier eine solche Zahl von Waldbezirken und von Mandaten zu. wie sie ihrer Kopfzahl verhältnismäßig ist; macht sie 30 Prozent der [431] Bevölkerung aus, so wird sie bei gerechter Abgrenzung der Wahlbezirke 30 Prozent von diesen und demnach 30 Prozent der Mandate zur Verfügung haben. Anders, w o die nationale Minderheit über den ganzen Staat zerstreut wohnt. Angenommen, daß sie in jedem einzelnen Wahlbezirk 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht, so wird sie überall überstimmt, falls die nationalen Massen geschlossen wählen, und erhält daher überhaupt kein Mandat. Sie bleibt in der Volksvertretung unvertreten, die daher nicht als der getreue Spiegel und Ausdruck der Gliederung des Volkes gelten kann. Das allgemein gleiche persönliche Wahlrecht gibt also nicht die Sicherheit, daß die vielerlei Minderheiten, die sich in jedem Volke finden, in der Volksvertretung vertreten seien. Wenn man dies erreichen will, so muß man die Minderheiten zu Einheiten zusammenfassen, die sich im Wahlakte zur Geltung bringen können. Auf diese Weise ist man dazu gelangt, das persönliche Wahlrecht zum proportionalen Wahlrecht umzugestalten, wobei jeder Summe von Wählerindividuen, die sich zu einer Wählergruppe mit einer gemeinsamen Liste vereinigen, die Vertretung nach dem Maße der Größe ihrer Gruppe zugebilligt wird, vorausgesetzt, daß die Gruppe eine gewisse Mindestzahl, die sogenannte Wahlzahl, erreicht.
Wie die Minderheiten, so muß sich auch selbstverständlich die Wählermehrheit beim System der Listenwahl zu einer Einheit organisieren. Sie muß ihre besondere Liste aufstellen und diese Liste rechtzeitig einreichen, damit ihre Stimmen gezählt werden können. Das äußere Bild des Wahlaktes ist durch diese Neuerung stark verändert, die alten Wähler, die an den früheren einfacheren Vorgang gewöhnt waren, mußten sich erst in das neue Verfahren einlernen. Im Grunde ist aber doch nur die Form geändert, das Wesen ist dasselbe geblieben. Immer schon, ohne daß das Gesetz es zu fordern brauchte, mußten Mehrheit und Minderheit bei der Wahl organisiert auftreten. Der Wähler hätte nichts ausgerichtet, der sein persönliches Wahlrecht dahin verstanden hätte, daß er ohne Verbindung mit andern Wählern seine Stimme für denjenigen Bewerber abgab, der ihm persönlich genehm war, immer haben die Wähler sich am Wahlakt im Zusammenhang der politischen Parteien beteiligt. Sie haben ihr persönliches Wahlrecht nie anders gedacht und auch der Gesetzgeber hat es bei den Wahlordnungen, die er traf, nie anders gedacht. Bei allen Anordnungen, die über das persönliche Wahlrecht getroffen wurden, war immer stillschweigend vorausgesetzt, daß die politischen Parteien seine wirkenden Träger seien. Das Wahlrecht war im Gesetz als persönliches Wahlrecht formuliert, aber seine Ausübung war als Parteisache gedacht. Die politischen Parteien [432] sind die naturgewachsenen Wahlkörper, in denen in der moderneu Gesellschaft das Wahlrecht ausgeübt wird.
Der öffentlichen Meinung gilt der Wahltag als der Gerichtstag, an welchem das souveräne Volk die Führer erhebt oder verwirft. Wer in den Ablauf der gesellschaftlichen Willensbestimmung Einblick gewonnen hat, der weiß, daß dies ein Irrtum ist. So wie die Armee, um ihre Siegeskraft zu bewähren, der Führung bedarf, so bedarf auch das Volk der Führung, um seine souveräne Kraft zu bewähren. Die bloße Volksmasse ohne Führer ist gar nicht das Volk. Gerade weil der Wahltag ein entscheidender Tag ist, kann das Volk an ihm der Führung am wenigsten entbehren. Das souveräne Volk kann nicht ohne Führer zur Wahlurne schreiten. Die alten Führungen tun an diesem Tag ihr Äußerstes, um sich zu behaupten, und wenn sie sich von der Wahl fernhalten, so ist dies immer der Beweis dafür, daß sie keine Aussicht mehr haben, sich weiter zu behaupten. Diejenigen Gruppen der Masse, die mit den alten Führungen nicht zufrieden sind, müssen sich unter neue gestellt haben, wenn sie bei der Wahl durchdringen wollen. Der Wahltag ist ein entscheidender Tag und, wenn man will, ein Gerichtstag, aber er soll nicht zwischen dem Volk und seinen Führern, sondern er soll zwischen den Parteien entscheiden, welche die Träger des Wahlrechtes sind. Die siegreiche Partei zwingt dem Volke ihre Führer auf, indem sie zugleich ihre Masse zur Macht erhebt. Bei den unterliegenden Parteien sind Führer und Masse verworfen.
Die Volksvertretung ist sonach in erster Linie der Ausdruck der Macht der Parteien. Wo diese die Machtverteilungen im Volke getreu wiedergibt, ist sie als Parteienvertretung zugleich wahre Volksvertretung.
Der alte unfreie Staat hat sich der politischen Parteien, die im Volk aufwuchsen, mit allen Mitteln zu erwehren gesucht, weil er in ihnen die kommenden Mächte erkannte, die ihm sein Ende bereiten sollten. Selbst der freie Volksstaat wird gegen die extremen Parteien, von denen er sich bedroht glaubt, seine Zwangsmittel gebrauchen, um sie niederzuhalten. Erst wenn ein Staat sich ganz gefestigt fühlt, wird er alle Parteien frei gewähren lassen, soweit sie nicht ihrerseits Mittel des Zwanges gebrauchen. Im Wahlgesetze selber wird von den Parteien überhaupt nicht gesprochen, das Wahlgesetz regelt das persönliche Wahlrecht und ordnet im übrigen lediglich das Verfahren der Wahl; die Bestimmung, daß die Wahllisten, die das Gesetz fordert, von einer gewissen Mindestzahl [433] von Wählern gefertigt sein müssen, ist die einzige Bestimmung, die erkennen läßt, daß der Wähler sein persönliches Wahlrecht nicht rein persönlich ausüht. Wie sollte sich das Gesetz auch mit den Parteien beschäftigen ? Der Staat leitet die Parteien nicht und hat sie nicht zu leiten, im Gegenteil, sie sind dazu bestimmt, ihn zu leiten und sind begrifflich genommen vor ihm da. Die politischen Parteien sind freie Machtorgane des Volkes, sie verrichten ihren Dienst, ohne daß sie staatlicher Anerkennung bedürften, ihr Freiheitstrieb ist so mächtig, daß der .Staat, sobald sie zu ihrer Kraft gekommen sind, sie gar nicht mehr zu leiten vermöchte. Wo der Staat versucht, sie einzuschränken, dort hört er auf, ein freier Volksstaat zu sein.
Das Wesen der Demokratie ist die Überantwortung des Staates an die politischen Parteien. Im alten Machtstaat war eine gewisse bevorrechtete Schicht Inhaber der politischen Rechte, sie war Führer aus eigenem Recht, die Masse war politisch rechtlos. Die bevorrechtete Schicht war konkret abgegrenzt, die Familien, die Personen waren deutlich bezeichnet. Innerhalb der bevorrechteten Schicht mochte es Parteiungen geben, zwischen denen es zum Kampfe kommen mochte, durch welche die Machtverhältnisse verschoben wurden, aber im ganzen drängte die Entwicklung dazu, die Machtverhältnisse zu stabilisieren, wie denn insbesondere die Kämpfe innerhalb der Dynastien sich mehr und mehr beruhigten, bis zuletzt der Gedanke der Legitimität sich so befestigte, daß die Person des Monarchen eindeutig bestimmt war. In der Demokratie dagegen werden die Personen, die zur Macht berufen werden, durch den Ausgang der Wahl immer neu ausgelesen, wobei auch die Schichten wechseln können, welche die Regierung stellen. Statt wie im alten Machtstaate bestimmte Personen zur Macht zu berufen, erschöpft sich die demokratische Verfassung darin, das Verfahren zu regeln, nach welchem jeweils die Personen der Volksvertreter und die Personen der Regierung ausgelesen werden. Der Volksmann erkennt und genießt darin den Triumph der Freiheit, indem er erwartet, daß die immer wiederholte Auslese das Beste an Kräften aus dem Volk herausholen werde. Der Anhänger der alten Ordnung ist erschreckt, wenn er wahrnimmt, daß diejenigen, die heute an der Macht sind, darauf gefaßt sein müssen, eines Tages durch andere gestürzt zu werden, die von unten heraufkommen, und er kann nicht glauben, daß eine Regierung stark sein könne, die nicht standfest ist, sondern sich den Schwankungen anpassen muß, die von den Bewegungen der öffentlichen Meinung ausgehen.
Bei dieser Ordnung der Dinge ist es klar, daß die Parteiverfassung [434] ein wesentlicher Bestandteil der Staatsverfassung ist. Indem die demokratische Staatsverfassung der siegenden Partei die Macht zuteilt, ist sie eine Anweisung auf deren Parteiverfassung. Die Staatsverfassung gibt die formale Rechtsregel, nach welcher die Führer des Staates zu berufen sind, die Partei Verfassung gibt dieser Regel ihren persönlichen Inhalt, weil sie eine lebendige Verfassung ist, die es mit bestimmten Personen der Führung und mit geschichtlich gewordenen Zuständen der Masse zu tun hat. Wo in der siegenden Partei das Verhältnis von Führer und Masse locker ist, wird im Staate die Regierung schwach sein müssen, wo es stramm geordnet ist, wird die Staatsregierung stark sein können. Die Parteiverfassung ist zumeist ungeschrieben, die Staatsverfassung ist zumeist sorgfältig ausgeschrieben, aber da sie es doch nur in Rücksicht auf die Formen ist, so bedarf sie bei aller Ausführlichkeit, die sie haben mag, doch in dem wesentlichen Punkte der zu berufenden Personen der Ergänzung durch die Parteiverfassung, die ihre abstrakte Formel konkret ausfüllt.
Die meisten von denen, die sich über den gegebenen Zustand eines Staates unterrichten wollen, greifen nach dem Verfassungsgesetze. Man muß es ja kennen, wenn man den Staat kennen will, ohne Zweifel, aber gerade das 'Wichtigste ist aus ihm nicht herauszulesen. Der erfahrene Politiker geht einen andern Weg, er unterrichtet sich über die Personen der Führung und über die Verhältnisse der Parteien, die um die Macht ringen, und über die Aussichten, die sie haben, zur Macht zu kommen. Falls der Leser in diesem Buche erwartet, nach dieser Richtung Auskunft zu erhalten, so wird er sich enttäuscht finden. Der Verfasser hat es sich nicht zur Aufgabe gestellt, den Leser unmittelbar in die praktische Politik einzuführen, er ist zufrieden, falls es ihm gelingt, «las Wesentliche der Struktur der modernen Parteienverfassung und ihrer Haupttypen klarzumachen. Falls ihm dies gelungen ist, hofft er, damit einiges zum Verständnisse der politischen Lage der Gegenwart beigetragen zu haben. Wie die allgemeinen Züge des Bildes, das er entwirft, für die einzelnen Staaten auszuarbeiten sind, muß er denen überlassen, die über die konkreten Verhältnisse von Führungen und Massen aus nächster Anschauung unterrichtet sind.
Die politischen Parteien sind nirgends bis zur ganzen Breite der Masse hinab durchorganisiert. Sie sind keineswegs, wie. etwa die Gewerkschaften, darauf angelegt, alle diejenigen, auf die sie als Genossen rechnen, [435] fest in ihren Verband einzuschließen. Sie sind nicht geschlossene Verbände von Führung und Masse, sondern sie sind nach der Masse hin offen. Als Verband organisiert sind die Führungen mit den Führungsstäben der obersten Leitung und der Ortsleitungen, wozu dann die von der Partei beherrschten Kommunalvertretungen oder die ihnen verbundenen kirchlichen Organisationen treten, denen außerdem noch eine gewisse Zahl nächster Vertrauensmänner in den politischen Vereinen angeschlossen ist. Nach und nach bemächtigt sich jede klug geleitete Partei in ihrem Heranwachsen auch noch anderer Vereinsorganisationen, soweit sie diese für das politische Geschäft nur irgendwie brauchbar findet; ein Land, dessen Parteien gut organisiert sind, zählt nach allen Richtungen des Vereinswesens und des geselligen Lebens rote, schwarze, gelbe, weiße Organisationen. Wichtig sind auch die Kreditorganisationen, das Bürgertum war in großem Vorteil, solange es allein über solche verfügte. Bei aUedem wird eine ganz erkleckliche Zahl von Wählern doch nicht erfaßt. Es gibt selbst viele treue Anhänger, die den Organisationen nicht angehören, übrigens sind die bestehenden Organisationen zum Teil zu locker, als daß sie die Wähler ganz in der Hand hätten. Das wirksamste Mittel, um die Gemüter zu beherrschen, hat die Parteiführung in der Presse. Die Zahl der festen Abonnenten und der getreuen Leser der Parteipresse läßt am ehesten einen Schluß auf die Ausdehnung der Parteien zu. Freilich bleibt immer eine sehr große Zahl von Wählern übrig, deren Haltung wechselt und die sich erst am Wahltag entscheiden.
So betrachtet, erkennen wir den Part ei verband als einen halb organisierten Verband, bei dem in der Hauptsache bloß die Führung festgelegt ist. Seiner Form nach ist das Machtorgan der Partei ein Führungsorgan von genau der gleichen Anlage wie die geschäftliche Unternehmung eines ist. Wie diese ist es darauf angewiesen, durch die Nachfolge der Masse bestätigt zu werden. Wie die geschäftliche Unternehmung ihre Führungstätigkeit so einrichtet, daß ihr die Nachfolge der Käufer gesichert werde, so trachtet das Führungsorgan der Partei sich so zu verhalten, daß ihm die Masse zuströmt und daß insbesondere am entscheidenden Wahltag die Masse den Weisungen folgt, die es in Rücksicht auf die Wahl gibt.
Die große Bedeutung eines solchen Führungsorganes kann nicht in Zweifel gezogen werden. Solche Wählergruppen, für die sich Führungen noch nicht aufgetan haben, sind bei der Wahl verloren, sie werden sich der Wahl enthalten oder sie werden mit den Parteien, die ihnen am nächsten stehen, als Mitläufer stimmen, wobei sie selbstverständlich nicht auf ihre Rechnung kommen, weil sie Interessen dienen müssen, [436] die ihnen fremd sind, und eigene Interessen preisgeben müssen. Diejenigen Parteien, die am frühesten organisiert waren, haben hieraus großen Vorteil gewonnen, sie konnten ihre besonderen Wünsche als Forderungen der öffentlichen Meinung durchsetzen und konnten sich eine nicht unbeträchtliche geschichtliche Machtstellung sichern. In dieser günstigen Lage befand sich in den Anfängen des Liberalismus das gebildete Bürgertum, das zu seinem Erstaunen späterhin die Wahrnehmung machen mußte, daß die Massen, die zunächst mit ihm gegangen waren, nach und nach von ihm abfielen, sobald sie ihre eigenen Führungen fanden, bis zuletzt die Intellektuellen fast ganz auf ihren eigenen engen Kreis beschränkt waren.
Es scheint, daß bei der beschriebenen Einrichtung der Partei als Führungsorgan das übergewicht an die Führung fallen müsse, weil diese allein fest organisiert ist. Aber muß man nicht anderseits sagen, daß das Übergewicht an die Masse fallen müsse, weil die Führung sich immer auf sie einzurichten hat ? Die Antwort auf diese Frage läßt sich abstrakt nicht gehen, das eine und das andere kann der Fall sein. Wir müssen uns zunächst damit begnügen, die beiden Möglichkeiten wahrgenommen zu haben, weitere Folgerungen werden wir erst ziehen können, bis wir die Elemente der Wirklichkeit vollständiger erfaßt haben.
Im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung sind die politischen Parteien ein Überbau über die wirtschaftliche Gliederung der Volksmassen. Wenn wir den 1 sozialdemokratischen Programmen folgen dürften, so wäre diese Gliederung ganz einfach: den Proletariern steht die ganze übrige Bevölkerung als eine einzige reaktionäre Masse gegenüber, die Gesellschaft zerfällt schlechthin in die zwei Klassen der Besitzenden und der Besitzlosen oder, mit einem schärferen Ausdruck, die herrschende Klasse und die Klasse der Ausgebeuteten oder Enterbten. Karl Marx selbst ist bei dieser einfachen Einteilung nicht stehen geblieben. In seinen Schriften zur Zeitgeschichte finden wir sehr belehrende Aufschlüsse darüber, wie sich die Klasse der Besitzenden nach ihren wirtschaftlichen Interessen wieder in einzelne Gruppen spaltet, die ihren Ausdruck in den politischen Parteien erhalten. Die Gegensätze zwischen den einzelnen Gruppen greifen in der Tat sehr tief; der Bauer stellt sich scharf gegen den Großgrundbesitzer und ebenso der mittlere und kleine Gewerbsmann gegen den Industriellen. Man muß Bauer und Gewerbsmann als Mittelstand zwischen großem Besitz und Proletariat [437] einreihen. Es ist noch nicht allzu lange hör, so gehörten die Bauern seiher zu den Beherrschten und oft zu den Ausgebeuteten, die Gewerbs meister haben den goldenen Boden des Handwerks zumeist verloren, ihre Unterschichten, soweit sie nicht schon ins Proletariat herabgedrückt sind, erhalten sich nur mühsam und notleidend; es kann keine Rede davon sein, daß sie sich mit in die Herrschaft des Kapitels teilen, sie fühlen sich von diesem selber bedroht. Auch der gebildete Mittelstand sondert sich in seinen Interessen und seiner gesellschaftlichen Funktion deutlich vom großen Kapital, er „herrscht“ nicht, dazu fehlen ihm alle Machtmittel, und noch weniger beutet er aus; was er in der Gesellschaft bedeutet, bedeutet er durch seinen geistigen Führungsdienst. Die einzelnen Gruppen, in welche die besitzende Klasse zerfällt, empfinden ihre Gegensätze so stark, daß sie sich, wenn sie unter sich sind, kaum ihrer Zusammengehörigkeit bewußt werden. Ist im Adel und in den Industriemagnaten und Großkapitalisten oder auch in der hohen Geistlichkeit ein Gefühl lebendig, welches sie nicht nur mit den Beamten, Offizieren, Künstlern, Gelehrten, Anwälten und Ärzten, sondern auch mit den kleinen Rentnern, mit den Innungsmeistern, mit den großen und kleinen Bauern gesellschaftlich zusammenschlösse ? Auch in ihrer äußeren Lebenssitte sind diese Gruppen deutlich getrennt, selbst die all bezwingende Macht der Frauenschönheit ist nur selten stark genug, um die Trennung, die zwischen ihnen besteht, durch eheliche Verbindung zu überwinden. Erst wenn die Angehörigen der besitzenden Klasse den Proletariern gegenüberstehen, erkennen sie, daß sie doch zusammengehören. Die gesellschaftlichen Grundlagen ihres Erwerbes und ihres persönhehen Lebens sind in der Hauptsache dieselben, ihnen allen gilt die gleiche Wirtschaftsverfassung des Privateigentums und die gleiche Familienverfassung als heilig und sie erkennen sich in der gleichen geschichtlichen Auffassung als Glieder eines Volkes. Fast alles, was ihnen ehrwürdig gilt, ist dem proletarischen Gefühl zweifelhaft oder gleichgültig und im schlimmsten Falle sogar verhaßt. Am tiefsten wird der Gegensatz dort, wo im Proletariat die Lebensgemeinschaft der Familie ihren wahren Inhalt verliert, weil die Frau und Mutter den Tag in der Fabrik zubringen muß und die Kinder, die sobald als möglich in den Kindergarten gesteckt werden und nach den Jahren der Volksschule sogleich zur Arbeit gehen müssen, das beglückende Gefühl des eigenen Heimes nicht kennen lernen. Zwischen den besitzenden Klassen und dem Proletariat ist die persönliche Entfremdung doch noch um vieles strenger als zwischen den besitzenden Gruppen selbst. Nur die untersten Schichten der ersteren mischen sich einigermaßen mit den oberen Schichten des letzteren, in den übrigen [438] Schichten wird man sich mit der proletarischen Klasse kaum jemals durch die Ehe verbinden und auch jene andere Verbindungist fast abgeschlossen, durch welche die begabten Söhne der Unterschichten des Besitzes so häufig in die höheren aufsteigen. Der Wall der materiellen und geistigen Not, der das Proletariat einschnürt, ist so hoch, daß er nur ganz selten von besonderen Kraftnaturen unter besonders glücklichen Bedingungen überschritten werden kann. Selbst die Quartiere der beiden Klassen sind zumeist voneinander getrennt, der gebildete Mann kennt die Arbeiterviertel kaum, er geht nicht gerne hinaus, er meidet sie, weil ihr Anblick ihm an die Nerven und ans Gewissen greift, indem er ihn der Unwahrhaftigkeit zeiht, die arg genug ist, wenn er sich als Bürger in die Reihe der Mitbürger denkt, und die noch weit ärger ist, wenn er in der Kirche die Formel der Nächstenliebe nachbetet.
Die Gliederung der politischen Wirtschaftsparteien entspricht in aller Regel dieser Gliederung der wirtschaftlichen Massen. Zumeist hat sich jede der wichtigen Wirtschaftsgruppen für sich als politische Partei organisiert und dabei schließen sich trotz all der Reibungen und Kämpfe, die zwischen den Parteien des Besitzes hin und hergehen, diese Parteien doch zusammen, wo die großen Interessen hervortreten, die sie untereinander gegen das Proletariat verbinden. Heute, wo diese Interessen so in Streit gestellt sind, ist zwischen den vielfachen Parteien in der Volksvertretung keine Trennungslinie so deutlich markiert, wie die zwischen der Seite der Parteien des Besitzes und der proletarischen Seite. Es bedarf keiner ausdrücküchen Vereinbarung zwischen den Parteien des Besitzes, um ihre Reihen gegen das Proletariat zusammenzuschließen, sie sind durch anonyme Mächte zusammengehalten, die stillschweigend wirken, weil sie im Bewußtsein jedes einzelnen lebendig sind. Wodurch sonst ist die besitzende Klasse eine Einheit, als durch die Wirkung solcher anonymen Mächte ? Die besitzende Klasse im Volk entbehrt jeder Gesamtorganisation ; was in ihr an Organisationen besteht, bezieht sich auf ihre einzelnen Gruppen, das Klassenbewußtsein ist jedoch mächtig genug, um die Besitzenden, wenn es darauf ankommt, zum geeinten Vorgehen zu treiben. Ähnlich ist es bei den Proletariern, sie sind als Klasse besser organisiert wie die Gruppen des Besitzes, aber auch ihre Organisation ist unvollständig, die Masse der gemeinen Arbeiter ist zum guten Teil nicht durchorganisiert, dennoch sind auch sie, wo es darauf ankommt, durch das Klassengefühl geeinigt. Nur auf dem Lande, wo das bäuerliche Wesen in seiner alten Weise lebendig ist, ist es anders.
Es ist nicht die wirtschaftliche Gliederung der Gesellschaft allein, die den politischen Parteien ihre Unterlagen in den Massen gibt. Die [439] materialistische Geschichtsauffassung ist im Irrtum, wenn sie dies behauptet, sie ist zu einseitig auf das wirtschaftliche Interesse eingestellt, das allerdings in der Gegenwart für die Gliederung der Gesellschaft und der politischen Parteien bedeutungsvoller geworden ist, als dies früher der Fall war. Nirgends sind heute die politischen Parteien ganz und gar auf die wirtschaftlichen Gruppierungen und Schichtungen aufgebaut, es gibt überall Parteien, die auf anderer Grundlage stehen und doch auf das stärkste hervortreten mögen. Für Staaten gemischten Volkstums mag die Trennung der nationalen Parteien die Volksvertretung beherrschen und das Schicksal des Staates entscheiden. Neben den nationalen Parteien gibt es ferner kirchliche Parteien oder es gibt landsmannschaftliche, regionale Parteien und dynastische Parteien und sonstige Parteien eines geschichtlichen Programms, in denen die wirtschaftlichen Gruppierungen und Schichtungen zusammengefaßt sind, wo eben das nationale oder das kirchliche oder das regionale Gefühl oder die geschichtlich bedingte Richtung den Ausschlag gibt.
Auf alle Fälle ist die Gliederung der Bevölkerung, die der Partei bildung die Unterlage gibt, so ausgiebig und so fest bestimmt, daß von den Massen eine starke Tendenz ausgehen muß, sich in Parteien zu zersplittern. Manche von den Gruppen bringen für den politischen Parteiverband schon ihre fertige Organisation mit, wie zum Beispiel die konfessionellen Gruppen, die in festen kirchlichen Verbänden geeinigt sind, nüt Führungen großer Autorität, denen die Massen willig nachfolgen; auch das Proletariat ist durch seine gewerkschaftliche Organisation zur politischen Organisation vorbereitet. Andere Gruppen wieder müssen es erst im politischen Leben lernen, sich ihre Organisation zu geben und sie werden daher in ihrem Parteigefüge um vieles lockerer sein. Durch diese Verschiedenheit im Grade der Organisation ist die Buntheit der gesellschaftlichen Unterlagen des Parteiwesens noch gesteigert. Das Verhältnis von Führung und Masse wird in den einzelnen Fällen ganz verschieden sein, auch hierin sind mannigfache Möglichkeiten eröffnet.
Welche von den vielerlei Möglichkeiten in der Anlage des Parteiwesens, die durch die Verschiedenheiten in den Verhältnissen von Führung und Masse eröffnet sind, zu Wirklichkeiten werden, darüber entscheidet letztlich der Grad der geschichtlichen Erziehung des Volkes und der Volksgruppe. Ein gereiftes Volkstum und eine gereifte Volksschicht haben es geschichtlich gelernt, das Machtorgan der Partei zur höchsten
Wirksamkeit auszubilden, die mangelnde politische Reife wird sich immer irgendwie in der Unfertigkeit des Parteiwesens zu erkennen geben. Auch in den Kulturstaaten sind die Völker und Volksschichten unter höchst verschiedene Bedingungen ihrer geschichtlichen Erziehung gestellt gewesen, und wenn selbst ihre Anlagen gleich wären, so müßte aus diesem Grunde allein ihr Parteiwesen zu verschiedener Reife entwickelt sein. Von großer Bedeutung muß insbesondere die Länge der Zeit sein, die einem Volke und einer Volksschicht zu seiner politischen Erziehung gegönnt war. Die alten Demokratien werden in ihrem Parteiwesen reifer sein als die jungen und in den alten Demokratien wieder werden die früher ins politische Leben eingeführten Schichten reifer sein als die später eingeführten.
In England sind die obersten Schichten des Besitzes und der Bildung um sehr viel länger im Parteiwesen geschult als irgendwo sonst in der Welt, aber gerade in England ist die große Masse der Wähler später des allgemeinen Wahlrechtes teilhaftig geworden, als in vielen der Kontinentalstaaten. England ist nach den Revolutionen des 17. Jahrhunderts konservativ geworden, es hat sich bei der Zuteilung des Waldrechtes starr an die überlieferten Verhältnisse gehalten, die im Interesse der adeligen Machthaber geordnet waren. Vor der Reformbill von 1832 waren nur 3 Prozent seiner Bevölkerung des Wahlrechtes teilhaftig, das Wahlrecht war jedoch so ungleich ausgemessen, daß die Verfügung über die Mehrzahl der Mandate einer Minderheit der Wähler vorbehalten war, die kaum ein Drittel der Gesamtzahl ausmachte. Bei der Reform begnügte man sich damit, die Zahl der Wähler von 3 Prozent auf 4% zu erhöhen und die gröbsten Ungerechtigkeiten der Mandatsverteilung zu beheben. Es verging längere Zeit, bis Disraeli den kühnen Schritt wagte, die Zahl der Wähler auf 9 Prozent der Bevölkerung zu erhöhen, später vermehrte Gladstone die Zahl auf ein Sechstel der Bevölkerung oder ungefähr ein Drittel der Erwachsenen. Erst im Jahre 1917 ging man zum allgemeinen Wahlrecht über, sechs Millionen neuer Wähler wurden zugelassen. Ihre mindere politische Erziehung erwies sich deutlich an der geringen Ziffer der Wahlbeteiligung; bei den Wahlen von 1918 gaben nur 64% der Wahlberechtigten ihre Stimmen ab, gegen 92% im Jahre 1910. Lloyd George hat die Meinung ausgesprochen, daß England erst mit dem Gesetze von 1917 eine Demokratie geworden sei, er dürfte dabei aber wohl die geschichtliche Macht unterschätzt haben, die der Freiheitsgedanke in England hat. Das England von 1917 ist gewiß nicht den jungen Demokratien zuzurechnen, sondern wir haben in ihm eine alte Demokratie [441] zu erkennen, denn es war schon von lange her im Besitze und im besonnenen Gebrauche gesunder Freiheitsorgane und war dadurch politisch reif geworden. Die großen im Jahre 1917 neu zugelassenen Wählermassen hatten eine höchst wirksame Hilfe ihrer politischen Betätigung darin, daß sie schon die älteren Parteien vorfanden, in deren Rahmen sie sich einfügen oder deren Vorbild sie nachahmen konnten. Das Proletariat war überdies in England durch seine gewerkschaftliche Organisation seit langem vorgeschult und hatte seine lang bewährten Führungen und seine ausgebildete Massendisziplin. Trotzdem hat die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes das politische Gleichgewicht Englands empfindlich erschüttert, ihre Nachwirkung wird lange zu spüren sein, aber die tragenden Freiheitsmächte Englands sind stark genug, um den jähen Stoß der neuen Wählermassen auszuhalten.
In den Vereinigten Staaten hatten die Kolonisten, schon bevor sie ihre staatliche Unabhängigkeit erkämpft hatten, in ihrer weitgehenden Selbstverwaltung die Gelegenheit ihrer politischen Erziehung, und für die oberste Führung, die ihnen noch fehlte, gab ihnen der Unabhängigkeitskrieg die Gelegenheit, die geeigneten Personen auszulesen, denen ihrerseits die Gelegenheit gegeben war, Autorität über die Massen zu gewinnen. Als von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die europäischen Einwanderer, unter denen die meisten jeder politischen Schulung entbehrten, immer reichlicher einströmten, so waren die amerikanischen Parteien tragfähig genug geworden, um sie in ihre Reihen aufzunehmen und auszubilden. Sie traten in die fertigen Parteiordnungen ein. denen sie sich mit dem Eifer der Anpassung einfügten, mit welchem die Einwanderer in ihre neue Heimat hinüberkommen.
Das französische Volk hatte in der großen Revolution den Sprung zur Freiheit fast ohne alle Vorbereitung seiner Massen und auch seiner Führer zu machen. Wenn jemand, der im Skilaufen noch keine Übung hat, versuchen wollte, auf weite Distanz einen „gestandenen Sprung“ zu wagen, so wird ihm dieses Abenteuer mißlingen und auch dem französischen Volk konnte im Taumel der Revolution ein gestandener Sprung“ nicht gelingen. Hat es doch im Sinne der unmittelbaren Demokratie den Versuch gemacht, das souveräne Volk selber zur Entscheidung zu berufen! Wo immer in einer der vielen tausend französischen Gemeinden das souveräne Volk oder die kleine Minderheit, die sich dafür ausgab, sich vernehmen ließ, verlangte es, gehört zu werden, und es stand immer im Beheben jedes Volkshaufens, in das Parlament einzudringen und dessen Beratungen zu beeinflussen. Man mußte erst lernen, sich von der Formel der unmittelbaren Demokratie loszusagen. Ebenso [442] aber mußte man, als man zur Formel der mittelbaren Demokratie überging, erst lernen — und das gilt nicht nur für Frankreich, sondern für alle jungen Demokratien — daß es auch hier mit der bloßen Formel noch nicht getan war und daß man erst dazu reif werden mußte, das Machtorgan der Partei nach seinem richtigen Sinne auszubauen und zu gebrauchen.
Zwei Staaten können bis auf den Buchstaben genau die gleiche Form ihrer Verfassung haben und doch wird die Wirklichkeit des einen das parlamentarische und die des andern das konstitutionelle Regierungssystem sein müssen. Die Entscheidung liegt einzig in der politischen Reife des Volkes, die sich in der Anlage der politischen Parteien ausdrückt. Zum parlamentarischen Regierungssystem ist nur dasjenige Volk gereift, welches Staatsparteien aufbringt. Völker, die nur Interessenparteien aufbringen, müssen sich beim konstitutionellen System bescheiden.
Die Staatsparteien sind ein politischer Überbau von so weiter Anlage, daß er über die Grenze der Klassen und der Berufsgestalten hinübergreift. Die Interessenparteien vermögen sich zu dieser Weite nicht zu erheben, sondern sind auf die einzelnen Klassen und die wirtschaftlichen oder nationalen oder konfessionellen oder sonstigen bedeutsamen Berufsgestalten eingestellt. Die Staatsparteien nehmen grundsätzlich die Gesamtheit aller Berufsinteressen und über diese hinaus immer auch noch das allgemeine Staatsinteresse wahr, die Interessenparteien dienen in erster Linie den engeren Interessen ihrer Gruppe und lassen die andern Interessen nur so weit gelten, als sie es um ihrer eigenen Interessen willen tun müssen. Ein Volk mit Staatsparteien ist ein wahres Staatsvolk, seine Vertretung ist eine wahre Volksvertretung, das Parlament ist dazu reif, den Staat als gesunde Republik einzurichten, die sich ihren Präsidenten und ihre Regierung gibt; in der Monarchie ist es dazu reif, dem Fürsten die Regierung zu präsentieren, die der Mehrheit genehm ist und die der Fürst nicht umhin kann, in das Amt einzuweisen. Ein Volk mit bloßen Interessenparteien ist für sich allein noch kein rechtes Staatsvolk, es wird zum Staats volk erst dadurch, daß es sich dem Fürsten in gemeinsamer Nachfolge für die staatlichen Aufgaben zur Verfügung [443] stellt, seine Volksvertretung ist keine wahre Volksvertretung, sie ist eine bloße Interessenvertretung, das Parlament ist dazu unfälug, dem Fürsten die Regierung zu präsentieren, es muß sich mit der geringeren Rolle bescheiden, die fürstliche Regierung zu kontrollieren und zu beraten.
Das konstitutionelle Regierungssystem war vor dem entscheidenden Siege, den die Demokratie beim Umsturz gewann, das gegebene System für die Mehrzahl der Staaten des europäischen Kontinentes; die Republiken der Schweiz und Frankreichs mit ihrer längeren politischen Erziehung waren darüber hinweggekommen, Rußland und die Türkei waren gerade daran, sich mit ihm zu versuchen. Das konstitutionelle System war das folgerichtige Ergebnis der Wandlung, durch die sich der kontinentale Fürstenstaat der aufsteigenden Volksmacht anpassen mußte. Der Fürst konnte seine absolute Macht nicht länger aufrechthalten, die er in den Kämpfen, welche um den Ausbau der kontinentalen Staaten geführt wurden, als militärischer und politischer Führer aufgerichtet hatte. Er war gezwungen, mit den Mächten zu rechnen, die durch das wirtschaftliche Werk groß wurden, welches in der Gesellschaft immer mehr hervortrat. Er konnte nicht erwarten, mit dem aufstrebenden Volkstum ebenso fertig zu werden, wie er es in der vorhergehenden Periode mit den Ständen geworden war, denn die militärische Macht, die er gegen die Stände gebrauchen konnte, war ihm dem Volkstum gegenüber nicht mehr zur Verfügung, wenn die öffentliche Meinung auch die Armee beherrschte. In manchen der Kämpfe, welche die Fürsten gegen die freiheitliche Revolution zu führen hatten, ging die Armee offen zum Volke über, in andern gelang es dem Fürsten, die Bewegung niederzuwerfen, aber die Verhältnisse lagen doch so, daß auch nach dem militärischen Siege die fürstliche Allgewalt dazu verhalten war, sich mit den neuen Mächten in einem entgegenkommenden Frieden zu vertragen. In ihren Anfängen war die freiheitliche Bewegung so stark, daß das eine oder das andere Mal die monarchische Form der republikanischen weichen mußte oder daß der Fürst bis auf die Linie des parlamentarischen Systems zurückzugehen sich genötigt sah. Das letztere war z. B. in Österreich der Fall, als der liberale Schwung fast das ganze Volk unter der Führung des gebildeten Bürgertums zu einer Staatspartei vereinigte. Diese Schwankungen wurden aber bald überwunden. Der allgemeine politische Sinn war noch zu unreif, die im ersten Schwung gebildete Staatspartei zerfiel unaufhaltsam in kleinere Interessenparteien, in die sich die besitzende Klasse und bis zu einem gewissen Grade auch die proletarische Klasse spaltete. Die altbürgerlichc Partei, welche die Bewegung geleitet hatte, war viel zu wenig tief fundiert, [444] um die neuen wirtschaftlichen Parteiungen aufzusaugen, die überall hervortraten. In den national gemischten Ländern entstanden noch dazu nationale, in den konfessionell gemischten konfessionelle Parteien. Die Wählerschaften hatten eben doch nur für ihre nächsten Gruppeninteressen Verständnis und Nachfolgebereitschaft, und für jede von den auftauchenden Interessengruppen stellte sich auch das Führungsorgan zur Verfügung, das begierig war, die Wähler und Mandate zu sammeln, welche in Aussicht standen. Die Führer aus der Zeit der ersten allgemeinen Bewegung, die noch den großen Freiheitsgedanken des ersten Schwunges im Sinne hatten, mußten sich aus dem politischen Leben zurückziehen oder sich auf den Interessenkreis der ihnen nächststehenden Gruppen einschränken. Auf die Dauer nahm der Fürst überall seinen Vortal wahr und so kam es dazu, daß er, nachdem die ersten Stürme vorüber waren, wieder Herr der Lage wurde. Ihm blieb es vorbehalten, die große Politik nach außen und im Innern zu leiten, die im Grunde jenseits des Interessenkreises der Parteien war. Der Fürst konnte der Zustimmung im Volke sicher sein, wenn er dafür sorgte, daß die Parteien im Rahmen ihrer besonderen Interessen tunlichst zufrieden gestellt wurden.
Die große Zahl der Interessenparteien, in die sich unter diesen Verhältnissen das Parlament zersplitterte, brachte es mit sich, daß keine einzelne Partei über die Mehrheit des Hauses gebieten konnte. Die Interessen parteien waren so kurzsichtig auf ihre nächsten Wünsche beschränkt, daß sie. sich auch nicht leicht zu dauernden Verbänden einigen konnten. Die parlamentarische Mehrheit, die man für die Votierung der Staatserfordernisse oder anderer Staatsnotwendigkeiten brauchte, mußte entweder durch wechselnde Koalitionen oder gar von Fall zu Fall zusammengebracht werden. Dazu war eine Regierung vonnöten, die über den Parteien stand und die der Fürst aus seinem eigenen Rechte zu berufen hatte. Dies geschah entweder in der Weise, daß er Politiker aus den ihm genehmsten Parteien berief oder daß er Beamtenministerien bestellte. Damit ist noch nicht alles gesagt ! Die Interessenparteien waren nicht nur nicht regierungsfähig, sondern sie waren eigentlich nicht einmal recht regierungswillig. Der Zustand, wie er war, hielt sie von den Sorgen der Regierung frei und erlaubte ihnen, sich von Zeit zu Zeit wieder an der Volkstümlichkeit der Opposition zu erholen. Es konnte sein, daß sich ziemlich alle Parteien den Wählern gegenüber als Oppositionsparteien gaben, wobei sie freilich gegen die Regierung nachgiebiger sein mußten, als es mit strenger Opposition zu vereinigen war. Sie ließen mit sich handeln. Besonders günstig lagen die [445] Dinge für die Regierung dort, wo ihr die Machtüberlieferung der Verwaltung und die Schwäche des Volkes die Gelegenheit eröffnete, die Wahlen zu machen.
Meist waren die Bedingungen so gestellt, daß das konstitutionelle System nicht etwa als ein System des Überganges für kurze Dauer zu betrachten war, sondern alle Aussicht hatte, sich für lange einzuleben. In der Zeit, in der die Parteien noch im Werden waren, rechnete man bei den neuaufsteigenden Parteien auf Zuwachs von Wahl zu Wahl, aber sobald sie in der Hauptsache fertig ausgebildet waren, durfte man kaum mehr erwarten, sich bei Neuwahlen merklich auf Kasten anderer Parteien auszudehnen. Jede nationale, jede konfessionelle und wohl auch jede wirtschaftliche Partei hatte ihre festen Wahlbezirke, die Zahl der schwankenden Bezirke war verhältnismäßig gering. Die nationalen wie die konfessionellen Siedlungen sind im alten Europa heute gegeneinander fast unverschiebbar abgegrenzt, die Siedlungsmassen der wirtschaftlichen Gruppen verschieben sich allerdings beim Übergang vom Agrarzum Industriestaat und beim Wachsen der Industrie, wie auch infolge des andauernden Zuges zur Stadt, doch auch diese Verschiebungen gehen im ganzen nur langsam vor sich und keine der Gruppen der besitzenden Klasse durfte sich die Erwartung machen, durch sie allein in näherer Zeit die Mehrheit in der Volksvertretung zu erhalten. Selbst das Wachstum der industriellen Arbeiterschaft geht nicht so raschen Schrittes vor sich, daß das Proletariat hoffen durfte, sich so bald aus einer Minderheitspartei zur Mehrheit im Hause zu erheben. Dazu mußten Veränderungen kommen, wie sie beim Umsturz eingetreten sind, Veränderungen der öffentlichen Meinung, welche das konstitutionelle System aus den Angeln hoben.
Solange das konstitutionelle System bestand, war der Fürst in einem tieferen Sinne Vertreter des Volkes, als die Parteien, von denen jede nur eine einzelne Interessengruppe im Volke vertrat. Er hatte die geschichtliche Macht für sich, er allein konnte auf die Massenbereitschaft der Nachfolge im ganzen Staate rechnen, ihm und seiner Regierung oblag es, aus den Komponenten der Interessenforderungen die staatliche Gesamt resultante zu ziehen und der Politik die großen Ziele zu weisen. Wo ein einsichtiger Monarch regierte oder ein großer Staatsmann dem Monarchen als Berater zur Seite stand, war das Staatsinteresse voll gewahrt. In den großen Jahren Bismarcks besaß das deutsche Volk eine Staatsform, die allen seinen reichen Kräften vollen Ausdruck gab. Bei Eröffnung des Weltkrieges konnte niemand im Zweifel sein, daß das deutsche Volk, welches mit der Regierung darin einig war, den Krieg, [446] zu dem es sich herausgefordert glaubte, bis zum äußersten durchzuhalten, eine nationale Macht von nicht minderer Geschlossenheit war, als die Demokratien Englands oder Frankreichs.
Die eigentümliche Formanlage der Partei, daß sie als Führungsorgan gebildet ist, bringt unter den Voraussetzungen des konstitutionellen Systems die Parteiführungen in Abhängigkeit von den Massen, die zur Nachfolge nur innerhalb ihres beschränkten Interessenkreises bereit sind, eben diese Anlage gibt aber unter den Voraussetzungen des parlamentarischen Systems den Führungen gegenüber den Massen eine ausgesprochen starke Stellung. Dies erklärt sich daraus, daß die Voraussetzungen, unter denen sich das parlamentarische System ausbildet, so gestellt sind, daß sich statt bloßer Interessenparteien volle Staatsparteien auftun und daß in den Staatsparteien den Führungen ungleich größere Aufgaben obliegen und daher ungleich größeres Gewicht zufällt, als in den Interessenparteien.
Welches die Voraussetzungen sind, unter denen es zum parlamentarischen System kommt, haben wir bereits gesagt. Es ist die größere politische Reife von Führung und Masse, zu welcher im Volkscharakter die Anlage gegeben ist und die durch geschichtliche Erziehung ausgebildet wurde.
