LUDWIG MISES,
Nation, Staat und Wirtschaft. Beiträge zur Politik und Geschichte der Zeit (1919)

[Created: 21 March, 2024]
[Updated: 2 April, 2024]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

This is an e-Book from
The Digital Library of Liberty & Power
<davidmhart.com/liberty/Books>

 

Source

Ludwig Mises, Nation, Staat und Wirtschaft. Beiträge zur Politik und Geschichte der Zeit (Wien und Leipzig: Manzsche Verlags- und Universitäts-Buchhandlung, 1919).http://davidmhart.com/liberty/Books/1919-Mises_NationStaat/Mises_NationStaat1919-ebook.html

Ludwig Mises, Nation, Staat und Wirtschaft. Beiträge zur Politik und Geschichte der Zeit (Wien und Leipzig: Manzsche Verlags- und Universitäts-Buchhandlung, 1919).

Editor's Introduction

To make this edition useful to scholars and to make it more readable, I have done the following:

  1. inserted and highlighted the page numbers of the original edition
  2. not split a word if