England, das klassische Land des parlamentarischen Systems in Europa, war durch seine Insellage aus dem Wirbel der kontinentalen Kriege abgesondert, dessen Niederschlag die stehenden Heere waren, durch welche der fürstliche Kriegsherr auf dem Kontinent die entscheidende Gewalt in seine Hände bekam. In England ist das Fürstentum nie so mächtig geworden, daß es vermocht hätte, die Überlieferung der ständischen Freiheit zu unterbrechen. Im Laufe der Revolutionen verschob sich das Machtverhältnis noch weiter zugunsten der Stände. Die zweite, die glorreiche Revolution, verwandelte das Königtum von Gottes Gnaden in ein Königtum von Volkes Gnaden, die Ausübung der Macht fiel jedoch weder dem Volke noch dem König zu. Dem Volke fehlte noch die politische Reife und dem Hause Hannover, das aus dem fremden Deutschland auf den Thron berufen wurde, fehlte die dynastische Überlieferung. Die tatsächliche Ausübung der Macht fiel dem großen Whigadel zu, der die glorreiche Revolution geleitet und die protestantische Thronfolge durchgesetzt hatte. England war in den ersten Jahrzehnten nach der Thronbesteigung der hannoverischen [447] Könige in seiner tatsächlichen Verfassung eher eine Adelsrepublik, als eine Monarchie, nach dem Urteil Disraelis war der König gegenüber dem Adel nicht mehr, als der Doge in Venedig gewesen war. Indem den Whigs die Torys gegen übertraten, bildeten sich die beiden großen englischen Staatsparteien aus, die um die Mehrheit im Lande und um die Regierung rangen. Die aufsteigende Bewegung der Massen wandelte die Adelsherrschaft allmählich zum Liberalismus und zur Demokratie, die Adelsparteien mußten sich den modernen Verhältnissen anpassen. Dafür, daß sie sich diesen anzupassen wußten, ernteten sie den Lohn darin, daß sie die Führung der politischen Parteien in der Hand behielten. Altbewährte Überlieferungen und neue Errungenschaften verbanden sich auf das innigste. Beide großen Parteien waren immer aufnahmsfähig genug, um die neu aufsteigenden Massen im Sinne ihrer eigenen geschichtlichen Erziehung weiter zu erziehen. Beide großen Parteien, soviel neue Interessenkreise ihnen auch zuwuchsen, sind Staatsparteien gebheben.
Jede Staatspartei muß den Willen zur Regierung haben und muß sich regierungsfähig erhalten. Es kann daher nicht viele, sondern eigentlich stets nur zwei wirksame Staatsparteien geben, denn wenn einmal mehr als zwei da sind, so ist die Aussicht schon zu gering, die Mehrheit im Hause zu gewinnen, welche die Voraussetzung der Regierungsfähigkeit ist. Um die notwendige Zahl von Mandaten zu besetzen, muß jede der beiden Staatsparteien trachten, möglichst alle Interessengruppen in sich zu vereinigen, sie wird keine von denen ausschließen dürfen, die sich überhaupt zum Staate bekennen. In den beiden großen geschichtlichen Parteien des englischen Parlamentes sind immer Großgrundbesitz und Großkapital, mittleres und kleines Bürgertum und agrarische Interessen, soweit sie neben dem Großgrundbesitz noch bestehen, und endlich bis auf die jüngste Zeit auch die Arbeiterschaft vertreten gewesen, wenn auch die Mischung der Gruppen in den beiden Parteien verschieden ist. Der Gegensatz der Parteien bezog sich mehr auf das Tempo der Entwicklung, als auf die Auswahl der zu pflegenden Interessen. Jede stellte die großen Staateinteressen der hohen Politik in erste Reihe, jede war selbstverständlich in dem Sinne Staatepartei, daß ihr der Bestand und die Macht des Staates über alles ging. Darin waren beide Parteien einig und deshalb konnten sie sich in der Regierung ablösen, ohne daß es zu einem Bruche der leitenden Staatstraditionen kommen mußte. Wenn irgendwo auf dem Balkan die Regierungspartei in Opposition gedrängt wurde, so konnte dies in Zeiten, die noch gar nicht weit zurückliegen, die Folge haben, daß sie sofort zu Verschwörerwesen und Revolution [448] bereit war und sich wider die Dynastie stellte, der sie eben noch unterwürfig ergeben war; in England blieb Friede und Ordnung unberührt, wenn die Whigs die Toryregierung oder die Torys die Whigregierung stürzten. Bei aller Leidenschaftlichkeit des politischen Kampfes und des Wahlkampfes insbesondere war doch im Sinne jedes Abgeordneten und jedes Bürgers der Gedanke an den Kampf mit Waffen ausgeschlossen und alles war immer bereit, sich dem Ergehnisse der Abstimmung zu fügen. Die Mehrheit der Stimmen entschied. Von der Abstimmung im Hause gab es nur die eine Berufung auf die Abstimmung der Wähler.
Eine Staatspartei, die am Wahltag die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnen will, muß ihre politischen Geschäfte in einem weiteren Rahmen anlegen, als die einfache Interessenpartei. Dazu ist notwendig, daß sie den besonderen Interessen aller einzelnen Gruppen entgegenkommt, soweit dies ohne Reibung mit den andern zugehörigen Gruppen geschehen kann, und dazu wiederum Ist es die beste Hilfe, daß sie die allgemeinen Interessen aufzuspüren und wirksam zu vertreten weiß, in denen sich alle Gruppen einigen. Die Staatspartei Lst auf die Wege der großen Politik gewiesen, wie sie früher der weitschauende Füret gewollt hat. Sie wird erkennen, daß alle Interessen darin solidarisch zusammenlaufen, dem Staat nach außen Machtgeltung zu sichern und im Innern die Bahnen zu ebnen, damit die wirksamsten Kräfte sich entfalten können. Die obersten Führer solcher Staatsparteien müssen Politiker des besten Sinnes sein, es genügt nicht, daß sie Politiker des Sinnes seien, wie es die Führer der Interessenparteien sind, bloße Parteipolitiker, sondern sie müssen Staatsmänner sein, wie vordem die großen Fürsten und ihre Berater. Diese obersten Führer brauchen jene Schulung, die man nur erwerben kann, wenn man Politik nicht im Nebenamte betreibt, und wiederum dürfen sie sie nicht als bloßen Erwerbs beruf betreiben, sondern sie müssen in gesicherter Stellung Muße für andauernde politische Arbeit haben. Schulung, wie sie sie brauchen, läßt sich nur durch fortgesetzte Erfahrung erwerben, eine Erfahrung nicht von heute, sondern von lange her, die sich am geschichtlichen Erfolge bewährt hat. Man braucht dazu die Tradition einer großen Partei von geschichtlicher Vergangenheit.
Staatsparteien von solcher Anlage und Führung dürfen sich die Erwartung machen, wenn ihre Politik Erfolg hat, zum festen Kerne ihrer allzeit getreuen Anhänger auch noch die zwischen den Parteien schwankenden Wählermassen zu gewinnen, deren Haltung durch die großen Bewegungen der öffentlichen Meinung bestimmt wird. Falls die Regie rungspartei mit ihrer Politik schweren Mißerfolg erlitten hat, so wird [449] die Oppositionspartei, die mit ihrer Kritik Recht behielt, bei der Neuwahl die alte Mehrheit aufs Haupt zu schlagen vermögen und als überlegene Siegerin ins neue Haus einziehen. Die alte Regierung muß sich dann mit der Stellung bescheiden, die ihr die Führung der Opposition anweist. Ihr Ansehen ist damit keineswegs für immer vernichtet, es wird der Tag kommen, der sie wieder zur Macht beruft, und wenn sie sodann die Macht wieder antritt, so tut sie es nicht als Neuling in den Geschäften, die sie ja von früher kennt und die sie auch als Opposition fruchtbar zu kritisieren die Aufgabe hat, und sie tut es auch nicht als Neuling im öffentlichen Vertrauen. Sie tritt ihr Amt mit jener geschichtlichen Macht an, die den ruhmwürdigen Traditionen entspricht, wie sie beide großen Parteien in England besitzen. Das neue Ministerium genießt dieselbe volle Autorität, wie sie das Ministerium vor ihm und früher die fürstliche Regierung genossen hatte.
Das Votum der Wälder am Gerichtstage der Wahl hebt die geschichtliche Macht der Parteiführungen durchaus nicht auf. Die Wähler werden durch ihre Abstimmung keineswegs die Führer der Führer, sie bleiben immer die geführte Masse. Immer mußte in der Zeit des Zweiparteiensystems die eine der bestehenden Parteiführungen als Siegerin aus dem Kampfe hervorgehen, denn diese allein sind durch geschichtliche Auslese und durch die Nachfolgebereitschaft angestammter Wählerschaften zu Regierungsanwärteru berufen, immer entscheidet aber anderseits auch das Gewicht der Wählermehrheit. Immer bleiben demnach Führungen und Masse in ihren Funktionen, die bei gesunden Verhältnissen ihren gesunden Ausgleich finden. Nach den Verhältnissen, wie sie in England bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden, war der Ausgleich so genau, daß man mit demselben Recht sagen konnte, England sei eine aristokratische, als eine demokratische Monarchie.
Auch das Königtum hat in England seine geschichtliche Rolle noch nicht ausgespielt. Disraeli mag mit der Behauptung im Rechte sein, daß die ersten Könige des Hauses Hannover nicht mehr als Dogen in einer Adelsrepublik waren, aber nach und nach hat sich auch den Regenten dieses Hauses und des nachfolgenden Hauses Coburg das dynastische Gefühl zugewendet, zu dem das englische Volk durch seinen geschichtlichen Sinn die Anlage hat. Im König erkennen die Völker der englischen Kolonien den persönlichen Repräsentanten der Reichseinheit, und für die Engländer draußen und im Mutterlande gilt dasselbe. Für die englische Machtpsychologie ist mit der Person des Königs die Vorstellung der geschichtlichen Glorie des Reiches assoziiert. Genaue Kenner der Dinge sind der Meinung, daß die Kolonien sich vom Reiche lösen [450] würden, sobald das Band des Königtums nicht mehr bestehen sollte. Der imperialistische Gedanke des Weltreiches fordert den Fürsten auf dem Throne. Die Berufung des Ministeriums durch den König ist daher keine bloße Formsache. Die Führer der Parlamentsmehrheit hätten im Reiche kaum die volle Autorität der Regierung, wenn sie bloß von der Mehrheit bestellt und nicht vom König bestätigt wären. Erst die Bestätigung durch den geschichtlichen Inhaber der obersten Reichsmacht gibt ihnen die volle geschichtliche Macht, die sie aus einer Parteiregierung zur Reichsregierung erhebt. Was Polybius vom römischen Staate sagt, daß man ihn ebensowohl als Monarchie wie alB Aristokratie oder als Demokratie bezeichnen könne, gilt auch von England. Die durchdringende Mischung der Elemente der Staatsmacht gibt ihm seine Kraft, wie die noXizeCa //wtxij nach dem Urteil des Polybius dem alten Rom seine Kraft gegeben hat.
Zur Demokratie ist das englische Volk dadurch gereift, daß es seine Massenfunktion der Nachfolge im vollsten Sinne zu üben gelernt hat. Zwar ist auch in England ein großer Teil der Wählerschaft durch Überlieferung und Interesse in seiner Parteinachfolge streng gebunden, aber es ist eine ansehnliche Zahl von Wählern da, die zur prüfenden Nachfolge gereift ist und die am Gerichtstag der Wahl den Ausschlag gibt. Dadurch sind, wie wir an einer früheren Stelle ausführlicher gezeigt haben, die englischen Parteiführungen jener wirksamen Führerkontrolle unterworfen, die der entscheidende Faktor für die Selbstbestimmung des Volkes ist.
In jüngster Zeit ist das klassische Zweiparteiensystem Englands durch das Aufkommen der Arbeitepartei gesprengt worden. Es ist dies eine Nachwirkung des Weltkrieges, die, so störend sie empfunden wird, doch gelinde ist im Vergleiche zu den Erschütterungen, welche die geschichtlichen Staats Verhältnisse bei den besiegten Völkern erfahren haben. Der Weltkrieg hat England gezwungen, seine geworbene Armee auf den Stand eines Volksheeres zu erweitern, und der demokratische Sinn war so mächtig, daß man nicht umhin konnte, der allgemeinen Wehrpflicht das allgemeine Wahlrecht folgen zu lassen. Mit einem Male waren große Mengen neuer proletarischer Wähler da. Wie wir bereite erwähnt haben, übte ein großer Teil von diesen ihr neues Recht nicht aus, aber die Zahl derer, die es ausübten, war doch so groß, daß dadurch die Verhältnisse der Parteien wesentlich verschoben wurden. Bisher hatte sich die Mehrzahl der Arbeiter einer der beiden bürgerlichen Staatsparteien angeschlossen, erst seit kurzem bestand überhaupt eine selbständige Arbeitspartei, die jedoch nur über wenig Sitze verfügte. Es [451] war selbstverständlich, daß die neuen Wähler vor allem dieser Partei zuströmten, der sich sodann auch die meisten der bisher den bürgerlichen Parteien angeschlossenen Arbeiter zuwandten. Die schwere wirtschaftliche Krise, die infolge des Krieges über England gekommen war und seine Arbeiterschaft besonders bedrängte, hat das Klasseninteresse in hohem Grade erregt und zur eigenen politischen Organisation der Arbeiterschaft beigetragen. Es sind jedoch nicht bloß Proletarier in der neuen Partei vereinigt, sie ist eine Partei der Arbeit, und nicht der Arbeiter. Sie hat auch die wahrhaft demokratischen Kreise angezogen, die sich in die bürgerliche Engherzigkeit der beiden Staatsparteien nicht hineinfinden wollten. Die Arbeitspartei zählt unter ihren Führern nicht wenig Männer von höchster Bildung aus dem Kreise der Besitzenden. Es geht darum auch nicht an, die englische Arbeitspartei in eine Reihe mit den proletarischen Parteien des Kontinentes zu stellen. Sie ist keine proletarische Interessenpartei, wenigstens ist sie es heute noch nicht, wenn sie auch einen radikalen Flügel hat, der sich in diesem Sinne stellt. In ihrer Mehrheit ist die englische Arbeitspartei eine Staatspartei, die an dem Vorbilde der alten Staatsparteien erzogen ist und zwar nicht nur in ihren Führern, sondern auch in jenen Teilen ihrer Masse erzogen ist, die bisher schon das Wahlrecht besessen haben. Auch viele von den neuen Wählern hatten es in den Gewerkschaften gelernt, wie man sich freier Machtorgane mit Erfolg zu bedienen habe. Die Arbeitspartei hat schon einmal die Regierung übernommen und hat durch die Art und Weise, wie sie die Außenpolitik leitete, die Probe staatlichen Sinnes bestanden. Das Aufkommen der Arbeitspartei hat England nicht auf die Stufe der Interessenregierungen zurückgeworfen, es besitzt jetzt drei Staatsparteien statt der zwei bisherigen. Die Aufrechterhaltung des parlamentarischen Systems ist ihm allerdings nun erschwert, weil das Gegenspiel von Mehrheit und Minderheit nicht mehr den gleichen deutlichen Ausschlag gibt. Der politische Sinn des Engländers wird aber sicherlich den Weg finden, um den parlamentarischen Apparat wieder so einzurichten, daß er für das parlamentarische System geeignet ist.
In Ungarn hat sich die Überlieferung der ständischen Gerechtsame länger erhalten als sonst auf dem Kontinent. Die Revolution des Jahres 1848 konnte noch an sie anschließen. Als der Ausgleich des Jahres 1867 die Habsburgische Monarchie dualistisch gestaltete und Ungarn seine Freiheit wiedergab, ist dem Adel die Führung der Parteien zugefallen. Die geschichtliche Erziehung von Jahrhunderten ist ihm dabei zugute gekommen, er hat seine Reife zur Führerschaft in der Bildung von StaatsParteien [452] bewährt, die Ungarn im politischen Kampfe mit der österreichischen Reichshälfte die Überlegenheit sicherte. Seine Führungsmacht war um so stärker, als die Masse der Wählerschaft von äußerster politischer Unreife war. Sie war durch die Jahrhunderte zur unterwürfigen Nachfolge erzogen. Von den Kroaten und den Siebenbürger Sachsen abgesehen, waren die nichtmagyarischen Völker Ungarns der überkommenen magyarischen Herrschaft so ergeben, daß ihre Wahlbezirke dieser fast durchaus zur Verfügung standen. Allerdings war der politische Gesichtskreis der ungarischen Parteiführer durch ihr nationales Interesse beschränkt, für die Bedeutung der Reichseinheit hatten sie keine Empfindung. Die ungarischen Staatsparteien waren nicht auch Reichsparteien. Sie waren durch die Stärke, die sie als Staatsparteien hatten, der Reichseinheit um so gefährlicher und sie haben mehr als alle andern Nationalparteien zur Lockerung des Reiches beigetragen. Ohne die geschichtliche Macht der Krone und die persönliche Autorität des gemeinsamen Monarchen, Kaiser Franz Josef, wäre es überhaupt nicht möglich gewesen, das parlamentarische Ministerium Ungarns mit den Beamtenministerien Österreichs und ÖsterreichUngarns zusammenzuhalten.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben in ihrer englischen Grundbevölkerung das Erbe der politischen Erziehung des englischen Volkes übernommen. Von der Unabhängigkeitserklärung an als Republik eingerichtet, waren sie darauf angewiesen, sich vom Anfang an regierungsfähige Parteien zu schaffen. Es lag auf ihrem geschichtlichen Wege, Staatsparteien im Sinne des Zweiparteiensystems zu bilden. Daran wurde durch die Einwanderung der großen Massen, die nach und nach herüberkamen, nichts geändert. Die Einwanderer waren von Haus aus dazu willig, sich der amerikanischen Massenpsychologie hinzugeben, und die bestehenden Parteien konnten auf ihre Nachfolgebereitschaft rechnen. Das rasche Anschwellen der Masse hat die politische Stellung der Masse nicht gebessert, sondern hat umgekehrt die Überlegenheit der Führungen gesteigert. Sie allein hatten die Erfahrung, in ihrer Hand war der politische Apparat, der, den riesenhaften Dimensionen des amerikanischen Lebens entsprechend, selber riesenhaft sein mußte. Die neuen Wähler konnten nichts besseres tun, als sich einer der bestehenden Staatsparteien anzuvertrauen.
In den Maehtkonilikten, die sich endlich im Weltkrieg entluden, haben sich auch die alten Demokratien nicht als genügend befestigt erwiesen, um sich nicht von ihren nationalen Leidenschaften überwältigen zu lassen.
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Deutschland, Österreich, Ungarn und die Neustaaten, die auf den aus ihrem Bestände und dem Bestände Rußlands abgetrennten Gebieten gebildet wurden, haben sich alle als demokratische Republiken eingerichtet. Warum sind diese jungen Demokratien schwach und zum Teile bis zur Ohnmacht zerfahren, während die alten Demokratien in England und den Vereinigten Staaten geschlossen und stark sind ? Es liegt nicht an dieser oder jener Einzelheit der Verfassung — sollte sich eine der jungen Demokratien auch genau an die Verfassung einer der alten Demokratien halten, so bliebe sie trotzdem schwach und zerfahren — es liegt im letzten Grunde daran, daß in den jungen Demokratien Führer und Masse nicht bis zu der Reife erzogen sind, daß sie imstande wären, wahre Staatsparteien zu bilden. Sie sind über die Form der Interessenparteien nicht hinausgekommen. Nun haben sie aber in ihrem jungen Staatswesen nach außen und nach innen die schwierigsten Aufgaben zu lösen, wie sie die fertigen Staatsparteien in den alten Demokratien heute nicht mehr zu lösen brauchen, sie stehen unausgesetzt vor inneren Krisen und nicht selten auch vor äußeren. In Zeiten von solch krisenhafter Schärfe sind Führer vonnöten, die durch ihre überragende persönliche Autorität oder durch das Gewicht ihrer geschichtlichen Macht genügende Standfestigkeit besitzen, um von den Schwankungen der Öffentlichkeit nicht mitgerissen zu werden. Führerpersönlichkeiten dieser Art sind in keiner der jungen Demokratien zur Stelle und die geschichtlichen Mächte, die von früher her da waren, sind durch den Umsturz niedergerissen worden.
Der Verfasser dieses Buches hat, während er diesen Gedanken nachhing, die Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides ZW Hand genommen und darin eine Darstellung gefunden, die alles, was über das Thema zu sagen ist, mit derartiger Klarheit sagt, daß er glaubt, nichts Besseres tun zu können, als Thukydides das Wort zu lassen. Es handelt sich um die Stelle, die mit der Erzählung beginnt, wie Perikles zu Beginn des Krieges den Athenern den Rat gab, auf ihre Flotte Bedacht zu nehmen und sich im übrigen ruhig zu verhalten, und ihnen voraussagte, sie würden Sieger bleiben, wenn sie während des Krieges nicht versuchten, ihre Herrschaft weiter auszubreiten, und die Stadt selbst keiner Gefahr aussetzten. Der Krieg sei verloren gegangen, weil die Führer, die nach Perikles kamen, sich nicht an seinen Rat hielten, sondern Dinge unternahmen, die, wenn sie gelangen, den einzelnen Führern zwar Ehre und Nutzen eingebracht hätten, wenn sie aber [454] mißlangen, den Staat und die Bundesgenossen ins Verderben stürzen mußten. Die Sache sei die gewesen, daß Perikles, an Ansehen und Einsicht hervorragend, unbestechlich war wie kein anderer und die Menge durch seinen Freimut im Zaume hielt. „Er wurde nioht von ihr gelenkt, sondern er lenkte sie vielmehr selbst, weil er nicht durch unerlaubte Mittel zu seiner Macht gelangt war und den Athenern deshalb nicht zu Gefallen reden mußte, sondern sich das Recht nahm, ihnen auch mit Leidenschaft zu widersprechen ... So gab es dem Namen nach eine Volksherrschaft, in der Tat aber ging von dem ersten Manne die Herrschaft aus. Diejenigen aber, die nach ihm kamen, waren Männer, die untereinander gleichen Ranges waren und von denen doch jeder der Erste sein wollte und daher ließen sie Bich dazu herbei, dem Volke, um ihm zu gefallen, die Staatsangelegenheiten in die Hand zu geben."
In den jungen Demokratien, von denen wir sprechen, ist bisher nirgends ein Perikles hervorgetreten, aber selbst wenn irgendwo ein Mann seiner Größe sein sollte, so würde er nirgends die Masse zur Nachfolge bereit finden, wie es die Athener Perikles gegenüber waren. Die allgemeine Nachfolgebereitschaft gegenüber dem großen Führer muß den Massen geschichtlich anerzogen sein, die Führerstelle muß geschichtlich vorbereitet sein, die für den großen Mann die Tribüne wird, von der er das Volk mit sich reißt. Die Völker der jungen Demokratien waren alle dazu erzogen, dem dynastisch berufenen Führer nachzufolgen, die Dynastien sind aber durch den Orkan des Umsturzes entwurzelt worden, der durch den furchtbaren Mißerfolg des Weltkrieges und die Größe der vergeblich gebrachten Opfer aufgeregt war. Den Dynastien der Romanow und der Habsburg-Lothringer war ein halbes Jahrtausend und darüber vergönnt, um sich in den Gemütern der Masse einzuwurzeln, auch den Hohenzollern war in ihren brandenburgisch-preußischen Stammländern ein ähnlicher Zeitraum gegönnt. Als Führer des geeinigten Deutschland waren sie zwar viel kürzer am Werk, aber ihr Werk fiel in eine Zeit begeisterter Empfänglichkeit der Masse und war durch außerordentliche Erfolge gekrönt, die auf die Gemüter den stärksten Eindruck machten. Ihr Sturz wirkte auf die Gemüter wie der Sturz eines vielhundertjährigen Baumes, unter dessen Laubdach man sich vor Soime und Regen geborgen gefühlt hatte. Wo war eine Führerperson zu finden, der die Masse das gleiche Vertrauen zu schenken bereit war ? Damit ist nicht gesagt, daß wieder ein halbes Jahrtausend vergehen muß, bis die Massenbereitschaft zur Nachfolge in gleicher Allgemeinheit gesammelt ist; das dynastische Führerwerk der Einigung ist nicht ganz um seine [455] Wirkung gebracht, und ein siegreicher Führer von der Stärke Napoleons hätte die Massen durch eine Reihe von raschen Erfolgen wiederum sammeln können. Den Durchschnittsführern, wie sie da waren, stand dieses durchschlagende Mittel der Wirkung nicht zu Gebote. Wenn sie sich auf ihren Posten halten wollten, so mußten sie sich von der Menge lenken lassen, statt sie zu lenken. Sie durften es nicht wagen, ihr mit Leidenschaft zu widersprechen, wie es Perikles getan hatte. Was konnte die Folge sein, als fortgesetzte Mißgriffe, Schwäche und Ohnmacht ?
Der gläubige Demokrat erwartete mit Zuversicht, daß, sobald die volkswidrige Hemmung des Fürstentums beseitigt wäre, alles aufs beste gehen müsse. Er war erstaunt, zu sehen, daß die geschichtlich gewachsene Macht des Fürstentums, nachdem der Sturm von Krieg und Umsturz sie umgebrochen hatte, nicht so einfach über Nacht zu ersetzen war. Man mußte erst erkennen lernen, daß auch die Demokratie bei aller Klarheit ihrer Formen ilire geschichtlichen Voraussetzungen hat, die so rasch nicht nachzuholen sind. Man konnte einen Staatspräsidenten wählen, dem man das Recht und die Ehren der Repräsentation des Volkes zuerkannte, aber war er damit auch der volle Repräsentant der Majestät des Volkes? Was im Namen des Fürsten geschehen war, wurde im ganzen Volke als gültig empfunden, in der Majestät des Fürsten glänzte die Majestät des Volkes mit, durch sie war Heer und Amt, war Volk und Partei in Pflicht gehalten, selbst der grundsätzlich widerstrebende Proletarier mußte die geschichtliche Macht des Fürsten als gegeben anerkennen. Sogar wenn es der jungen Republik gelingt, den Mann zu finden, der alle persönlichen Voraussetzungen für den Platz des Präsidenten mitbringt, so gilt er, soferne er den Parteien entnommen ist, der eigenen Partei zunächst doch nur ab der altvertraute Genosse und den andern Parteien — und das will unter den gegebenen Verhältnissen sagen der Mehrzahl des Volkes — als Gegner, dem man nicht vertrauen darf. Wenn man eine Regierung dadurch zusammensetzt, daß sich eine Anzahl von Parteien verbindet, welche die Mehrheit im Hause sichert, so ist diese Regierung damit allein, daß sich ihr die Ämter zur Verfügung stellen und daß sie die Staatsgeschäfte führt, doch noch keine Staatsrcgicrung, sio bleibt das, was sie nach ihrer Zusammensetzung ist, eine bloße Parteiregierung. Wiederum gelten die regierenden Männer den eigenen Parteifreunden als die Genossen, auf deren Entgegenkommen man rechnet, und den andern als die Gegner, die von Parteisucht geleitet sind. Selbst in ihrem Innern stehen sie den Pflichten ihres Amtes anders gegenüber als die alten Regierungen; die ehrenhaften unter ihnen, an [456] denen es nirgends fehlt, werden sich ohne Zweifel im Gewissen dazu aufgefordert fühlen, ihr Amt im allgemeinen Interesse zu verwalten, aber selbst bei diesen redlichen Männern wird es sich nachtragen, daß ihr Blick nicht für das Allgemeine geschult, sondern parteimäßig beschränkt ist; man kann persönlich ehrenhaft und politisch doch anfechtbar sein. Die andern, die neben ihnen sitzen, sind rücksichtslos Tom Parteiinteresse geleitet, manche außerdem noch von ihrem persönlichen Interesse, das nicht solche Widerstände findet wie im Rahmen des früheren festgezogenen Pflichtenkreises, für den sie ja nicht erzogen sind.
Damit es anders werde, muß ein großer Schwung durch die Nation gehen, durch eine jener wundersamen Erhebungen der Gemüter in Bewegung gesetzt, wie sie in den Schicksalswenden aus den Krafttiefen starker Nationen aufsteigen. Wo dies der Fall ist, werden die überkommenen, auf ihre nächsten Interessen beschränkten Parteien über den Haufen geworfen und die Nation reiht sich unter neuen Führern ihren großen Zielen zu ; eine solche Wendung hat in Italien den Faszismus in die Höhe gebracht, ob dieser nun die rechten Mittel gebraucht oder nicht gebraucht. Solange dieser Schwung fehlt, erhält das Gesetz der Trägheit die überkommenen Interessenparteien weiterhin aufrecht. Das System der Proportionalwahl, das dazu bestimmt war, den Minderheiten ihre gerechte Vertretung zu sichern, ist durch das Mittel der Listenwahl den Parteiführungen das willkommene Instrument dazu geworden, sich in ihren Stellungen zu erhalten, es läuft in seiner Wirkung auf eine wechselseitige Mandatsversicherung hinaus. Da die bestehenden Interessengruppen sich in den kurzen Zeiträumen der Wahlperioden nur wenig verschieben, so kann jede von den großen Parteien den Hauptstock ihrer Mandate als gesichert ansehen und die leitenden Parteiführer sind als die Stimmführer der Listen unbedingt gesichert. Dafür müssen die Fülirungen dem überlieferten Parteiinteresse treu ergeben bleiben, sie dürfen ihre Bahnen nicht verlassen, sie dürfen sich nicht zur Staatspolitik erheben, sondern müssen in der bisherigen beschränkten Weise weiterhin Parteipolitik treiben. Die großen Führeraufgaben bleiben ungetan, die Führer gehen im Trott der Massen mit, sie werden von diesen gelenkt, wie Thukydides sagt, statt sie zu lenken, sie handeln, um ihnen zu gefallen, sie umschmeicheln sie und bestärken sie in ihrer kurzsichtigen Beschränktheit. Wer ist unter diesen Umständen da, um das allgemeine Staatsinteresse zu wahren, das niemals bedrohter war ? Welche Macht ist in Sicht, um die zusammengebrochenen geschichtlichen Mächte des alten Staates zu ersetzen?
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Hier ist die Quelle des Faszismus. Der faszistische Diktator ruft das nationale Gefühl zum Kampfe gegen die Parteibeschränktheit auf. Die proletarische Rätediktatur ist andern Ursprungs, sie ist ein Exzeß der Klassenbeschränktheit. Sie wendet sich gegen das demokratische Prinzip, sie ruft das Proletariat gegen die Nation auf. Die proletarischen Führer haben ihren Genossen so lange gesagt, daß sie das Volk seien, daß sie von dieser Lehre selber nicht lassen können und sich für berechtigt halten, im Namen des Volkes das Volk zu meistern.
Wenn man von der Presse kurzweg spricht, so ist damit die periodische Presse und in dieser selbst eigentlich nur die Tagespresse gemeint. Diese ist es, die man im Sinne hat, wenn man die Presse als Organ der öffentlichen Meinung bezeichnet. Alle übrigen Erscheinungen der Presse wenden sich fast ohne Ausnahme an einen eingeschränkten Leserkreis, zumeist an ein Fachpublikum, und selbst wenn sie, wie dies die großen Revuen tun, sich mit Gegenständen der Tagespresse beschäftigen, so tun sie dies für die wenigen Leser, die von den Zeitereignissen nicht nur laufend hören, sondern sie in ihren Zusammenhängen verstehen wollen.
Die Presse — wir werden diesen abgekürzten Namen für die Tagespresse gebrauchen — hat lange Zeit hindurch als ein Freiheitsorgan, als das Freiheitsorgan gegolten und sie bezeichnet sich gerne noch immer so. In dem Kampfe der Freiheitsparteien, erst der bürgerlichen und später der proletarischen, gegen die Regierung, war sie das stärkste Werkzeug. Die Regierung unterdrückte sie, wie sie es nur konnte, und man versteht, warum die Forderung der Preßfreiheit zu den dringendsten Freiheiteforderungen gezählt wurde. Um wieviel heute die Dinge anders gesehen werden, läßt sich an Spenglers Äußerung erkennen, daß die Preßfreiheit, wie wir sie für unsere Zeit zu verstehen haben, die Freiheit von der Presse sein müsse. Die Presse ist heute nicht mehr ein Freiheitsorgan im Kampfe gegen die Macht, sondern sie ist selber ein Machtorgan geworden, das die Macht der Machthaber verstärkt und das sich große eigene Macht gewonnen hat. Sie bezeichnet sich ja selber gerne als Großmacht neben den großen Weltreichen.
Die Größe ihrer Macht ist darin begründet, daß sie die Massen um [458] sich sammelt. In ihrer äußern Anlage ist sie ein Führungsorgan in demselben Sinne, wie wir es gerade für die Parteien gezeigt haben. Jede Zeitung ist ein Führungsorgan, das vorangehend die Nachfolge der Massen erwartet ; ein Herausgeberstab mit den nötigen Hilfspersonen und Einrichtungen tut sich auf, Abonnenten und sonstige Käufer und Leser sowie Inserenten werden gesucht und bilden die Masse, deren Nachfolge man erwartet. In den Anfängen des Zeitungswesens war diese „Masse“ freilich nur im theoretischen Sinne eine Masse, praktisch war sie es nicht, denn sie war noch sehr klein; auch heute noch trifft dies für alle jene Zeitungen zu, die sich nur mit Mühe am Loben erhalten, indem die Herausgeber sich nicht die genügende Nachfolge gewinnen können, sei es, weil es ihnen an Begabung oder Mitteln fehlt, sei es, weil sie halsstarrig auf Meinungen beharren, die der Menge nicht liegen. Die große Presse jedoch hat in unserer Zeit des Massenlebens Lesermengen gewonnen, wie sie sich die Gründer der Presse in ihren ausschweifendsten Hoffnungen nicht erwarten konnten. Jede große Zeitung ist als Massenorgan gedacht und muß daher mit der Massenseele Fühlung haben, und da in jedem der vielen Massenkreise die Stimmung anders ist, so muß sie Parteifarbe bekennen, sei es auch die Farbe der politisch Parteilosen. Wenn dies aber so ist, sind es dann nicht, um mit dem Verleger Aslaksen in Ibsens „Volksfeind“ zu sprechen, die Abonnenten, welche die Zeitung regieren ? Darf man dann die Zeitung noch als Führungsorgan bezeichnen, wie wir es eben getan haben ?
Man darf es trotzdem. Das Verhältnis zur Masse ist bei der Zeitung nicht anders wie bei all den Führern, die für die Masse die Mittel und Wege finden, damit sie zu ihren Zielen kommen. Nur die großen Seelenführer weisen neue Ziele und selbst den größten unter ihnen gibt erst das Gewicht der beitretenden Masse die endgültige Bestätigung. Die Presse geht nicht auf Seelenführung aus, selbst bezüglich der Mittel und Wege stellt sie sich auf jenes Niveau, auf dem sie von ihrem Publikum leicht verstanden werden kann. Trotzdem vollzieht sie eine wirkliche, eine schwierige Führerlcistung, die ihr eine ausgiebige Führermacht einbringen muß. Es ist keine leichte Sache, durch das Wirreal der Tagesereignisse hindurchzusteuern, selbst wenn man die allgemeine Richtung kennt, die das Publikum eingehalten wünscht. Der Führer, der diese Aufgabe vollzieht, gleicht nicht dem Lohnführer, dem man für geringes Entgelt ohneweiters haben kann und den man nach geleistetem Dienste fallen läßt, sein Dienst ist von solcher Art, daß das Publikum von ihm so abhängig wird, wie etwa der Reisende in der Wüste von dem Beduinenchef, der ihn geleiten soll.
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Zum guten Teil ist es die Beschaffenheit des Publikums, die der Presse ihre Führermacht gibt, und zugleich mit seiner Beschaffenheit auch die Lage, in der es sich befindet. Diese Lage ist keineswegs so günstig wie die des Publikums im Theater oder auf dem Markte; das Publikum im Theater besteht aus Kennern und Liebhabern des Theaters, die sich dazu berufen halten, dem Eindruck, wie sie ihn empfangen, unmittelbar das Urteil folgen zu lassen, und die dabei die Gelegenheit haben, Beifall oder Mißfallen auf das wirksamste zu äußern; das Publikum auf dem Markte ist seiner Bedürfnisse kundig und hat die Gelegenheit, dem Verkäufer sein Urteil ins Gesicht hinein zu erklären. Das Publikum der Zeitung ist übler daran, es ist nicht beisammen und hat den Herausgeber nicht vor sich. Jeder Leser ist mit sich allein, er muß sich sein Urteil selber bilden und nicht leicht wird es jemand auf sich nehmen, sich mit der Zeitung wegen einer Äußerung auseinanderzusetzen, die ihm nicht gefällt; eine Berichtigung einzuschicken erfordert einen Wagemut, den nur ganz entschlossene Menschen besitzen. Der Leser liest übrigens in der Regel gar nicht so kritisch. Kritisch liest er nur die gegnerischen Zeitungen, die er mit dem größten Mißtrauen zur Hand nimmt, mit der vorgefaßten Meinung, daß alles darin falsch sei; die Masse der Leser kommt indes kaum dazu, gegnerische Zeitungen zu lesen, sie beschränkt sich auf die eigene Zeitung. Diese liest man dafür ganz unkritisch. Sie gilt ihrem Leser als der wohlmeinende Freund und Berater, er schwört auf alles, was sie sagt, und ist bereit, ihr die Treue zu bewahren, welche die Masse dem Führer so gerne entgegenbringt. Das ist aber noch nicht das Schlimmste, was über das Zeitungspublikum zu sagen ist. Man muß zugestehen, daß von ihm so ziemlich gilt, was die Lehre von der Massenpsychologie sagt, um die Masse herabzusetzen, vor allem gilt von ihm der Satz, daß das Triebhafte zur Geltung kommt und das Intellektuelle zurücktritt. Es ist betrübend, wahrzunehmen, wie wenig Leser eine Zeitung lesen können. Die Statistik der Analphabeten bedürfte eigentlich einer Ergänzung nach der Richtung, mit wie geringem Verständnis diejenigen, welche die Statistik als des Lesens kundig verzeichnet, von ihrer Kenntnis Gebrauch machen. Die Zeitung, die ihre Leser kennt, erleichtert ihnen ihre Bemühung, indem sie ihre Mitteilungen möglichst abkürzt und abteilt und sie außerdem durch Überschriften und Fettdruck und etwa noch durch beigefügte Zusammenfassungen deutlicher macht. Vergebliche Mühe! Alle diese Hilfen sind für den gewöhnlichen Leser ebensoviele Versuchungen. Er begnügt sich, die [460] Überschrift und das Breitgedruckte zu lesen; daß er unterscheiden sollte, aus welcher Quelle die Nachricht stammt, oder auch nur, ob sie als verbürgt oder unverbürgt gebracht wird, darf man ihm nicht zumuten, auch nicht, daß er eine Ziffer richtig einschätzt oder behält. Die Zahl derer, die das Wesentliche des Inhalts einer Mitteilung genau in sich aufnehmen, ist sehr gering, die Zahl derer, die es getreu wiedergeben können, ist nicht niedrig genug anzuschlagen. Ein großer Teil der Unzuverlässigkeit, deren man die Presse anklagt, geht in Wahrheit auf Rechnung ihrer Leser. Selbst beim „gebildeten“ Publikum, für welches die leitenden Blätter schreiben, darf man für die große Zahl der Leser nur ein recht bescheidenes Niveau voraussetzen. Die Massen, die in der treibenden Entwicklung des modernen Lebens der Öffentlichkeit zugeführt wurden, sind zu wenig vorbereitet, um sich in ihr ohne ärgste Irrungen zurecht zu finden, sie sind für das Organ der Presse noch nicht reif. Es fehlt ihnen in ihrem überwiegenden Teile die Fähigkeit, die Massenfunktion der prüfenden Nachfolge auszuüben.
3. Die Presse als geschäftliche Unternehmung
Die Männer, die den Beruf zur Presse in sich fühlten, mußten es sehr bald heraushaben, daß ihr Platz auf Seite der Masse war. Auch die Regierungen mußten erkennen, welch außerordentliche Hilfe ihnen eine in ihrem Sinn gehaltene Presse gegenüber den Massen bieten konnte, sie mußten aber ebensobald erkennen, daß es nicht ihre Sache war, da« Zeitungsgeschäft mit Erfolg zu betreiben. Dazu gehört eine Vereinigung von Eigenschaften, die dem Beamten als solchem fremd sind, außerdem muß dem Leiter einer Zeitung ein Grad von Selbständigkeit eingeräumt werden, den die Regierung keinem Beamten zugestehen kann. Napoleon hat in dem Regierungsplan, mit dem er sich auf St. Helena in Erwartung seiner Rückberufung beschäftigte, eine amtliche Presse als unentbehrliches Staatsorgan vorgesehen, und man darf nicht zweifeln, daß er genug Kraft übrig gehabt hätte, um sich die Masse durch den Vormarsch der Presse so gefügig zu machen, wie er den Feind auf dem Schlachtfeld durch Kavallerieattacken und Feuerüberfälle seiner Geschützreserven ' niederwarf. Heute weiß der Faszismus die Macht der Presse in seinem Sinne zu leiten, indem er die gegnerischen Zeitungen entweder mit amtlichen Mitteln niederhält oder durch seine Parteigänger mit den Mitteln der Straße niederhalten läßt; vollends der Bolschewismus benützt die Presse mit diktatorischer Strenge zur Erziehung des Publikums, wobei er nicht versäumt, neben ihr noch das Kino und das Theater zu dem [461] gleichen Zweck zu verwenden, um die Volkserziehung zu beenden, die er in der Schule in seinem Geiste beginnt. Die Regierungen alten Stiles haben sich darauf beschränkt, Amtsblätter für ihre dienstlichen Mitteilungen zu halten und sich im übrigen mit einer halbamtlichen Presse oder durch entsprechende Benützung der privaten Presse zu behelfen. Selbst die großen politischen Parteien verzichten gewöhnlich darauf, eigene Parteiblätter herauszugeben, es ist für sie bequemer, sich privater Blätter zu bedienen, deren Herausgeber zur Partei gehören und das Interesse erkennen, das es für sie hat, ihr Blatt für die Partei offen zu halten. Jede große Zeitung ist als Massenorgan eine wirtschaftliche Großunternehmung, mit der sich eine Parteileitung nicht gut befassen kann, und ihr Herausgeber muß daher imstande sein, neben seinem redaktionellen Werk auch noch das Werk eines geschäftlichen Unternehmers im großen Stil zu leisten. Die große Zeitung hat neben ihrem politischen Teil, in welchem sie der Richtung ihrer Partei folgt, noch eine Reihe andrer Teile zu pflegen, die für ihren Absatz von nicht minderer Bedeutung sind. Falls sie gut geführt ist, so sucht und findet sie nach diesen andern Richtungen ihren Lesericreis nicht nur in dem bestimmten politischen Parteilager, in welchem sie ihren Hauptstamm von Abonnenten hat, sondern sie sucht und findet ihn noch darüber hinaus unter den vielen schwankenden Menschen, die sich erst am Wahltag und vielleicht nicht einmal an diesem für eine bestimmte Partei erklären, oder unter den Unpolitischen, die es immer noch in ziemlicher Zahl gibt, oder unter den Geschäftsleuten, die sich nach allen Selten umsehen müssen, oder selbst im gegnerischen Lager und im Ausland. Das Parteiinteresse ist zu eng gesteckt, als daß der Herausgeber, der Absatz sucht, bei aller Parteitreue sich auf seinen Gesichtskreis beschränken dürfte. In diesem Sinne hat sich die große Presse ganz überwiegend als unabhängige Presse entwickelt. Anderseits hat der Einfluß der Presse dazu geführt, daß große Kapitalmächte sich in den Besitz der großen Zeitungen zu setzen suchen, wobei sie es übrigens ihrerseits angezeigt finden, dem bewährten Herausgeber die Freiheit seiner Haltung zu lassen, soweit es ihnen nicht um die besondere Linie ihrer praktischen Interessen zu tun ist. Der starke Herausgeber wird seine Persönlichkeit wie nach außen so auch im Innern seiner Unternehmung durchzusetzen wissen; er läßt seinen Mitarbeitern nur wenig Freiheit; er wird sie nur den wenigen starken Persönlichkeiten zugestehen, an deren Mitwirkung ihm besonders gelegen ist, alle andern müssen seinem Befehl gehorchen, wie die Truppen ihrem Führer, und müssen iliren nervenaufreibenden Dienst mitunter um einen recht bescheidenen Lohn verrichten.
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Die Presse hat sich für den Massenbetrieb auf das vollkommenste eingerichtet. In ihren sinnreichen Maschinerien und Anlagen hat sie mit dem technischen Geiste der Zeit gleichen Schritt gehalten und hat auch sonst ihre geschäftliche Aufgabe auf das beste durchgeführt. Ihr Nachrichtendienst ist umfassend und rasch, und wenn man das Ganze des Weltdienstes zusammennimmt, großartig. Die Mannszucht ist unübertrefflich, in der sie ihre Mitarbeiter hält, um zur Stunde fertig zu sein. Mit feinstem Spürsinn hat sie die Richtungen herausgefunden, in denen sie beim großen Pubükum Interesse findet. Sie ist längst nicht mehr das bloße Neuigkeitsblatt, das der öffentlichen Neugierde dienen will. Ihr Nachrichtendienst ist auf seinen allerdings nicht zu häufig erstiegenen Höhen geradezu Forschungsdienst geworden, oder ist es nicht Forschungsdienst, wenn ein großer amerikanischer Herausgeber eine Expedition ausrüstet und den geeigneten Führer auswählt, um Livingstone im dunklen Afrika aufzusuchen ? Die Leistungen mancher Kriegskorrespondenten erreichen das volle Maß männlicher Tüchtigkeit. Zum Nachrichtendienst ist nun aber der ausgedehnte Dienst als Organ der öffentlichen Meinung hinzugetreten, der nicht nur das politische Gebiet betrifft, sondern außerdem ziemlich das ganze Gebiet gesellschaftlichen Lebens umfaßt. Für die Kritik des Theaters, der Musik, der bildenden Kunst, der Literatur ist heute die große Presse maßgebend. In ihren literarischen Beilagen bringt sie Romane aus der Feder der gelesensten Schriftsteller der Zeit. Außerdem hat sie die eigenartige Gelegenheit, die besondere Form der kleinen Erzählung zu pflegen, in der sich — man denke an Maupassant — höchste Meisterschaft auf knappstem Raum bewähren kann. In ihrem Feuilleton verbreitet sich die Presse über alle Gebiete des gesellschaftlichen Interesses. In allen diesen Beziehungen ist die Presse heute das wichtigste Hilfsorgan der gesellschaftlichen Führer geworden, mitunter hat sie selber die Führung übernommen. Ist sie es nicht, die dem gebildeten Publikum unserer skeptischen Zeit, das die Predigt nicht mehr besucht, die Weisungen für ihre Lebensanschauung gibt ? Als politisches Hilfsorgan ist sie für Regierung und Parteien unentbehrlich, beide müssen mit ihr rechnen, mitunter wächst sie ihnen über den Kopf. In ihrem wirtschaftlichen Teil ist die Presse ein Hilfsorgan des geschäftlichen Lebens, auf das jeder Geschäftsmann angewiesen ist und dessen Einfluß auf das große Publikum nicht hoch genug angeschlagen werden kann, namentlich so weit dieses mit dem Börsengeschäft in Verbindung steht. Was die Presse in ihrem Inseraten wesen, insbesondere als Hilfsmittel geschäftlicher Reklame leistet, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Die Abwägung [463] des ganzen fast überreichen Stoffes einer modernen Zeitung und ebenso die Preisfeststellung für Abonnement und Inserate erfordert genaueste Überlegung, um die Bedingungen des Massenabsatzes zu erfüllen. Der Erfolg einer gut geleiteten Zeitung lohnt die Mühe des Herausgebers reichlich, er empfängt ein hohes Einkommen und hat eine große gesellschaftliche Wirkung.
Wenn man das Zeitungswesen im ganzen nimmt, so sind es Millionen von Lesern, die, ehe sie ihr Tagewerk antreten und auch noch in den Pausen ihres Tagewerkes geistig genährt werden. Nicht nur ihr Nachrichtenhunger wird gestillt, sondern sie erhalten durch die Presse, die zwischen ihnen und den bestehenden obersten Führungen vermittelt, den tägüchen gesellschaftlichen und geschäftlichen Stimmungsbericht, sozxisagen den Tagesbefehl, den sie brauchen, um sich in der Verwirrung der Ereignisse einigermaßen zurecht zu finden oder sich wenigstens für unterrichtet zu halten. Die Leistung des Kinos, so auffällig sie ist, reicht noch lange nicht an die der Presse. Unter Umständen vermag das Kino durch krasse Anschaulichkeit die Nerven der Zuschauer zu erschüttern ; es ist als Mittel der Kriegspropaganda in einer Weise verwendet worden, welche Dante den Anlaß gegeben hätte, die verleumderischen Veranstalter in eine der ärgsten Bulgen des Inferno zu verweisen. Für gewöhnlich wird es aber erst am Feierabend aufgesucht, während die Presse tägliche und stündliche Weisungen g^bt. In ihrer Art erreicht sie oder übertrifft sie selbst alle größten technischen Leistungen unseres Maschinenzeitalters. Wie man auch über ihren inneren Wert urteilen mag, ob sie nun die Menschen mehr leitet oder mißleitet, so ist sie die wirksamste Ordnerin der Massengedanken. Sie schafft in Millionen von Hirnen wunderbar rasch übereinstimmende Vorstellungen. Sie ist eine Gehirnmaschine höchster Leistungsfähigkeit.
Es ist von vornherein klar, daß die Presse ihre technisch geschäftliche Höchstleistung nicht hat erreichen können, ohne eine ansehnliche Mitgift von Begabung für ihre weiten Aufgaben mitzubringen. Ohne ausgedehnte Kenntnisse, ohne scharfes Urteil, ohne Formbeherrschung und — man darf sich durch offenbare Gegenbeispiele nicht abhalten lassen, es auszusprechen — auch ohne starke moralische Antriebe hätte die Presse ihr Werk nicht leisten können. Die Geschichte der Presse in der Zeit ihrer Kämpfe gegen die staatliche Übermacht ist angefüllt von Taten hohen Schwunges und wahrer Tapferkeit. Es wäre ein großer [464 Irrtum, zu glauben, daß diese Motive heute nicht mehr wirken. Wer die glänzenden Vorzüge am Werk der Presse nicht sieht, dem darf man nur mit Mißtrauen begegnen, wenn er Anklagen gegen sie erhebt. Ihre Fehler, und sie hat schwere Fehler, sind vor allem die Fehler ihrer großen Macht, die sie aber doch nicht anders als durch große Kraft erwerben konnte.
Die ganze Fülle der Gewalt, die von ihr ausgeht, erweist die Presse dann, wenn sie einmal in einer Sache geschlossen das Wort nimmt, wie sie es bei den Bewegungen tut, welche das Volk in seinen Tiefen fortreißen. So war im Weltkrieg die Presse der Mittelmächte auf der einen Seite und die der Entente auf der andern im Kriegswillen geeinigt , und überdies haben die Regierungen, die sonst der Presse nicht gerne zu nahe treten, in diesem Falle vom Kriegsrecht auch gegen sie Gebrauch gemacht und sie strengster Zensur unterworfen. Für den Ausgang des modernen Völkerkrieges ist nicht nur die Haltung der Armeen, sondern ist ebenso auch die Haltung der Bevölkerung im Hinterland entscheidend ; es ist kein Kriegsinstrument zu denken, das auf diese eindringlicher hätte wirken können als die Presse. Sie konnte die Erfolge überallhin verkünden und mit lauten Fanfaren begleiten, sie konnte die Mißerfolge verschweigen oder wenigstens beschönigen und die gedrückte Stimmung durch ausgleichende Nachrichten oder Verheißungen wieder erheben. Vor der Resonanz, welche die allgemeine Kriegsbegeisterung durch sie gefunden hat, mußte jede Gegenstimme verhallen. Solange noch irgend eine Aussicht auf Sieg oder Durchhalten war, hat die Presse im Volk den Willen zum Krieg aufrechterhalten können und aufrechterhalten. Eines ihrer wirksamsten Mittel war die Anklage gegen die Kriegsverbrechen des Feindes ; auf beiden Seiten hat die Presse von diesem Mittel reichlichen Gebrauch gemacht, aber man darf wohl sagen, daß auf Seite der Entente die Propaganda der Verleumdung mit viel größerem Aufwand und mit viel mehr Geschicklichkeit geführt wurde. Die damals ausgestreute Saat des Hasses ist tief in die Herzen gedrungen und wird in ihrer Wirkung den Krieg lange überdauern. Auch an der Vorbereitung der Kriegsstimmung und damit des Krieges hat die Presse ihren reichlichen Anteil. Überall hat eine chauvinistische Presse bestanden, welche das Organ der Besorgnisse und des Eifers der aufgeregten Parteien wurde, überall hat ihr eine friedliebende und zum Ausgleich mahnende Presse Gegenpart gehalten, aber die Regierungen mußten doch auch mit der Stimmung der Kriegstreiber rechnen, die in der öffentlichen Meinung des Landes starken Ausdruck gefunden hatten, und vielleicht war es dieser oder jener Regierung sogar willkommen, mit ihr rechnen zu können. Wäre die Weltpresse vorher so einig für den Frieden eingetreten, wie sie später für [465] den Krieg eingetreten ist, so hätte der Frieden niemals gebrochen werden Können.
In gewöhnlichen Verhältnissen wird die Presse, da sie sich selber npaltet, die Gemüter nicht in so überwältigender Weise in Bann halten können, ihre Wirkung wird aber immerhin bedeutend genug sein. In jeder Partei schwört die große Masse auf die Parteipresse, sie nimmt von andern Blättern, wenigstens was das Politische betrifft, nur wenig Kenntnis. Die Lehre vom freien Wettbewerb hat auf dem Markt der Meinungen noch weniger Geltung als auf dem der Produkte, hier hat die Parteipresse in ihrem Lager das Monopol. Die großen Zeitungen — und nur auf sie kommt es für die große Öffentlichkeit an — sind kapitalistische Großunternehmungen. Die Ausgabe einer neuen großen Zeitung erfordert außerordentüche Erfahrung und erfordert die Ansammlung eines beträchtlichen Stammes von Mitarbeitern und Kapital, aber trotz aller Mittel wird sie dem Gegner, gegen den sie gerichtet ist, nicht so leicht den Boden abgewinnen können. Die Zeitung, die sich ihren Leserkreis erworben hat, ist eine geschichtliche Macht, die nicht aus dem Wege zu räumen ist, wenn sie nicht durch eigene grobe Fehler selber dazu beiträgt oder durch besonderes Mißgeschick betroffen wird. Das Uberale Bürgertum hat durch lange Zeit seinen Vorteil davon gehabt, daß es, dank der hohen Bildung seiner Parteigänger und dank seines Kapitalreichtums, zunächst den Zeitungsmarkt beherrschte. Das Kleinbürgertum, das Proletariat, das Landinteresse haben erst spät ihre Presse erhalten, indem sie die Erfahrung machten, daß sie, wie für ihren sonstigen Konsum so auch für ihren Zeitungskonsum die bereiten Massen zur Verfügung hatten. Diejenigen Kreise, die auch heute noch ohne eigene Presse geblieben sind, werden dadurch im öffentlichen Leben ganz ins Hintertreffen geschoben. Noch heute behauptet die bürgerliche Presse, während sie allen politischen Einfluß bei den Lesern fremder Parteien verloren hat, in Dingen des geschäftlichen Interesses, der Kritik, der Literatur, der Lebensanschauung einen nicht geringen Einfluß in den andern Lagern. Dies ist der letzte Rest liberaler Herrlichkeit, der übrigens nicht ganz so gering eingeschätzt werden darf.
Das Werk der Presse beruht im ausgedehntesten Maße auf dem Depeschendienst, von dessen Bedeutung das Publikum kaum eine zutreffende Vorstellung hat. Im Nervensystem des Nachrichtendienstes gehören die internationalen Depeschenbüros zu den wichtigsten Organen, man dürfte sie als Zentralorgane ansehen. Der Depeschendienst der Associated Press in den Vereinigten Staaten Amerikas versieht etwa 900 Zeitungen mit telegraphischen Nachrichten; mit einem glücklichen [466] Ausdruck bezeichnet ihn Upton Sinclair, der hervorragende amerikanische Schriftsteller und Journalist, als das Kanalsystem der öffentlichen Mitteilung. Wie ein wohlgegliedertes Kanalsystem den Lauf seines Wassers, verbreitet er seine Mitteilungen über das ganze Land hin nach allen Punkten des Bedarfes ; wir werden später noch darauf zu sprechen kommen, daß er seine Macht auch noch dadurch zur Geltung bringen kann und gerade am stärksten zur Geltung bringen kann, daß er seine Mitwirkung verweigert. Die Pläne der Reformer, welche die Presse zu bessern wünschen, gelten daher mit Recht in erster Linie dem Knotenpunkt des internationalen Depeschendienstes. Daß die Reform nicht so leicht ist, ergibt sich aus der Erwägung, daß dieser Dienst seiner Anlage nach entweder geradezu Monopolcharakter oder den Charakter beschränktester Konkurrenz hat; seine Inhaber werden alles daransetzen, ihre Vormacht zu behaupten.
Niemals hat eine große Macht bestanden, ohne daß sie nicht mißbraucht worden wäre. Sollte die Presse von dieser Erfahrung eine Ausnahme bilden können] Gewiß nicht, und wir dürfen daher nicht verwundert sein, wenn Anklagen ohne Zahl gegen sie erhoben werden. Wer zu einem richtigen Urteil über sie kommen will, darf nicht zimperlich oder wehleidig sein; im öffentlichen Wesen geht es überall etwas unsanfter her als im persönlichen Leben, und die Presse ist in vollste Öffentlichkeit gestellt. Wir wollen uns darum beim Übel der Revolverpresse und der ausgesprochenen Skandalpresse gar nicht aufhalten — schlimme Dinge ohne Zweifel, aber im großen ganzen nebensächlich und vielleicht unvermeidlich; Wegelagerer auf der Heerstraße hat es immer gegeben, warum also nicht auch auf der Heerstraße der öffentlichen Mitteilung ? Schümmer ist es, daß die ausgesprochene Skandalpresse unmerklich in die Sensationspresse übergeht und daß diese breite Schichten in den Niederungen des Zeitungswesens ausfüllt; wenn man sich die Figuren der Zeitungsleute vorstellt, die in diesen Schichten das Wort haben, so erschrickt man bei dem Gedanken, von wem der Geist der Menge sein tägliches Brot erbittet. Schlimmer noch ist es, daß wir dem Mißbrauch der Macht auch in den oberen Schichten des Zeitungswesens begegnen. Es hilft kein Beschönigen, er ist auch dort eingenistet, und er muß es sein, weil dort die stärkste Macht in Versuchung führt. Die Artikel des ausgewählten Kritikers einer großen Zeitung werden von Zehntausenden gelesen, um deren Beifall es den Opfern seiner Kritik zu tun ist. Er ist der künstlerische Schicksalsrichter nicht nur für die Hauptstadt, sondern für das ganze Land, und sein Einspruch kann einem Meisterwerk den Erfolg für geraume Zeit streitig machen. Niemand [467] besitzt die Unfehlbarkeit, die zur ernsten Ausübung solchen Amtes erforderlich wäre, wohl aber gibt es gar manche, deren Urteil den Versuchungen der persönlichen Gewogenheit und Mißgunst nicht standhält. Kameraderie und Cliquenwesen begegnen im kritischen oder literarischen Teil einer Zeitung nur zu oft, es ist freilich auch dafür gesorgt, daß ihre Wirkung begrenzt ist; wer keinen Gegendienst leisten kann, ist sofort vergessen, dem toten Genossen flechten die Cliquen der Nachwelt keinen Kranz, sein Ruhm ist mit ihm begraben, dauernder Nachruhm fordert tiefere Quellgebiete, als sie in dem seichten Grund der Tagespresse zu finden sind. Die Befriedigungen der Eitelkeit, zu denen die Presse mißbraucht wird, sind ohne Ende. Sie sind indes eher lächerlich als wichtig. Die schlimmsten Dinge ereignen sich im wirtschaftlichen Teil der Zeitung, zumal wenn die Zeitung einer Kapitalmacht angehört, die Bie benützt, um das Publikum für ihre Geschäfte günstig zu stimmen, und sich zum Richter in eigener Sache aufwirft.
Das große Finanzkapital verfügt über die Mittel, um sich die Presse im großen Stil dienstbar zu machen. In seinen Konzernen muß auch die Presse vertreten sein und sie muß so vertreten sein, daß das Finanzkapital seine Kontrolle nach allen politischen Lagern hin üben kann, wo es sein Interesse zu wahren hat. In der modernen Riesenunternehmung hat die Kapitalziffer, die dafür aufzubringen ist, kein Gewicht.
Ein allgemeines Verdikt läßt sich auf solche Anklagen hin nicht abgeben. Es kommt auf die Zahl und Schwere der Schuldfälle an, denen das ganze Gewicht der Leistung der Presse und des Gefühles für die Standespflicht entgegenzuhalten ist, ohne das diese Leistung nicht erbracht werden kann. Von vornherein ist klar, daß gereifterc Nationen und gereiftere Parteien eine in jeder Beziehung und daher auch in ihrem Pflichtgefühl gereiftere Presse haben werden. Es dient der Absicht unserer Untersuchung nicht, wenn wir im einzelnen darauf eingehen wollten, was nach Verschiedenheit von Zeit und Ort und Leserschichten hierüber zu sagen wäre. Wir werden all diese Anklagen auf sich beruhen lassen und uns auf diejenigen üblen Wirkungen bescliränken, die mit dem Wesen der Presse untrennbar verbunden sein sollen. Wir suchen nur Klarheit darüber, inwieweit die Presse nach ihrer ganzen Anlage dazu geeignet ist, das Organ des öffentüchen Nachrichtenwesens und der öffentlichen Meinung zu werden.
Von vornherein muß man die Erwartung aufgeben, als ob die Presse [468] ihren Dienst im Sinne eines öffentlichen Amtes versehen könnte. Diesem Dienst sind lediglich die Verlautbarungen der amtlichen Zeitungen gewidmet, die überall dort, wo die Regierung nicht Partei ist, ebenso verläßlich als nüchtern sind, aber die diesen Charakter verlieren, sobald die Regierung selber als Partei zu sprechen hat. Man muß davon ausgehen, daß die Zeitungen Parteiorgane sind oder doch im Parteigeist geschrieben werden. In Rücksicht auf die Bildung der öffentlichen Meinung könnte dies gar nicht anders sein, denn was man öffentliche Meinung nennt, ist heute in aller Regel nur Parteimeinung; die Zeit, in welcher die Presse einmütig den Freiheitsgedanken gegen die Regierung vertrat, ist vorüber, heute ist sie nicht nielu* das Organ der öffentlichen Meinung, sondern sie ist das Organ der Parteimeinungen und somit das Organ der Uneinigkeit der öffentlichen Meinung und im schlimmsten Falle das der allgemeinen Ratlosigkeit. In Rücksicht auf den Nachrichtendienst könnte man es ja anders denken. Wäre es nicht einzurichten, daß alle Nachrichten, die für die Öffentlichkeit bedeutsam sind, mit der Zuverlässigkeit des amtlichen Kurszettels kundgemacht würden, den die Börsen herausgeben ? Dazu müßte man aber wohl für den ganzen Nachrichtendienst in allen seinen Zweigen Organe von der Zuverlässigkeit derjenigen einrichten, die den Kurszettel zusammenstellen. Das geht wohl nicht an, der Nachrichtendienst muß bis auf weiteres nach wie vor dem Eifer und Spürsinn des Journalisten anvertraut bleiben. Wollte man ihn den „Tugendhaftesten und Weisesten des Volkes“ überantworten, so kann man sicher sein, daß alle Nachrichten bis auf die von so einfachen Tatsachen, wie Todesfälle, Geburten und Heiraten, zu spät kämen. Das Nachrichtenwesen, wenn es rasch gehen soll, darf nicht solchen Leuten anvertraut sein, die wissen, was alles zu bedenken ist, bevor man die volle und reine Wahrheit über eine Sache erfahren kann, sondern es muß von unbedenklicheren Geistern besorgt werden, die beweglich und rasch entschlossen das aufgreifen, was eben zu erfahren ist. Das Publikum muß ihnen selbst für die halben Wahrheiten dankbar sein, die sie aufgreifen, denn ohne die Hilfe der Presse bliebe es den unsinnigsten Gerüchten preisgegeben. Man hat die Probe davon, sobald die Presse einmal ein paar Tage lang durch einen Streik eingestellt ist; da lernt man die übertreibende Gewalt des Gerüchtes kennen, der Fama, deren Mißgestalt die Alten in so grellen Farben zu schildern pflegten. Übrigens darf man nicht übersehen, daß die Tagespresse ihre Neuigkeiten nur nach dem Maße des Tagesbedürfnisses bringen darf, sie darf dem Publikum mit zu großer Genauigkeit nicht lästig fallen und bei einer Sache nicht zu lange verweilen. Dem Publikum ist es gar nicht darum zu tun, die volle und [469] reine Wahrheit zu erfahren; sobald es so weit unterrichtet ist, daß seine Neugierde sich befriedigt fühlt, lehnt es weitere Mitteilungen gelangweilt ab. Das Interesse des Publikums gibt den Maßstab der Genauigkeit, welche die Presse einzuhalten hat. Leider muß man hinzufügen, daß es nicht leicht angeht, die Ungenauigkeiten, die einmal passiert sind, selbst wenn der gute Wille dazu vorhanden ist, wieder gutzumachen; das einmal ausgestreute Unkraut wuchert weiter, man kann ihm nicht überall hin nachgehen, um es auszujäten.
Man muß auch noch hinzufügen, daß der gute Wille nur allzuoft fehlt, denn die Presse ist und bleibt eben Parteiorgan, ihre Nachrichten und Urteile sind im Parteigeist gesammelt und geschrieben. Eine Parteizeitung kann sich nicht dazu berufen fühlen, Nachrichten zu verbreiten, die im Interesse des Gegners gelegen sind. Mit Eifer wird sie nur diejenigen verbreiten, welche der eigenen Partei dienen, außerdem muß sie die Nachrichten allgemeinen Interesses mitteilen, die sie ihrem Publikum nicht vorenthalten darf, selbst wenn sie unerwünscht sind. Wo aber ist die Grenze für das, was man noch zu sagen hat, und das was man nicht mehr zu sagen sich entschließen darf ? Der Parteigeist wird die Grenze ohne Zweifel so ziehen, daß sie dem Leser, der die volle Wahrheit verlangt, willkürlich und ungerecht gezogen scheinen muß. Upton Sinclair weiß davon zu erzählen, wie selten es ihm, dem Sozialisten, gelungen ist, Mitteilungen, die für das kapitalistische Regime abträglich waren, in den Kanal des bürgerlich orientierten Depeschendienstes der Associated Press hineinzubringen. In den meisten Fällen mußte er den Versuch aufgeben, der „Kanal“ öffnete sich ihm nicht, eine undurchdringliche „Mauer“, wie er sagt, sperrte den Zugang. Kommt eine solche Dienstverweigerung nicht auf eine Rechtsverweigerung hinaus ? Wer die Presse als Organ des öffentlichen Nachrichtendienstes betrachtet, wird es so empfinden, die Presse als Parteiorgan empfindet andere, sie übt damit einen Akt souveräner Justiz aus, und wenn man ihr vorwerfen wollte, daß es ein Akt der Klassenjustiz sei, so darf sie sich vielleicht darauf berufen, daß sie, solange der Klassenkampf geführt wird, zu anderm Vorgehen gar nicht berechtigt wäre. Daß neben der entschuldbareren Klassenjustiz auch Fälle reiner Kabinettsjustiz mitgehen, darf freilich nicht verschwiegen werden. Die Presse zeigt uns nicht gerade selten den Meister des Stils, der weise zu verschweigen versteht.
Minder auffällig als die förmliche Verweigerung der Mitteilung von Tatsachen, aber in ihrer Wirkung viel verderblicher ist die Beugung der Wahrheit, deren sich der Parteigeist der Presse schuldig macht. Kein Parteimann sieht unbefangen oder denkt unbefangen. Die Presse als [470] Parteiorgan kann es am wenigsten, denn sie muß mit den Augen der Masse sehen und mit dem Sinne der Masse denken, die immer leidenschaftlicher ist als der einzelne für sich. In der Masse gilt nie das Individuelle, sondern immer das Allgemeine, dasjenige, bei dem alle mitgehen können, das Starke, das Einfache, was ohne Vorbehalt und Einschränkung zu sagen und zu empfinden ist. In jeder Versammlung greift der lauteste Redner am vollsten durch, der die stärksten Worte gebraucht, die Presse kann zur geistigen Versammlung ihrer Leser nicht anders sprechen. In ihrer übergroßen Zahl lesen sie die Zeitung nicht wie ein kostbares Buch, in welchem man jedes Wort genießt, sondern sie durchfliegen sie in aller Eile, indem sie nur rasch das Auffälligste heraussuchen, und sie lassen im Grunde nur das gelten, was ihrem voreingenommenen Sinn entgegenkommt. Sic wollen in dem täglichen Geschäfte, an das sie nach der Lektüre des Morgenblattes gehen, nicht dadurch gestört sein, daß ihnen neue Gedanken zugemutet werden, sie wollen sich vielmehr in ihrer hergebrachten Meinung bestätigt und bestärkt finden. Geradeso wie in der Sprache der Parteien sonst gilt auch in der Presse für alle öffentlichen Angelegenheiten eine fable convenue, an die man sich halten muß, wenn man nicht aus dem Ton fallen und Gefahr laufen will, nicht mehr angehört zu werden. Unter sich sprechen die Eingeweihten ganz anders, unter sich machen sie sich über die tönende Phrase lustig, die sie vor der Menge weiter ausposaunen, sobald sie wieder vor ihr stehen. Wenn man persönlich mit dem politischen Gegner zusammentrifft, begegnet man ihm in den herkömmlichen Formen guten Verkehrs, in der Öffentlichkeit und in der Zeitung ist der politische Gegner und die Masse der Gegenpartei noch mehr als der einzelne außerhalb des Schutzes der guten Sitte gestellt. Man darf ihn verdächtigen, ja der Parteigeist gebietet es, daß man ihn jeder Gehässigkeit verdächtige. Nicht bloß das Urteil der Presse, sondern auch ihr Nachrichtendienst ist parteimäßig gefärbt, das Wasser im , .Kanal“ wird dort, wo man ihn öffnen muß, getrübt, der Brunnen wird vergiftet, ohne daß man es selber immer recht weiß. Es ist eine der verbreitetsten Anklagen gegen die Presse, daß sie durch ihre täglichen Entstellungen die Hauptschuld daran trage, die Leidenschaften zu erhitzen. Die Anklage ist wohl nicht voll gerechtfertigt, die Presse als Parteiorgan ist das Echo der Parteistimmen, unter denen alle andern durch die lauten Stimmen der Leidenschaft übertönt werden, die nun freilich durch die verstärkende Resonanz der Presse zu noch erhöhter Wirkung kommt.
Ein großer Teil der Spalten der Zeitung dient nicht dem Parteidienst, sondern allgemein den Interessen des Publikums. Hier ist die [471] Presse vom Parteigeist frei, aber den Geist des Volkes muß sie auch hier versöhnen, auch hier bleibt sie im Dienste der Massenseele. Die Presse leiatet als geistige Führerin der Masse viel, man darf sagen überaus viel durch mannigfache Belehrung und Bildung, aber aus dem Bezirke der Massenseele kommt sie doch nicht heraus. Sie wird die Masse belehren, aber sie wird sie nicht bessern und bekeliren. Sie versucht es nicht einmal. Die Tagespresse bleibt im Gesichtekreis des Tages und muß darin bleiben. Was nicht innerhalb dieses Gesichtskreises liegt, muß ihr fremd bleiben, damit darf sie ihrem Publikum nicht kommen, wenigstens nicht am Wochentag; nur am Sonntag und noch mehr bei gewissen außerordentlichen Gelegenheiten hat das Publikum Zeit und Aufmerksamkeit auch für solche Anregungen, die ins Weitere zielen. Die große Zeitung öffnet bei guter Gelegenheit ihre Spalten den besten Geistern der Nation, denen es willkommen sein muß, dasjenige was die Stunde fordert, vor einem kaum zu übersehenden Kreis und noch dazu mit der besonderen Wirkung vorzutragen, daß ein allgemeiner Eindruck gleichzeitig hervorgerufen wird, dessen sich das Tagesgespräch mit einem dauernderen Nachhall bemächtigt, als er sonst den Äußerungen der Presse beschieden ist. Aufmerksame Leser schneiden sich die betreffenden Stellen heraus, um sie sorgfältig aufzubewahren. Indes, dies hilft doch nicht darüber hinweg, daß alles in allem der Gesamtton der Presse durchschlägt, der vom Leben des Tages hergenommen ist. Die große Masse erkennt unter dem bunten Stoffe der Zeitung die seltenen Perlen gar nicht, die ihr von Zeit zu Zeit dargeboten werden. Der regelmäßige Stoff der Zeitung kann vom Journalisten gerade nur so weit durchgearbeitet werden, als es die Schnelligkeit zuläßt, die das oberste Gebot der Tagespresse ist. Die Nummer muß zur Minute fertig sein und es darf in ihr nichts fehlen, was bis zu dieser Minute noch an Interessantem mitgeteilt werden kann. Nichts schlimmer als von einer anderen Zeitung hierin überholt zu werden. Raschheit ist die erste Standespflicht in dem nervenaufreibenden Dienst des Journalisten, Gründlichkeit ist nur so weit erlaubt, als sie mit Raschheit vereinigt werden kann. Was an Gründlichkeit fehlt, muß man durch Sicherheit des Vortrags zu ersetzen trachten. Es ist ja auch — wovon wir schon früher gesprochen haben — dem Publikum selber gar nicht so um Gründlichkeit zu tun, man möchte fast sagen, es ist ihm in einem weiten Bezirk nicht einmal um Wahrhaftigkeit zu tun, sondern um eine geistige Befriedigung, die vom Sensationsbedürfnisse bis zum Woldgefühl des feineren künstlerischen Genusses reicht: man will unterhalten, angeregt, geschmeichelt und, so weit nötig und ohne zu große Bemühung erreichbar, auch unterrichtet und gefördert sein. Der [472] Journalist leitet hieraus die zweite Standespflicht ab, daß seine Darstellung interessant sein müsse; wenn man volle Wahrhaftigkeit nicht erzielen kann, so muß man dafür durch die Eleganz des Vortrags Ersatz geben.
In der Eile des Tagesdienstes muß sich der Journalist mittlerer Begabung damit begnügen, den Pressejargon zu gebrauchen, den sich das, journalistische Handwerk zurecht gemacht hat. Auch die bestgeleitete und gescliriebene Zeitung kann sich von ihm nicht ganz frei halten, weil sie für ihr umfangreiches Geschäft nicht ausreichen kann, wenn sie nicht neben den vortrefflichen Mitarbeitern, die der Herausgeber großen Blickes an sich zieht, in seinem Stabe auch mindere Kräfte verwendet. Jede Nummer einer großen Zeitung bietet Beispiele der guten und der minderen Typen, mit denen die Presse arbeitet; neben dem gewissenhaften Kritiker, der jedes Wort auf die Wagschale legt, und dem wohlerfahrnen Fachmann schreibt der Mann der Routine und der leichtfertigen Phrase, neben dem sprachverderbenden und gedankenscheuen Handwerksjargon vernimmt man den Virtuosen, der das so schwer zu behandelnde Instrument der öffentlichen Mitteilung überlegen beherrscht, und dazwischen klingt ab und zu ein reiner Ton durch, der sich in allem Lärm klar vernehmbar macht, ohne Wahrheit und Schönheit zu verlieren.
Die früher übliche Verherrlichung der Presse ist ebenso unzutreffend wie die jetzt übliche Verwerfung. So weit ein Urteil über das Ganze der Presse überhaupt zulässig ist, die auf jeder ihrer Stufen und an jedem Orte sich anders gibt , muß man sagen, daß die Ankläger der Tagespresse von ihr mehr fordern, als sie ihrer Bestimmung nach selbst beim besten Willen leisten kann. Sie hat den großen Massen der Gebildeten und Ungebildeten laufend über die Ereignisse zu berichten und im Einvernehmen mit den bestehenden Führungen die Losungen zu ihrem Verständnisse auszuteilen. Als Unternehmung kann sie nicht umhin, ihr geschäftliches Interesse zu wahren und auf ihren Absatz zu achten; sie wird daher ihr Bestes zu bieten suchen, darf aber dabei nirgends über die Fassungskraft ihres Kreises hinausgehen und darf am wenigsten gegen die in diesem Kreise geltenden Grundanschauungen und Leidenschaften ankämpfen, sie muß nur die Fühlung dafür haben, wenn sich neue Stimmungen vorbereiten, und muß darauf aus sein, bei den kommenden Wendungen rechtzeitig mitzugehen, aber am festen [473] Stamme der Parteimeinung und der allgemeinen Anschauung muß sie unverrückt festhalten.
Trotzdem ist es grundfalsch, zu glauben, daß die Herrschaft der Tagespresse nur eine Tagesherrschaft sei, die gegen die Macht des Bestehenden nicht aufkommen könne. Die Berge von Papier, die sie täglich auftürmt, zerfallen zwar in kürzester Zeit, ihre Herrschaft ist aber doch keine bloße Papierherrschaft, wie die der vielen Papierverfassungen der Gegenwart. Die täglich wiederholten Masseneindrücke der Hirnmaschinc, die sie ist, tragen in ihrer Gesamtwirkung, so flüchtig sie im einzelnen sein mögen, zur Geistesverfassung der modernen Massen entscheidend bei. Bei aller Belehrung, die sie ihnen gibt, stumpft sie durch das viele, allzuviele, das sie täglich bringt, ihren Bildungstrieb empfindlich ab; sie mindert die frische Empfänglichkeit der Geister. Eine Presse, die das viele und allzuviele, das sie bringt, noch dazu voreilig und oberflächlich bringt, drückt den Wahrheitssinn der Massen herab.
Neben diesen inneren Wirkungen darf man eine durchgreifende äußere Wirkung nicht übersehen, die Presse massiert die Massen, die in der Gegenwart dem politischen Wesen neu zuströmen, sie ist dazu berufen, ihnen gleiche Richtung und erste Ordnung zu geben. Sie hat etwa den Dienst, wie ihn der Einpeitscher für die Abgeordneten im Parlament hat, für die Massen der Wähler und derer, die es werden wollen, zu besorgen, und diesen Dienst hat sie, wie für das eigentliche politische Geschäft, auch für das öffentliche Wesen sonst nach einer ganzen Reihe von Richtungen zu versorgen. Man muß zugeben, daß sie ihn mit nicht gewöhnlicher Kraft geleistet hat. Durch den Spürsinn des Interesses geleitet, hat sie die Eigenart des modernen Massenwesens früher und besser erkannt, als die meisten alten geschichtlichen Führungen. Sie ist darin unermüdlich, die Massen zu sammeln, in Reih und Glied zu stellen und geistig zu uniformieren. Hätten sich die alten geschichtlichen Führungen so gut in die neue Art zu finden gewußt, wie die Presse, so wäre die Gesellschaft um vieles besser bedient.
Die Gegensätze der politischen Parteien werden durch das Eingreifen der Presse empfindlich verschärft. Die Mitglieder jedes der bestehenden politischen Kreise werden durch die Gemeinschaftlichkeit ihrer Presse ihres Zusammenhanges deutlich inne, sie erhalten Fühlung miteinander, sie werden sich ihrer Zahl bewußt, sie empfangen die Schlagworte und Losungen, an denen sie sich erkennen und die sie den Gegnern gegenüberhalten. Durch den im Parteigeist verfaßten Nachrichtendienst ihrer Leibjournale werden ihnen die Tatsachen in [474] einer Weise vermittelt, die ihnen die volle Überzeugung von ihrem Rechte und vom Unrecht der Gegner gibt.
Indem die Presse die Massen ordnet, hilft sie dazu, sie den bestehenden Führungen vermittelnd unterzuordnen, sie vertritt die Führungen bei den Massen. Dabei mindert sie aber auch den Grad der Überordnung der Führungen, indem sie die Massen bei ihnen vertritt und einen nicht geringen Teil ihrer Führungsmacht auf sich herüberleitet. Sie kann nicht umhin, auf die Massenstimmungen zu achten, die sie am empfindlichen Reagens des Absatzes deutüch abliest, sie ist aber weit davon entfernt, die unterwürfige Dienerin der Masse zu sein. Sie muß ihr dort entgegenkommen, wo sie für ihre Interessen besonders empfindlich ist, im übrigen kann sie bei einiger Klugheit ihrer Gefolgschaft sicher sein, ist sie doch darauf eingerichtet, ihre Neugierde, diese bezeichnendste Masseneigenschaft, zu befriedigen und ihr als modernes Orakel den Sinn der öffentlichen Vorgänge zu deuten, die ihre Aufmerksamkeit erregen. Indem sie sich als Massenorgan einrichtet, schafft sie sich in der Masse, die sie sammelt, zugleich die Gef olgschaft, die sie unter die leitenden gesellschaftlichen Führungen erhebt.
Am meisten dient die Presse den unteren Schichten, die ohne sie sich ihrer besonderen Bedürfnisse und des Gewichtes ihrer Zahl nicht bewußt werden könnten. Darum wird derjenige, dem die Masse als der eigentliche Träger der Freiheit gilt, die Presse auch heute noch als Freiheitsorgan hochstellen, derjenige dagegen, der in der Masse den Feind der wahren Freiheit, der Freiheit der freien Geister sieht, wird sie als das allerdrückendste Machtorgan abweisen. Beide Beurteiler haben unrecht, denn jeder sieht nur die eine Seite des gegebenen Zustandes. Echte Freiheit kann nur bestehen, wenn sie durch den Zusammenhang von Führer und Masse behütet ist. Die höchste Freiheit muß immer bei den führenden Geistern sein, die für die Gesellschaft den Weg zu suchen haben; da aber die Masse den Führer zu bestätigen hat, so muß ihr die Freiheit der Nachfolge zugeteilt sein, sie darf nicht gezwungen sein, dem bestimmten Führer nach seiner bestimmten Weise zu folgen. Wie der Führer leitende Kraft, so braucht sie tragende Kraft, die für das Wohl der Gesellschaft ebenso notwendig ist. Es ist die hohe Aufgabe der Presse, der Volksfreiheit zu dienen, indem sie die Masse in Rücksicht auf ihre tragende Kraft berät. Wo die Presse fehlt, ist der Führer in seinen Entschlüssen freier, er kann rascher nach seinem höheren Sinne vorgehen; wo die Presse verbreitet ist, muß er auf die Massenstimmungen mehr Rücksicht nehmen, sein Werk wird langsamer, aber wenn die[475] Masse gut beraten ist, sicherer sein; wo eine unreife Masse von einer unreifen Presse schlecht beraten ist, die sich ihr nur zu leicht zur Verfügung stellt, sind Fortschritt und Sicherheit im gleichen Grade bedroht.
Die Beobachtung, daß die Presse Massenbildung bringe, führt zu ihrer endgültigen Verurteilung bei allen, die der Meinung sind, daß Massenbildung das Ende der Kultur bedeute. Ein leicht aufzuklärendes Mißverständnis! Die Massenbildung folgt immer nach, Kultur kann in der Masse erst verbreitet werden, wenn vorher ihre Höhen gewonnen sind, es ist aber ganz unrichtig, zu glauben, daß damit, daß die Wirkung in die Breite beginnt, die Wirkung in die Höhe abgeschlossen sein müsse. Wohl wird in der Regel einige Zeit vergehen, bis die Kräfte in der Gesellschaft wieder gesammelt sind, um eine neue Höhe zu gewinnen, aber keine Nation wäre zu großer Kultur aufgestiegen, wenn sie nicht die Kraft in sich gehabt hätte, über die ersten Kulturfortschritte weiter hinauf zu kommen. Die Tatsache, daß die Presse in die Masse Bildung verbreiten hilft, hindert die großen Geister der Nation in gar nichts, weiter führend voranzugehen. Man wird doch nicht etwa glauben wollen, daß das Christentum, das über alle Verfolgungen sonst triumphierte, gerade über die nivellierende Macht der Presse nicht hinweggekommen wäre, falls die Römer schon ihre Presse besessen hätten. Oder meint man, daß die Verbreitung der Massenbildung die Spannungen der Volksseele ableiten werde, die zu neuen Entwickungen drängen ? Die Presse wird keiner großen gesellschaftlichen Entwicklung im Wege stehen, so wenig sie sie selbst bereiten kann. Die großen Kräfte erwachen immer im Verborgenen der großen Seelen und brauchen ihre Zeit, bis sie aus dem Dunkel ins helle Licht des Tages treten. Damit erst geraten sie in den Gesichtskreis der Tagespresse, und warum sollte sich diese ihnen entgegenstellen, so bald sie einmal auf der Höhe sind ? Die große Kraft, die den Erfolg gewonnen hat, wird auch eine gute Presse haben.
Unter den gegebenen Verhältnissen sich für die Freiheit der Presse einzusetzen, ist unnötig. Sie hat Macht und also ist sie frei. Sie ist eine der großen Wirklichkeiten des modernen Lebens, mit der jede andere Macht in Staat und Gesellschaft sich abfinden muß. Wem es mit der „Freiheit von der Presse“ ernst ist, der muß den Willen und die Kraft haben, auf dem Boden der Masse, auf dem die Presse ihre Macht gewonnen hat, tiefer zu pflügen, als sie es vermag. Der große geistige Führer wird die Macht der Tagespresse überwinden.
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Der moderne Großbetrieb verhält sich zum Großbetrieb älterer Zeit wie das moderne Dampfschiff zur Rudergaleere. Diese wurde von Sklaven oder Strafgefangenen durch Menschenkraft getrieben, auch jenes braucht zu seiner Bedienung zahlreiche Hände, die treibende Kraft geht aber von Maschinen aus, neben denen noch reiche anderweitige Kapitalgüter ihren Dienst tun müssen. Der ältere Großbetrieb war vor allem durch die vielen in ihm beschäftigten Arbeiter großgemacht, der moderne fordert außerdem noch ein großes Anlageund Betriebskapital. Er ist ein Kapitalbetrieb. Außerdem ist er noch durch ein zweites Moment charakterisiert. Seine Typen sind in ununterbrochener Entwicklung. Wie man bestrebt ist, das Dampfschiff fort und fort zu erweitern und zu verbessern und insbesondere auch in seinem motorischen Apparat zu steigern, so spannt man im ganzen Umfang des Großbetriebes die fortschreitende technische Kunst an, um wirksamere Kapitalgüter zu verwenden, die der wachsenden Nachfrage begegnen sollen. Daher fordert der moderne Großbetrieb von seinem Leiter einen immer wachen, unternehmenden Sinn. Er muß eine Kapitalunternehmung sein, die auf die höchste Leistungsfähigkeit des großen ver wendeten Kapitales gestellt sein soll. Vom Standpunkt des Unternehmers ist er eine kapitalistische Unternehmung, bei der die Rücksicht auf die Rentabilität, auf die höchste persönliche Rente, die man vom Kapital gewinnt, die Rücksicht auf die sachliche Leistungsfähigkeit überwiegt. Steigerungen der Leistung, welche die Rente nicht steigern, kommen für den Unternehmer nicht in Betracht, Steigerungen der Rente werden angestrebt, auch wenn die Leistung gleich bleibt oder sogar zurückgeht. Immerhin bleibt die Leistung die wichtigste Unterlage der Rente.
Die öffentliche Meinung weiß den Anteil, den die kapitalistische Unternehmung an der Steigerung des volkswirtschaftlichen Ertrages hat, nicht richtig einzuschätzen. Man pflegt das Verdienst des volkswirtschaftlichen Fortschrittes den Entdeckungen und Erfindungen der modernen technischen Wissenschaft zuzuschreiben, ohne daß man des Unternehmers besonders gedächte. In Wahrheit könnte ohne den großen Unternehmer der technische Fortschritt niemals realisiert werden. Indem er seinen Betrieb organisiert, wirkt auch er als Entdecker und Erfinder; er gleicht einem gesellschaftlichen Rutengänger in der Witterung, [477] die ihm dafür eigen ist, wo die vielfaehen komplementären Elemente aufzutreiben sind, welche der moderne Kapitalbetrieb zu vereinigen hat, und wie sich die Wendungen von Angebot und Nachfrage gestalten werden. Außerdem muß der große Unternehmer ein Willensmensch sein, wie ein wirtschaftlicher Wallenstein, der Armeen von Angestellten und Arbeitern aus dem Boden stampft und zu ihrem Dienst einschult. Es braucht die Anstrengung einer nie ermüdenden Kraft, den Unternehmergedanken, welcher der gegebenen Lage der Technik und des Marktes entspricht, bis in seine Einzelheiten auszudenken und zu realisieren. Die folgenden Unternehmer, die den neugeschaffenen Typus kopieren, brauchen nicht mehr solche Gewaltnaturen zu sein, wie die ersten, die ihn schufen, indes hat der rasche Wandel der Lage von Technik und Markt in unserer Zeit immer neue Aufgaben gestellt, die den großen Unternehmer fordern, wie der rasche Wandel der Waffentechnik und der politischen Lage dem Taktiker und Strategen unserer Zeit immer neue Aufgaben stellten. Die Anlage eines modernen Riesenbetriebes setzt ein Maß von Unternehmerkraft voraus, das selber ans Riesenhafte grenzt.
Wie ein Entdecker und Erfinder, wie ein militärischer Führer braucht der große Unternehmer die Freiheit seines Geistes und seines Willens, um den immerfort wechselnden Anforderungen der Zeit nachzukommen. Die Lehre vom Individualismus, welche die klassischen Ökonomen vortrugen, ist der Person des modernen Unternehmers auf den Leib geschrieben, wie sie von der Mitte des 18. Jahrhunderts an in England und Frankreich in den Vordergrund trat. Wenn die klassische Lehre für die Volkswirtschaft Freiheit forderte, meinte sie im Grunde die Freiheit, das Selbstbestimmungsrccht des Unternehmers. Sie wußte noch nicht und konnte noch nicht wissen, daß bei der Weiterentwicklung der kapitalistischen Unternehmung mit ihrer wachsenden monopolistischen Tendenz die Selbstbestimmung des Unternehmers die Gebundenheit zahlreicher gesellschaftlicher Schichten zur Folge haben müsse.
Wir haben die Entwicklung, durch die das freie Führungsorgan der Unternehmung Organ der Eigenmacht wird, bereite an einer früheren Stelle verfolgt, so weit sie das Verhältnis zur Nachfrage der Konsumenten betrifft, oder wie wir allgemeiner zu sagen hätten, zur Nachfrage der Abnehmer der Erzeugnisse und Leistungen des Großbetriebes. Wir haben jetzt diese Darstellung noch zu ergänzen, insoweit es sich um die Wirkung handelt, die von der kapitalistischen Unternehmung auf die von ihr verdrängten schwächeren Betriebe und die in ihr selbst beschäftigten Arbeiter ausgeht. Diese beiden Gruppen sind von ihrer Übermacht um vieles schärfer getroffen, als die Abnehmer ihrer [478] Erzeugnisse und Leistungen. Die Abnehmer finden beim Großbetrieb immer einen deutlichen Vorteil, weil er billiger arbeitet und sie daher am Preise sparen, abgesehen davon, daß das Angebot zumeist reichlicher und rascher auf den Markt gebracht und nicht selten in seinem Gehalte verbessert wird. Warum sonst würde sich die Nachfrage dem Großbetrieb zuwenden ? Durch die Nachfolge, die sie ihm leistet, bestätigt sie die Überlegenheit seiner wirtschaftlichen Haltung. Die Ursachen zur Unzufriedenheit der Nachfrage sammeln sich erst an, sobald die kapitalistische Unternehmung die Übermacht gewonnen hat und die Rücksicht auf die Leistung hinter die Rücksicht auf ihre Rente zurückstellt und ihre Preise steigert. Selbst wo sie dies nicht tut, ist man schon deshalb ungehalten, wenn man wahrnimmt, daß der Gewinn des Unternehmers zunimmt, ohne daß das Publikum besser davonkommt. Man empfindet, daß sein Gewinn auf Kosten der Abnehmer gemacht ist, und fordert, daß er den Preis auch als Monopolist so billig stelle, als er es bei wirksamem Wettbewerb tun müßte. Auch die Angestellten und Arbeiter, die der Unternehmer beschäftigt, bestätigen durch die Nachfolge, die sie ihm leisten, daß die Arbeitsgelegenheit, die er ihnen bietet, vorteilhafter ist, als diejenigen, die sie sonst zu finden vermöchten. Damit ist allerdings noch nicht bezeugt, daß sie wirklich gut oder daß sie auch nur menschenwürdig ist. Es kann sein, daß die Männer und Frauen, die dem Rufe des Unternehmers folgten, sich durch die Ziffer des Geldlohnes täuschen ließen, weil sie nicht imstande waren, die Höhe der Auslagen vorauszusehen, die sie zu bestreiten haben sollten, und noch weniger das Opfer an Lebenskraft und Lebensglück zu ermessen, das ihnen die Arbeitelast, zu welcher sie sich verpflichteten, und die Schwierigkeit und Unsicherheit der Bedingungen ihres Berufes aufbürden sollten. Vielleicht auch wurden sie dadurch angezogen, daß ihr Einkommen durch die Arbeit von Frau und Kind erhöht wurde, ohne daß sie die Folgen absehen konnten, die daraus für Frau und Kind und das Familienleben und zuletzt für den Mann selbst entstehen sollten. Ganz schlimm ohne irgend einen ausgleichenden Vorteil sind durch die Übermacht deB kapitalistischen Unternehmers die schwächeren Mitbewerber getroffen, die er vom Markte verdrängt. Sie werden entweder in ihrem Einkommen gemindert oder sie werden in ihrer Stellung getroffen und in eine tiefere Schicht herabgedrückt, wo Bie aufhören, selbständige Gewerbsmeister zu sein, und zufrieden sein müssen, wenn sie als Lohnarbeiter unterkommen.
Die durch die kapitalistische Übermacht getroffenen Gruppen fühlen sich dazu aufgefordert, dem kapitalistischen Führungsorgan [479] der Unternehmer ihrerseits Massenorgane gegenüber zu stellen, um Widerstand zu leisten und möglichste Abhilfe zu schaffen. Unter Umständen übernimmt es an ihrer Statt, wo sie selber zu schwach sind, der Staat oder die Gemeinde oder ein anderes Gemeinwesen, den Dienst eines solchen Massenorganes zu besorgen. Die Zahl solcher Massenorgane ist heute überall sehr beträchtlich geworden. Die Wirkung mancher von ihnen ist sehr bedeutend, aber keines von ihnen ist bisher über die Funktion hinausgekommen, die dem Massenorgan durch die Natur der Sache zugewiesen ist. Unter den heute gegebenen Verhältnissen vermag keines von ihnen das Führungsorgan der kapitalistischen Unternehmung ganz zu ersetzen und zu verdrängen.
Die ausgezeichneten Männer, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die christlichsoziale Partei in England gründeten, gingen darauf aus, Produktivassoziationen der gewerblichen Arbeiter zu schaffen, welche diese von der ausbeutenden Herrschaft des Kapitales freimachen sollten. Der Versuch mißlang. Man hatte das Kapital aufgebracht, um in London eine Schneiderassoziation einzurichten, aber so sehr auch die Schneidergesellen Londons unter der Ausbeutung durch die Schwitzmeister litten, so fand sich doch kein einziger unter ihnen, der den Mut gehabt hätte, es mit der Assoziation zu versuchen. Das Scheitern dieses gut vorbereiteten Versuches beweist klar, daß es letztlich nicht am Kapitalmangel liegt, wenn die Produktivassoziation nicht durchgreift, das Kapital war ja in diesem Falle zusammengebracht worden. Der entscheidende Umstand ist der, daß die Idee der Produktivassoziation dem Grundverhältnis von Führer und Masse nicht genügend Rechnung trägt; sie mutet der Masse Funktionen zu, die eben nur der Führer zu erfüllen vermag, und billigt dem Führer die Stellung nicht zu, die er vermöge seiner Leistung in Anspruch nimmt. Der Unternehmergedanke und Unternehmerwille wohnt nur im Geiste des Führers, und die große MasRe in Gewerbe und Arbeiterschaft brauchte gegenüber dem neuen Unternehmungswesen den Führer noch dringender als sonst. Die mittleren und kleineren Gewerbsmeister waren in ihren gewohnten Betrieben so eingeschult, daß sie ihm als Führer vorstchen konnten, sie waren aber unfähig, als die neue Lage den Großbetrieb forderte, ihre Betriebe zu einem Großbetrieb zu vereinigen, den sie auf gemeinsame Rechnung führten. Sie warteten ab, bis sie unter dem Tritt des kapitalistischen Unternehmers ihre Selbständigkeit verloren, dem sie sich nun mit dem [480] Masseninstinkt der Nachfolge als unselbständige Arbeiter unterordneten. Die Regierungen und die Gesellschaft, wie auch die Wissenschaft hat die Umschichtung, die sich auf diese Weise in großen Gebieten der gewerblichen Bevölkerung vollzog, als etwas Endgültiges hingenommen, als eine notwendige Folge des unaufhaltsamen Zuges zum Großbetrieb, dem man nicht in den Weg treten durfte.
Während die genossenschaftliche Kraft zur Bildung von Großbetriebsassoziationen nicht ausreichte, reichte sie dazu aus, um den mittleren und kleinen gewerblichen Betrieben, die sich erhielten, ebenso wie den bäuerlichen Betrieben, wenigstens in gewissen einzelnen Richtungen, wie in der des Einkaufes und Verkaufes, der Lagerung und Kreditierung, die Vorteile gemeinsamer Geschäftsführung zuzuwenden.
Bei den Konsumenten reichte die genossenschaftliche Kraft zur Bildung von Konsumvereinen aus. Die Konsumvereine haben es mit einer festen Ziffer des Bedarfes zu tun, die durch die Ansprüche der Haushaltung, wie sie in der gegebenen Schicht eingewöhnt sind, und durch die Zahl der zugehörigen Haushaltungen bestimmt ist. Auch die Beschaffung des Vorrates stellt an die Unternehmerkraft keine sonderlichen Anforderungen, namentlich wenn man sich, wie es die ersten Konsumvereine taten, auf den Einkauf bei der nächsten Stufe des Großhandels und der Produzenten beschränkt. In dem klassischen Falle der Pioniere von Rochdale waren es zunächst sieben Arbeiterfamilien, die zusammentraten, und unter ihnen mochte sich leicht eine Person finden, die zur Führung der kleinen Betriebsgeschäfte vollauf befähigt war. Auch als die Konsumvereine nach und nach an Mitgliederzahl beträchtlich anwuchsen, fanden sie auf dem Arbeitsmarkte leicht das geschulte Personal vor, das sich ihnen zur Verfügung stellte, wie es sich dem Einzelunternehmer zur Verfügung stellt. Man konnte sich dann auch im eigenen Betriebe die Leute ausbilden, so daß man selbst den Anforderungen einer erweiterten Geschäftsführung gewachsen war, die auf entferntere Quellen des Einkaufes zurückgriff und im höheren Sinne kaufmännisch war. Vom Konsumverein aus hat man auch den Schritt zur Produktivgenossenschaft zu machen vermocht, der als selbständiger Schritt nicht gelingen wollte; es fordert keine sonderliche Unternchmerkraft, für den festen Bedarf an Brot, den der Konsumverein zu versorgen hat, sich selber Bäckereien und für den festen Mehlbedarf der eigenen Bäckereien sich selber Mühlen einzurichten. Im weiteren Fortschreiten kam man dazu, den Betrieb von der Versorgung mit Lebensmitteln, womit man begonnen hatte, auch auf andere Artikel des festen Bedarfes der Mitglieder auszudehnen. Manche Konsumvereine [481] richteten sich darauf ein, Waren, wie man sie für die Mitglieder beschaffte, auch an Nichtmitglieder zu verkaufen; dabei blieb aber der feste Bedarf der Mitglieder doch das Fundament, das die Sicherheit gab. Wenn nach alledem der Betrieb die Größe einer ausgesprochenen Großunternehmung erreichte, wurde er doch nicht zur kapitalistischen Unternehmung, er blieb eine Massen Unternehmung, eine Unternehmung im Interesse der Mitgliedermasse und durch ihren Gesichtskreis beschränkt, die sich auf das hohe Meer des Marktes nicht hinauswagte, auf dem die Nachfrage wechselt und sich bis zum Sturme steigern und bis zur Windstille senken mag. Dabei können wir übrigens die interessante Beobachtung verzeichnen, daß mit den steigenden Anforderungen, welche die wachsende Betriebsgröße an die leitenden Personen stellte, die Betriebsleitung der Masse der Mitglieder wohl über den Kopf wachsen mochte. In Verhältnissen, die so groß geworden waren, daß eigentliche Unternehmerkraft gefordert war, gesellte sich zur Unternehmerkraft wohl auch der Machtwille des Unternehmers, und die leitenden Beamten konnten ihre Stellung, in der sie sich als nicht leicht ersetzbar fühlten, dazu benützen, um ihre Bezüge auf eine Ziffer zu steigern, die ihnen neben dem übüchen Beamtengehalt noch einen gewissen Unternehmergewinn zuteilte. Wurden doch solche Produktivassoziationen von Arbeitern, die durch die Fähigkeit des leitenden Genossen zu Gedeihen gelangten, nicht selten in Einzelunternehmungen ihrer Leiter umgewandelt!
Ausgedehnter noch sowohl nach Art als nach Größe ist das Gebiet der wirtschaftlichen Unternehmungen des Staates, der Gemeinde und anderer Gemeinwesen. Wir haben es nicht nötig, sie im einzelnen aufzuzählen. Manche von ihnen erreichen eine außerordentliche Ausdehnung, der Einheitsbetrieb der Eisenbahnen eines großen Staates läßt an räumlichem Umfang, an Kapital und an Zahl der beschäftigten Personen jeden andern Betrieb weit hinter sich zurück. Dabei erweist die Erfahrung jedoch deutlich, daß auch für diese Unternehmungen in den Aufgaben, die sie zu lösen vermögen, eine bestimmte Grenze gezogen ist, jenseits deren sie das Feld der kapitalistischen Unternehmung überlassen müssen. Von den rein wirtschaftlichen Unternehmungen des Staates, die in der Zeit des Merkantilismus entstanden, sind die meisten eingegangen, weil sie mit den kapitalistischen Unternehmungen nicht mehr gleichen Schritt zu halten vermochten. Übriggeblieben sind vornehmlich solche, von denen man erkannte, wie dies für die Staatsforste gilt, daß ihre rationelle Bewirtschaftung einem öffentlichen Interesse diene, und zu diesen sind nach und nach solche hinzugekommen, [482] von denen man erkannte, wie dies für die Eisenbahn gilt, daß sie einem öffentlichen Interesse dienen, welches durch private Bewirtschaftung nicht in erwünschter Weise sichergestellt werden kann. Aber nicht jede vom öffentlichen Interesse geforderte Unternehmung läßt öffentliche Bewirtschaftung zu; ein Gemeinwesen kann mit Erfolg nur solche Unternehmungen treiben, bei denen sieh der Dienst des Betriebes so durch feste Hegeln ordnen läßt, daß er als Beamtendienst vollzogen werden kann, ja vollzogen werden muß, weil nur der Beamtendienst das erforderte Pflichtverhältnis schafft. In der Werdezeit des Bahnwesens, als man seine verschiedenen Typen noch nicht technisch und geschäftlich festgelegt hatte, mußte man den Privatunternehmer berufen; erst nachdem die Regeln gefunden und die Massen der Beamten und Arbeiter eingeschult waren, war die Zeit für den Staat gekommen, das Erbe anzutreten. Nun durfte man hoffen, daß die Schulung im Betriebe auch die Männer ausbilden werde, die. dazu fähig wären, die oberste Leitung des Riesenunternehmens zu führen. Männer, die dieser Aufgabe genügen sollen, müssen nicht nur technisch-organisatorisch, sondern auch kaufmännisch die Qualität des großen Unternehmers haben, sie brauchen von den Eigenschaften des kapitalistischen Unternehmers nur die eine der ins Weite schweifenden Phantasie nicht zu besitzen, die nach neuen Kombinationen von Kapital und Arbeit sucht. Ihre Aufmerksamkeit darf und soll ausschließlich der abgegrenzten Massenunternehmung gewidmet sein, die sie im Interesse des Gemeinwesens zu leiten haben.
Die kapitalistische Unternehmung hat als Geschäft des Einzelunternehmers oder einer kleinen Zahl offener Gesellschafter begonnen. Beim Anwachsen des Großbetriebes konnte man bei diesen engen Formen nicht stehen bleiben, man mußte sich an die Masse der Kapitalisten und Sparer wenden, um aus ihnen Mitglieder und Kapitalsbeiträge zu werben. So ist die Aktiengesellschaft entstanden, als der „Rothschild auf Aktien“, den die Volkswirtschaft brauchte, weil das Privatkapital seihst der reichsten Familien die Geschäfte der kapitalistischen Unternehmung nicht mehr bewältigen konnte. Die Aktiengesellschaft hat etwas von einer Massenunternehmung an sich, sie gibt der Masse der großen und kleinen Besitzer von Geldkapital die Gelegenheit, dieses in Unternehmungen zu verwerten. Bis zu einem gewissen Grade ist dadurch die gesellschaftliche Umschichtung ausgeglichen, zu welcher der Großbetrieh durch die Bedrückung des mittleren und kleineren Gewerbes geführt hat, freilich sind es nicht dieselben Menschen, bei denen der Ausgleich eintritt, es sind nicht die geschädigten Gewerbsmeister, es sind Personen zumeist aus ganz andern Kreisen und neben den mittleren und unteren [483] Schichten doch auch viele Personen aus den oheren und obersten Schichten der besitzenden Klasse. So groß indessen die Masse der Gesellschafter auch sein mag, welche die Aktienunternehmung auf solche Weise heranzieht, so wird sie dadurch doch nicht zur vollen Massenunternehmung, sondern sie bleibt im Grunde eine kapitalistische Unternehmung, die nur im Interesse der Masse der Aktionäre gewissen staatlichen Kontrollen unterworfen wird, welche sie in ihrer freien Bewegung schwerfällig hemmen. Die Masse der Aktionäre hat mit der Leitung des Betriebes nichts zu tun, auch der Anteil an der Führung des Unternehmens, der ihnen vom Gesetze in der Generalversammlung zugewiesen ist, wird von ihnen tatsächlich kaum ausgenützt, die Selbstbestimmungsfähigkeit der Masse reicht dazu nicht aus. Nur der Großaktionär erhebt sich darin über die Masse der übrigen Aktionäre und kann es, falls er die genügende geschäftliche Erfahrung mitbringt, durchsetzen, in den Kreis der Führer des Unternehmens einzutreten. Die übrige Masse der Aktionäre ist und bleibt eine Masse, die meist über blinde Nachfolge nicht hinauskommt und zur prüfenden Nachfolge selten das Verständnis und noch seltener den Willen aufbringt. Sie hat darum am Unternehmergewinn kaum einen Anteil, während sie der Gefahr des Unternehmerverlustes allerdings ausgesetzt ist, wo sie sich von leichtsinnigen Gründern betören läßt. Der Unternehmergewinn ist von vorneweg den Gründern der Aktiengesellschaft vorbehalten, die ihn bei der Errechnung des Emissionskurses herausnehmen, insbesondere fällt er den Gründungsbanken zu, die im Gründungsgeschäfte die Gelegenheit finden, die „Unternehmung der Unternehmungen“ zu betreiben, und von einer Gründung zur andern zu schreiten, ihren Unternehmergewinn auf Vermögensgewinn basierend. Die Aussichten auf erhöhte Bentabilität, die sich im weiteren Lebenslaufe eines Aktienbetriebes bieten, werden weniger vom Publikum, als von den Börsespekulanten ausgenützt, jener eigentümlichen Spielart des kapitalistischen Unternehmers, wobei man kauft und verkauft oder auch verkauft und kauft, um die Spannungen der oberen und unteren Spitzenkurse auszunützen, in denen sich der Aufstieg und Abstieg eines Aktienunternehmens ausdrückt.
Die Gewerkschaft ist das ausgesprochenste aller wirtschaftlichen Massenorgane. Sie hat für den Arbeiter eine ungleich wichtigere Aufgabe zu erfüllen, als der Konsumverein für die Konsumenten, der diesen nur eine etwas bessere Ausnützung ihres Einkommens sichern soll, [484] während die Gewerkschaft den Arbeitern das Einkommen selber sichern soll. Zugleich ist die Widerstandskraft der Arbeiter in der Gewerkschaft ungleich größer als die der schwachen Konkurrenten, welche der Großbetrieb zur Seite schiebt; ein großer Teil dieser Konkurrenten versinkt rettungslos, die Arbeiter dagegen können ihr Widerstandsorgan der Gewerkschaft so mächtig ausbauen, daß es das Kapital an seiner empfindlichen Stelle trifft.
Die tragende Kraft der Gewerkschaft ist das proletarische Klassengof ühl, das die Arbeiter solidarisch vereinigt. Unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart ist die anonyme Macht des proletarischen Klassengefühlea auf das leidenschaftlicliste aufgeregt. Die Masse der Lohnarbeiterschaft des Großbetriebes lebt bei schwerer und sogar harter Arbeit in beschränkten Verhältnissen, ihre unteren Schichten leben in Dürftigkeit, ihre untersten im Elend. Die Wahrnehmung der oft glänzenden und in der Regel wenigstens guten Lage der Unternehmer muß auf die Gemüter aufreizend wirken. Wie sollte der Proletarier nicht gläubig die Lehre aufnehmen, die ihm seine Führer vortragen, daß er, der den ganzen Ertrag schafft und im Lohn nur einen kärglicher. Teil des Ertrages bezieht, um den ganzen Mehrwert betrogen sei! Die bittere Anklage, die der römische Dichter in seinem „vos, non vobis“ aussprach, wird heute wieder von den Millionen empfunden, die sich sagen, daß sie ihre Kraft hingeben und sie nicht für sich hingeben, sondern für andere, denen sie dienen müssen. Ohne die Macht des Klassengefühles hätte das Proletariat die Organisation seiner Gewerkschaft niemals schaffen können. Das Zusammensein in der Fabrik und in den Industriegebieten erleichtert ihm die Organisation, aber wenn der Antrieb des Klassengefühles nicht da wäre, würden sich die Arbeiter unserer Zeit ebensowenig zum Widerstand organisiert haben wie früher die Sklaven, die sich nur im äußersten Falle zum Kampfe erhoben. Ihre Solidarität hat den Arbeitern den Weg gewiesen, die Gewerkschaft in der einzig wirksamen Form zu organisieren, daß sich die Arbeiterschaft jedes Faches für die ganze Volkswirtschaft zusammenschließt. Ihre Solidarität hat sie zu jenem Gehorsam unter die Weisungen ihrer Führer verhalten, den die Gewerkschafter in aller Regel bewähren und der nur in Ausnahmsfällen durch wilde Streiks und andern Bruch der Disziplin gebrochen wird. Die Gewerkschaft, die alle Facharbeiter der Volkswirtschaft solidarisch vereinigt, hat keinen Streikbrecher zu fürchten, ihr Streikbeschluß unterbindet mit einem Schlage die gesamte Nachfolge innerhalb der Branche, so daß das Kapital der Unternehmer ganz außer Wirkung gesetzt ist. Es hat gar nichts zu bedeuten, wenn das [485] Gesetz die Koalitionsverabredung als rechtlich unverbindlich erklärt, der Streikbeschluß ist trotzdem wirksam, denn er ist machtverbindlich. Die Solidarität der Arbeiterschaft hält ihn aufrecht. Noch niemals hat ein Unternehmer, dem ein Streik angesagt wurde, wohl das Gericht aufgerufen, um den Streikbeschluß im Sinne des Koalitionsgesetzes als unverbindlich aufzuheben. Die Macht keines Gerichtes der Welt würde dazu ausreichen.
Wenn der Streik gut vorbereitet, wenn ein ausgiebiger Streikfonds gesammelt und der Zeitpunkt der Streikansage richtig gewählt ist, sind die Unternehmer schwer getroffen und sie werden zur Nachgiebigkeit bestimmt sein, wo es ihr Interesse irgend zuläßt. Die größere Zahl der Streiks fällt in die Periode aufsteigender Konjunktur, bei sinkender Konjunktur wird der erfahrne Führer nur notgedrungen zum Streik raten, wenn Lohnherabsetzungen zu bekämpfen sind, in die sich die Arbeiterschaft nicht glaubt fügen zu können. Bei steigender Konjunktur ist die Aussicht gegeben, von dem erhöhten Ertrag des Unternehmens erhöhten Lohn herauszuziehen, und der Unternehmer wird sich vielleicht Üeber dazu entschließen, die Ertragsteigerung mit den Arbeitern zu teilen, als für die Dauer des Streiks um jeden Gewinn gebracht zu sein. Auf diese Weise ist es den gutorganisierten Gewerkschaften gelungen, im Laufe der Entwicklung des Großbetriebes die kargen Löhne, mit denen sie sich in den anfänglich schlechten Zeiten des Arbeitsmarktes begnügen mußten, nach und nach ansehnlich aufzubessern. Der Unternehmer wird erst dann entschlossenen Widerstand leisten, falls er den Arbeitern mehr an Lohn herauszahlen sollte, als die Ziffer ist, die er nach den Gesetzen der wirtschaftlichen Zurechnung als Ertrag der Arbeit einzustellen hat, wenn er die entsprechenden Raten für den besondern Dienst der Unternehmerarbeit, wie für Kapitalzins und Grundrente in Anschlag bringt. Wo die geschäftlichen Gewinne stark anwachsen, wird der Unternehmer am Ende sogar bereit sein, die Grenze des Arbeitsertrages zu überschreiten und der Arbeiterschaft einen gewissen Anteil des Unternehmergewinnes abzugeben, den er dem Lohne zuschlägt. Eine bemerkenswerte Tatsache! Sie ist uns ein Symptom dafür, daß zwischen Unternehmern und Arbeitern, so sehr sie miteinander im Streite liegen, im Grunde doch eine weitgehende Interessengemeinschaft besteht. Diese wird in der Kampfstimmung von heute nicht öffentlich eingestanden, tut aber doch stillschweigend ihre Wirkung. Der ganze am Unternehmen beteiligte Personenkreis, von der Untemehmerspitzc bis zur Arbeiterbasis, ist durch ein gemeinsames Interesse am Erfolg zusammengehalten und fühlt sich in dem Ringen [486] mit den Abnehmern und mit den Konkurrenten als Einheit und Schicksalsgenossen.
Den vollen „Arbeitsertrag“ durchzusetzen, wie ihn die Lehre vom Mehrwert versteht, hat die Gewerkschaft keine Aussicht und sie versucht es auch gar nicht. Dieser „volle Arbeitsertrag“ ist der ganze Ertrag der Unternehmung, und die Arbeiterschaft könnte ihn nur einziehen, falls sie den ganzen Dienst des Unternehmers leisten und neben dem Kapitaldienste auch den Führungsdienst des Unternehmers ersetzen könnte. Das kann sie nicht und sie weiß es, daß, wenn heute die Führerspitze des Unternehmens abbricht, auch die Arbeiterbasis außer Tätigkeit gesetzt ist. Die gewerkschaftlichen Führer sind klug genug, sich nach den gegebenen Verhältnissen einzurichten, sie denken nicht daran, aus der Gewerkschaft ein Führungsorgan für die Unternehmung zu machen, sie leiten sie als Massenorgan des Widerstandes. Der Erfolg hat ihnen recht gegeben, der praktische Kampf um den Lohn hat den Arbeitern mehr genützt, als die sozialistischen Velleitäten. In den Jahren des Gedeihens der englischen Großbetriebe sind die Gewerkschaften konservativ geworden und haben die sozialistische Lehre aufgegeben, der sie sich erst später wieder mehr zuwandten. In den Vereinigten Staaten, wo die Gewerkschaften außerordentlich stark sind, sind die sozialistischen Ideen weniger verbreitet, als in Europa. Daß die deutschen Proletarier nach dem Umsturz in ihrer großen Mehrheit nicht auf das bolschewistisch e Experiment eingegangen sind, ist im letzten Grunde daraus zu erklären, daß ihr in der Schule der Erfahrung gereifter Sinn dem sozialistischen Programme doch nicht ganz vertraute, um es in die Tat umzusetzen. In Rußland wurde das bolschewistische Experiment gewagt, weil dort die Ideologen regierten.
Für die sozialistische Doktrin ist der Unternehmer nichts weiter als das Organ der Ausbeutung. Man sieht in ihm den Mann, der den Arbeitern den Mehrwert wegnimmt, sobald es zur Verteilung des Ertrages kommt, während er an dem Akt der Wertbereitung, welche der Verteilung vorausgeht, keinen tätigen Anteil nimmt, welcher irgend in Betracht käme, man behauptet von ihm, daß er seine Macht als Eigentümer der Erwerbsmittel nur dazu gebraucht, um den Arbeitern deren Ausfolgung so lange vorzuenthalten, bis sie zu Lohnverträgen bereit seien, die ihm den Mehrwert übrig lassen. Diese Auffassung ließe sich vertreten, wenn die Geleise der Wertbereitung so ausgefahren waren, daß der ganze Prozeß ohne Führer von selber abliefe, so daß es sich praktisch um nichts weiter handelte, als die gereiften Frücht« zum Genüsse zu verteilen. Lägen die Dinge so, dann würde bei der Verteilung [487] die vielberufene Formel gelten müssen „Jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen“, und man würde das Wirtschaftsrecht als Genußrecht einzurichten haben. Solange jedoch der Prozeß der Wertbereitung noch nicht von selber läuft, muß man das Wirtschaftsrecht als Erwerbsrecht einrichten, das heißt, man muß es so einrichten, daß es den Erfolg des Erwerbes belohnt, indem es den Ertrag so verteilt, daß dadurch den beschäftigten Personen der Anreiz gegeben ist, ihre Tätigkeit und auch ihre Investitionen im Sinne des höchsten Erfolges vorzunehmen. Daß die Tätigkeit des tüchtigen Unternehmers und daß die Zurücklegungen, die ihm das notwendige Kapital zur Verfügung stellen, am Erfolge ihren wesentlichen Anteil haben, ist den Arbeitern, was immer ihnen die Parteidoktrin theoretisch darüber sagen mag, in ihrer praktischen Erfahrung nicht zweifelhaft. Wenn ein neuer Unternehmergedanke in kräftiger Ausführung neue Arbeitsgelegenheiten schafft, so strömen die Arbeiter in Menge herbei und bestätigen durch ihre bereite Nachfolge den kapitalistischen Führer. Solange die wirtschaftliche Entwicklung in dem ungestümen Laufe vorwärtsschreitet, wie dies in dem Abschnitt der kapitalistischen Epoche geschehen ist, den die Kulturvölker bisher durchlebt haben, werden neue Unternehmergedanken weiterhin aufschießen und die Bereitschaft der Nachfolge wird die erfolgreichen Führer weiterhin bestätigen. Ihrerseits wird die Arbeiterschaft nicht versäumen, sich zu organisieren, um sich ihren Lohn im erreichbaren Höchstmaß herauszuholen, und wird zu diesem Zwecke dem kapitalistischen Führungsorgan überall das gewerkschaftliche Massenorgan mit der Wirkung gegenüberstellen, daß die Unternehmermacht mit der Arbeitermacht rechnen muß. Solange die Dinge so liegen, wird die spöttische Verkündigung des kommunistischen Manifestes nicht zutreffen, daß die Unternehmer sich selber das Grab graben und im Proletariat ihren Erben heranziehen. Das gewerkschaftliche Massenorgan wird Organ des Widerstandes bleiben und wird das kapitalistische Führungsorgan von seiner Stelle nicht nur nicht verdrängen können, sondern wird es auch nicht verdrängen wollen.
Wenn wir hier von Widerstand sprechen, haben wir allerdings auch den aus seiner Kraft fließenden Aufstieg mitzu verstehen, durch den das organisierte Proletariat sich bis zu der Höhe emporhebt, die innerhalb des Arbeitsverhältnisses erreichbar ist. Dem Prozeß der Überschichtung, durch den die kapitalistische Macht große Gruppen des Gewerbestandes in das Proletariat herabgedrückt hat, folgt in diesem Aufstieg ein weitgehender gesellschaftlicher Ausgleich. In den Ländern starker wirtschaftlicher Entwicklung, wie England und die Vereinigten Staaten, ist [488] dieser Ausgleich sehr ausgiebig, die Oberschichten des Proletariates sind dort wirtschaftlich in auskömmlicher Lage. Auch in Deutschland war der wirtschaftliche Aufstieg nicht gering, er wurde aber hier noch durch den politischen Aufstieg übertroffen, indem das organisierte Proletariat der starke Träger der demokratischen Bewegung geworden ist. Es hat sich als politische Partei schon vor dem Umsturz seine Geltung erworben, im Umsturz selber hat es entscheidend eingegriffen. Wenn auch die Lücke in der wirtschaftlichen Zusammensetzung der Gesellschaft noch immer nicht ausgefüllt ist, die durch das Versinken des Gewerbes gerissen wurde, so ist die politische Machtstellung, die das Proletariat erreicht hat, der früher vom Gewerbe erreichten deutlich überlegen.
Solange sich kapitalistisches Führungsorgan und gewerkschaftliches Massenorgan kampfbereit gegenüberstehen und sich fort und fort in Streiks und Aussperrungen gegeneinander messen, ist es zwischen den Klassen noch nicht zu dem Gleichgewichtszustand gekommen, den die gesellschaftliche Wohlfahrt fordert. Es steht so, wie zwischen den Nationen, die sich in Rüstungen und Bündnissen überbieten, welche zur Abwehr des Krieges gedacht sind, aber unversehens selber zum Kriege hinführen. Der volle Ausgleich zwischen den Klassen wäre erst erreicht, wenn die Spannung des KJassengefühles überwunden wäre und der industrielle Arbeiter nicht nur durch das allgemeine Wahlrecht politisch zum Mitbürger, sondern durch Mitbeteiligung am Unternehmen auch wirtschaftlich zum besitzenden Bürger erhoben wäre. Es müßte der Zustand wieder erreicht sein, der vor der kapitalistischen Überschichtung da war, daß das Gewerbe für die Masse der tätigen Personen das zufriedenstellende Gefühl des Eigentums brachte. Darauf geht ja auch der sozialistische Gedanke aus, der an die Stelle der Herrschaft der wenigen wieder das Eigentum der vielen setzen möchte. Ließe sich nicht eine Verfassung des Großbetriebes denken, die den vielen ihr Recht gibt, ohne die Führung zu gefährden, welche doch nur wenigen zugeteilt sein kann ? Eine Verfassung des Großbetriebes, welche die absolute Monarchie des Unternehmers zu einer konstitutionell eingeschränkten wandelte, unter genügenden Grundrechten der mitwirkenden Masse? Eine solche Verfassung läßt sich in der Tat denken, sie läßt sich nicht nur denken, sondern sie ist in einigen wenigen Betrieben auch schon praktisch durchgeführt worden und hat sich dort bewährt. Sie geht von dem Gedanken der Gewinnbeteiligung der Arbeiter aus und nimmt dazu auch den Gedanken der industriellen Partnerschaft auf, erweitert diesen aber noch wesentlich und ist dadurch gekrönt, daß sie eine Elite, eine Auslese der Arbeiterschaft dem Unternehmer an die Seite stellt, soweit [489] dadurch die notwendige Freiheit seiner Entscheidung nicht beeinträchtigt wird. Der private Erbe des Unternehmers ist nicht auch der Erbe seiner Führerstellung, sondern diese geht auf ein Mitglied der Elite über.
Eine Entwicklung dieses Sinnes hegt nicht auf dem Wege der Gewerkschaft. Schon die bloße Gewinnbeteiligung hegt nicht auf ihrem Wege, denn sie bedroht ihre Solidarität, indem sie die Arbeiterschaft des einzelnen Unternehmens aus dem Gesamtverbande löst und an das einzelne Unternehmen bindet. Die Gewerkschaft ist eben ein Maesenorgan des Widerstandes, für den wirtschaftlichen Massenkampf geformt. Wenn es einmal zum Frieden zwischen Unternehmern und Arbeitern kommt, dann wird die Spannung schwinden, die heute zwischen Führungsorgan undMassenorgan besteht, und dann wird die Zeit da sein, wo diese beiden Organe sich ausgleichend verbinden.
Nach allem Abbruch, den die kapitalistische Unternehmung durch die Massenunternehmung und die Gewerkschaft erfährt, bleibt ihr noch ein sehr weites Wirkungsgebiet und eine sehr starke Wirkungskraft. Ihr Wirkungsgebiet umfaßt nicht nur das Inland, sie findet auch den Weg zur Weltentwicklung. Ihre Wirkungskraft hat sie dadurch, daß sie die Führung bei der Verwertung der ungeheuren wirtschaftlichen Kräfte hat, welche die moderne Technik in ihrem märchenhaften Fortschreiten entbindet. Es gibt heute kein gesellschaftliches Werk, das in seiner aufbauenden Leistung dem wirtschaftlichen Werk an die Seite zu stellen wäre. Das wirtschaftliche Werk ist das gesellschaftliche Werk unserer Zeit. Hieraus erklärt sich die beherrschende Stellung, welche die kapitalistische Unternehmung auf dem Markt einnimmt. Sie schlägt das mittlere und kleine Gewerbe durch ihr überlegenes Angebot aus dem Feld, das durch seine Massenhaftigkeit und Billigkeit die Käufer an sich zieht; wie sie sich dadurch die Nachfolge der Käufer sichert, so findet ihr Ruf zur Arbeit die Nachfolge der Massen, denen sie in ihren weit ausgedehnten Betriebsstätten ein unübersehbares Arsenal von Arbeitsmitteln vorbereitet. Vom Standpunkte des Rechtes beurteilt, hat sie über ihre Käufer und Arbeiter eine bloße private Vertragsmacht von derselben Struktur wie alle andern Parteien des Marktes; nach ihrer gesellschaftlichen Wirkung abgewogen, hat sie eine öffentliche Macht, die in manchen Stücken die des Staates erreicht und in manchen sogar übertrifft. Die Macht über die schwächeren Konkurrenten, denen sie den [490] Absatz entreißt, ist vernichtend; die Macht über die Arbeiter, die dich ihr im Überangebot zur Verfügung stellen, nähert sich, wo sie nicht durch Organe des Massenwiderstandes beschränkt ist, der Befehlsmacht, die der Herr über die Sklaven hat ; die Käufer gewinnt sie durch die Massensuggestion ihres Angebotes von Waren und Leistungen. Es kommt ihr zugute, daß ihre Macht, wenn sie die äußersten Exzesse vermeidet, die Anerkennung des Gesetzes findet, es ist eine Macht von Rechtswegen, die in den üblichen Rechtsformen erworben und ausgeübt wird und der die Hilfe des Richters zuteil werden muß. Sie versagt erst vor den Massenakten des Widerstandes, wie Boykott und Streik, die darauf gerichtet sind, die Massennachfolge der Käufer und der Arbeiter durch gemeinsamen Beschluß einzustellen. Wo ihr die Nachfolge zuströmt, wie es in aller Regel der Fall ist, vermag sie nach Richtungen zu wirken, in denen die Waffenmacht des Staates ganz versagt. Der deutlichste Beleg dafür ist die Wirkung in die Ferne des Auslandes, das den fremden Waffen in Friedenszeiten verschlossen ist, während es sich dem Angebot des fremden Kaufmannes bereitwillig öffnet, wo die Grenze nicht durch besondere staatliche Maßnahmen gesperrt ist.
Die aufbauende Leistung der kapitalistischen Unternehmung wird auch von der sozialistischen Kritik erkannt. Die Anklage, wie sie Marx erhebt, gilt den Erschütterungen der Krisen und der gesellschaftlichen Umschichtung, unter denen die kapitalistische Unternehmung ihr Werk ausführt, das Werk selber, das durch die unaufhaltsame wirtschaftliche Konzentration die Vielköpfigkeit der privaten Wirtschaftsverfassung dem Einheitssystem des Zukunftsstaates näherbringt, muß den Beifall des sozialistischen Beobachters erhalten. Für unsere Person möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf gewisse Wirkungen lenken, die der wissenschaftlichen Wahrnehmung so ziemlich entgangen sind und die doch ihre besondere Bedeutung haben. Diese Wirkungen gehen von der „Überwindung der Distanz“ aus, die durch die Eisenbahn, das Dampfschiff, den Telegraphen, das Telephon und nun auch durch den Luftverkehr und Radioverkehr ermöglicht wurde. Es ist eine Leistung, die überwiegend von der kapitalistischen Unternehmung realisiert wurde, wenn auch der Staat sich in ganz beträchtlichem Umfang mitbeteiligte. Obwohl man von der „Überwindung der Distanz“ nicht im absoluten Sinne sprechen kann, sondern nur von einer außerordentlichen Minderung der wirtschaftlichen Hemmungen, die bisher durch die Distanz bereitet waren, so sind die Wirkungen auf den Aufbau der Volkswirtschaft und Weltwirtschaft doch überaus groß. Sie gehen nach zwei Richtungen, nach der Richtung der Lokalisierung der Betriebsstätten und nach der [491] Richtung der Schichtung der Betriebe. Der Prozeß verläuft in der Volkswirtschaft andere als in der Weltwirtschaft, in der er weit stärkere Hemmungen findet. Wir müssen die Darstellung daher für Volkswirechaft und Weltwirtschaft trennen.
In der Volkswirtschaft hat die „Überwindung der Distanz“ die Möglichkeit gegeben, die beweglichen Produktivelemente im größten Umfang an die Stätten zu bringen, an denen die Natur die unbeweglichen Elemente disloziert hat. In jeder Volkswirtschaft, in der ein Volk von geschlossenem Wesen tätig ist, verbreiten sich die Ideen, ohne durch örtliche Hemmungen aufgehalten zu sein; die technische Bildung ist in der gegebenen Schicht überall dieselbe, ebenso ist es der gesellschaftliche Charakter, ebenso die Massenenergie und die Massenschulung. Darum fühlt sich der Staatsbürger überall zuhause, wo er auch seinen Aufenthalt wählen mag. Daher kommt es, daß es an den Stätten, an denen die Natur ihre Schätze disloziert hat, niemals an den Unternehmern und den Arbeitern fehlen wird, welche die Erwerbsmöglichkeit ausnützen. Sie werden sich bald in der nötigen Zahl einfinden und ebenso werden die nötigen Kapitalgüter hingebracht, wie anderseits die erzeugten Produkte an die Bedarfsorte weggebracht werden. Ebenso strömt das Geldkapital an alle Punkte, wo es befriedigende Verwertung findet, und die Betriebe können daher rationell lokalisiert werden. Der Faktor der Transportkosten bleibt selbstverständlich immer ein belangreicher Posten im geschäftlichen Kalkül und mancher Reichtum des Bodens wird daher der hohen Transportkosten wegen unausgenützt bleiben müssen oder doch nicht in dem Maße ausgenützt werden, in welchem er bei günstigerer Lage ausgenützt würde; vergüchen jedoch mit der Lokalisierung der Betriebe, wie sie vor der „Überwindung der Distanz“ vorgenommen werden mußte, ist der außerordentliche Fortschritt gemacht worden, daß man jetzt eine im wahren Sinne volkswirtschaftliche Lokalisierung . vor sich hat, während früher nur die Waren von ganz besonderer wirtschaftlicher Transportfähigkeit — das heißt von einem, am Gewicht und Volumen gemessen, besonders hohen spezifischen Wert — ihren volkswirtschaftlichen Markt hatten, indes alle andern Produkte auf die engeren Märkte einer Landschaft oder einer Stadt oder gar nur eines Dorfes beschränkt waren und damit auch die Lokalisierung der Betriebsstätten auf diese engen Bezirke eingestellt werden mußte. Es war ein eingreifender Prozeß, als sich die volkswirtschaftliche Lokalisierung der Betriebsstätten im Sinne der modernen technischen Möglichkeiten verschob. Das England des Maschinenzeitalters hat seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt aus den fruchtbaren Geländen seines landwirtschaftlichen [492] Bodens nach den Kohlengebieten verschoben, ein Prozeß, dessen Anfänge schon in die Zeit vor dem Ausbau des englischen Eisenbahnnetzes zurückreichen, der aber durch diesen noch außerordentlich gesteigert wurde. Das Gewicht, welches London als der volkswirtschaftlichen Hauptstadt zukam, wurde dabei nicht verringert, es wurde mit dem zunehmenden Gesamtreichtum des Landes sogar noch gesteigert, wozu noch die weitere Steigerung hinzukam, daß es sich zugleich zur Hauptstadt der Weltwirtschaft erhob. In der Hauptanlage ist heute in den alten Kulturländern der Prozeß der volkswirtschaftlichen Lokalisierung so ziemlich abgeschlossen und damit ist auch der allgemeine Aufbau der Volkswirtschaft so ziemlich umrissen. Es müßten große neue Verschiebungen in den technischen Kräften hervorkommen, über die man verfügt, es müßte etwa die Ausnützbarkeit der Wasserkräfte ausgiebig gesteigert werden oder der Luftverkehr ganz neue Bedingungen für die „Überwindung der Distanz“ schaffen, wenn der allgemeine Aufbau der alten Volkswirtschaften noch einmal ausgiebig verschoben werden sollte — ein Satz, der allerdings nur so weit gilt, als man von den weltwirtschaftlichen Beziehungen der Volkswirtschaften absieht. So weit weltwirtschaftliche Rückwirkungen tätig werden, mag der volkswirtschaftliche Ausbau durch die notwendige Anpassung an den weltwirtschaftlichen Aufbau wesentlich geändert werden. Der weitblickende Geschäftsmann und Politiker hat daher allen Grund, mit aufmerksamem Blick die weltwirtschaftlichen Beziehungen seiner Heimat zu verfolgen.
In der Weltwirtschaft wird, abgesehen von den Beschränkungen, die der Staat dem freien Verkehr bereitet, die gesteigerte Ziffer der Transportkosten als gesteigerte Hemmung wirken, dazu kommen aber noch die geschichtlichen Mächte in Betracht, welche die Wanderung der Ideen, der Menschen, des Geldkapitales, der Kapitalgüter und der Produkte hemmen. Die Völker, welche die Erde bewohnen, sind wirtschaftlich von ganz verschiedener Anlage und von ganz verschiedener geschichtlicher Erziehung. Ein wirtschaftliches Verfahren, das in dem einen Lande längst eingebürgert ist, wird in andern niemals oder doch nicht in absehbarer Zeit heimisch werden, man wird die Bevölkerungen gewisser Länder niemals zur großen industriellen Arbeit erziehen können und man wird auch aus der Fremde die Arbeitermassen nicht herbeiziehen können, die im ungewohnten Klima ihre Kraft zu betätigen oder in fremden ungewohnten Verhältnissen zu leben vermöchten. Selbst das flüssige Geldkapital wird für die Länder der wirtschaftlichen Schwäche und der Rechtsunsicherheit nicht zu haben sein. Leichter beweglich ist, wenn einmal die Verkehrsmittel eingerichtet sind, das [493] Produkt, vollkommen beweglich ist nur der Wagemut einer gewissen Schicht von gewinngierigen Menschen, die sich in alle Verhältnisse finden, in denen ihre Phantasie sie große Erfolge erwarten läßt. Unter diesen Umständen wird die Lokalisierung der Betriebsstätten weltwirtschaftlich nicht in dem gleichen Sinne rationell angelegt werden können, wie innerhalb der einzelnen Volkswirtschaft, die Bodenausstattungen werden entfernt nicht in dem gleichen Grade wie hier ausgenützt werden können. Je fremdartiger die Verhältnisse draußen sind, um so karger sind die Investitionen, die hingebracht, und die Arbeiterschaften, die durch Einwanderung oder durch Erziehung dazu bereit gestellt werden können, um die Bodenschätze auszubeuten. Die wirtschaftlichen Anlagen in den alten Kulturländern werden ohne Vergleich kapitalintensiver ausgestattet und durch qualifizierte Arbeit reicher ausgenützt, ab es in den übrigen Ländern der Erde der Fall ist und als es ihrer Ausstattung mit natürlichen Kräften angemessen wäre. Viele kostbare Bodenschätze werden vernachlässigt, weil sie außerhalb der Reichweite des Unternehmungswillens disloziert sind. Der einzelne unternehmungslustige Ansiedler kann es für sich allein nicht machen, erst im gemeinsamen Zusammenwirken vieler wachsen die großen Erfolge und es müssen daher große Volkswanderungen eingeleitet sein, wenn selbst auf bestem Neuland Erfolge gelingen sollen. Wie lange ist es her, daß die europäische Wanderung nach den Vereinigten Staaten hinüber genügend groß war, um die Mitte und den Westen des Landes mit arbeitenden Menschen zu füllen! Wie viel fruchtbarstes Land liegt nicht noch in Canada bereit, das noch nicht dem Pfluge unterworfen ist!
Der Aufbau der Weltwirtschaft ist noch in seinen Anfängen, aber es ist kein Zweifel, daß er, wenn der Welt Frieden beschieden ist, sehr rasch weiterschreiten wird. Der Erwerbssinn von Unternehmern und Arbeitermassen wird nicht ruhen, die vielen heute noch nichtausgenützten Möglichkeiten zu realisieren, bis das Maß der Kapitalund Arbeitsverwendungen der Lokalisierung der Bodenschätze zutreffend angepaßt sein wird. Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft wird sich — zum Teil in langsamen Verschiebungen, zum Teil auch in rascheren Sprüngen — wohl von Europa nach den neuen Welten hin bewegen und vielleicht wird er sich auch nach dem alten Asien neigen, wo dieses imstande sein sollte, sich wirtschaftlich modern einzurichten. Vorläufig behauptet das westliche Europa, dem sich das mittlere mehr und mehr an die Seite gestellt hat, noch den ausgesprochenen Vorrang der Intensivierung der Wirtschaft. Nicht nur, daß die Betriebe in sich intensiver ausgestaltet sind, so sind sie auch dichter aneinander gerückt, und was von besonderer [494] Bedeutung ist, sie sind auf höhere Rentabilität ausgewählt. Das kapitalmächtige Land versammelt, soweit irgend tunlich, die einträglichsten Betriebe bei sich, während es die minderergiebigen dem schwächeren Ausland überläßt, das sich dabei bescheiden mag, die mühsameren Arbeiten auf sich zu nehmen und von kärglicheren Einkünften zu leben. England ist hiefür ein lehrreiches Beispiel. Auf seiner Höhe hat es neben den einträglichsten Industrien auch noch das internationale Finanzgeschäft und das Weltschiffahrtsgeschäft für sich vorbehalten und es hat , um seine industriellen Möglichkeiten voll auszunützen, seine Arbeiter, soweit es nur anging, in hochrentierenden gewerblichen Unternehmungen massiert und daher auf seinem reichen Boden den Ackerbau vernachlässigt, weil man besser dabei herauskam, wenn man die billigen Bodenfrüchte aus fremden Ländern bezog, als wenn man die kostbaren Arbeitskräfte in der Landwirtschaft verwendet hätte. Die übliche Lehre von der Arbeitsteilung bringt diese Verhältnisse nicht zu klarem Ausdruck. Sie hat nur die horizontale Gliederung nach Produktionszweigen und sonstigen geschäftlichen Berufen im Auge, ohne auf die vertikale Schichtung nach dem Rentabilitätsgrade zu achten. Im Aufbau der Weltwirtschaft gilt ein Gesetz der internationalen Arbeitsschichtung, das die kapitalmächtigen Volkswirtschaften vor den andern begünstigt. Diese haben die persönlichen und sachlichen Mittel, sich die Betriebe höchsten Ertrages einzurichten, und sie nützen ihre Mittel in vollstem Maße aus.
Die kapitalschwachen Volkswirtschaften müssen sich auch darein fügen, daß das Beste, was sie an Bodenschätzen und sonstigem Lagevorteil haben, von den internationalen Kapitalmächten aufgekauft und mit Beschlag belegt wird. Vorausschauend erwirbt sich das Weltkapital die Bezugsplätze der großen Weltartikel, die auf engeren Räumen lokalisiert sind, überall dort, wo die Gefahr besteht, daß fremde Konkurrenz sich ihrer bemächtigen werde. Wie heute zwischen den englischen und amerikanischen Finanzmächten um das Petroleumvorkoinmen von Mossul gekämpft wird, wobei man nur darin einig ist, die Türkei aus dem Spiele zu setzen, so sucht an so und sovielen andern Punkten das große Kapital sich die Fundorte und Knotenpunkte der Weltwirtschaft zu sichern.
Die Grenzen für die wirtschaftliche Wirkungssphäre der kapitalmächtigen Staaten sind durch das Werk der kapitalistischen Unternehmungen weit über die politischen Grenzen ihrer Heimatsstaaten ausgedehnt, ihr Unternehmungssinn sprengt durch die Macht ihrer wirtschaftlichen Mittel die Schranken, über welche die politische [495] Macht und die Waffenmacht nicht hinwegkönnen. Es wäre lehrreich, auf den Weltkarten die wirtschaftlichen Machtsphären der großen Nationen kenntlich zu machen, wie sie über die Staatsgrenzen hinübergreifen. Man müßte zu diesem Zwecke Karten des wirtschaftlichen Besitzstandes anlegen, so wie man heute Karten der Verbreitung der nationalen Siedlungen anlegt. Auf diesen Karten hätte man nicht nur allen auswärtigen Besitz an Ländereien, an Fabriken, an Handelsund Schiffahrtsunternehmungen und sonstigen Investitionen zu verzeichnen, sondern man müßte auch die Zahl und den wirtschaftlichen Rang der Inländer kenntlich zu machen wissen, die im Ausland tätig sind, und müßte auch die Größe der Leihkapitalien zum Ausdruck bringen, die den kapitalmächtigen Staat zum Gläubigerstaat und den schwachen zum Schuldnerstaat machen, man müßte, um es mit dem zusammenfassenden Namen zu sagen, der in den Vereinigten Staaten üblich geworden ist, den Grad der wirtschaftlichen Kontrolle auszudrücken vermögen, welche das kapitalmächtige Land in der Welt ausübt. Auf diese Weise erhielte man ein anschauliches Bild der weltwirtschaftlichen Machtbilanz, worin sich die starken wirtschaftlich kontrollierenden Völker deutlich von den schwachen wirtschaftlich kontrollierten abheben.
Die organisierte Arbeiterschaft der schwächeren Staaten geht beim Kampfe gegen die Kapitalübermacht des Auslandes mit den Unternehmern zusammen. Hier wird die Interessengemeinschaft von Kapital und Arbeit offenbar. Henry George, der die üblichen Argumente der bürgerlichen Schutzzollpolitik mit glänzender Satire widerlegte, hat die Freihandelslehre vom Standpunkt der proletarischen Interessen auf das nachdrücklichste bekämpft.
Unter den kapitalistischen Mächten ist die Macht des Finanzkapitales die wirksamste. Abgesehen davon, daß es dem Proletariat gegenüber weniger exponiert ist, ist es auch in seiner letzten Wirkung dem Industriekapital überlegen. Zunächst muß es zwar diesem beim Aufbau der Produktion den Vortritt lassen, denn es entbehrt seiner schöpferischen Kraft, aber dafür kommt es späterhin, nachdem dieses die gründende Arbeit besorgt hat, in einer großen Zahl von Fällen in die Lage, seine Unternehmungen zu kontrollieren. Bei dem allgemeinen Zug ins Große benötigen die Industriellen immerfort Kapitalzuschüsse und nur die stärksten unter ihnen sind imstande, sich diese aus ihren eigenen Zurücklegungen zu beschaffen, die meisten sind an das Finanzkapital gewiesen; dies gilt besonders für die Zeiten krisenhafter Erschütterungen, wo dieses von seiner Kapitalflüssigkeit den höchsten Vorteil zu ziehen vermag. Es ist durch diese gegenüber der großen Industrie [496] in der gleich günstigen Lage, wie der wuchernde kleine Kapitalist gegenüber den notleidenden Bauern, es kann den Umsatz des Geldkapitales in Naturalkapital in dem Zeitpunkt vollziehen, der für das Geldkapital der günstigste ist, es kann die in ihrem naturalen Bestände bestfundierten Werke zu den billigsten Preisen erwerben oder es kann seinen Nutzen dabei finden, daß es die Werke in irgendeiner dazu geeigneten Rechtsform seiner geschäftlichen Kontrolle unterwirft, die ihm das Beste des Unternchmergcwinnes zubringt. Das große Gründungsgeschäft ist fast ausschließlich den Banken zugefallen, sie betreiben es zumeist in der Weise, daß sie die gedeihenden Einzelunternehmungen aufkaufen und sie, nachdem sie sie entsprechend erweitert haben, in Aktienunternehmungen umwandeln, wobei sie sich für ihre Kapitaleinlagen durch die Emission einer entsprechenden Zahl von Aktien entlasten und neben dem Gründergewinn, den ihnen der hohe Emissionskurs sichert, noch fortlaufenden Gewinn aus der Kontrolle des Unternehmens ziehen. Durch Vermittlung der öffentlichen Anlehen erlangt das Finanzkapital eine weitgehende Kontrolle über die Regierungen der schwachen Staaten, eine Kontrolle, die es von seinen nächsten Erwerbsinteressen auch noch auf die Wahrung seiner allgemeinen wirtschaftspolitischen Interessen ausdehnt. Da die Wirtschaftspolitik ihre letzte Stütze in der allgemeinen Staatspolitik hat, so wird es seine Kontrolle auch auf diese auszudehnen suchen und oft genug auszudehnen vermögen. Selbst in seinem kapitalmächtigen Heimatlande wächst der politische Einfluß des Finanzkapitals ins Große. Für die Regierung und die politischen Parteien ist die Wirtschaftspolitik eine Aufgabe, bei deren Besorgung sie auf den interessierten Rat des Finanzkapitals angewiesen sind, und da W 7 irtschaftspolitik und große Politik nicht zu trennen sind, so wird sein beratender Einfluß auch dorthin reichen. Auch sonst hat das Finanzkapital genug Mittel, um sich Regierung und Parteien gefällig zu erweisen und dadurch auch auf die Bildung von Regierung und Parteien Einfluß zu nehmen. Mehr als jede andere Macht ist es in der Lage, das Presseorchester des eigenen Landes und das Weltorchcstcr der Presse von sich abhängig zu machen und dadurch die öffentliche Stimmung und Meinung zu leiten. Man hört von Leuten, welche die Welt gut kennen, mitunter das Urteil aussprechen, daß die großen Weltbankiers heute die eigentlichen Weltbeherrscher seien und daß Mr. Morgan heute der mächtigste Mann der Erde sei. Mag dieses Urteil auch zu weit gehen und mag dieser Name auch ganz willkürlich aufgegriffen sein, so ist es doch gewiß kein Lrrtum, wenn man annimmt, daß das Finanzkapital im Stillen der Regierungskabinette heute eine ähnliche Macht ausübt, wie in einer noch nicht weit [497] zurückliegenden Periode der Jesuitenorden sie bei den katholischen Regierungen hatte. Als finanzieller Beichtvater hat der Bankier Einblick in die Geheimnisse der Regierungen und Einfluß auf ihre entscheidenden Entschließungen. Wenn einmal alle Archive zu dem Zweck geöffnet werden sollten, um über die Schuld am Weltkrieg Aufschluß zu erhalten, so wird man die Archive der Bankiers nicht bei Seite lassen dürfen. Sollte an der Kriegserklärung der Vereinigten Staaten das Finanzkapital nicht seinen wesentlichen Anteil haben, indem es neben seinem sonstigen kontrollierenden Einfluß auch noch die Macht gebrauchte, die es durch die Presse auf die öffentliche Meinung ausübte ?
Das wirtschaftliche Interesse hat von jeher als eines der stärksten Motive der Kriegserregung gewirkt. Das war bei den barbarischen Völkern so und ist bei den Kulturvölkern so geblieben. Der Unterschied besteht eigentlich nur darin, daß man früher in naiver Aufrichtigkeit kein Bedenken trug, die wirtschaftlichen Ziele des Krieges einzubekennen, während man sie heute vor der Öffentlichkeit diskret zu verhüllen weiß. In wilden Zeiten zog der Kaufmann bewaffnet zu seinen Fahrten aus, wie es bis vor kurzem noch der arabische Sklavenhändler machte, der in Afrika auf die Menschenjagd ausging. Die phönizischen Städte waren bewaffnete Kaufmannsrepubliken, Karthago brachte es bis nahe an die Weltherrschaft, auch die griechischen RepubÜken waren es, so wie Venedig und Genua; die ostindische Kompagnie hat zur Ausbreitung des englischen Weltreiches mehr getan als irgend ein anderes Machtorgan Englands. Dennoch wäre es unrichtig, zu sagen, daß der Kaufmann als solcher der Staatengründer ist, er hat nur in gewissen Fällen das Werk des Krieges übernommen, wobei ihm das eine oder das anderemal der Erfolg der Staatengründung gelang, in der Überzahl der Fälle wurde das Werk der Staatengründung unabhängig vom Kaufmann durch die Krieger und Priester, durch Adel und Geistlichkeit besorgt, und diesen beiden führenden Ständen und unter ihnen wieder an erster Stelle ihren weltlichen und geistlichen Oberhäuptern fielen als den Führern des gesellschaftlichen Werkes der Zeit mit allen andern Erfolgen auch die großen wirtschaftlichen Werte der Zeit zu. Sie teilten sich in den Besitz des großen Grundeigentums und in die Herrschaft über die menschliche Arbeit.
In der kapitalistischen Periode hat sich der Prozeß der Machtbildung in merkwürdiger Weise umgekehrt. Nun ist das wirtschaftliche Werk das aufbauende gesellschaftliche Werk der Zeit geworden, und die kapitalistischen Unternehmer und vor allem die Mächtigen des Finanzkapitales gelangen als dessen Führer nicht bloß zum Besitz des Kapitales, als des Reichtums der Zeit, sondern durch diesen zugleich zu allgemeiner [498] gesellschaftlicher Macht. Nun sind es die kapitalistischen Unternehmer und vor allem die Mächtigen des Finanzkapitales, die durch Überschichtung in die Höhen der Gesellschaft gehoben werden. Heute werden die großen Erfolge, die dem gesellschaftlichen Führer die Massen zur Nachfolge zubringen und ihn zum Herrscher über die Gemüter machen, auf den wirtschaftlichen Schlachtfeldern gewonnen. Der geschäftliche Scharfblick entwirft die entscheidenden Kriegspläne der Zeit, die in der kühnen Logik ihrer Kombinationen hinter denen des erfolgreichen Feldherrn nicht zurückstehen, und die zahlreichen Opfer, die der Siegeszug kostet, werden so kaltblütig hingenommen, wie im mörderischen Krieg.
Das Merkwürdigste ist, daß der Aufstieg der kapitalistischen Unternehmungen nicht auf die Staatsgrenzen beschränkt ist. Sie bauen über die Staatsgrenzen hinüber ein wirtschaftliches Weltgebäude auf. Während die Nationen politisch noch nicht so weit organisiert sind, daß sie sich über die Ordnung der Welt vereinigen könnten, führen die kapitalistischen Unternehmer, nachdem sie den volkswirtschaftlichen Aufbau nach Maßgabe der Zeitbedingungen vollendet haben, ihre Eroberungszüge in die Weite der Welt aus, um ohne Waffen zu siegen. Der nationale Idealismus begleitet sie auf ihren Wegen und ist bereit, die nationale Macht für sie einzusetzen, wenn ihnen eine fremde nationale Macht drohend entgegentritt. Der kapitalistische Unternehmer ist selber der Meinung, daß er im nationalen Sinne wirke, wenn er die Sphäre der Kontrolle seines Mutterlandes ausdehnt, und fürs nächste ist es in der Tat so. Sieht man aber von den begleitenden Gesinnungen der Menschen ab und beurteilt man das von den kapitalistischen Führungsorganen verrichtete Werk nach seinen dauernden Ergebnissen, so erkennt man, daß das nationale Führungsorgan sich als Weltführungsorgan betätigt, in dem es ein übernationales Weltwerk schafft. Dieses Weltwerk steht heute noch in seinen Anfängen, seine Umrisse sind noch nicht deutüch, aber keinem aufmerksamen Beobachter kann es verborgen bleiben, daß in ihm eine große Kraft wirksam ist, welche neue Linien nicht nur für den wirtschaftlichen Aufbau der Welt, sondern von dessen Unterlage aus auch für deren politischen und allgemeinen gesellschaftlichen Aufbau zieht.
Auf ihrer Höhe bilden die großen Kapitalisten eine Plutokratie, die neben die Geburtsaristokratie tritt oder in sie eindringt, oder dort, wo [499] keine solche besteht, ihren Platz einnimmt. Solche Plutokratien hat es auch in früherer Zeit schon gegeben, aber keine konnte so mächtig sein wie die Plutokratie der Gegenwart, denn niemals war das wirtschaftliche Werk das aufbauende gesellschaftliche Werk gewesen.
Der Plutokratie wird die Beteiligung an der Herrschaft nicht verfassungsmäßig gesichert, sie ist in den Volkshäusem nur wenig vertreten, sie organisiert sich nicht als eigene politische Partei, sondern sie übt ihren Einfluß auf die bestehenden politischen Parteien und übt ihn durch sie oder auch neben ihnen auf die Regierungen, auf die Amter und mitunter auch auf die Dynastien, und sie übt ihn durch das Mittel der Presse und der öffentlichen Meinung auch auf das souveräne Volk. Sie genießt ihre Macht, ohne daß sie in den äußern Ordnungen des Staates sichtbar hervorzutreten brauchte. Sie liebt es gar nicht, auf diese Weise hervorzutreten, sie kann als Nebenregierung mächtiger sein als die Regierung. Ohne selbst staatlicher Funktionär zu sein, macht sich der Finanzbaron die Vertreter des Staates abhängig, so daß sie ihre Funktionen in seinem Sinne vollziehen, wie die Jesuiten in den Zeiten ihrer Macht sich die Prinzen erzogen und ihre Kreaturen an die entscheidenden Posten brachten, oder wie Warwick, der letzte der Barone, ein Königsmacher und nicht selber König war. Die Plutokratie übt ihre Macht in der modernen Form der Kontrolle aus, wobei man sich jedes Mittels zu bedienen weiß, das dazu geeignet ist, Herrschaft über die Gemüter zu geben. Das Geheimnis der Macht des Kapitales ist seine Fähigkeit, sich stets in diejenige Gestalt zu verwandeln, in der es nach der Lage der Dinge die stärkste Wirkung haben kann. Darum meidet der Plutokrat das öffentliche Amt, weil es ihn immobilisiert. Wenn er Revolutionen anzettelt, wie die ausländische Plutokratie es zum Beispiel in gewissen zentralamerikanischen Republiken des öfteren getan hat, so tritt er nicht selbst als Diktator hervor, sondern er weist seine Mittelsmänner an, für ihn zu handeln. Diesen überläßt er die Ehren, die Sorgen und die Gefahren der Macht, seinerseits bestreitet er an Kosten, was zur Entfaltung der Macht verausgabt werden muß, und zieht ihre goldenen Früchte ein.
Wenn das römische Volk in gefährliche Bedrängnis geraten war, so fand es in den starken Zeiten der Republik das Mittel der Abhilfe [500] in der Diktatur. Der Senat faßte den Beschluß „Die Konsuln hätten darauf zu sehen, daß dem Gemeinwesen keinerlei Schaden widerfahre“ und daraufhin ernannten die Konsuln den Diktator. Dieser hatte für die Dauer seines Amtes unbeschränkte Machtvollkommenheit, alle Bürger waren ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, er war Herr über Tod und Leben und war unverantwortlich. Freiwillig und in aller Form Rechtens ordnete sich das Volk in seiner Not dem berufensten Führer unter, der von allen Beengungen des Rechtes losgebunden wurde, die ihn hätten behindern können, das Höchste an Kraft aus dem Volke herauszunehmen. Die Bürgschaft dafür, daß eine so weit gehende Gewalt nicht mißbraucht werde, war durch die Person des Diktators gegeben, der ab der Beste des Volkes ausgelesen wurde. Überdies war seine Amtsdauer auf die kurze Zeit eines halben Jahres bemessen und bei der Macht des Gemeinsinns hatte man mit Sicherheit zu erwarten, daß zum bestimmten Tage das Recht zu voller Geltung wieder aufleben und der Diktator selber wie alle andern römischen Bauern wieder zu seinem Pflug zurückkehren werde.
Der gewöhnliche Anlaß zur Diktatur war schwere Kriegsnot. Die Amtsdauer des halben Jahres war von der Dauer des Feldzuges abgenommen, der in der guten Jahreszeit beendigt sein mußte, da im Winter die Waffen ruhten. Bei der Kriegsdiktatur ist die Beziehung auf das gemeine Wohl außer allen Zweifel gestellt. Sie ist eine verfassungsmäßig vorgesehene, an eine feste Rechtform gebundene, vorübergehende Aufhebung des gemeinen Rechtes, die um des gemeinen Rechtes willen beschlossen wird. Die außerordentliche Gewalt des Diktators ruht auf der Zustimmung eines freien Volkes, das durch ihn Freiheit und Ordnung wahren will.
Wenn der Anlaß zur Diktatur in inneren Unruhen oder im Bürgerkrieg gelegen war, so mußte sie, je weiter die Gegensätze im Volke gingen, umsomehr von ihrem reinen Typus zur bloßen Parteidiktatur entarten. Sullas Diktatur war eine ausgesprochene Parteidiktatur. Der Schrecken der Proskriptionen gehörte zu ihren Mitteln, ihr Ziel war die Parteiherrschaft. Mit der Verfassung, die er gab, wollte Sulla die Herrschaft des Adels befestigen. Im übrigen kam Sulla dem ursprünglichen Gedanken der Diktatur darin nach, daß er von seinem Amte zurücktrat, sobald er seine Aufgabe für getan erachtete.
Cäsar ließ sich mit allen andern Ämtern, die er bei sich vereinigte, vom Senat auch das des Diktators übertragen und er ließ sich dieses Amt nach Ablauf der gesetzlichen Frist wieder erneuern. Damit hob er den Sinn der Diktatur im wesentlichsten Punkte auf. Er steigerte sie [501] aus einer vorübergehenden zu einer ständigen außerordentlichen Gewalt, unter dem Namen der Diktatur begründete er die Cäsarenherrschaft. Er konnte es nicht anders tun, wenn seine Herrschaft ihren Sinn erfüllen sollte. Er hatte erkannt, daß die alte römische StadtverfasRung den Notwendigkeiten des Weltreiches nicht mehr genüge und daß eine neue Verfassung das Reichsinteresse wahrnehmen und neben den römischen Bürgern auch noch die ganze übrige unterworfene Bevölkerung in ihren Gesichtskreis einstellen müsse. Die neue Verfassung brauchte einen obersten Herrscher, weil den unterworfenen Völkern jede Kraft zur Freiheit fehlte und auch die römische Freiheitskraft im Schwinden war. Dieser oberste Herrscher zu sein fühlte Casar das Vermögen in sich und seine Natur drängte ihn unwiderstehlich dazu, das ungeheure Werk dieses obersten Herrschers zu tun, das getan werden mußte, und das kein anderer tun konnte. Dabei durfte er sich sagen, daß er der demokratischen Gesinnung seiner Jugendjahre nicht untreu wurde, wenn er so handelte, denn er diente damit dem Volksinteresse, dem anders nicht zu dienen war, und er durfte erwarten, daß die Nachfolge der Massen seine Herrschaft bestätigen werde. Insoweit erfüllte er den Sinn der Diktatur, indem er um des Volkes willen und durch das Volk herrschen wollte. Seine tiefe staatsmännische Einsicht sagte ihm, daß der vollste militärische Sieg nicht dazu ausreiche, ihm die Herrschaft zu sichern; er mußte sich den Sieg mit den Waffen erkämpfen, um den Zugang zur Herrschaft zu eröffnen, den ihm seine Gegner streitig machten, aber um sich in der Herrschaft zu erhalten, mußte er auf die Nachfolge der Massen rechnen können. So war er in Gallien vorgegangen. In jahrelangen Kämpfen hatte er dort den Widerstand der Waffen gebrochen, zugleich jedoch hatte er durch verständiges Entgegenkommen den Geist des Volkes versöhnt, so daß er das kaum unterworfene Land beruhigt verlassen und den Bürgerkrieg mit seinen römischen Gegnern wagen konnte. In dem gleichen Sinne dachte er seine Reichsherrschaft im Siege der Waffen aufzubauen und durch die allgemeine Zustimmung dauernd zu befestigen. Freilich hatte außer Cäsar selbst kein römischer Herrscher, auch Augustus nicht, das volle Maß zum Cäsar. Schon unter seinen nächsten Nachfolgern sind die schwachen Menschen unter den Versuchungen der Übermacht dem Cäsarenwahn verfallen und später nach Marc Aurel, seit die Überlieferungen der guten Zeit vollends geschwunden waren, sind die starken zu bloßen Militärkaisern entartet.
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Die Kriegsgefahr zeitigt immer und so auch in der Gegenwart strenge Ausnahmsformen des Rechtes, die der römischen Kriegsdiktatur mehr oder weniger nahekommen. Es hat nur für den Juristen Interesse, ihren Besonderheiten im einzelnen nachzugehen, dagegen muß der soziologisch interessierte Politiker bei der Betrachtung jener Diktaturen verweilen, die im Zuge der modernen Revolutionen so ausgeprägt hervorgekommen sind. Sie sind es, die wir als moderne Diktaturen bezeichnen werden. Von der klassischen römischen Diktatur sind sie deutlich dadurch unterschieden, daß sie nicht verfassungsmäßig vorgesehen noch abgegrenzt sind. Auf den ersten Blick scheinen sie Parteidiktaturen, wie die Sullas, und manche von ihnen haben auch wie diese von dem Mittel des Schreckens wider die Gegenparteien furchtbaren Gehrauch gemacht; indes haben sie alle ein höheres Ziel vor sich, als das der bloßen Partei diktatur, sie alle sollen dem Wohle des ganzen Volkes dienen, das von seinen Gewaltherren durch Gewalt befreit werden soll. Die modernen Diktaturen sind von ihren Urhebern als Zwangsformen gedacht, die zu erhöhten Rechtsformen hinüberleiten sollen, und sie kommen demnach mit der klassischen Diktatur darin überein, daß die Gewalt, die sie in Anspruch nehmen, bloß für die Zeit eines Ausnahmszustandes gelten soll, nur daß es nicht ein äußerer, sondern ein innerer Gegner ist, dessen man im Volksinteresse Herr werden will.
Wie zur klassischen so gehört auch zur modernen Diktatur der Ausnahmsmensch, der den Ausnahmezustand rechtfertigt, der Diktator, für den die Beengungen des Rechtes nicht gelten dürfen, weil er anders seine eigentümliche Kraft für sein Volk nicht bewähren könnte. Der moderne Diktator muß sogar eine noch viel stärkere Persönlichkeit sein, denn er muß die Potenz in sich haben, die Diktatur aus eigenem durchzusetzen, während dem römischen Diktator die Diktatur bereitet war und er für sein Amt in Form Rechtens ausgelesen wurde. Wenn der moderne Diktator fällt, so muß allerdings nicht auch zugleich die Diktatur fallen. Nach dem Falle Robespierres dauerte die revolutionäre Diktatur noch weiter an, weil die Gegenparteien noch zu schwach waren, mit ihr fertig zu werden. Immerhin hatte mit Robespierre die Diktatur der Schreckensherrschaft den Höhepunkt des Schreckens und der Herrschaft über die Gemüter überschritten, und wenn auch ihr System noch eine gewisse Zeit hindurch fortgesetzt werden konnte, so war es doch nur eine Frage der Zeit, wann der starke Mann emporgewachsen sein werde, der [503] bestimmt war, mit ihr ein Ende zu machen. Daß Robespierre nicht förmlich zum Diktator ausgerufen wurde, hat nichts weiter zu sagen, er war nichtsdestoweniger Diktator. Die moderne Diktatur ist ja nicht wie die klassische an eine bestimmte Rechtsform gebunden und so wenig wie die Rechtsform fest ist, ist es ihr Name. Napoleon nannte sich Konsul und nannte sich Kaiser, er wollte der moderne Casar sein, der eine dauernde Herrschaft begründete; da aber die Zeit wider ihn war und ihn von seinem Throne herabstieß, so hat er es nicht über die vorübergehende Stellung des Diktators gebracht. Seine Herrschaft war nicht eine Dauerherrschaft, sondern eine Übergangsherrschaft, und wenn wir auf klare Benennung Wert legen, so werden wir sie als Diktatur zu bezeichnen haben, weil sie jenen Charakter einer vorübergehenden Ausnahmsgewalt hatte, den die Römer mit der Diktatur verbanden.
Die modernen Diktaturen sind dadurch ins Leben gerufen worden, daß die in Bewegung geratenen Volksmassen der Gegenwart nach Freiheit begierig und doch zum Gebrauche der Freiheit noch nicht völlig gereift waren. Sie drängten so ungestüm nach Freiheit, daß sie nicht dafür zu haben waren, denjenigen Führern zu folgen, die das neue Recht in friedlicher Wandlung bilden wollten, sie folgten denen, die mit Gewalt und Rechtsbruch vorgingen. Unerfahren im Gebrauche der Freiheit, wie sie waren, benötigten sie bei ihren revolutionären Ausbrüchen, wenn diese gegen alle ihre Widerstände durchgreifen sollten, die harte Hand des Diktators, der ihnen die Ziele wies und ihre Kräfte zusammenhielt, und nach den revolutionären Ausschreitungen wiederum benötigten sie die harte Hand des Diktators, der ihnen die Ordnung gab. Auf die Revolutionsdiktaturen oder Linksdiktaturen folgen die Ordnungsdiktaturen oder Rechtsdiktaturen. Die einen wie die andern sind Übergangsdiktaturen zu einem gebesserten Rechtszustand und die einen wie die andern haben zu ihrer Zeit die Stimmung der Massen für sich, ohne die sie mit allen ihren Gewaltmitteln sich nicht lange behaupten könnten. Die Verfassungsänderungen, auf welche die modernen Revolutionen zielen, gehen auf das Ganze der Verfassung und dasselbe gilt für die Rückbildung durch die Ordnungsdiktaturen. Wie bescheiden nehmen sich dagegen die Änderungen aus, welche die Gracchen an den römischen Zuständen durchzuführen vermochten! Auch der Sklavenaufstand unter Spartakus, von dem eine radikale Gruppe des deutschen Proletariates nach dem Umsturz den Namen übernommen hat, reicht durchaus nicht an das Maß der modernen Revolutionen heran, er war die Verzweiflungstat einer rechtlosen Masse, der es nicht darum zu tun [504] war, den Staat umzugestalten, sondern nur darum, sich aus dem Staate zu retten. Für die Bewältigung der weit ausgedehnten Aufgaben, die durch die Massenbewegungen der Gegenwart den modernen Diktaturen gestellt sind, kann das halbe Jahr der klassischen Diktaturen nicht genügen, ihre Dauer wird durch den nicht vorherzusehenden Gang der Ereignisse bestimmt.
Die erste von den großen modernen Revolutionen, die englische, hat Oliver Cromwell zur höchsten Gewalt im Staate emporgehoben, in ihm haben wir den ersten modernen Diktator vor uns. Er begann seine Laufbahn als Abgeordneter und General des Parlamentes, das die verfassungsmäßige Freiheit Englands gegen die Machtpläne Karls I. zu verteidigen hatte. Die Autorität des unüberwindlichen Feldherrn wies ihm nach dem Siege bei der Neueinrichtung des Staates die Führerstellung zu. Dabei geriet er, als Puritaner dem linken Flügel der Verfassungspartei angehörig, mit der Mehrheit in Gegensatz, und da er die Verfügung über die puritanische Armee hatte, konnte er diesen Gegensatz zu seinen Gunsten entscheiden. Das freiheitliche Wesen Englands war noch nicht so stark organisiert, daß es mit der siegesbewußten Armee und deren Feldherrn fertig werden konnte. Trotzdem ist die Diktatur Cromwells keineswegs eine Militärdiktatur des gewöhnlichen Sinnes. Sie war über diesen niederen Typus schon durch den puritanischen Ernst der Soldaten gehoben, die sich durch eine religiöse Pflicht gebunden fühlten, sie war es aber vor allem durch die großartige Persönlichkeit Cromwells, der dem kommenden Imperialismus um zwei Jahrhunderte vorgreifend, seine Macht dazu verwendete, um den englischen Namen in der Welt groß zu machen. Daß seine persönliche Bedeutung dafür den Ausschlag gegeben hat, ihn an der Herrschaft zu erhalten, zeigt sich daran, daß sein unbedeutender Sohn, der ihm folgte, die Macht sofort aus seinen Händen verlor. Immerhin hat das englische Volk die Cromwellsche Diktatur als Minderheitsdiktatur empfunden und es hat seinen zurückberufenen König freudig als Befreier begrüßt. Der wahre Befreier war aber doch Cromwell gewesen, ohne dessen Sieg Karl L das englische Königtum dem absoluten Königtum des Kontinentes, wenn nicht gleichgestellt, so doch beträchtlich angenähert hätte. Sein Sohn Karl II. mußte sich nach der Restauration dabei bescheiden, das Königtum in seinen alten verfassungsmäßigen Grenzen auszuüben. Die Diktatur Cromwells hat die englische Freiheit bewahrt.
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Die Jakobinische Diktatur galt und gilt dem Urteil des Publikums schlechthin als Schreckensherrschaft, aus dem Blutdurst einiger weniger verbrecherischer Narren geboren und durch den bewaffneten Pöbel zur Macht erhoben. Diese Auffassung widerlegt sich von selbst, denn wie könnte die Kraft einer Handvoll Menschen hinreichen, um den Willen eines Volkes von 25 Millionen zu meistern ? Die Sache war die, daß die Bewegung, in welche die überwiegende Zahl dieser 25 Millionen geraten war, unaufhaltsam zum jakobinischen Schreckenssystem hingeführt hat. Die treibende Kraft der Bewegung ging davon aus, daß der Gedanke der Volkssouveränität in die Massen eingedrungen war und, wie jeder Massengedanke die Gemüter mit hinreißender Leidenschaft erfüllte. Mit einem Male war man dadurch in einen rechtlosen Ausnahmszustand versetzt, denn wenn man an die Volkssouveränität glaubte, konnte man das alte Recht, das auf der Souveränität des Königs ruhte, nicht mehr weiter gelten lassen, nun war aber das neue Recht damit allein noch nicht zu voller Geltung erwachsen, daß man seinen Grundgedanken erfaßt hatte, es war auch noch lange nicht genug, daß man die neue Verfassung nach eifrigen Beratungen endlich in ihrem Wortlaut fertigstellte, die neue Verfassung mußte sich erst in den Gemütern einleben und durch den Erfolg bewähren. Das Wichtigste war, daß man die rechten Männer fand, die das Volk auf seinen neuen Wegen zu führen hatten. Diese zu finden, war weit schwerer, als man dachte. Man wußte noch nicht, daß die rechten Männer bei den Wahlen erst herauskommen können, wenn vorher die rechten Parteien gebildet sind. Auf die Wahlen der ersten Revolutionsjahre hatten die Parteien der Auf geregten den stärksten Einfluß. Im Konvent saßen die Männer, die dem allbeherrschenden Gedanken der Volkssouveränität den vollsten Ausdruck zu geben wußten, und unter diesen leidenschaftlichen Männern hatten wiederum die leidenschaftlichsten vor allen andern das Wort. Das aufgeregte Gefühl der freiheitebegeisterten Masse sah die Volksfreiheit innen und außen von schwersten Gefahren bedroht und erklärte sich für die Männer, die entschlossen waren, die äußersten Mittel anzuwenden, um die kostbaren Errungenschaften der Revolution zu retten. So lange die öffentliche Aufregung andauerte, so lange konnte der Konvent für seine mitleidlosen Gewaltverfügungen überwiegender Zustimmung sicher sein, und wer weiß, ob es ohne sein rücksichtsloses Vorgehen gelungen wäre, die geschichtlich eingelebten Mächte des absoluten Königtums und des [506] Feudalismus auszutilgen ? Man darf nicht bezweifeln, daß die Schreckenamänner selbst an ihren Beruf zum Schutze der Revolution glaubten und sich im Innersten verpflichtet fühlten, kein Mittel des Schreckens zu scheuen, um der hohen Sache der Revolution zu dienen. Die Widerstände, die sie zu überwinden hatten, waren groß, nicht nur bei den Anhängern des alten Regimes, sondern auch in solchen freiheitlichen Kreisen, die den stürmischen Schritt der Revolution nicht mitmachen wollten, dennoch war die Zahl derer, die den offenen Widerstand wagten, gering, gegenüber denen, welche die jakobinische Regierung unterstützten oder sie gewähren üeßen. Der Konvent herrschte über viele Gemüter durch den Schrecken, mehr aber noch herrschte er dadurch, daß er die höchste Autorität des Landes war. Sogar die Girondisten mußten die Erfahrung machen, als sie sich gegen den Konvent an das Land wendeten, daß sie fast nirgends die erwartete Nachfolge fanden, während den Männern des Berges die Helfer bereitwillig zuströmten. Als Robespierre das Wagnis unternahm, seine Opfer auch unter den entschlossensten Führern des Berges zu wählen, einigten sich diese mit der Ebene, um ihr Leben bangend, und brachten einen Beschluß des Konventes gegen Robespierre zustande. Wiederum erwies sich die Autorität des Konventes, die Menge hielt zu ihm und Robespierre mußte fallen. Erst nachdem die Sache der Revolution als gesichert gelten konnte, regte sich der Ordnungswille im Lande wieder stärker. Nun aber zeigte es sich, daß das souveräne Volk keineswegs so weit war, für seinen Ordnungswillen die Führer und Mittel aufzubringen. Das Direktorium hatte die in den Revolutionskriegen ausgebildete Armee zur Verfügung und war dadurch stark genug, um sich dem Votum der Wähler zu entziehen, das gegen das Direktorium ausfiel. Die Diktatur, die der Freiheit dienen sollte, hatte Gefallen an der Macht gefunden und weigerte sich, den Ausnahmezustand zu beenden, dem sie ihre Macht verdankte. Das französische Volk bedurfte eines neuen Mittlers, um sich von der Revolutionsdiktatur zu befreien, die ihren Übergangsdienst geleistet hatte, es bedurfte des Ordnungsdiktators, den es in Napoleon gefunden hat.
Der Weg, auf dem Napoleon zum Gipfel der Macht emporstieg, war derselbe, der alle starken Fürstengeschlechter auf den Thron erhoben hatte. Die Heere, welche die erfolgreichen Führer in den Zeiten der Staatengründung um sich versammelten, waren die ersten festgeschlossenen gesellschaftlichen Körper im Staate und die Verfügung über sie erhob den Feldherrn zugleich zum Herrn im Staate. Napoleon war einer der größten Schlachtensieger der Geschichte, und es konnte nicht anders sein, als daß er im Sturme die Gemüter seines Volkes für [507] sich gewann, welches in ihm den starken Mann erkannte, der die durch die Revolution zerrüttete Ordnung wiederherstellen werde. Die Direktoren selber hatten sich zum Teil seiner Autorität unterworfen. Auch der Rat der Alten beugte sich ihm, und die Proteste der gesinnungstreuen Republikaner des Rates der Fünfhundert, die im Volke verhallten, waren ohnmächtig gegen die Bajonette der ihrem Fcldherrn ergebenen Grenadiere. Napoleon rechtfertigte die in ihn gesetzten Erwartungen in weitem Maße. Die Natur hatte, ihn mit allen Eigenschaften des großen Gesetzgebers und Verwalters ausgestattet und er vermochte zu tun, was das souveräne Volk nicht vermocht hatte. Die Einrichtungen, die er den Franzosen gab, haben sich dauernd erhalten, weil sie der Anlage des Volkes angemessen waren. Sein Verhängnis war, daß er sich nicht damit begnügen wollte, Ordnungsdiktator zu sein, sondern Cäsar sein wollte. Er konnte sich nicht entschließen, den Franzosen zu den Einrichtungen, die er traf, auch das Verfassungsrecht zu geben, das der nationale Freiheitssinn verlangte, ebenso konnte er sich nicht entschließen, die Folge seiner Kriege zu beendigen. Er behauptete, daß er nicht in der Lage des legitimen Herrschers sei, dem das Volk in angestammter Treue anhänge, er müsse es immer durch neue Waffenerfolge an sich fesseln, und erst für seinen Sohn rechnete er damit, daß dieser als Friedenskaiser herrschen werde. Vielleicht wäre diese Überlegung für ihn nicht überzeugend gewesen, wenn ihn nicht seine Natur dazu gedrängt hätte, den Triumph des Sieges immer aufs neue zu genießen. Welches auch seine Beweggründe waren, so war es für ihn ein verderblicher Irrtum, wenn er über das freiheitsbegierige Volk der Franzosen herrschen wollte wie Cäsar, der es, von den kleinen Resten der republikanischen Römer abgesehen, mit einer unterworfenen und unterwürfigen Bevölkerung zu tun hatte, und wenn er eine Welt von Kulturnationen mit den Waffen unterwerfen wollte wie Cäsar, der es nur mit einer Partei des Römervolkes und im übrigen mit einer barbarischen Welt zu tun hatte. Wie alle modernen Diktaturen fand auch Napoleons cäsaristische Ordnungsdiktatur ein gewaltsames Ende. Er unterlag im Kampfe mit den äußeren Feinden, und auch das französische Volk, seine Marschälle voran, fiel von dem geschlagenen Kaiser ab.
Es währte noch lange, bis die Franzosen weit genug waren, die Freiheitsverfassung, nach der sie begehrten, dauernd einzurichten. Eine Reihe von revolutionären Wellen mußte noch aufgeregt werden, allerdings keine so stürmisch wie die erste der großen Revolution und keine mehr von einer durchgreifenden Revolutionsdiktatur begleitet. Das Bürgertum hatte sich nach und nach mit dem Gebrauche der Freiheit [508] so vertraut gemacht und seine Führerschaften so gewählt, daß es sich revolutionärer Ausschreitungen immer mehr zu enthalten vermochte und den Weg zu fester Ordnung immer rascher fand. Dagegen brachte der Aufstieg des Proletariats heftige Bewegungen mit sich, die in der Junischlacht von 1848 und dem Kampf mit der Kommune von 1871 ihre starken Gegenwirkungen hatte. Auch die Ordnungsdiktatur Napoleons III. war in der Hauptsache eine Reaktion gegen die proletarische Unruhe. Als solche fand sie die Zustimmung der bürgerlichen und bäuerlichen Massen, im übrigen stützte sie sich auf die Napoleonische Überlieferung in der Armee. Die Diktatur Napoleons III. war eine Nachahmung des von seinem großen Vorgänger geschaffenen Vorbildes, eine Nachahmung mit ungleich schwächeren Mitteln. Napoleon III. fiel dem gleichen Irrtum zum Opfer, daß er unter den widerstrebenden modernen Verhältnissen ein demokratischer Cäsar sein wollte. Die Niederlage von Sedan bereitete ihm ein ruhmloses Ende und nun konnte endlich der Freiheitsdrang des Volkes erfüllt und die Republik ständig aufgerichtet werden. Man war so weit, daß man keinen Vormund mehr brauchte. Was zur nationalen Erziehung noch fehlte, wurde durch die machtvolle Aufwallung des Nationalgefühles vollendet, die den Staat nach der militärischen Katastrophe des deutschen Krieges wieder in Glanz, Reichtum und Wehrkraft aufzurichten bestrebt war. Boulangers Versuch, die nationale Stimmung für seine Diktatur auszunützen, scheiterte kläglich, als eine törichte, unzeitgemäße Karikatur des napoleonischen Vorbildes. Das nationale Gefühl war so selbstbewußt, die nationale Ordnung so gesichert geworden, daß die Armee nicht mehr gegen die Nation aufgeboten werden konnte. Die Armee war selber von dem Gefühle durchdrungen, daß sie der Nation als ihr Werkzeug zu dienen habe.
Der Umsturz nach dem Weltkrieg hat sich, wenn man von Rußland und von den Versuchen in Ungarn und in München absieht, ohne Eingreifen von Diktaturen vollzogen. Die revolutionäre Intensität war dazu nicht stark genug. Es mußten allerdings Ausnahmsgewalten eingesetzt werden, um nach dem Zusammenbruche der legitimen Regierungen den Übergang zur neuen Ordnung zu schaffen, aber die große Mehrheit fand sich überall rasch auf dem neuen Rechtsboden zusammen, wobei es freilich immer noch Gruppen gab, die sich in Wörten und selbst [509] in Taten widersetzten, wie der Kapp-Putsch eine war, von den vielen Leuten nicht zu reden, die sich dem neuen Zustand nur mit innerlichen Vorbehalten fügten. Nach und nach gewannen die widerstrebenden Gefühle stärkeren Zusammenhang und der Wunsch nach dem ordnenden Diktator wurde immer lebhafter. Eigentümlicherweise ist aber die Reaktion gegen die demokratische Strömung nicht in den unmittelbar betroffenen Staaten des Umsturzes offen hervorgetreten, sondern in dem siegreichen Italien und dem neutralen Spanien. Mussolini und Primo de Rivera sind Ordnungsdiktatoren des modernsten Typus. Ihre Herrschaft war in Italien wie in Spanien durch Ordnungsströmungen im Volke vorbereitet, die in erster Linie durch die steigende Beunruhigung der öffentüchen Sicherheit hervorgerufen waren, welche von den radikalsten Gruppen des Proletariates ausgingen. Dazu kam in Italien, daß das Nationalgefühl durch die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen des Weltkrieges und mit der Haltung der Bundesgenossen heftig erregt war. In Spanien war man durch gewisse separatistische Bestrebungen erregt, im tiefsten Grunde war es hier und dort das Versagen der Demokratie, was die national fülüenden Staatsbürger nach rechts drängte. In den jungen Demokratien des Kontinentes galt nicht der Staat, sondern galt die Partei. Statt der machtvollen Einheit des nationalen Interesses hatte man die Zerrissenheit der Parteien, die ihren beschränkten Interessen nachgingen und innerhalb deren die einflußreichen Personen nur zu oft ihren persönlichen Interessen nachgingen. Der spanische Patriot mußte mit Besorgnis wahrnehmen, daß bei dem zerrütteten Parteiwesen die Staatsfinanzen und die öffentliche Moral immer tiefer zerrüttet wurden und daß man nicht imstande war, mit dem üblen Zustand in Marokko, der Geld und Menschen verzehrte, in verständiger Weise zum Abschluß zu kommen. Für die neue Bewegung fanden sich in Italien unter der nationalgesinnten Jugend und in den zahlreichen chauvinistischen Kreisen des Landes Tausende von kampfbereiten Anhängern, überall schössen die faszistischen Organisationen zusammen, in kurzer Zeit war eine nach Hunderttausenden zählende militärisch geordnete Miüz zur Stelle. In Mussolini hatte der Faszismus einen Führer von zündender Beredsamkeit, weitem Blick und entschlossener Tatkraft. Der König förderte die Bewegung, die seine Autorität anerkannte, die Armee war im Einverständnis. In Spanien war die Armee mit ihren Offizieren der Träger der Bewegung, sie hatte sich den Sinn für das Ganze des Staates bewahrt und Primo de Rivera, der sich an die Spitze stellte, konnte ihrer Nachfolge sicher sein. Mussolini und Primo de Rivera, so sehr sie mit den militärischen Machtmitteln rechnen, [510] sind aber doch weit davon entfernt, es auf eine Militärdiktatur oder gar auf eine cäsaristische Herrschaft anzulegen. Sie wollen nicht gegen die Idee der Demokratie, sondern nur gegen deren Mißbräuche auftreten und wollen durch die öffentliche Meinung gehalten sein, deren Nachfolge ihnen die Bestätigung geben soll. Das Ziel, nach dem sie streben, wäre erreicht, wenn sie die alten Parteiführungen ausgeschaltet und die Massen unter einer starken nationalen Führung vereinigt hätten.
Der nationale Diktator will nichts gegen sein Volk unternehmen, er glaubt in dessen Sinn zu handeln, wenn er es den unzureichenden Parteiführungen zu entreißen sucht, denen es Nachfolge leisten muß, so lange kein besserer Führer da ist. Ungeduldig, der Öffentlichkeit zu zeigen, was ein wahrhaft nationaler Führer zu wirken imstande ist, und in der Meinung, daß Gefahr im Verzuge sei, wagt er einen Rechtsbruch und reißt mit Hilfe einer Zahl entschlossener Anhänger die Gewalt an sich, in der Erwartung, daß der Erfolg die Wähler zu ihm bekehren müsse, die ihm am Ende für seinen Rechtsbruch Indemnität erteilen werden. So ist es im Falle des Verfassungsbruches geschehen, den Bismarck bei Gelegenheit des Militärkonf liktes beging, als ihm das preußische Abgeordnetenhaus den Kredit verweigerte, den er für seine Rüstungspläne forderte. Man kann Bismarck ob dieses Verfassungsbruches nicht geradezu als nationalen Diktator bezeichnen, er hat ja nur als Ratgeber seines Königs gehandelt, aber der Rat, den er diesem gab, ging doch auf verfassungswidrige Überschreitung seiner Macht, und die Gesinnung, aus welcher der Rat gegeben wurde, war die des nationalen Diktators.
Der Faszismus hat in allen Staaten Widerhall gefunden, wo die jungen Demokratien sich mit der Zerrissenheit und Beschränktheit ihres Parteiwesens unfähig erwiesen, pflichtbewußte und kräftige Regierungen zu bilden, wie sie das nationale Gefühl fordert. Wenn hier der Ruf nach dem Diktator laut wird, nach dem starken Manne, so darf dies nicht schlechthin als Beweis dafür angesehen werden, daß man mit dem demokratischen Wesen nichts mehr zutun haben will. Man hat die Demokratie des Wortes satt und will die Demokratie der Tat, das starke Volk.
Eine Annäherung an den Gedanken der nationalen Ordnungadiktatur liegt in den Gesetzen von der Art der deutschen Ermächtigungsgesetze von 1923, welche die Regelung gewisser verwickelter und dringender Staatsaufgaben für gewisse Zeit der Entscheidung des Parlamentes entzogen und der Regierung überwiesen. Besäße Deutschland eine gefestigte Demokratie mit gesunden Parteien, die sich ihrer staatlichen Verantwortung voll bewußt sind, so wären solche Ausnahmsgesetze nicht nötig gewesen.
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Selbst in den alten Demokratien ist man durch den Erfolg des Faszismus einigermaßen beunruhigt. Man hat dazu keinen Grund. Ein Staat, der so kräftige Freiheitsführungen und so fest organisierte Parteimassen besitzt, wie England, braucht den Zugriff der Gewalt im Gange seiner Staatsgeschäfte nicht zu fürchten. Der Bürger Englands oder der Vereinigten Staaten von Nordamerika darf die Nachrichten über die faszistischen Wirren mit dem zufriedenen Gefühl des Mannes verfolgen, der sein eigenes Hauswesen in Ordnung weiß. Die nationale Diktatur ist die Sache von Nationen, die mit dem Ausbau der Demokratie noch nicht zu Ende gelangt sind.
Ob die Diktaturen in Italien und Spanien der Idee der modernen Diktatur wirklich genug tun, wollen wir nicht untersuchen. In der Art, wie diese Idee Gewalt und Freiheit verbindet, dient sie einem Gesetz, das die Perioden der Geschichte füllt. Der Weg zur Freiheit hat geschichtlich von Anfang an über die Gewalt geführt, die Massen finden sich nun einmal nicht aus eigenem Trieb zur nationalen Einheit zusammen, welche die Vorstufe der nationalen Freiheit ist. Die stammverwandten Völkerschaften, die schließlich zu Nationen zusammengewachsen sind, lagen miteinander in erbittertem Streit und sie wären nie zusammengekommen, wenn nicht die Machtbegierde starker Kriegsfüreten sie im Feuer des Kampfes zusammengeschmiedet hätte. Selbst nachdem dies geschehen war, war noch die Führertätigkeit von Dynastien dazu notwendig, um die Völker mit den Einrichtungen des Einheitsstaates auszustatten. Die Gewalt hat ein langes geschichtliches Werk tun müssen, bis die nationalen Kräfte so weit erzogen waren, daß die Gewalt endlich entbehrlich wurde. Die Aufrichtung der Demokratien selbst ist dort, wo die alten Mächte nicht freiwillig den Platz räumen wollten, unter der Gewaltder Revolutionsdiktaturen vollendetworden, denen, wenn nötig, die Ordnungsdiktaturen folgten. Wenn sich später, nachdem die Demokratie aufgerichtet ist, immer noch Hindernisse zeigen, die den nationalen Willen nicht zu Kraft kommen lassen, so ist es nicht zu verwundern, daß man geschehen läßt, was vorher gegenüber den Hemmnissen der Freiheit immer geschehen war, und daß man starken Führern erlaubt, mit einer Nachhilfe von Gewalt vorwärts zu gehen. Hat man früher die Gewalt gegen den Autokraten gerichtet, welcher der Freiheit im Wege war, so richtet man sie zuletzt gegen die Parteien, die sich demokratisch nennen, ohne es in Wahrheit zu sein. Demokratie ist Volksherrschaft, [512] diese Parteien ersticken aber die Volksherrschaft durch die Parteiherrschaft. Der moderne Diktator hat das Werk der Erziehung zur nationalen Selbstbestimmung zu vollenden, indem er die widerstrebenden Parteien mit einiger Nachhilfe von Gewalt über die Pflichten belehrt, die sie der Nation gegenüber haben. Ohne Zweifel nimmt der Diktator, der in der Demokratie Gewalt gebraucht, eine Verantwortung auf sich, die viel größer ist, als wenn in wilden Zeitläuften Gewalt gebraucht wurde, denn in der Demokratie glaubt das Volk in den ruhigen Hafen des Rechtes eingelaufen zu sein und ein Rechtsbruch muß das öffentliche Gewissen tief erschüttern. Schließlich hat ein kräftiges Volk aber doch immer die Mittel bereit, um der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. Ein kräftiges Volk entscheidet über sein Schicksal dadurch, daß es durch seine Nachfolge den rechten Führer bezeichnet. Über ein Volk, das dazu die Kraft hat, kann die Gewalt nicht endgültig verfügen. Die Gewalt, die ein Machthaber um sich versammelt, kann die gegnerischen Führungen stören, sie kann ihnen die Wege der Nachfolge verrammeln, sie kann dem Gewalthaber selbst eine gewisse Nachfolge erzwingen, aber sie kann nicht die ganze widerstrebende Nation auf die Dauer zur Nachfolge verhalten. Eine kräftige Nation wird den Diktator nur so lange als Herrn gewähren lassen, als sie die Empfindung hat, daß er damit der Diener ihrer Interessen sei. Sobald sie diese Empfindung nicht mehr hat, wird sie ihm früher oder später ihre Nachfolge entziehen, und ein einziger Fehltritt, ein einziger Unfall wird dann hinreichen, um ihn zum Sturz zu bringen. Sobald er sein Volk zur nationalen Selbstbestimmung erzogen hat, wird es mit seiner Diktatur zu Ende sein, denn dann heißt es: „Der Herr hat seine Arbeit getan, der Herr muß gehen“. Bei den freiheitsstarken Römern empfing die klassische Diktatur in aller Form Rechtens die gesteigerte Macht, die von der Not der schweren Zeit gefordert wurde, bei den freiheitsuchenden Völkern der Gegenwart empfängt die moderne Diktatur sie in revolutionärer Gewaltsamkeit. Schließlich erweist es sich aber auch bei der modernen Diktatur, daß die Eigenmacht, mit der sie auftritt, im tiefsten Grunde vom Volke getragen ist und dem Volke dient. Dies gilt freilich nur für kräftige Völker. Schwache Völker verfallen der Militärdiktatur oder irgend einer Form der Autokratie.
Vor der bolschewistischen Diktatur waren alle modernen Diktaturen bürgerlich-demokratisch gerichtet, wenn auch die eine oder die andere von ihnen, wie namentlich die der Jakobiner, einen deutlichen proletarischen [513] Einschlag hatte. Ihr Ziel war die Volksfreiheit, die dem besitzenden Mittelstand einen starken und wohl den entscheidenden Anteil an der staatlichen und vollends an der gesellschaftlichen Führung sicherte ; die Forderung der Gleichheit, die auch in die Losung der bürgerlich-demokratischen Revolutionen aufgenommen war, ist alles in allem ein leeres Wort geblieben. Die proletarische Revolution kehrt das Verhältnis um, sie ist im Interesse der Masse auf Gleichheit gerichtet. Die Forderung der Gleichheit, wenn sie ernsthaft genommen wird, revolutioniert Staat und Gesellschaft bis auf den Grund. Um die allgemeine Gleichheit durchzusetzen, hat der Staat alles in seinen Machtbereich zu ziehen, was Ungleichheit erzeugen müßte, falls es der freien persönlichen Verfügung überlassen bliebe. Der Staat muß Herr über die Wirtschaft werden und also wie über die Arbeit so insbesondere über die entscheidende Macht des Kapitales gebieten, er muß auch Herr des gesamten Bildungswesens werden, Kulturherr, und alle die Führungskräfte, die sich bisher in Wirtschaft und Kultur frei betätigten, müssen in staatbchen Dienst gestellt werden und ebenso an bestimmte Normen gebunden sein, wie bisher schon der Offizier, der Richter, der Beamte. Wenn man von der Kirche absieht, die eine Macht für Bich ist, wird der ganze gesellschaftliche Führungsdienst verstaatlicht und damit einer obersten Führungsmacht unterstellt, der allein noch das Recht selbständiger Entscheidung vorbehalten ist. Zugleich fordert der Gedanke der Gleichheit, daß das ganze Personal der staatüchen Führung in Einkommen und Lebenshaltung auf die Stufe der arbeitenden Masse herabgedrückt werde. Zusammen macht dies einen Eingriff in die gesellschaftliche Verfassung, wie er tiefer gar nicht gedacht werden kann. Das Vorangehen der Führer mit Nachfolge der Masse ist die Grundform aller gesellschaftlichen Verfassung; diese Grundform soll zwar nicht aufgehoben werden, denn immer noch soll Führungsdienst geleistet werden, ohne den die Masse nicht vorwärts kommen könnte, der Führungsdienst wird aber doch, weil er, von der obersten Führung abgesehen, nicht mehr frei geleistet werden darf, in seiner Triebkraft getroffen. Hört der Führer, dem Ziel und Weg von vornherein gewiesen sind, nicht auf, Führer zu sein ? Und ist sein Gewicht nicht dadurch wesentlich gemindert, daß er als Person auf das Niveau der Masse gestellt wird?
Bis zu welchem Grade es die russischen Bolschewisten versucht und erreicht haben, die Forderung der Gleichheit in Staat und Gesellschaft durchzuführen, darüber kann nur das Zeugnis der genauen Kenner des Landes Aufschluß geben. Jedenfalls ist es ihnen gelungen, die Schicht, die bisher in Rußland geführt hat, bis auf den Grund zu erschüttern. [514] Sie haben nicht nur den Zaren mit seiner Familie und seinem Hofe entfernt, sondern sie haben einen beträchtlichen Teil der Beamtenschaft, der Offiziere, der Intellektuellen, der Unternehmer, der großen Grundbesitzer abgetan, die im Kampf getötet oder hingerichtet oder durch Entbehrungen zu Grunde gerichtet wurden oder aus dem Lande flüchten mußten; den gefügigen Rest haben sie in ihren Dienst gesteckt. Wie bei den Jakobinern ist es auch bei ihnen nicht der Schrecken allein, dem sie einen solchen Erfolg verdanken, die Haltung der Massen hat entscheidend mitgewirkt. Beim Zusammenbruch hat sich klar erwiesen, daß die alten geschichtlichen Führungen über die Massen keine innere Macht besaßen. Die militärische Niederlage brachte sie um alle Autorität, die Massen verweigerten ihnen nicht bloß ihre Nachfolge, sondern wendeten sich offen gegen sie und bei der Überzahl der Massen war ihr Schicksal besiegelt. Unter diesen Umständen waren die Bolschewisten die natürlichen Führer der Massen. Sie hatten beide die gleichen Gegner, und selbst diejenigen Gruppen der Massen, die innerlich mit den Bolschewisten nichts gemein hatten, wie die gewaltige Gruppe der Bauern, fanden es in ihrem Vorteil, sich ihnen unterzuordnen oder sie wenigstens gewähren zu lassen. Blieb ihnen denn auch etwas anderes übrig, als sich der bolschewistischen Diktatur zu unterwerfen oder sie gewähren zu lassen ? Jedes Volk braucht seine Führung, namentlich in so verworrenen Zuständen, als sie über Rußland nach dem Umsturz hereingebrochen waren. Die bolschewistische Führung war die einzige festgeschlossene Führung auf dem Platze, nachdem die Massen ihre alten geschichtlichen Führungen abgeschüttelt hatten und ganz und gar unfähig waren, sich aus sich heraus ihre eigenen Führungen zu geben. Wie sich das Verhältnis zwischen der bolschewistischen Führung und den russischen Massen gestalten wird, wenn sich einmal zeigen sollte, daß die Massen nicht dafür zu haben seien, in der Richtung zu folgen, in der die Bolschewisten vorangehen, darüber wird erst die Zukunft entscheiden.
Soferne es die Bolschewisten unternehmen, die Forderung der Gleichheit bis auf den Grund zu verwirklichen, so würde ihre Herrschaft nicht mehr den modernen Diktaturen zugezählt werden können, die nach den bürgerlichen Revolutionen aufgekommen sind. Der Sinn dieser Diktatur ging dahin, durch gesteigerten Zwang zu einem Zustand hinüberzuleiten, in welchem ein gereinigtes Recht ohne Zwang gelten soll. Ein bis auf den Grund durchgeführtes Gleichheitssystem wäre aber ein Zustand dauernden Zwanges, denn es ließe sich nicht aufrechterhalten, ohne den freiesten der gesellschaftlichen Triebe, den Führungstrieb, den Trieb der freien Geister, durch strenge Normen zu binden und einer [515] einzigen obersten Führungsgewalt unterzuordnen, die an Machtfülle Cäsarentum und Zarentum noch weit überbieten müßte. Vielleicht wird es das Werk des Bolschewismus sein, durch den Exzeß seiner Diktaturidee den Exzeß der geschichtlich überlieferten Ungleichheiten in Staat und Gesellschaft gutzumachen, und vielleicht wird er, sobald er dieses Werk getan hat, andern, freieren Führungen den Platz räumen müssen. Falls es so käme, so würde er schließlich, wie die modernen Diktaturen sonst, dazu gedient haben, durch gesteigerte Gewalt zu einem Zustand erhöhten Rechtes hinüberzuleiten.
Wenn es zutrifft, daß mit dem Weltkrieg sich ein neues Zeitalter, das Zeitalter der Weltgeschichte, eröffnet, so hat die Weltgeschichte, ebenso wie zu ihrer Zeit die Völkergeschichten, ihr Werk im Kampfe der Crewalt begonnen. Der Weltkrieg war die erste Gesamthandlung der Staaten der Welt, die durch den Fortgang des geschichtlichen Kreislaufes miteinander in Verbindung gebracht wurden. In ihm hat das geschichtliche Werk der Gewalt einen Höhepunkt erreicht wie nie zuvor. Die größte Zahl der Kulturvölker und der Halbkulturvölker war an ihm beteiligt, manche allerdings nur widerwillig unter dem Druck der Entente und nicht mit militärischen Kampfhandlungen, sondern nur mit dem formellen Akt der Kriegserklärung, der den Mittelmächten gewisse Vorteile entziehen sollte, welche ihnen die Neutralität dieser Staaten gewährt hatte. Um so voller waren die Hauptnationen im Kampfe aufgegangen, für sie war im Kreislauf der Geschichte der Völkerkrieg zum Volkskrieg des alten Sinnes geworden, wie er es gewesen war, als der Krieg noch nicht Sache der obersten Staatsgewalt und des Berufsheeres, sondern der Krieg aller gegen alle war, bei dem sämtliche wehrhaften Männer und Jünglinge zum Streit auszogen und das Schicksal des ganzen Volkes am Ausgang des Krieges hing. Als der Kreislauf der Staatsgeschichte seinen Anfang nahm, hat der Volkskrieg dem Kriege der Berufsheere Raum geben müssen, weil die mißtrauische Herrschsucht der staatlichen Machthaber die Volksmassen entwaffnet hatte, im weiteren Verlauf hat sich aber sodann, nachdem die Machthaber sich auf ihren Thronen gesichert glaubten, der Kreislauf der Geschichte darin [516] geschlossen, daß die Volksmassen durch die allgemeine Wehrpflicht wieder zum Kriegsdienst aufgerufen wurden. Dem Drange nach dem Maximum folgend, wollte der Großstaat im Felde sein Größtes tun und so sendete er statt der Zelmtausende von Kämpfern, wie sie früher die Volkshccre gebildet hatten, Millionen hinaus, die, statt mit Keulen und Streitäxten oder mit Bogen, Wurfspieß und Schwert, mit den Präzisionserzeugnissen der modernen Waffentechnik verschwenderisch ausgerüstet und für den Kampf in der Luft und unter dem Wasser ebenso eingerichtet waren, wie auf dem Lande. Die Schlachtfelder des Stellungskrieges durchquerten den Kontinent, und überdies war die Entente imstande, neben dem Waffenkrieg noch den Wirtschaftskrieg zu führen. So wie man früher eine Stadt blockiert und ausgehungert hatte, so richtete man jetzt die Hungerblockade gegen Reiche und Völker. Nach allen seinen Dimensionen ist der Weltkrieg der außerordentlichste unter den akuten Maehtkonflikten, von denen die Geschichte zu berichten hat.
Die Nationen der Entente wie der Mittelmächte hatten sich nicht leicht zum Weltkrieg entschlossen. Als entwickelte Nationen waren sie nicht mehr in der Lage der kriegerischen Völker der Anfänge, die durch ihre Friedensarbeit so wenig in Anspruch genommen waren, daß sie für den Krieg immer bereit sein konnten. Der moderne "Volkskrieg nahm dem Boden die Mehrzahl seiner Bebauer, er nahm den Fabriken und sonstigen Betrieben, die nicht für den Krieg zu arbeiten hatten, die Mehrzahl der Arbeiter, er unterbrach den Verkehr und war schon in den ersten Stockungen, die er brachte, eine wirtschaftliche Katastrophe. Keine Nation hatte den Krieg wünschen können und keine hat ihn gewünscht ; obwohl man ihn schon seit Jahren vorausgeahnt hatte, so war er, als er endlich zur Wirklichkeit wurde, für alle eine erschreckende Überraschung, und keine wußte ihn anders zu erklären, als aus der Ruchlosigkeit der Gegner. Um so entschlossener war man, nachdem er einmal ausgebrochen war, auf beiden Seiten, ihn bis zum siegreichen Ende auszutragen. Als die Opfer an Menschen und wirtschaftlichen Werteu immer größer wurden, gerieten beide Teile in die Lage des Unternehmers, der in ein Geschäft, welches er für sicher gehalten hatte, nach und nach soviel hatte zuschießen müssen, daß er nicht mehr zurückkonnte, auch nachdem er eingesehen hatte, daß das Unternehmen unsicher, ja gewagt sei. Die Kriegsauslagen hatten den Volkswirtschaften soviel Güter entzogen und die Staatswirtschaften mit solchen Verpflichtungen belastet, daß man die Wiedergutmachung nur noch vom vollen Siege erwarten durfte. Man sah sich vor die Wahl gestellt, Hammer oder Amboß zu sein, die Bleikette des Besiegten entweder den Gegner tragen zu lassen [517] oder sie selber zu tragen. Die schwere Arbeit durfte nicht halb getan werden, es mußte ein Ende gemacht werden für immer.
Der Ausdruck des unversöhnlichen Kricgswillens war der Vernichtungskrieg. Es ging nicht, wie bei den europäischen Kriegen nun schon seit langer Zeit, um dieses oder jenes Stück Land, sondern es ging, wie in den uralten Volkskriegen darum, wer der Stärkere sei. übrigens hatten die Mitglieder der Entente sich selber und den Bundesgenossen, die man später noch anzuwerben genötigt war, sovicle Ansprüche an Land und Macht zugestanden, daß die militärische und staatliche Vernichtung des Gegners, die man als das moralische Endziel darstellte, zur unerläßlichen Voraussetzung geworden war, um die materiellen Forderungen der Kriegsteilnehmer zu befriedigen. Die Ergänzung zum militärischen Vernichtungskrieg war der Verleumdungskrieg, welcher die moralische Vernichtung des Gegners wollte. Wie schon in ihren persönlichen Streitigkeiten die Menschen das, was der Gegner oft mehr aus Vorsicht, Schwäche oder Unklugheit tut, auf den bösen Willen des andern zu deuten pflegen, so muß dies um so mehr im Völkerstreit gelten, der ohne allen Rückhalt geführt wird. Durch den Vernichtungskrieg war der Verleumdungskrieg gefordert, weil der Mensch den Glauben an die Verruchtheit des Gegners braucht, um gegen ihn die äußersten Mittel für erlaubt zu halten, es ist eine Forderung der Selbstbehauptung, daß man sich die Nichtswürdigkeit des Gegners beweist, den man zu vernichten trachtet. Als der Weltkrieg in seinem Fortschreiten die Herzen der Kämpfer immer mehr verwilderte, fand der Verleumdungskrieg einen immer breiteren Stoff, man wollte nicht einsehen, daß die Schatten des Weltkrieges bei seinen ungeheuren Dimensionen um so viel tiefer sein mußten, als die der gewohnten Kriege der Berufsheere. Jeder Teil begriff es ohneweiters, wenn seine Kämpfer durch die unerbittlichen Notwendigkeiten weiter und weiter in das Dunkel der Wildheit gedrängt wurden, und er hatte wohl auch die Entschuldigungen dafür bereit, wenn man noch über das notwendige Maß hinausging, aber kein Teil konnte es verstehen, wenn auch der andere weiterging. Wenn schon der Splitter im Auge des Nächsten dem Menschen Ärgernis gibt, wie sollte man sich nicht über den Balken im Auge des Feindes auf das äußerste entrüsten!
Der Hungerkrieg, den die Entente mit dem Waffenkrieg verband, war, so schwer es einem Deutschen fällt, dies zuzugestehen, die logische Vollendung des Vernichtungskrieges. Im modernen Volkskrieg, in welchem alle wehrhaften Bürger zu Kämpfern und alle arbeitsfähigen Personen beider Geschlechter zu militärischen Hilfsarbeitern werden, ist die Scheidung in Soldaten und Bürger nicht mehr so zu machen, wie [518] sie im Krieg der Berufsheere gemacht werden konnte. Der moderne Krieg nützt in erfinderischer Weise jede Überlegenheit aus, die ein Teil über den andern gewinnen kann; wie konnten sich da die Staaten der Entente enthalten, die Überlegenheit auszunützen, die ihnen der Reichtum ihrer eigenen wirtschaftüchen Hilfsquellen und der ganzen übrigen Welt bot, mit der sie durch das von ihnen beherrschte Meer verbunden waren 1 Diese Überlegenheit war ihr größter nülitärischer Vorteil, durch den sie endlich den Sieg gewannen.
Die entsetzlichen Verluste an Menschen und Gütern, die der Vernichtungskrieg kostete, waren nicht seine schlimmste Wirkung. Man hätte sie in einer kurzen Reihe von Jahren friedlichen Gedeihens gutmachen können, falls dem Weltkrieg ein Zustand moralischer Erholung gefolgt wäre, wie ein Jahrhundert früher den Napoleonischen Kriegen nach dem Wiener Kongreß. Dazu ist es aber nicht gekommen, vielmehr verdichtete sich der akute Konflikt zu einem noch empfindlicheren chronischen Konflikt der Gemüter. Am Kriege der Berufsheere hatten die Massen der Bürger keinen unmittelbaren Anteil gehabt, nun aber hatten sich Bürger gegen Bürger gemessen und die Kampfleidenschaft der Millionen konnte sich nicht so bald wieder beruhigen. Zu dem Haß, der sich eingesessen hatte, kam ein nicht zu beruhigendes Mißtrauen hinzu. Mußte man nicht gewärtig sein, daß der Missetäter, den man mit schwerer Mühe niedergerungen hatte, bei nächster Gelegenheit sich wieder rühren werde ? In dieser Stimmung beschlossen die Sieger ihren Urteilspruch, in welchem sie das bekannte Wort des Generals Clausewitz, daß der Krieg die Fortsetzung der Poütik sei, in dem gesteigerten Sinn wahrmachten, daß sie eine Politik einschlugen, welche die weitere Fortsetzung des Krieges war. Der Krieg war aus, ohne daß Friede werden konnte. Die Sieger fanden sich nicht einmal darein, die übliche Form des Friedensvertrages einzuhalten, seine Bedingungen wurden den Besiegten diktiert, ohne daß man sich mit ihnen in Verhandlungen einließ. Wie in den Maßnahmen des Krieges, ging man auch in den Friedensbedingungen auf die alte, rauhe Weise des Volkskrieges zurück, es war ein Rückschlag der Gewalt, wie er zwischen Kulturvölkern noch niemals vorgekommen war. Die große deutsche Nation wurde gezwungen, sich unter das kaudinische Joch der Selbstentwürdigung zu beugen, wie die Römer vor den Samnitcrn. Sic mußte die capitis deminutio auf sich nehmen, sich selber der Schuld am Krieg zu zeihen und sich fürs nächste aus der Reihe der Kultumationen streichen zu lassen. Die Entwaffnung, die sie durchführen mußte, strich sie aus der Reihe der souveränen Nationen, die wirtschaftlich-finanziellen [519] Lasten, die sie auf sich nehmen mußte, verurteilten sie zu einer Schuldknechtschaft, deren Ende nicht abzusehen war. Bei alledem wollte sich das französische Mißtrauen gegen Deutschland noch immer nicht beruhigen. Poincare wurde nicht müde, deutsche Verfehlungen wahrzunehmen, die ihm den Anlaß zu verschärften Sanktionen boten. Unter seiner Leitung verrannte sich Frankreich in eine Poütik, welche die Gegensätze immer noch weiter steigern mußte. Je schärfer die Sanktionen, desto tiefer mußte der Konflikt in die Gemüter hineingetragen werden. Die französischen Staatsmänner hätten es aus der Erfahrung ihres eigenen Volkes wissen sollen, wie empfindlich die Verwundungen des nationalen Selbstgefühles schmerzen! Je gewaltsamer man Deutschland niederdrückte, um so sicherer hatte man zu erwarten, daß es, solange es noch einen Rest nationalen Stolzes bewahrte, wieder den Versuch machen werde, die Bleikette abzuwerfen, mit der man es belastete.
Von den Bundesgenossen Deutschlands wurden die Türkei und Bulgarien, soweit es anging, geschwächt, Österreich-Ungarn wurde aufgelöst. Zwischen Deutschland und Rußland und den angrenzenden Staaten bis zum Balkan wurden neue Staaten errichtet oder die befreundeten alten Staaten gefördert, um ein großes System militärischer Sicherungen anzulegen, welches Deutschland im Osten und Südosten einkreisen sollte und im Süden seinen Abschluß darin fand, daß das deutsche Südtirol bis zur Brennerhöhe an Italien abgegeben wurde. Man konnte sich bei einer Reihe der neuen Staatseinrichtungen darauf berufen, daß sie im Sinne der nationalen Selbstbestimmung getroffen wurden, welche die Entente als eines ihrer Kriegsziele verkündet hatte, und man hat in der Tat in einer Reihe von Fällen altes nationales Unrecht gutgemacht. Daß man aber nicht durch die Achtung der nationalen Selbstbestimmung geleitet war, zeigt sich deutlich darin, daß man nur das Argument der militärischen Sicherung vorzuschützen brauchte, um daraufhin unbedenklich neues nationales Unrecht schaffen zu dürfen. Während man das Nationalgefühl in den neuen staatlichen Schöpfungen nationalistisch steigerte, schlug man dem Nationalgefülü der Besiegten die schwersten Wunden. Alle diese neuen staatlichen Schöpfungen sind von Geburt aus nationalistisch eingestellt, sie wollen ihr junges nationales Leben, bar jedes Sinnes für nationale Gerechtigkeit, in höchster Kraft ausleben, sie wollen es insbesondere auch wirtschaftlich voll ausleben. Schöpfungen des Machtkonfliktes, steigern sie den Machtkonflikt.
Der Zusammenbruch im Krieg hat durch den Umsturz, der ihm [520] folgte, in den besiegten Staaten die bestehenden inneren Machtkonflikte verschärft. Am schwersten in Rußland, wovon wir bereits früher einmal ausführlich zu sprechen hatten. In den übrigen Ländern wurde leidliche Ordnung geschaffen, aber nirgends besitzen die neuen Mächte, die an Stelle der im Krieg zusammengebrochenen geschichtlichen Mächte aufgekommen sind, jenen Grad der Herrschaft über die Gemüter, der für eine starke Regierung gefordert ist. Überall gärt es, da und dort beginnen sich die Anhänger der alten Ordnung zum Kampfe zu sammeln, die fascistische Diktatur hat ein Vorbild gegeben, das zur Nachahmung reizt.
Der Umsturz hat auch den bestehenden sozialen Machtkonflikt wesentlich verschärft, hier gibt die russische Rätediktatur das Vorbild für den Gebrauch der Gewalt.
Die Aufregung der nationalen und der sozialen Leidenschaften hat auch auf die Siegervölker ihre Nachwirkung ausgeübt. Der Gedanke der nationalen Selbstbestimmung, den die Entente aufrief, ist insbesondere von den den Engländern unterworfenen Völkerschaften begierig aufgenommen worden. Die farbigen Truppen, die man in Europa verwendete und die hier Zeugen der Konflikte und der Schwierigkeiten ihrer Herren geworden sind, haben Eindrücke nach Hause gebracht, die ihnen viel zu denken gaben. „Auch die Weißen sind Menschen wie wir“, sagt man sich heute in Indien. Über Asien hegt eine drohende Wolke der Erregung, auch Ägypten verlangt seine nationale Selbstbestimmung.
Am deutlichsten spricht sich die Spannung, in welche die Welt nach dem großen Krieg geraten ist, in den wirtschaftlichen Ziffern aus. Die Welt hat ihr wirtschaftliches Gleichgewicht verloren. Während des Krieges hat Europa seine gebietende Stellung im Aufbau der internationalen Arbeitsschichtung nicht voll aufrecht erhalten können, die Welt draußen hat sich von ihm in vielen Beziehungen selbständig gemacht. Außerdem haben die Siegerstaaten durch die politische Neuordnung und die wirtschaftlichen Belastungen, die sie den Gegnern diktierten, sich selbst geschädigt, indem sie die Märkte schwächten, die sie zum Absatz ihrer eigenen Produkte brauchten. Die schwere Arbeitslosigkeit, unter der England infolgedessen leidet, bedeutet die Lahmlegung eines großen Teiles seines nationalen Vermögens und belastet es laufend mit Verlusten und Ausgaben, die denen einer ununterbrochenen Kriegführung gleichkommen.
Die Wahrnehmung der überall hingreifenden wirtschaftlichen Spannung hat mehr als alles andere dazu beigetragen, die öffentliche [521] Meinung wieder friedlicher zu stimmen. Es sind in letzter Zeit hierin erfreuliche Fortschritte gemacht worden, die Annäherung im Punkte der deutschen Reparationsschuld ist ein verdienstliches Werk, das die Staatsmänner ehrt, die dazu den Mut fanden. Die Zusammenkunft in Locarno zeigt einen weiteren Fortschritt. Aber wieviel ist noch zu tun, wenn es schon als eine große Errungenschaft gilt, daß die Vertreter der Siegerstaaten sich mit den deutschen Vertretern in ruhiger Aussprache zu einem Tisch zusammensetzen! An den tieferen Sitz des Übels, von dem die wirtschaftliche Spannung das Symptom ist, hat man noch gar nicht gerührt und keiner der leitenden Staatsmänner hat bisher den Mut gefunden, auf den Punkt zu verweisen, von dem die Spannung der bestehenden Machtkonflikte ausgeht.
Die äußeren Machtkonflikte, welche die Seelen bedrängen, haben in den weicheren Gemütern das Bewußtsein des inneren Konfliktes von Glauben und Wissen und der moralischen Zerfahrenheit geweckt. Für viele Fromme ist der Weltkrieg die Folge und die Strafe des rücksichtslosen Erwerbstriebes, dem die weltliche Bereicherung über alles geht. Unter den Gebildeten Europas ist es den schwachen Gemütern gewiß, daß die bestehenden Machtkonflikte den Untergang der Kulturwelt bringen müssen, die starken stellen sich trotzig auf neuen Kampf ein, aber wieviele von ihnen mögen die Zuversicht haben, daß der Kampf die Konflikte lösen werde ?
Der Weltkrieg in seiner maßlosen Erscheinung ist das Ergebnis der bestehenden maßlosen nationalen Spannung. Jede Erklärung ist unrichtig, die ihm einen andern Ursprung geben will. In der Ära des Nationalismus ist kein Machthaber stark genug, um aus eigener Kraft die Kulturnationen gegeneinander in Kampf zu treiben, wenn ihr Sinn, jeder Kampfneigung fremd, nur für friedliche Arbeit zu haben wäre. Es geht daher durchaus nicht an, die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges diesem oder jenem Dynasten zuzuschieben, oder diesem oder jenem Staatsmann oder Soldaten, oder dieser oder jener Gruppe von Kapitalisten. Vielleicht darf man den einen oder den andern der beteiligten Machthaber mit Recht beschuldigen, daß er übereilt oder gar aus bösem Willen die Lunte einwarf, welche die ungeheure Explosion entzündete. Wenn man aber diesen Vorwurf erhebt, so ist doch schon vorausgesetzt, daß eine entzündbare Masse da war! Um diesen Gedanken an einem besonderen Fall deutlicher zu machen, so mag es vielleicht [522] gerechtfertigt sein, daß man gegen jene Machthaber Österreich-Ungarns, die für das Ultimatum an Serbien verantwortlich sind, die Anklage erhebt, sie hätten durch ihre überspannten Forderungen Serbien zum bewaffneten Widerstand gezwungen — hat aber nicht an der Wirkung, die das Ultimatum übte, die erregte Leidenschaft der Welt den Hauptanteil gehabt ? Wäre die nationale Leidenschaft der Welt nicht erregt gewesen, bo wäre das Attentat gegen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau wahrscheinlich nicht begangen worden, und falls es dennoch begangen worden wäre, so wäre es als das ruchlose Verbrechen einiger junger Leute ohne Folgen für den Frieden der Welt gebheben; Serbien hätte wahrscheinlich aus freien Stücken seine am Morde beteiligten Bürger ausgeliefert oder selbst bestraft, oder falls es nicht so gehandelt hätte, so wäre ein Sturm der Entrüstung über die Welt gegangen, wie früher nach der Ermordung des Königs Alexander, und die österreichischungarische Regierung hätte es nicht nötig gehabt, auf ihre Bestrafung zu dringen, alle Regierungen Europas hätten sich mit ihr vereinigt und die mit Serbien befreundeten Regierungen wären ihr wahrscheinlich sogar zuvorgekommen; das Ultimatum und die Kriegserklärung wären wahrscheinlich unterblieben, oder falls sie doch erfolgt wären, so hätte sich ganz Europa ins Mittel gelegt, um sie ungeschehen zu machen und der Monarchie die gebührende Genugtuung ohne Bruch des Friedens zu verschaffen. Ein Volk mit dem moralischen und dynastischen Gefühle des englischen Volkes hätte der Monarchie die gleiche weitgehende Genugtuung zuteil werden lassen, die es selber für sich gefordert hätte, falls es Serbiens Nachbar gewesen und falls dem Attentate der Prinz und die Prinzessin von Wales zum Opfer gefallen wären. Weil aber Europa in zwei große Lager gespalten war, die ndt eifersüchtiger Ängstlichkeit darüber wachten, daß in ihren Machtverhältnissen keine, auch nur die geringste Verschiebung zu Ungunsten der einen oder der andern Partei sich vollziehe, so konnte man sich nicht darüber einigen, wie das Verbrechen zu sühnen und die Genugtuung für Österreich-Ungarn abzumessen sei. Österreich-Ungarn vermeinte, daß es, ohne an seiner Ehre als Großmacht zu leiden, den furchtbaren Schlag, der ihm versetzt worden war, nicht ohne strengste Züchtigung hinnehmen dürfe, Deutschland vermeinte, daß es seinen Verbündeten nicht im Stiche lassen dürfe, ohne selbst an Ehre und Macht geschädigt zu werden. Rußland, das so lange das serbische Treiben hatte gewähren lassen, es geduldet oder gar gefördert hatte, konnte nicht mehr zurück, es vermeinte an seiner Balkanstellung und Woltstellung unwiederbringlichen Schaden zu leiden, wenn es für Serbien nicht mehr der mächtige Schutzherr blieb. Mit [523] Rußland mußte Frankreich gehen, wenn es nicht um den Erfolg der großen Opfer gebracht sein wollte, die es so lange für das russische Bündnis auf sich genommen hatte, mit Frankreich und Rußland endlich mußte England gehen, das sich in seiner Ehre für verpflichtet hielt, die Verbündeten nicht im Stiche zu lassen. Das Gefäß der Machtbündnisse war gesättigt voll, und als es an der Stelle geringster Hemmung durchstoßen war, ergoß sich, wie aus der Büchse der Pandora, all das Gift des wechselseitigen Mißtrauens über die Welt.
Mit mehr Recht als dem einzelnen Machthaber wird man dem herrschenden System des Militarismus und Kapitalismus die Schuld am Weltkrieg zuschieben, nur muß man sich gegenwärtig halten, daß in der Ära des Nationalismus nicht dieser oder jener Dynast oder Soldat, sondern daß die Nationen selbst die Träger des zum Kriege treibenden Militarismus geworden waren, und daß nicht dieser oder jener Rüstungsindustrielle, sondern daß der ganze kapitalintensive volkswirtschaftliche Körper der Träger des zum Kriege treibenden Kapitalismus war, weil er aufs höchste daran interessiert war, bei der wirtschaftlichen Teilung der Welt mit dabei zu sein — wobei wir neben den Unternehmern auch die industriellen Arbeiter mit zu den Interessenten zu zählen haben. Das liberale Bürgertum hatte, solange es noch in Opposition stand, das fürstliche Militärsystem nachdrücklich bekämpft, als ein System unproduktiver Ausgaben, das die produktive Arbeit mit Steuern belastete und mit der Gefahr äußerer Kriege bedrohte, während es im Innern die fürstliche Übermacht verstärkte. Als dann aber in der Ära des Nationalismus das Bürgertum zur staatlichen Leitung mitberufen worden war, veränderte sich sein Gesichtskreis, so wie sich der des Wanderers verändert, der aus der Enge des Tales zum freien Ausbück des Gipfels aufsteigt. Nun wurde ihm die Armee das Werkzeug der nationalen Idee; für den deutschen Patrioten waren mit ihr die glorreichen Erinnerungen von Gravelotte und Sedan verbunden, dem italienischen war sie die Waffe, welche die Italia irredenta erlösen sollte, dem französischen das unerläßliche Mittel der Verteidigung und vielleicht der Revanche. Nach und nach lebte man sich auf dem Kontinent in die Anschauung hinein, wie sie in seiner Art der englische Bürger hatte, dem die Überlegenheit der heimischen Kriegsflotte die Sicherung der wirtschaftlichen Weltherrschaft bedeutete. Der wirtschaftliche Imperialismus, den die überquellende Arbeitskraft der großen Kulturnationen erzeugte, forderte seine ausreichende militärische Deckung für den Fall, daß der wirtschaftliche Konkurrenzkampf in den Kampf der Waffen umschlagen sollte. Die Steigerungen des Rüstungssystems, die [524] in den Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges beschlossen wurden, haben überall die Zustimmung der Volksvertretungen erhalten, wenn man auch nicht überall den Vorschlägen der Regierung ganz beigetreten ist. Nur die sozialistisch organisierte Arbeiterschaft blieb in Opposition. Daß diese Opposition aber nicht das letzte Wort war, erwies sich deutlich nach dem Ausbruch des Weltkrieges, indem das Proletariat sich nicht nur dem Einberufungsbefehl nicht widersetzte, sondern größtenteils mit der nationalen Sache aus voller Überzeugung mitging.
Gesellschaftliche Bewegungen von der Größe und Verbreitung des Nationalismus und Imperialismus brauchen ihre großen und verbreiteten Ursachen. Wenn wir auf die Jahrzehnte vor dem Weltkrieg zurückblicken, so sehen wir diese Ursachen deutlich vor uns. Sie liegen in der Fülle der bei allen Nationen aufgespeicherten Kräfte. Es waren bei den großen Nationen vor allem die wirtschaftlichen Kräfte in solcher wuchernder Fülle der Entwicklung vorhanden, daß sie über die heimatlichen Grenzen hinaus in die Welt drängten und die Kulturwelt zu einem neuen Zeitalter der Entdeckungen führten, welches die letzten Geheimnisse der Kontinente aufschloß und Wanderungen und Besiedlungen in einem Umfang zur Folge hatte, wie sie das Zeitalter eines Cortez oder Pizarro noch nicht kannte. Die Weiten Nordamerikas und Sibiriens waren ebenso ihr Schauplatz, wie das dunkle Afrika, auch das chinesische Reich der Mitte mußte dem Weltverkehr seine Türen öffnen und mußte neben den Europäern auch noch den Japanern Raum gönnen. Das aufbauende Werk der Weltwirtschaft beschränkte sich nicht darauf, die Lücken der Erdbesiedlung zu füllen, sondern es verband zugleich die Volkswirtschaften immer mehr in internationaler Arbeitsteilung, die in internationaler Arbeitsschichtung gipfelte. Dem weltwirtschaftlichen Zustand, der sich auf diese Weise aufbaute, fehlte jedoch jede feste politische Ordnung, man hielt den Grundsatz staatlicher Autarkie unvermindert aufrecht, welcher der natürliche politische Ausdruck für einen Zustand gewesen ist, in dem jeder Staat in allen Hauptdingen auf sich selber beschränkt war; man hielt diesen Grundsatz nicht nur aufrecht, sondern man steigerte ihn sogar, indem man die Rüstungen steigerte, die für den Fall des Kampfes bereitgehalten wurden, und indem die dynastische Autarkie sich zur nationalen Autarkie steigerte. Für die Regelung der tausende von Beziehungen, die sich im Weltverkehr hin und her spannen, behalf man sich mit Verträgen zwischen Staat und Staat, die sich bei den Angelegenheiten allgemeinsten Interesses bis zu Wcltverträgen ausdehnten, bei denen jedoch stets der Grundsatz staatlicher Selbstbestimmung eifersüchtig gewahrt blieb. War es nicht [525] ein zwiespältiger Zustand, daß man ohne festen Weltverband in vielfältigster Weltverbindung lebte, und konnte dieser Zustand auf die Dauer ohne Zusammenstoß aufrecht erhalten werden ?
Man denke sich, daß die Geschäftsleute einer Zahl von Völkern durch ein überraschendes wirtschaftliches Gedeihen dazu veranlaßt werden, sich zu Tausenden und Tausenden auf einem Weltmarkt zu treffen, für den keine gemeinsame Leitung vorhanden ist, welche das Notwendige zur Wahrung der Ordnung auf sich nähme, und wobei es jedem Marktbesucher überlassen bliebe, sich gegen Angriffe so gut als möglich mit Hilfe seiner Landesgenossen zu wehren! Solange die Geschäfte zu allgemeiner Befriedigung gehen, mag sich der Verkehr auch ohne gemeinsame Leitung glatt abwickeln; anders, wenn einmal der Gewinntrieb Neid und Eifersucht weckt und wenn dabei etwa noch allerlei alte Gehässigkeiten lebendig werden. Dann wird man seine Waffen instandsetzen — System der Rüstungen — und sich mit den befreundeten Gruppen verabreden — System der Bündnisse — und da kann es, sobald die Stimmung leidenschaftlich gereizt wird, unversehens dazu kommen, daß man sich im Kampfe befindet, an dessen Ausbruch ein Teil dem andern die Schuld gibt. Man übertrage diesen Vorgang ins Große von Staat und Welt und man hat den Weltkrieg vor sich. Er ist aus der drängenden Fülle des Weltgeschehens hervorgebrochen, für das man die ordnende Verfassung noch nicht hatte.
Dieselbe drängende Fülle des Geschehens hatte in allen Volkswirtschaften die großen Betriebe hervorgebracht, ohne daß man die ordnende Betriebsverfassung ausgebildet hätte, die zwischen Kapital und Arbeit den gerechten Ausgleich wies ; in dem Betriebe, der Hunderte und Tausende vereinigte, gebot der Unternehmer noch immer mit der autarken Machtbefugnis des Gewerbsmeisters, der seinen Lelirlingen und Gesellen eng verbunden war, welche er zur Meisterschaft erzog, während der moderne Unternehmer der eine Eigentümer wurde, der sich die Gemüter der Hunderte und Tausende entfremdete, welche er vom Eigentum ausschloß. Dieselbe drängende Fülle des Geschehens hatte die modernen demokratischen Massen in die Höhe gebracht, die an der staatlichen Macht ihren Anteil haben wollten und haben mußten, während die Reife von Führungen und Massen noch fehlte, um die notwendigen Freiheitsorgane zu bilden. Dieselbe drängende Fülle des Geschehens hatte neben den Männern die Frauen ins öffentliche Leben eingeführt, wobei die altüberlieferte Moral des Hauses gesprengt wurde, ohne daß man einer neuen sittlichen Verfassung sicher geworden wäre. Dieselbe drängende Fülle des Geschehens hatte es auch erlaubt, das [526] Kind, das früher bei der Enge aller Verhältnis in strengster Zucht gehalten werden mußte, freier zu geben, ohne daß man der Regeln für den besonnenen Gebrauch der neuen Freiheit sicher gewesen wäre. Dieselbe drängende Fülle des Geschehens hat auch die alte Einheit der Kulturverfassung zerrissen, indem die dominante Kraft des Glaubens durch die aufsteigende Kraft des Wissens gebrochen wurde.
Viele von den Gebildeten der alten Schule, die an die klare Ordnung von früher gewöhnt waren, konnten sich in die Unruhe nicht finden, in welche die drängende Fülle dcR Geschehens die Kulturnationen in den Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges versetzt hatte. Sie sahen in ihr das offenbare Zeichen des Verfalles, der Dekadenz. Man konnte dieses Urteil von jenen Intellektuellen aussprechen hören, welche die unbequeme Erfahrung zu machen hatten, daß ihre Schicht aus der überlieferten führenden Stellung abgedrängt wurde; statt zu erkennen, daß es ihr eigener Fehler war, wenn sie sich in der Fülle des Lebens auf ihr kleines Selbst beschränkten, sahen sie in ihrer Isolierung den Beweis für die Mißachtung, welche die moderne Welt für „des Menschen allerhöchste Kraft“ hat. Sie sahen nicht, was sie so leicht hätten sehen können, daß alle diejenigen, die ihre Bildung dazu nutzten, dem Werke der Zeit zu dienen, in der drängenden Fülle des Geschehens sich Führerstellungen hohen Ranges schufen, wie sie die gute alte Zeit ihnen nicht hätte bieten können. Wodurch ist Lassalle in die Höhe gekommen, als weil er, wie er mit Stolz von sich sagte, mit der ganzen Bildung des Jahrhunderts bewaffnet war, die ihm den Platz an der Spitze des Proletariates eroberte ? Und wieviele von den Männern der gebildeten Klasse sind nicht vor ihm und nach ihm zur Macht gekommen, indem sie sich dem Proletariat als Führer zur Verfügung stellten ! In anderer Richtung, aber mit dem gleichen Ziele hoher Macht gebrauchten die großen Unternehmer ihr Wissen von Welt und Menschen. Auch der Ästhet, der, in den alten Kunstformen erzogen, sie in ihren Feinheiten auszugenießen sucht, konnte sich nicht in die neue Welt finden, die den Sinn für viele der alten Lebensgestalten, welche bisher die Vorwürfe der Kunst gewesen waren, verloren hatte und ihren neuen Lebensgeetalten den künstlerischen Ausdruck noch nicht zu geben vermochte. Ein Gefühl, das sich seinen künstlerischen Ausdruck geben soll, muß seiner selbst sicher sein, in der drängenden Gegenwart war aber noch zu viel Unsicheres und Ungefestigtes ; der Riesenbahnhof und der Wolkenkratzer waren vorläufig die Gestalten, die den künstlerischen Sinn am eigentümlichsten anregten. Daß vollends der Moralist der alten Schule mit dem Zustand der Zeit unzufrieden sein mußte, begreift sich. Die größere Leichtigkeit [527] des Lebens erlaubte ein bequemeres Sichgehenlassen, die Größe der Verhältnisse ließ sich in die alte Enge nicht einspinnen und löste die alten Ordnungen auf, bevor neue gefunden waren. Wie sollten die unerfahrenen Wählermassen, wie sollten die Massen der Proletarier, wie sollten die Frauen und Kinder ihre neuen Freiheiten besonnen zu gebrauchen wissen ? Ohne Zweifel war die Welt in eine moralische Krise geraten! Dennoch hatte der strenge Moralist unrecht, der von moralischem Verfall sprach. Der entscheidende Grund dafür, daß die moralischen Antriebe für die neuen Verhältnisse nicht ausreichten, lag in der Größe der neuen Verhältnisse, die neue gesteigerte Forderungen stellte. Zwischen Gewerbsmeistern, Gesellen und Lehrlingen hatte die gute alte Handwerkszeit eine feste Zucht geschaffen, zwischen Unternehmern und Arbeitern im Großbetrieb und Riesenbetrieb war die gute Ordnung noch nicht gefunden. Dadurch ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß trotzdem eine gesteigerte moralische Kraft am Werke sein mochte. War die Zucht, welche die Tausende einer Gewerkschaft in sich zusammenschloß, bei allen Ausschreitungen, zu denen die Leidenschaft fortriß, nicht doch auch ein Stück moralischer Selbstcrziehung ? Und um gleich das größte Beispiel anzuführen, hat sich in der Zucht, welche die Armee der allgemeinen Wehrpflicht zusammenhielt, nicht eine große moralische Kraft geoffenbart? Ist die Hingebung der Millionen, die sich im Weltkrieg aufopferten, nicht der Beweis dafür, daß alle Völker, die am Weltkrieg teilnahmen, von ungebrochener sittlicher Kraft waren? Es ist ganz verkehrt, den Weltkrieg, so wie man es gewöhnlich tut, schlechthin als Beweis der sittlichen Verwilderung der Gegenwart anzusehen; über allem Dunkel der Wildheiten, von denen er voll ist, liegt der helle Glanz der begeisterten Pflichterfüllung der Millionen. Diese unendliche Kraft hätte zu unendlicher Wirkung genützt werden können, dieses Pflichtgefühl hätte auf das fruchtbarste ausgewertet werden können, aber unser Bedauern, daß es anders geschehen ist, darf das bewundernde Erstaunen über die Fülle der aufgewendeten Kräfte nicht mindern. Die Wahrnehmung, daß die Nationen höchster Kultur an Selbstaufopferung das Höchste geleistet haben, darf uns als untrüglicher Beweis dafür gelten, daß gerade ihre innere Kraft nicht im Verfall war.
Die Bilanz der gesellschaftlichen Kräfte, über welche die Kulturwelt vor dem Kriege verfügte, war von strotzender Fülle. Wenn wir heute an jene Jahre zurückdenken, in denen die unberufenen Richter die Anklage der Dekadenz erhoben, so liegen sie uns wie in weiter Ferne zurück und sie acheinen uns, wie dem Greise die Jahre der Kindheit, Jahre des reinsten Glückes. Wir verfallen dabei jener Täuschung, die [528] uns so oft das Gute in der Erinnerung festhalten läßt und das Schlimme vergessen macht. Die Bilanz der gesellschaftlichen Kräfte war von strotzender Fülle und von Verfall konnte keine Rede sein, dennoch war der Stand der Dinge höchst unbefriedigend, denn die Kräfte waren gegeneinander in einer Spannung, welche schlimmere Wirkungen zur Folge hatte, als selbst der Verfall sie haben mochte. Die Menschen haben es nicht verstanden, ihre reiche Kraft ohne Verlust in ordnende gesellschaftliche Macht umzusetzen und zu sammeln, und darum entstanden aus dem Überreichtum der Energien die zerstörenden Machtkonflikte. Im gedrängten Verkehr der Eisenbahn reicht die Unaufmerksamkeit eines untergeordneten Beamten hin, um einen Zusammenstoß zu veranlassen, der viele Menschenleben kostet, indessen ist die Zahl der Unfälle doch nicht zu groß, weil das Personal des Bahndienstes an strenge Regeln gebunden und tüchtig geschult ist; für das große gesellschaftliche Werk der Welt aber gab es überhaupt fast keine Regeln und jedenfalls keine ordnende Verfassung, und auch für den Dienst im Großen des Staates und der Öffentlichkeit sonst fehlte gar vieles an den Freiheitsorganen, die dieser Dienst erfordert, wenn er in erfolgreicher Kraft vollzogen werden soll. Weitaus am besten war noch für den Dienst im wirtschaftlichen Großbetrieb gesorgt; in diesem waren die verfügbaren Kräfte so reich und das einigende Interesse des Erfolges wies die Arbeiterschaft so gebieterisch unter die Leitung der starken Unternehmer, die durch den Wettbewerb ausgelesen waren, daß das aufbauende Werk der Wirtschaft in Staat und Welt in raschen Fortschritten vorwärtsging — freilich die Auseinandersetzung der beiden Parteien in Rücksicht auf die Verfassung des Großbetriebes war nur aufgeschoben, der Machtkonflikt von Kapital und Arbeit wird einmal ausgetragen werden müssen, und wer weiß, bis zu welcher Spannung er sich steigern wird!
Der Weltkrieg hat in seinem akuten Verlauf ungeheure Mengen der verfügbaren Kräfte zerstört und die Kräftebilanz außerordentlich verschlechtert. Schwer sind namentlich die Verluste an besten Männern, die der Krieg getötet hat ; sie haben gerade die kraftvollen Schichten von Führung und Unterführung erschreckend gelichtet und in solchen Staaten, in denen diese Schichten dünn besetzt waren — man denke an Rußland, aber auch an Österreich — das gesellschaftliche Gleichgewicht zu schwerem Nachteil verschoben. Dennoch dürften wir mit voller Zuversicht erwarten, daß, soweit es auf die gesellschaftlichen Kräfte ankommt, sich der Aufstieg fortsetzen werde, in weichein diese vor dem Weltkrieg begriffen waren. Die Ergiebigkeit der wissenschaftlichen Technik ist noch lange nicht ausgeschöpft. Zwar wird auch sie [529] einmal ihre Grenze erreichen, so wie die handwerkliche Technik ihre Grenze erreicht hat, aber heute ist sie von diesem Ziel noch weit entfernt. Jeder Tag bringt Neues, und warum sollte nicht ein vielleicht ganz naher Tag erstaunlich Neues bringen ? Es wird noch lange nicht an Kräften fehlen, um das dominante Werk unserer Zeit, das aufbauende weltwirtschaftliche Werk, im großen Stil weiterzuführen und aus ihm reiche Werte zu gewinnen, die für die gesellschaftliche Kultur fruchtbar gemacht werden könnten. Und möge man nur nicht glauben, daß der materielle Aufstieg die moralischen Kräfte herabdrücken muß! Die Größe der materiellen Aufgaben erzieht sich immer auch die komplementären moralischen Kräfte. Was die Menschen daran hindert, die Verluste an Kräften auszugleichen, die der Weltkrieg in seinem akuten Verlauf herbeigeführt hat, ist seine chronische Nachwirkung des Hasses und Mißtrauens zwischen den Nationen und sind seine Ausstrahlungen, durch die er die innerstaatlichen und sozialen Machtkonflikte und die bestehende moralische Krise verschärft hat. Die Umsetzung der gesellschaftlichen Kräfte in ordnende Mächte vollzieht sich nach dem Weltkrieg noch unter viel größeren Reibungen und Verlusten als vorher, viele wertvolle geschichtliche Mächte sind zerstört, deren Funktion noch nicht durch andere Mächte übernommen ist. Die weitverbreitete Arbeitslosigkeit ist der deutliche Beweis dafür, daß man die geringeren übriggebliebenen Kräfte nicht mehr voll auszunützen weiß. Die Verfassung in Staat und Welt ist nach dem Weltkrieg noch unzureichender geordnet als vorher.
Sollen die schweren Konflikte sich lösen, so müßte in der europäischen Völkerwelt das Verhältnis von Führung und Masse — denn dieses ist, wie wir wissen, der wesentliche Inhalt jeder Verfassung — im Sinne der großartig gesteigerten Dimensionen des modernen Lebens neu geordnet werden. Es müßten sich am Erfolge die unzureichenden alten Führungsmächte umgestalten oder neue Führungsmächte auslesen. Es wäre dies eine Wandlung weitesten Umfanges, denn die bestehenden Führungen sind auf zahlreichen Lebensgebieten unzureichend, selbst in den alten Demokratien sind die geschichtlichen Führungen nicht mehr ganz befestigt. Tn der neuen Welt hilft der Reichtum über die Schärfe der Konflikte hinweg. Eine besondere Stellung hat Japan. Hier konnte die tief eingefahrene Bahn der tausendjährigen Überlieferung durch die moderne Ideologie nicht erschüttert werden. Dieses jüngste Weltreich hat sich nur in seinen äußeren Einrichtungen europäisiert, im Innersten seiner geschichtlichen Bildung ist es asiatisch geblieben. Es hat sich seine demokratische Verfassung nach europäischem Muster gegeben, aber [530] die tatsächliche Macht, die durchgreifende Herrschaft über die Gemüter ist beim Genre-, dieser Selbstauslese der erfahrensten Staatemänner, die durch den Welterfolg bestätigt sind.
Die Zahl der Vorschläge, die gemacht werden, um den Zustand zu bessern, ist kaum zu übersehen. Es ist nicht unsere Sache, diese Zahl noch durch einen neuen Vorschlag zu vermehren, wir wollen den Rahmen nicht überschreiten, der einer Darstellung des Gesetzes der Macht gezogen ist. Wohl aber fällt es uns zu, die von andern gemachten Vorschläge daraufhin zu prüfen, ob sie dem Gesetze der Macht entsprechen oder zuwiderlaufen, wobei wir freilich nirgends ins einzelne eingehen und uns nur auf das Allgemeinste beschränken werden. Es ist eine wichtige Sache, daß der Weg zur Austragung der bestehenden Macht konflikte richtig gewählt werde. Man muß mit der überall verbreiteten Reizbarkeit rechnen, man muß mit den vorhandenen Kräften sparen. Das Führerkapital Europas ist dezimiert und in seiner Massengeltung geschwächt worden, und was davon übrig ist, muß ohne schwankendes Suchen den Platz finden, wo es .mit Erfolg seinen Dienst des Vorangehens leisten kann.
Der nächste Weg, der sich zur Austragung der bestehenden Machtkonflikte zu bieten scheint, ist der der Belehrung. Wie weit kann uns dieser Weg führen?
Der hervorragende französische Physiologe Charles Richet, der sich auch durch kulturgeschichtliche und soziologische Arbeiten bekanntgemacht hat, spricht in einem kleinen Buch, das unter dem Titel „Der Mensch ist dumm“ ins Deutsche übertragen wurde, die Meinung aus, Linne habe unrecht getan, den Menschen als Homo sapiens zu bezeichnen, der richtige Name für ihn sei Homo stultus, denn er mache von seiner Vernunft, die er vor den Tieren voraus habe, einen Gebrauch, der ihn unter die Tiere stelle, er nütze die Kenntnisse, die er erworben habe, nicht dazu aus, um sein Handeln danach einzurichten, er wisse, was gut ist, und tue doch, was schlecht ist, er werde noch unter die am tiefsten stehenden, rohesten Wesen hinabsinken, wenn es ihm nicht gelingen sollte, seine Intelligenz zu heben.
Die lange Schilderung der menschlichen Torheiten, die Riebet« Buch füllt, zeigt die warme Empfindung eines vollen Herzens und die [531] reiche Erfahrung eines ernsten Kenners der Geschichte; in seiner gesellschaftlichen Psychologie indes erhebt sich Richet in nichts über die Anschauung des gebildeten Laien. Dies gibt uns den Anlaß, uns mit seinem Buche eingehend zu beschäftigen, in welchem wir die Auffassung vor uns haben, wie sie die gebildeten Menschen von heute in Rücksicht auf das gesellschaftliche Handeln besitzen. Man muß über diese Auffassung ganz hinwegkommen, wenn man sich über die Wege klar werden soll, die zur Austragung der bestehenden Machtkonflikte führen können.
Der grundlegende Irrtum besteht darin, daß man den Anteil weit überschätzt, den die Leistung des Verstandes am gesellschaftlichen Handeln nimmt. Gewiß wird jeder Irrtum über die Voraussetzungen dieses Handelns falsche Wege weisen, aber man ist des rechten Weges noch keineswegs schon deshalb sicher, weil man seine Voraussetzungen richtig erkannt hat. Es kann sein, und wie oft kommt es nicht vor, daß es an der Kraft fehlt, den Entschluß, den der Wille zu fassen hat, im Sinne des Schlusses zu fassen, den der Verstand zieht. Richet gibt an sich selbst hiefür ein hübsches Beispiel. Nachdem er vom Tabak gesagt hat, daß er ein Gift sei, ebenso verbreitet und schädlich wie der Alkohol, bekennt er mit heiterer Laune, daß er selbst ein starker Raucher sei; er habe sich in diese Angewöhnung verstrickt, ohne eine andere Entschuldigung dafür zu haben als den allgemeinen Wahnsinn, er habe nicht einmal die Entschuldigung wie viele andere Raucher, die sich damit auszureden suchen, daß der Tabak unschädlich sei, da er ganz genau wisse, daß sein Genuß ungesund, ja, ganz gerade herausgesagt, höchst ungesund sei. Hat in diesen Worten Richet nicht selbst die Behauptung widerlegt, die er bezüglich der menschlichen Intelligenz ausgesprochen hat ? Wenn der menschliche Verstand alle Schädlichkeiten so genau erkennen sollte, wie Richet die Schädlichkeit des Tabaks, so würde dies für sich allein noch nicht genügen, um die Menschen zu bewegen, daß sie ihr Handeln verständig einrichten, es käme immer noch darauf an, ob sie auch die Kraft des Willens besitzen, das Verständige zu tun. Das Handeln geht im letzten Grunde nicht von der Erkenntnis, sondern es geht vom Willen aus. Um sein Handeln verständig einzurichten, reicht es noch nicht hin, sich darüber zu belehren, was das Verständigste ist, der Weg der Belehrung gibt für sich allein noch keine Macht über den Willen.
Der gesellschaftliche Wille ist noch mehr als der persönliche Wille durch die Macht der Leidenschaft von dem Wege abgelenkt, den der Verstand weist, denn die gesellschaftliche Leidenschaft zwingt auch diejenigen, die sich von ihr freihalten wollten, unter den Bann, den das [532] Zusammengehen der vielen über die Gemüter übt. Außerdem ist die gesellschaftliche Willensbestimmung noch den schweren Hemmungen unterworfen, die durch den Apparat der gesellschaftlichen Willensbcstimmung bedingt sind. Dies ist der Punkt, an welchem die laienhafte Auffassung vom gesellschaftlichen Handeln immer versagt. Für den Laien vollzieht sich der gesellschaftliche Willensakt genau so wie der persönliche, man denkt sich ihn ebenso zweckbestimmt vollzogen, wie ihn der einzelne für sich vollzieht. Daß es seine ganz besonderen Schwierigkeiten hat, wenn Tausende oder Zehntausende im gleichen Schritt marschieren sollen, wird jedermann zugeben, aber daß es irgendwelche Schwierigkeiten haben soll, wenn sie geistig im gleichen Schritt zu gehen haben, will niemand verstehen.
Die Untersuchung der gesellschaftlichen Willensbestimmung, wie wir sie im ersten Teil dieses Buches vorgenommen haben, läßt uns die Dinge anders sehen. Wir wissen, daß die Gesellschaft nicht rein zweckbestimmt, sondern daß sie macht bestimmt handelt, wir wissen, daß sie immer nur soweit zweckbestimmt handelt, als die Mächte, von denen sie beherrscht wird, durch die Anpassung an den Erfolg zweckmäßig gerichtet sind. Die gesellschaftlichen Zwecke selbst sind in weitestem Maße machtbestimmt, sie sind als geschichtliche Wirklichkeiten da, durch geschichtlich eingelebte Mächte so lange gehalten, als diese nicht im kleinen oder großen des Mißerfolges abbröckeln oder zusammenbrechen oder sich in der Anpassung des Erfolges zu neuen Inhalten wandeln oder durch neue höhere Mächte überwunden werden. Die Fassung des Entschlusses verteilt sich auf die vorangehenden Führer und die nachfolgenden Massen. Die Führungen, denen die erste Bildung der großen gesellschaftlichen Körper zu danken ist, waren Gewaltführungen, in der ganzen Zeit der Staatengründung war der gesellschaftliche Wille zwangsbestimmt, und auch nachdem die großen gesellschaftlichen Körper endlich gebildet sind, ist es selten, daß der ganze Körper der gemeinsame Träger des gesellschaftlichen Handelns ist, vielmehr bestehen in ihm zahlreiche kleinere und größere Willonskreise nebeneinander, die einseitig im Sinne ihrer besonderen Interessen durch Teilmächte bestimmt sind, welche sich mit einander kreuzen, reiben oder ergänzen. Die Gesellschaft ist in Schichten aufgebaut, die, dem Gesetze des Kreislaufes folgend, sich nach den geschichtlich bedingten Kräften übereinander erheben oder gegeneinander ausgleichen. In der Phase des Kreislaufes, welche die demokratische Masse in die Höhe bringt, ist die gesellschaftliche Willensbestimmung besonders schwankend, die Massen sind freigegeben, ohne daß die Freiheitsorgane der Masse ausgereift [533] wären. Wenn neue Stufen der Entwicklung zu betreten sind, ereignen sich oft Rückschläge der Gewalt, und zum Schluß kann es noch sein, daß die gegebenen geschichtlichen Mächte in der Hartnäckigkeit ihres Machterhaltungstriebes die Gesellschaft vernichten, der sie dienen sollen.
Prüft man die einzelnen Fälle gesellschaftlicher Torheit nach, wie sie Richet schildert, so wird man fast immer finden, daß er den menschlichen Verstand deshalb so anklagt, weil er ihm die ganzen Unzulänglichkeiten mit zurechnet, die auf Seite der Willensbestimmung liegen. Die Gesellschaft besteht für ihn aus lauter Richets, die, abgesehen von der unvernünftigen Gewohnheit des Rauchens, ihren Willen ganz in ihrer Herrschaft haben und deren Verirrungen daher nur aus ihrem Unverstand erklärt werden können. So sagt er zum Beispiel in dem Abschnitt über das „Froschgequake des Sprachengewirres“, das Genie eineB Zamenhoff habe das Esperanto geschaffen, dessen Sprachlehre sich in einer einzigen Stunde erlernen und dessen Wortschatz sich in einem Monat fast völlig beherrschen lasse, aber die menschhehe Dummheit lasse es nicht zu, durch die Verbreitung des Esperanto eine Reform durchzuführen, die das gesamte Antlitz der Welt umgestalten würde. Er übersieht dabei die Willenshemmungen, die davon kommen, daß innerhalb der Gesellschaft jeder einzelne in seinen Entschließungen von den Entschließungen „der andern“ abhängig ist. Die Masse der Gebildeten würde das Esperanto ohneweiters lernen, wenn sie sicher wären, daß alle „andern“ es auch lernen, aber wie können sie dessen sicher werden, wie können sie sich träumen lassen, daß sich die Willen der Millionen der Welt gleichzeitig in Bewegung setzen werden ? Statt darüber ungehalten zu sein, daß der letzte Schritt zur Weltsprache noch nicht getan ist, sollte Richet darüber erstaunt sein, daß es gelungen ist, die vielen vorhergehenden Schritte zu machen, die notwendig waren, um die Menschen bis zum heutigen Grade der sprachlichen Verständigung zu bringen.
Bei dem, was Richet über das erschreckende Maß der gesellschaftlichen Ungleichheit sagt, über den Gegensatz der Reichen und Armen, der Sklavenhalter und Sklaven, der Herren und Knechte, der adeligen Junker und Hörigen, der Könige und Untertanen, urteilt er aus der warmen Empfindung seines Herzens und von der Kulturhöhe der besten Menschen unserer Zeit, er bedenkt jedoch nicht, daß die Gewalt ihr geschichtliches Werk getan haben mußte, um die widerstrebenden Willen der vielen so zu einigen, daß diese Kulturhöhe erreicht wurde, und daß es nicht leicht sein kann, die Spuren ihres geschichtlichen Werkes vollständig auszutilgen. Die Stufen der Ungleichheit, die er beklagt, sind [534] Notwendigkeiten des geschichtlichen Kreislaufes der Macht, der durch schwerste Kämpfe der Überschichtung hindurchgehen mußte, bevor er in seinem letzten Abschnitt ausgleichend enden kann.
Der Krieg, der Weltkrieg insbesondere, ist für Richet die furchtbarste aller menschlichen Torheiten. Die Schilderung der Wirkungen des Weltkrieges, wie er sie gibt, wird jeden Leser erschüttern, dennoch ist Richet im Irrtum, wenn er meint, durch die Wucht seiner Schilderung die Menschen vor einem nächsten Weltkrieg abgehalten zu haben. Als die Nationen sich in den Weltkrieg stürzten, wußten sie genau, was ihnen bevorstand, es war nicht Torheit, däß sie sich trotz ihres Wissens in den Krieg stürzten, es war die Hilflosigkeit ihres erschreckten Willens. Der erfahrene Dresseur weiß, daß die Hunde deshalb aufeinander losgehen, weil sie sich voreinander fürchten, und er hält sie daher in einem Stall beisammen, bis sie sich vertragen lernen und ihr Mißtrauen verlieren. Auch die Nationen mißtrauten sich und die geschichtliche Erfahrung gab ihnen allen Grund dazu. Ihre geschichtliche Erziehung hat ihnen kein anderes Mittel als das des Kampfes an die Hand gegeben, um ihre nationale Selbständigkeit zu verteidigen, wenn diese angegriffen war oder wenn sie meinten, daß sie angegriffen werde. Jede von ihnen weiß, daß „die andern“, die Gegner, ebenso denken wie sie, und darum hat keine den Mut des Friedens , denn jede muß fürchten, daß die „andern* um so gewisser über sie herfallen werden, wenn sie sie wehrlos vor sich sehen. Die Nationen können über den Willen zum äußeren Krieg nicht anders hinwegkommen, als wie sie über den Willen zum Bürgerkrieg hinweggekommen sind, nämlich durch eine geschichtüche Erziehung, die zwischen ihnen Friedensmächte aufrichtet. Diese Friedensmächte aufzurichten, reicht die zutreffendste Belehrung nicht aus, die in den Wind gesprochen ist, wenn sie sich an den unreifen Willen wendet. Die Belehrung des Verstandes muß von der Erziehung des Willens begleitet sein, die sich unter den Schlägen der geschichtlichen Mißerfolge und unter dem Segen der geseluchtlichen Erfolge vollzieht.
Der Kreislauf der Macht beginnt mit dem Werke der rohen Gewalt, er endet im friedlichen Zusammenwachsen der sich begegnenden ausgeglichenen Mächte. An welchem Punkte dieser Bewegung ist die Gegenwart in Rücksicht auf die Mächte angelangt, die am Werke der Zeit tätig sind ? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, die Spannung der Machtkonflikte der Gegenwart ist so groß, daß es vermessen wäre, ihr [535] baldiges friedliches Ausklingen zu erwarten. Vielleicht hat der Konflikt von Glauben und Wissen seinen Höhepunkt überschritten. Wenn es so ist, sollte es aber vielleicht nicht bloß deshalb so sein, weil die Kraft des Glaubens nachgelassen hat, und was wird geschehen, wenn der Glaube wieder einmal neu belebt werden sollte ? Immerhin ist so viel erreicht, daß die beiden Mächte einander respektieren gelernt haben, und man darf hoffen, daß dieses Gefühl nicht wieder verloren geht, sondern daß auch ein neubelebter Glaube die Macht des Wissens anerkennen und sein Reich nicht antasten werde.
Kann man auch bezüglich der andern bestehenden Machtkonflikte sagen, daß sie auf jenem Ruhepunkt angelangt sind, wo man sich wechselseitig respektieren gelernt hat 1 ? Kann man dies insbesondere bezüglich des nationalen Konfliktes sagen ? Sollte nicht die nationale Müdigkeit, die bei vielen Menschen nach den Erregungen des Weltkrieges eingetreten ist, der erste Ansatz zu nationaler Toleranz sein ? Diejenigen, die so denken, finden ein willkommenes Argument in der Berufung auf den Ausgang des Glaubensweltkrieges, des Dreißigjährigen Krieges. Ein österreichischer Staatsmann von ausgezeichneter wissenschaftlicher Bildung hat in einem Vortrag, den er vor kurzem hielt, die Meinung ausgesprochen, daß der nationale Konflikt ebenso mit dem Siege der Toleranz endigen werde, wie der konfessionelle. Der Gedanke hat etwas Einnehmendes, bei näherer Betrachtung wird man aber finden, daß zwischen den beiden Weltkriegen bei manchen Übereinstimmungen doch keine abschließende geschichtliche Analogie besteht; man muß sich nur von der Täuschung freimachen, in der wir die Dinge vermöge der historischen Verkürzungen schauen, die sich einstellen, wenn man sie aus der Ferne der Jahrhunderte und aus dem engen Gesichtskreis der deutschen Verhältnisse ansieht. Wenn man behauptet, der Dreißigjährige Krieg habe mit dem konfessionellen Frieden geschlossen, so gilt dies nur für das Deutsche Reich, und es gilt auch innerhalb des Deutschen Reiches nicht für die einzelnen Territorien, für die Welt draußen gilt es ganz und gar nicht. Innerhalb der deutschen Territorien hat, so wie in der Welt außerhalb des Deutschen Reiches, der Gedanke der konfessionellen Intoleranz zunächst seinen vollen Sieg gefeiert und es mußte mehr als ein Jahrhundert der bedeutsamsten geistigen Entwicklung vergehen, bis endlich in der Periode der Aufklärung der Gedanke der konfessionellen Toleranz zur Geltung kam. Zunächst hielten alle starken Staaten den Grundsatz der konfessionellen Einheit mit brutaler Energie fest, und sie mußten es tun, weil bei dem Grade, den die Glaubensspannung im 17. Jahrhundert hatte, kein Staat mit geschlossener Kraft [536] auftreten konnte, der nicht kirchlich geschlossen war. Das deutsche Landesfürstentum war eine starke Macht und darum hielt es mit unverrückbarer Festigkeit an dem Gebote fest, daß die Konfession des Fürsten über die Konfession der Untertanen entscheide. Alle starken Staaten außerhalb Deutschlands, in denen von der Reformation her noch verschiedene Kirchen bestanden, gingen mit Eifer darauf aus, die kirchliche Einheit herzustellen. In Frankreich hob derselbe König, der für die deutschen Protestanten die Waffen ergriffen hatte, das Edikt von Nantes auf, das den Hugenotten Religionsfreiheit gewährt hatte; in England wurden die Katholiken und Presbyterianer verfolgt, in den Niederlanden bekämpfte man die Arminianer leidenschaftlich, in der Schweiz konnten die Kirchen Roms, Calvins und Zwingiis nicht friedlich nebeneinander leben und auf der Höhe der Bewegung ergriffen die katholischen Urkantone gegen das protestantische Zürich die Waffen und besiegten den Reformator Zwingli, der im Kampfe fiel. In sich waren die Schweizer Kantone kirchlich geschlossen, es war also derselbe Zustand wie in Deutschland, daß die starken staatlichen Einheiten — hier die Landesfürstentümer, dort die Kantone — an der kirchlichen Einheit festhielten; die Toleranz, die hier das Reich, dort der Bund übte, war das deutüche Symptom ihrer Schwäche. Wirkliche konfessionelle Toleranz brachte erst die Periode der Aufklärung, aber auch dabei wirkte nicht die Duldsamkeit der Kraft, sondern die Erschlaffung der Schwäche. Der Sieg der Toleranz in der Periode der Aufklärung war die Folge davon, daß die Glaubensmacht durch das Aufkommen der neuen Wissensmacht ihren Schwung eingebüßt hatte, sie hatte über die Gemüter nicht mehr die ausschließliche Herrschaft wie in den Jahrhunderten vorher und der staatliche Sinn war in seiner Einheit nicht mehr bedroht, wenn die Kirchen im Staate gespalten waren. Der dynastische Sinn hatte sich so eingelebt, daß er stark genug war, den Staat auch ohne die Hilfe der Kirche zu halten. Die Kirche hatte eich so ziemlich auf ihre geistlichen Aufgaben zurückgezogen, nur auf gewissen Grenzgebieten gab es ab und zu lebhaftere Konflikte. Im 19. Jahrhundert wuchs sodann über den dynastischen Gedanken hinaus der nationale Gedanke als bindende staatliche Macht empor. Als das Deutsche Reich wieder errichtet wurde, war der konfessionelle Gegensatz so zurückgetreten und war der nationale Gedanke so stark geworden, daß er alle Gemüter für das Reich einigte. Im Kulturkampf, zu dem sich Bismarck gegen die Katholiken hinreißen ließ, hat er ihre Reichstreue mit Unrecht in Zweifel gestellt. Im Weltkrieg haben die deutschen Katholiken in gleicher Hingebung wie die Protestanten für das Reich ihr [537] Blut vergossen und die Feinde Deutschlands haben vergebens darauf gehofft, daß nach dem Umsturz der katholische Süden, Westen und Osten des Reiches sich von dem protestantischen Norden und Zentrum lostrennen werde.
Wenn die behauptete Analogie zwischen dem Ablauf des konfessionellen und nationalen Machtkonfliktes wirklich zutreffen sollte, so müßte noch etwa ein Jahrhundert der peinlichsten Sorge abgewartet werden, bis die nationale Spannung sich beruhigt hätte, und nach Ablauf dieses Jahrhunderts müßte der nationale Gedanke im Staat so zurücktreten wie der kirchliche Gedanke in der Periode der Aufklärung. So wird es gewiß nicht kommen. Welcher andere Gedanke ist in Sicht, der die tragende Kraft hätte, um die Staaten zusammenzuhalten ? Die Vorherrschaft der Kirche im Staate war eine Übergangserscheinung, sie war die Begleiterscheinung der Unfertigkcit des staatlichen Apparates, der noch zu einem guten Teil durch Gewalt zusammengehalten werden mußte, während die Kirche die Gemüter durch ihre innere Macht verband. Deshalb fiel es der Kirche zu, eine Reihe von dringenden Aufgaben zu besorgen, die außerhalb ihres eigentlichen Berufes lagen, die aber der Staat noch nicht zu besorgen vermochte. Sollte der nationale Gedanke im Staat auch nur eine Übergangsfunktion haben ? Greift die Nation als politische Nation über ihren wesentlichen Bereich hinaus ? Ist ihr Beruf etwa erfüllt, wenn sie sich auf den Dienst der Kulturnation beschränkt ? Ein Geschichtskenner von dem ausgezeichneten Blick Kjell6ns hat nach der Niederlage Deutschlands gemeint, daß es seine politische Rolle in der Welt ausgespielt habe und daß der deutschen Nation nur noch die Bestimmung bleibe, die Welt der Sieger kulturell zu durchdringen, so wie die Griechen dies im römischen Reich getan hätten. Welche von den Siegernationen oder von den andern großen und kleinen Nationen würde sich mit diesem Schicksal zufriedengeben? Welche würde sich entschließen können, den Gedanken des Nationalstaates zurückzustellen ? Der Ausnahmsfall der Schweiz ist kein Beweis gegen die allgemeine Regel. Wenn der staatliche Weltverband nur auf der Grundlage Zustandekommen könnte, daß die einzelnen Staaten ihre nationale Bindung aufgeben, so wurde er niemals Zustandekommen. Der Nationaltrieb geht von seiner Wurzel darauf aus, sich zur Krone des Staates auszuwachsen, die Kulturnation ist eine Zwischenform auf dem Wege zur politischen Nation, die Kulturaufgaben einer Nation sind nur ein Teil ihrer Gesamtaufgabe und diese Gesamtaufgabe ist so gestaltet, daß sie von der staatlichen Aufgabe nicht zu trennen ist. Selbst solche Nationen, die durch geschichtliche Hemmungen oder durch die Streulage ihrer [538] Siedlungen daran verhindert sind, sich staatlich auszuwachsen, werden sich nicht ohne starkes Widerstreben in einen übernationalen staatlichen Aufbau hineinfinden können.
Mit diesen Worten soll keineswegs gesagt sein, daß keine Hoffnung bestehe, die überreizte nationalistische Empfindung werde sich jemals zu nationaler Toleranz mäßigen. Diese Hoffnung darf niemals aufgegeben werden, der Weltfriede könnte sonst niemals gesichert sein. Eb soll nur gesagt sein, daß die nationale Toleranz nicht auf dem Wege erwartet werden darf, auf dem es zur konfessionellen Toleranz ge^ kommen ist, nicht auf dem Wege der staatlichen Verabschiedung des nationalen Gedankens und der Ermattung des nationalen Gefühls. Des nationalen Gedankens voll, müssen die Staaten einander friedlich begegnen, in selbstbewußter Kraft müssen die Nationen einander vertrauen und achten. Für diese Toleranz der Vollkraft, die wir erhoffen, gibt uns die behauptete Analogie der Glaubensbewegung mit ihrer Toleranz .der verfallenden Kraft kein Vorbild. Es ist dem gesellschaftlichen Willen damit eine viel schwierigere Leistung auferlegt. Kraftgefüllt sein und doch nachgiebig sein, erfordert höchste Reife.
Zwischen dem Ablauf des konfessionellen und des nationalen Machtkonfliktes besteht in einem ganz andern als dem behaupteten Punkte eine Analogie, die für die deutsche Nation äußerst schmerzhaft ist. Der Westfälische Friede hat das Deutsche Reich zur Schwäche verurteilt, weil er seine konfessionelle Spaltung unter ausländische Kontrolle stellte, und ebenso will das Friedensdiktat nach dem Weltkrieg die deutsche Nation zur Schwäche verurteilen, indem es ihr verwehrt, den nationalen Gedanken zu erfüllen, welcher der Gedanke der Zeit ist; Millionen von Deutschen sind von der Gemeinschaft des Nationalstaates abgeschnitten und ein großer Teil von ihnen ist unter die Macht fremdnationaler Staaten gezwungen. Während aber die kirchliche Zerrissenheit des deutschen Volkes von ihm selber ausgegangen ist, wird ihm die nationale Zerrissenheit gegen seinen Willen und mit Verletzung des Urrechtes seiner Selbstbestimmung aufgenötigt. Die kirchliche Zerrissenheit machte das Deutschland des 17. Jahrhunderts nach außen schwach, ohne daß sie von ihm selbst als Wunde empfunden wurde, die nationale Zerrissenheit, die ihm jetzt aufgenötigt ist, wird als brennende Wunde empfunden. Diese Wunde wird nicht von selbst verheilen! Zwar fehlt es unter den Deutschen nicht an Bürgern, deren müder Sinn es so erwartet und wünscht, es ist aber dafür gesorgt, daß der nationale Sinn immer neu erregt wird, denn die Deutschen, die in fremdnationale Staatswesen eingereiht wurden, sind dort die Opfer eines nationalistischen [539] Machtstrebens, das nach dem Maximum geht. Vergebliche Hoffnung, von der freien Entschließung des nationalistischen Machtstrebens Gerechtigkeit für die nationalen Minderheiten zu erwarten!
Was soeben für die deutsche Nation gesagt wurde, gilt auch für die andern Nationen, denen das Friedensdiktat Gewalt angetan hat. Man berechnet die Ziffer der Europäer, die als nationale Minderheiten leben, mit 30 Millionen. Wenn sie auch nicht alle unter drückendem Zwang stehen, so ist das nationale Empfinden in Europa doch in der Breite von Millionen schmerzlich verletzt. Die brennende Wunde wird durch rohe Eingriffe fort und fort offen gehalten, die Fieberkurve der nationalen Erregung ist im Steigen, und wer es mit dem Weltfrieden redlich meint, darf nicht abseits stehen und erwarten, daß die Dinge von selbst wieder gut werden.
Der französische Chauvinist war durch die Friedensbedingungen, so hart sie waren, noch nicht befriedigt. Er mißtraute auch dem verkleinerten, seiner Bundesgenossen beraubten, entwaffneten und verarmten Deutschland. Immer noch war die Bevölkerung Deutschlands um die Hälfte zahlreicher als die Frankreichs, und dieses Verhältnis mußte sich bei der geringeren Volksvermehrung Frankreichs von Jahr zu Jahr verschlechtern. Zwar konnte das deutsche Volk ohne Waffen und ohne Kapital keinen neuen Krieg beginnen, aber solange es nicht um seinen kriegerischen Sinn gebracht war, mußte der mißtrauische Haß es immer noch fürchten, es mochte im Laufe der Zeit wieder Waffen und Kapital sammeln, oder es mochte Bundesgenossen finden, die es mit Waffen und Kapital ausstatteten. Darum ging der französische Chauvinist immer weiter auf dem Weg, Deutschland zu schwächen und das System der militärischen Sicherungen zu verschärfen, mit denen es eingekreist war.
In der letzten Zeit hat die französische Politik diesen Weg aufgegeben. Man sah ein, daß man sich damit selber schädigte. Das empfindliche Wetterglas der Börse wies auf zunehmende Depression, die großen Kapitalmärkte der Welt entzogen dem Franc ihr Vertrauen. Frankreich erschöpfte sich an seinen Rüstungen und mit Frankreich zusammen mußten sich die befreundeten Staaten gerüstet halten, die Deutschland im Osten einzukreisen hatten. Die Einnahmen reichten nicht hin. um die Ausgaben zu decken, und dazu waren die Einnahmen ihrerseits bedroht, weil das geschwächte Deutschland die Zahlungen [540] nicht aufbrachte, zu denen man es verurteilt hatte. Das geschwächte Deutschland versagte nicht nur als Zahler seiner Schuldverpflichtungen, es versagte auch als Käufer, und die Sieger mußten erkennen, daß sie sich auch in diesem Punkt selber schädigten. Mehr noch als Frankreich war England betroffen und auch die eigentlichen Gewinner im Weltkampf, die Vereinigten Staaten von Amerika, waren mitbetroffen. Wenn Deutschland nicht kaufen konnte, so konnten England und die Vereinigten Staaten nicht an Deutschland verkaufen. Die Welt machte im größten Maß das Excmpcl auf die Richtigkeit der alten Lehre von der Arbeitsteilung und lernte die Schwere des Irrtums ermessen, den man begangen hatte, als man durch das Friedensdiktat das Gleichgewicht der Arbeitegemeinschaft der Welt gestört hatte.
Dies waren die Gründe, die den chauvinistischen Führern in Frankreich die Nachfolge der Mehrheit ihrer Nation entzogen. Mit alledem war man aber erst im Anfang besserer Erkenntnis, man war noch nicht weiter gekommen, als daß man die äußeren Symptome wahrnahm, die man am Kurszettel und in den Tabellen der Arbeitslosigkeit ablas. Man hatte noch den schweren Fortschritt der Erkenntnis zu machen, daß das ganze System des Friedensdiktates eine Verirrung war, die den Frieden nicht zuließ. Das Friedensdiktat war auf ein System der nationalen Verstümmlungen und Bedrückungen und der durch diese geforderten militärischen Sicherungen aufgebaut — ein Irrtum von Grund aus! Zwischen fertigen Nationen, die diesen Namen verdienen — und wir brauchen wohl kein Wort darüber zu verlieren, daß die deutsche Kulturnation ihn verdient — haben die militärischen Sicherungen keinen Sinn, denn sie zielen auf Waffenmacht, die Waffenmacht hat aber zwischen ihnen kein Werk mehr zu tun, und wenn sie ihr Werk dennoch versucht, so bricht sie und mit ihr die Gesellschaft in Götterdämmerung zusammen.
Wir haben unsererseits in unseren vorausgehenden Untersuchungen dem Werk der Gewalt einen breiten geschichtlichen Raum zugemessen. Wir haben der Gewalt die Aufgabe zugeteilt, den Weg der geschichtlichen Entwicklung ins Große zu eröffnen ; sie hat die Völker zu einigen, die erst in der Einigung ihre höchste Kraft finden und doch aus freiem Willen nicht zusammenkommen können, sie hat den Kreislauf der Macht zu beginnen und den Rahmen seiner Bewegung immer weiter zu spannen, selbst bei den Erhebungen zu höheren Stufen der Entwicklung haben wir ihr die Aufgabe zugeteilt, in vorübergehenden Rückschlägen die geschichtlichen Hemmungen abzuräumen, die im Wege stehen. Der höchste Zustand der Gesellschaft muß aber ohne Gewalt bestehen [541] können, er muß durch innere Mächte gesichert sein. Für diesen letzten Zustand ist das Ganze der Welt freilich noch nicht reif, in vielen Teilen der Welt, auf großen Gebieten auch von Europa, selbst in Staaten, wo man sich seiner Zivilisation rühmt, hat die Gewalt ihr Werk noch nicht zu Ende getan und daher darf auch der zum Frieden vollgereifte Staat sich seiner Gewaltmittel vorläufig noch nicht entäußern, wo er sich vor seinen kriegsentschlossenen Nachbarn schützen muß. Anders aber steht es zwischen den vollgereiften Kulturnationen selbst; für ihr Verhältnis untereinander hat die Gewalt keine Aufgabe mehr, zwischen ihnen ist durch das Gesetz des höchsten Erfolges die Gewalt ausgeschlossen, zwischen ihnen gebietet das Gesetz der Macht die Einstellung des Waffenkampfes für immer, denn zwischen ihnen müßte dieser Kampf auf Vernichtung hinauslaufen.
Auch zwischen barbarischen Völkern hat der Krieg mitunter mit Vernichtung geendet. Wenn wir den Weg der Geschichte in die Zeitalter der Barbarei zurück verfolgen, so sehen wir ihn mit Ruinen bedeckt. Wo aber in diesen Zeitaltern der Krieg sein Werk der Einigung getan hat, ohne die Volkskraft zu erschöpfen, da ist erhöhte Kraft und gesteigertes Leben aufgeblüht, die Verluste an Menschen und Reichtum waren bald wieder eingebracht. Gleich wie in gewissen Tälern die Legende berichtet, daß nach einer verheerenden Seuche der eine Jüngling und das eine Mädchen, die verschont geblieben waren, ein neues Geschlecht kräftiger Menschen gründeten, so hat es sich nach den Verheerungen der Kriege immer wieder ereignet, daß die überlebenden, die das Schwert des Feindes verschont hatte, in unverminderter Frische ihr Volk erneuerten, dank dem natürlichen Reichtum des von ihnen besiedelten Bodens, indem der Wald immer das Holz bot, um die zerstörten Hütten wieder aufzubauen, und die Herde sich immer rasch ergänzte und jeder Sommer neue Ernten hervorbrachte. Auch dort, wo Kulturvölker und Barbaren sieh im Kampfe trafen, mochte der Krieg den Kreislauf der Entwicklung fördern, ja gerade dieses Zusammentreffen hat ihn besonders gefördert. Die überlegene Kraft der Römer hat die Völkerschaften des europäischen Westens bis nach England hinüber in einem Reiche geeinigt, mit einer Nachwirkung auf Zivilisation und Kultur, die bis auf die Gegenwart wirkt. Die Unterwerfung eines Kulturvolkes durch kräftige barbarische Eroberer hat neue Volkseinheiten eines gesteigerten Typus geschaffen, die Hochkulturen Asiens sind auf diese Weise entstanden. Die europäischen Kulturvölker der Gegenwart sind dadurch zu ihrem Wesen gekommen, daß das Reis der antiken Kultur sich dem frischen Wildling barbarischer Kraft verband.
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Der Sieg im Weltkrieg war so vollständig, als er nur sein konnte, und doch hat er die Kulturwelt dem Ziele der Einigkeit um garnichts näher gebracht. Im Gegenteil, er hat Sieger und Besiegte in Haß und Mißtrauen auf das schärfste gegen einander gestellt. Nationen reagieren auf Eingriffe der Waffenmacht mit äußerster Empfindlichkeit. Ludwig XIV. konnte die Stücke des deutschen Elsaß, die ihm die Sprüche seiner Reunionskammem zuwiesen, an sich reißen, ohne daß er von der Schwäche, in der sich Kaiser und Reich befanden, Abwehr zu befürchten hatte. Als Friedrich der Große ein Stück des österreichischen Schlesien an sich riß, hat ihm Maria Theresia in dem Stolz ihres Herrschcrgefühlcs nach all ihren Kräften Widerstand geleistet und er mußte seinen Erwerb im Siebenjährigen Krieg verteidigen; die Völker Österreichs folgten ihrer Fürstin bei den Kriegen, die sie um Schlesien führte, in Treue, aber es war doch nur die Sache ihrer Fürstin, für die sie kämpften, und nicht ihre eigene Sache. Die französische Nation empfand den Verlust des Elsaß und gar des Gebietes von Metz, das sie im Frankfurter Frieden abtreten mußte, als eigensten Verlust. Eine Nation ist durch innere Mächte bis in ihre Tiefen zu einer Einheit verbunden, sie ist ein geschlossenes, inneres Machtaggregat, ihre nationalen Grenzen gelten ihr als die natürlichen Grenzen, und wenn ihr ein Streifen des nationalen Bestandes genommen wird, so empfindet sie dies wie den Verlust eines Gliedes, das zu ihrem Körper gehört. Auf seine Wiedererwerbung zu verzichten, hieße so viel, als auf nationale Selbständigkeit und Würde zu verzichten. Der nationale Idealismus ist bereit, sein Höchstes in dem gerechten Kampf zu leisten, der um die unverminderte Behauptung des nationalen Besitzstandes geführt werden muß. Darum werden die Kriege so furchtbar, in denen der Idealismus von Nationen zusammenstößt, die alle an ihre gerechte Sache glauben. Wie soll ein solcher Krieg enden ? Die „Entscheidungsschlacht“, die den dynastischen Krieg zu enden pflegte, entscheidet im Nationalkrieg nicht, denn die Nationen kämpfen bis zum Ende ihrer Kraft. Der Gegner muß erschöpft werden in einem Grade, welcher der Vernichtung nahekommt. Der Weltkrieg mit allen seinen Schauern gibt uns noch nicht das volle Bild des Erschöpfungskrieges, denn er wurde durch die wirtschaftliche Überlegenheit der Entente beendigt, bevor er zu voller militärischer Erschöpfung gediehen war. Der nächste Weltkrieg, der ihm folgen sollte, wird erst begonnen werden, bis die Massen auf beiden Seiten annähernd im Gleichgewicht formiert sind, und darum wird in ihm der Vernichtungswille bis zu Ende gehen müssen.
Wodurch hat das Werk der Gewalt seinen geschichtlichen [543] Sinn ? Es hat ihn dadurch, daß es durch die Überschichtung der Völker, die es erzwingt, den Kreislauf der Macht in der Welt seinem Ziele näherführt. Fertige Nationen dulden keine Überschichtung, sie stehen schon am Ziele des Kreislaufes. Zwischen ihnen ist kein anderes Verhältnis zulässig, als das wechselseitiger Achtung und Gleichheit in einer freien Völkerwelt. Jeden Versuch, den eine von ihnen machen sollte, sich über die andern zur Weltherrschaft zu erheben, werden diese bis zum letzten Rest ihrer Kraft bekämpfen. Napoleon hat diesen Versuch gemacht, selbst sein Genie ist dabei unterlegen. Es gibt keine Kraft auf Erden, die stark genug wäre, um eine lebendige Nation zu zerreißen oder zu zerdrücken; je gewaltsamer der Eingriff, um so nachhaltiger die Spannkraft des Widerstandes. Und könnte übrigens die siegende Nation ihres Sieges froh werden ? Sie hätte durch die Vernichtung der andern Kulturnationen die notwendigen Ergänzungen ihres eigenen Wesens zerstört und sie hätte bei sich selbst das materielle und moralische Kapital aufgezehrt, ohne das sie ihren Volksbestand und ihre Kultur nicht aufrechterhalten könnte. Sie hätte ihren Sieg mit dem eigenen Ruin zu bezahlen.
Wie nach der Niederwerfung Napoleons Österreich, Rußland und Preußen, die führenden Staaten des Kontinentes, sich zur Heiligen Allianz verbanden, um Europa den Frieden zu sichern, so haben die siegenden Staaten der Entente nach dem Weltkrieg den Völkerbund begründet, um den Weltfrieden vor neuen Erschütterungen zu bewahren. Bei der Heiligen Allianz sagte schon ihr Name, welche hohe Bedeutung ihre Stifter ihrer Aufgabe zumaßen; der Name des Völkerbundes ist bescheidener, aber seine Stifter waren nicht minder von der Heiligkeit ihrer Sache überzeugt. Sie maßen sich denn auch, ebenso wie die Heilige Allianz, die Befugnis zu, in die Verhältnisse solcher Staaten, die ihrem Verbände nicht angehörten, ordnend einzugreifen, wenn sie meinen sollten, daß dies im Interesse des Weltfriedens gefordert sei. Wie sich das siegende England, seine Selbständigkeit bewahrend, von der Heiligen Allianz ferngehalten hatte, so haben es die Vereinigten Staaten abgelehnt, sich der Freiheit ihrer Entschließung durch den Beitritt zum Völkerbund zu begeben; anderseits hat die Heilige Allianz dem besiegten Frankreich, gegen das sie ursprünglich gedacht war, den Beitritt gestattet und ebenso hat der Völkerbund den besiegten Mittelmächten, die zunächst ausgeschlossen waren, unter gewissen Voraussetzungen den Beitritt offen [544] gehalten und es scheint, daß Deutschland jetzt unmittelbar davor steht, um die Aufnahme anzusuchen und aufgenommen zu werden. Rußland wurde zum Beitritt nicht eingeladen, im übrigen wurde der Völkerbund von Anfang an allen Staaten der Welt offen gehalten und die übergroße Zahl ist ihm beigetreten. Er ist fast ein vollständiger Weltbund.
Die Heilige AlÜanz verdient ein besseres Andenken, als ihr die öffentliche Meinung der folgenden liberalen Ära bewahrt. Man ist darin einig, sie als Vertreterin eines beschränkten Polizeigeistes zu verurteilen, und dazu hatte man in der Tat genügenden Grund, man hätte jedoch nicht übersehen sollen, was sie in der Sache des europäischen Friedens getan hat. Das Friedenswerk des Wiener Kongresses, für das sie sich einsetzte, war ein wahres Friedenswerk. Nach den unwürdigen Zänkereien und Eifersüchteleien, die den Kongreß erfüllt hatten, war es am Ende doch gelungen, die staatlichen Grenzen der Nationen gegen einander so ziemlich im Sinne der Zeit zu ziehen, und diese Grenzen blieben in der Tat, alles in allem, bis zum Ausbruch des Weltkrieges fast unverändert. Die Kriege während dieses Jahrhunderts waren zum größten Teil, soweit es Europa betrifft, innere Kriege oder im Zusammenhang mit inneren Kriegen, und die politischen Veränderungen, die sich in Europa ereigneten, dienten in der Hauptsache den inneren nationalen Auseinandersetzungen, wie sie durch spätere Entwicklungen gefordert waren, die der Wiener Kongreß nicht hatte voraussehen können. Wird man vom Friedenswerk des Völkerbundes nach einem Jahrhundert auch sagen können, daß es Halt und Dauer gehabt habe, weil es im Sinne der Zeit gedacht war ?
Wenn der Völkerbund dazu bestimmt bleibt, wie es seine Stifter ursprünglich gemeint hatten, dem Friedensdiktat der Sieger Halt und Dauer zu geben, so wird man dies gewiß nicht sagen können. Ein Bund, der den Frieden bewahren soll, wie ihn die Sieger des Weltkrieges diktierten, ist kein Friedensbund, sondern ein Bund der Gewalt, weil dieser Frieden kein Frieden, sondern eine Ordnung der Gewalt ist, die gegen den Sinn der Zeit streitet. Der Sinn, der die Zeit in Rücksicht auf das Verhältnis der Nationen leitet, ist in den Kriegsmanifesten der Entente in einigen seiner wesentlichen Stücke mit treffenden Worten verkündet worden und ist abschließend in Wilsons Erklärung der vierzehn Punkte niedergelegt, die ein geschichtliches Zeitdokument ist. Sieger und Besiegte haben sich in ihr zusammengefunden und das deutsche Volk hat im Vertrauen auf sie die Waffen niedergelegt. Das Friedensdiktat indes hat sich nicht an die feierlich abgegebene Erklärung gehalten, es hat den Besiegten das nationale Urrecht der Selbstbestimmung [545] abgesprochen, obwohl den Siegern ihr Wissen und Gewissen sagen mußte, daß in der Ära des Nationalismus dieses Urrecht keiner Nation entwunden werden darf und kann. Was ist der tiefste Grund des Mißtrauens, das Frankreich gegenüber Deutschland hat, als das Bewußtsein, daß dieses sich in den Frieden der Gewalt auf die Dauer nicht fügen werde!
In seinen Taten hat sich der Völkerbund in nicht geringem Maße über den Geist erhoben, aus dem er gegründet wurde. Er ist in einer Reihe von wichtigen Fällen als wahres Organ des Weltfriedens tätig gewesen. Die Welt besitzt in ihm, wie man nach diesen Proben sagen darf, die ersten Grundlagen der Verfassung, die sie braucht. Der Völkerbund hat eine moralische Macht, die sich als ausreichend erwies, um kleinere Völker, welche unmittelbar daran waren, den Frieden zu stören, im Zaum zu halten, und er hat sich in seinen Satzungen auch materielle Machtmittel eingerichtet, die es ihm ermöglichen, selbst stärkere Völker vom Krieg abzuschrecken, oder wenn sie doch den Frieden gebrochen haben, durch militärische Exekution wieder zur Ruhe zu verhalten. Der Völkerbund hat sich aber nicht bloß als Polizeiorgan des Weltdienstes bewährt, sondern er hat als bereites Hilfsorgan gewirkt, um Bedrängnisse von Staat und Volk zu beheben oder zu lindern, die für den Weltzustand bedrohlich werden konnten, und wenn einmal Deutschland dem Völkerbundrat angehören sollte, werden auch die nationalen Minderheiten den Vertreter haben, den sie nach den Satzungen des Völkerbundes brauchen, um ihre Angelegenheiten vorzubringen. Dort freilich, wo das Interesse der großen Siegermächte oder der ihnen nahe befreundeten Nationen in Frage kam, hat der Völkerbund versagt. Die Entscheidung, die er über Oberschlesien traf, wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch von vielen unparteiischen Männern außerhalb Deutschlands als grobe Ungerechtigkeit empfunden. Viel schlimmer noch ist es, daß Konflikte, die das Interesse der Mächtigen des Bundes unmittelbar angingen, überhaupt nicht vor den Bund gebracht werden konnten, wollte man sich nicht der Gefahr aussetzen, den Bund zu sprengen. Wie wird es sein, wenn zwischen den Mächtigen des Bundes Konflikte ausbrechen, die ihre Lebensinteressen angehen? Der Völkerbund mag die kleinen Friedensbrecher exequieren, wird er aber nicht die großen gewähren lassen müssen ? Die Tatsache, daß die Großmächte immer noch in ihren Rüstungen verharren oder gar fortschreiten, läßt sich kaum anders erklären, als daß sie einander selbst noch mißtrauen; es kann nicht das Mißtrauen gegen das entwaffnete Deutschland sein, das sie von der Abrüstung abhält. Für jeden, der [546] Augen hat, zu sehen, ist es heute klar geworden, daß nicht gerade Deutschland mit seinem Absolutismus und Militarismus der schlimme Friedensstörer der Welt war, es ist klar geworden, daß die Großstaaten noch immer glauben, sich des Mittels der militärischen Selbsthilfe nicht entäußern zu dürfen. Auch nach dem Ausscheiden Deutschlands sind unter den leitenden Mächten die Gegensätze der Interessen nicht zur Ruhe gekommen und man muß nicht gerade Pessimist sein, um anzunehmen, daß der Krieg wieder ausbrechen werde, wenn die Konflikte wieder einmal aufs äußerste gespannt sind.
Unter den politisch erfahrenen Männern, nicht nur der besiegten, sondern auch der Siegerstaaten, brechen viele über den Völkerbund den Stab, weil er doch nur eine Schöpfung der Gewalt ist, welche sich unter der Maske einer Friedensschöpfung verbirgt. Wer seinen Blick geschichtlich geschult hat, wird es gar nicht anders erwarten können! Der Völkerbund hat gar nicht anders entstehen können, als in dieser Weise, das Gesetz der Macht fordert es, daß er durch Gewalt begründet wurde. Das Gesetz der Macht bringt es mit sich, daß die Zwangsform die Entwicklung beginnt, die nach und nach zur Rechtsform und von dieser zur inneren Rechtsmacht hinüberleitet. Das ist der ewige Gang der Geschichte gewesen, die der Gewalt ihr Werk zuweist, welches nur von ihr getan werden kann. Niemals hätte sich der Unabhängigkeitssinn der starken Nationen ohne Not dareingefügt, ihre Unabhängigkeit durch die Satzung eines Bundes zu mindern; den Vereinigten Staaten von Amerika erlaubt es ihr Unabhängigkeitssinn noch heute nicht, sich dem Völkerbund anzuschließen, und wir dürften uns nicht wundern, wenn die starken Nationen, die den Völkerbund stifteten, es mit dem inneren Vorbehalt getan haben sollten, seine Satzungen nur gegen die Besiegten und niemals gegen sich selbst anwenden zu lassen.
Daher darf man nicht sagen, daß der Völkerbund auf dem Wege zum Frieden ein falscher Schritt sei. Er ist der notwendige erste Schritt, der naturgemäß noch nicht bis ins Freie führen kann, der aber eben getan werden mußte, bevor der nächste Schritt getan werden kann, der aus der Sphäre des Kampfes endgültig herausführt. Nachdem der Völkerbund nun einmal besteht, haben die Nationen, die den Frieden wollen, eine Instanz, an die sich ihr Friedenswille zu wenden vermag, und ihr Beispiel wird auch für diejenigen bedeutsam sein, die dem Frieden noch mißtrauen. Bisher war zwischen den Nationen alles getan, um gegen bedrohliche Angriffe militärischen Schutz vorzubereiten, nun ist endlich auch für die friedliche Austragung eine gewisse Vorbereitung [547] getroffen. Hat sich der Völkerbund als Organ der friedlichen Austragung in kleineren Konflikten bewährt, so wird er später vielleicht auch in größeren Konflikten vertrauensvoll angerufen werden. Hier wie sonst wird der Erfolg das Mittel geschichtlicher Erziehung sein.
Für die Entwicklung des Völkerbundes wird es entscheidend sein, welche Entwicklung die nationale Idee nehmen wird. Solange die bestehende nationalistische Ausartung anhält, werden die Spannungen zwischen den nationalen Mehrheiten und Minderheiten wie zwischen den Nationalstaaten kein Ende nehmen und der Völkerbund wird mit nationalen Zusammenstößen zu tun haben, bei denen die nationalen Wunden, die heute aufgerissen sind, offen bleiben werden. Dort wo die Mächtigen die daraus entstehenden Konflikte zugunsten ihrer Freunde entscheiden, werden die Entscheidungen des Völkerbundes als Ungerechtigkeiten empfunden werden und ihm seine Herrschaft über die Gemüter nehmen. Falls aber die Mächtigen des Bundes mit ihren nationalistischen Bestrebungen selbst gegeneinanderstoßen, wird der Bund ganz in Brüche gehen und die Waffen werden entscheiden müssen. Die nationale Idee müßte sich überall in Führern und Massen von ihren nationalistischen Ausartungen reinigen, damit das Vertrauen entstehen könne, welches die Rechtsfonn des Bundes zu innerer Rechtsmacht erhöht. Es müßte eine wahre nationale Reformation über die Gemüter kommen, die sich an bloßer Toleranz nicht genügen läßt und auch beim Gefühl wechselseitiger Achtung nicht stehen bleibt, sondern bis zu der Höhe ausreift, auf welcher die Nationen sich als die zusammengehörigen Elemente vollendeter menschlicher Zivilisation und Kultur erkennen. Erst ein Völkerbund, dem diese gereinigte Kraft die tragende Unterlage gibt, wird wirklich eine moralische und materielle Friedensmacht sein.
Vorläufig haben auch die reifsten Nationen noch gar viel zu tun, um sich zu dieser Höhe zu erheben. Sie alle sind gegeneinander noch voll überkommenen Mißtrauens und es wird langer Prüfungen bedürfen, bis der rauhe Winter ihres Mißtrauens dem Sommer warmen Vertrauens gewichen ist. Im Nationalgefühl sind die gesunden und die ausgearteten Triebe miteinander in innigster Verbindung verwachsen; wo man sich nationalistischer Übergriffe schuldig gemacht hat, sind diese zumeist mit den Erinnerungen geschichtlicher Großtaten verwoben und der nationale Stolz wird sich nur schwer soweit überwinden können, das unrechte Gut herauszugeben, was er durch diese erworben hat. Es ist ein schwerer Entschluß, von der Erkenntnis des begangenen Unrechtes bis zur Wiedergutmachung vorzuschreiten. König Claudius im Hamlet [548] hat erkannt, daß er seine Krone und sein Weib auf schuldhafte Weise besitzt, aber dennoch bringt er es nicht über sich, auf ihren Besitz zu verzichten. Um wieviel schwerer als für den einzelnen muß es für ein Volk sein, bis zu der Höhe der Selbstüberwindung vorzuschreiten, um sein Unrecht nicht nur zu erkennen, sondern auch voll gutzumachen! Eine überschäumende Welle nationalen Gerechtigkeitsgefühles müßte über die Welt gehen, um die Ungerechtigkeiten auszugleichen, die sich als Folgen des Weltkrieges aufgetürmt haben.
Die nationale Reformation hat ihre Aufgabe nicht nur nach außen in Rücksicht auf das Verhältnis der Nationen zueinander, sondern auch im Innern der Nationen selbst. Nach außen muß das nationale Selbstgefühl so in Schranken gehalten werden, daß es dem Gefühl für das fremde nationale Recht Raum gibt, im Innern muß es so stark entwickelt werden, daß es die beherrschende Stärke erhält, um die gegeneinander wirkenden politischen und sozialen Mächte zu binden. Das äußere und das innere Werk, das zu tun ist, kann nur getan werden, wenn eine Friedensmacht von überwältigender Stärke aufgerichtet wird.
Es ist dies ganz deutlich für die Friedensmacht, die nach außen zu wirken hätte. Die Friedensmacht, die imstande sein sollte, gegen die zum Kriege drängenden Mächte aufzukommen, müßte so überwältigend sein, wie es die kirchliche Friedensmacht gegenüber den Waffen der Römer und dem Schwerte der deutschen Kaiser war. Wie diese müßte sie eine innere Macht sein, die zugleich ihre feste äußere Organisation hat. Dazu reicht ein müdes Friedensgefühl nicht aus, das von keiner andern Kraft getragen ist als von dem Wunsche, verschont von den Beschwerden des Krieges seine Ruhe zu genießen. Millionen solcher Friedensfreunde zusammengenommen geben auf der Wage der Geschichte keinen Ausschlag; sie sind dazu bestimmt, in ihrer Kraft vollends zu erschlaffen und die Beute des nächsten Gewaltherrn zu werden, der im Innern aufsteht oder von außen hereindringt. Sie werden entweder von ihren entschlosseneren Nachbarn mit Krieg überzogen oder sie werden von den noch schlimmeren bürgerlichen Unruhen und Greueln heimgesucht werden. Es reicht auch noch nicht aus, wenn sich solche Friedensfreunde zu einem Verein oder zu einem Bund versammeln, wie groß auch der Name sei, den sie ihrer Versammlung geben, und wie scharfsinnig auch die Satzungen ausgearbeitet seien, die sie befolgen [549] wollen, um dem Krieg auszuweichen. Solche Bestrebungen sind gewiß löblich, aber sie bleiben im Reich der Wünsche und vermögen die ehernen Pforten der Wirklichkeit nicht zu sprengen. Eine Friedensmacht, die wirken ao'J, müßte zwingende Macht über die Herzen haben, sie müßte einem Ideal leben, das die Fülirer begeistert und die Massen erhebt. Sie müßte Führer und Massen mit einer moralischen Tapferkeit erfüllen, die der soldatischen Tapferkeit ebenbürtig wäre, und müßte in ihnen ein Pflichtgefühl ohne Ende erwecken. Sie würde sich mit den Mächten des Krieges nur messen können, wenn sie ihre Kühnheit, ihren Gehorsam, ihre Ritterlichkeit annimmt als ein Friedensorden, der von den Ritterorden der Kreuzzüge die doppelte Pflicht übernimmt, wie der Pflege, die vor allem der Seele gelten müßte, so des Kampfes, der als moralischer Kampf nicht geringere Anforderungen zu stellen hätte — als ein Friedensorden, der vom Freimaurerorden das ungestüme Streben nach Licht übernimmt, und, auf alle Gefahr des Mißverständnisses sei es gesagt, vom Jesuitenorden die gesteigerte Strenge der Zucht, die tiefe Weltund Menschenkenntnis, die Überzeugung von der Heiligkeit der eigenen Sache und den unbeugsam zwingenden Willen zur Macht.
Nicht minder stark müßte die Friedensmacht sein, die den Kampf um den Frieden im Innern der Nationen zu kämpfen hätte und die hier bestehenden Machtkonflikte durch den verbindenden nationalen Geist lösen sollte. Die Klassen innerhalb der Nation sind gegeneinander angriff sbegieriger als die Nationen; keine von den Nationen, die in den Weltkrieg hineingerissen wurden, wollte angreifen, sie alle wurden gegen ihren Wunsch in den Krieg hineingerissen, die proletarische Klasse dagegen hat in ihren Programmen den Kampf offen angesagt und die extremen politischen Parteien tun es überall und es wäre bei mancher Gelegenheit schon längt zum Ausbruch von Feindseligkeiten gekommen, wenn man gegeneinander so gerüstet gewesen wäre. wie die Staaten. Sobald die Massen Waffen in der Hand hatten, wie die Pariser Kommunisten im Jahre 1871 oder die proletarischen Massen in Rußland und an manchen andern Orten nach dem Umsturz, so war der Bürgerkrieg entbrannt. Welche Aufgaben hätte ein nationaler Friedensorden nicht im Innern der Nation, um Lehrer, Ordner und Pfleger, und neben ihnen Lehrerinnen, Ordnerinnen und Pflegerinnen an all den vielen Plätzen zu beschäftigen, wo Elend zu mildern, wo Konflikte auszugleichen, wo die gesellschaftliche Erziehung zu fördern ist!
Die Menschen, die sich vereinigen, um den Kampf für den Frieden zu kämpfen, dürften sich nicht als besondere Parteien neben den andern Parteien auftun, sie müßten sich abseits von den Parteien halten, mit [550] deren beschränkteren Zwecken sie nichts zu tun hätten, weil sie Erneuerung von Grund aus suchen. Wie der Geist der Mönche von Clugny die Kirche in ihrer ganzen Hierarchie durchdrang, so hätten sie die Nation durch alle ihre Schichten mit verbindendem nationalen Geist zu erfüllen. In ihnen wurden sich wohl auch die Führer und Massen für die modernen Freiheitsorgane ausbilden, die der demokratischen Bewegung Halt und Sinn zu geben haben.
Überall unter den reifen Nationen sind in allerlei Formen Bestrebungen im Sinne des äußeren Friedens im Gange, um den der Kampf in erster Linie zu führen ist. In dem zu früh dahingeschiedenen Morel hat die englische Nation einen Helden de« Friedenskampfes besessen. Der entwaffneten detitschen Nation fiele es insbesondere zu, in vorbildlicher Weise durch nationale Reformation die Friedensmacht zu gestalten, die über die äußere Gewalt den Sieg gewinnt.
Für den politischen Kalkül von heute hat die Jugendbewegung nicht die mindeste Bedeutung, kein Staatsmann hat sie irgendwie in Anschlag zu bringen. In einer getreuen Bilanz der gesellschaftlichen Kräfte muß sie dagegen berücksichtigt werden. Die Größe des Gegenwartswertes, mit dem sie einzustellen wäre, ist zwar ganz unsicher, dennoch darf sie bei der Beschreibung der vorhandenen Werte nicht vernachlässigt werden. Das Fünkchen von Licht, das von ihr ausgeht, ist in dem schweren Dunkel, in das die Gegenwart versenkt ist, kaum wahrzunehmen, vielleicht ist es aber dazu bestimmt, schon in einer nahen Zukunft, wenn die Jünglinge von heute als Männer tätig sein werden, als strahlendes Licht die Welt zu erhellen.
Die Jugendbewegung hat ihren Ursprung in den alten Kulturländern Europas. Sie hat sich hier aus ihren nationalen Anfängen zu einer europäischen Bewegung zusammengeschlossen und hat von hier ihre Ausstrahlungen zu allen kulturfähigen Nationen und Rassen der andern Kontinente ausgesendet. Sie umfaßt heute schon, wenn man ihr alles zuzählen darf, was ihren Namen führt, Millionen von Mitgliedern. Der Beobachter, der es mit der Sache ernst nimmt, muß von dieser Ziffer alle diejenigen ausscheiden, die sich in den bloßen Äußerlichkeiten der Bewegung gefallen und von denen sich die echten Jugend verbände mit Geringschätzung abwenden. Es sind dies, wie einer von den Echten sie beschreibt, „Gruppen von unbefriedigten, neurasthenischen Leuten, die sich aus Schwäche und Unfähigkeit und nicht aus Kraftgefühl zusammengefunden [551] haben, die nicht allein zu stehen vermögen und denen die Weisheit des Schweigens fehlt“, oder es sind Gruppen, die, wie derselbe strenge Beurteiler sagt, von Kreisen der absterbenden Welt eingefangen wurden, von den Kirchen oder von alten politischen Parteien. Den einen wie den andern Gruppen bringen die echten Bünde und Orden bitterste Feindschaft entgegen.
Wie groß der echte Kern ist, läßt sich von einem außenstehenden Beobachter nicht erkennen. In Deutschland gehört ihm eine große Zahl der akademischen Jugend nicht zu, die noch in den geschichtlichen Überlieferungen befangen ist, welche den jungen Mann zum Waffengebrauch und zum Krieg aufrufen und für welche die moralische Tapferkeit nichts zählt, die für den Kampf um den Frieden gefordert ist. Wir dürfen annehmen, daß auch außerhalb Deutschlands die Zahl der jungen Männer klein ist, die den Kern der Bewegung bilden. Könnte es auch anders sein ? Immer sind es nur wenige, bei Alt und J ung, deren Geist und Wille wirklich in Bewegung ist, diese wenigen jedoch sind auserwählt, die Führer der Masse zu sein. Die Losung, die der echte Kern der Jugendbewegung ausgegeben hat, ist „Selbständigkeit“ und „Dienst“ — die richtige Losung für den werdenden Führer, dessen Aufgabe es ist, der Masse zu dienen, indem er ihr selbständig vorangeht. Die echte Jugendbewegung ist eine Führerschule, die dazu berufen ist, die kleine Zahl derer zu bilden, die der großen Zahl als Fülirer das Gesetz geben werden.
Nicht leicht ist es für den außenstehenden Beobachter, durch den wallenden Nebel der symboüschen Worte und Akte bis zum wesenhaften Grunde der Bewegung zu gelangen. Man darf sich aber durch solche krause Äußerungen der Kraft nicht beirren lassen; eine Bewegung, die ganz klar beginnt, wird in ihrem nächsten Abschnitt schon nüchtern sein. Aus dem brausenden Bergwasser leitet der Techniker die großen treibenden Energien ab; so können auch die moralischen Energien, welche die Gesellschaft braucht, nur aus solchen Bewegungen abgeleitet werden, die sich im Eifer des Strebens überstürzen.
Was sich unter den verhüllenden Symbolen an leitenden Trieben erkennen läßt, ist gut. Man will aus den Machtkonflikten heraus, in denen sich die Menschheit der Gegenwart verbraucht. Man kennt den trennenden Nationalhaß nicht mehr, man ist wohl auch über das trennende Klassengefühl hinüber, man schwankt auch nicht mehr zwischen Glauben und Wissen unsicher hin und her. Allem Dogmenwesen fremd, ist man im tiefsten Sinne religiös, in dem Verlangen, wie der Führer eines der englischen Bünde sagt, den großen namenlosen Gott der [552] ganzen Menschheit zu bekennen — der „in tausend und ein verschiedenen Religionen, Idolen, Ikonen, Bildern und Symbolen angebetet wird und auch das Zeichen der Agnostiker ist“. Man hat jeder Art von bürgerlichem und militärischem Kampf abgesagt und hat sich dazu entschlossen, „die unsichtbare Waffe der Gewaltlosigkeit zu schwingen“. Es ist für eine Bewegung dieser Tiefe eine Selbstverständlichkeit, daß man sich in der Geschlossenheit von Orden vereinigt.
Vielleicht kann man den Inhalt dieser echten Jugendbewegung dahin zusammenfassen, daß sie darnach strebt, die tiefste, die innerlichste, die Urkraft des menschlichen Wesens zu wecken.
Keiner der großen menschlichen Bewegungen ist es bisher gelungen, ganz bis an ihr Ziel zu kommen. Sollte es der Jugendbewegung gelingen ? Wir wollen keine Antwort auf die Frage suchen, es genügt uns, festzustellen, daß das Ziel, nach dem sie strebt, dasselbe ist, dem das Gesetz der Macht zustrebt, welches von der äußeren zur inneren Macht hinüberleitet. Es ist ein gutes Gefühl, sich sagen zu dürfen, daß die Besten unserer Jugend den Willen zur inneren Kraft haben.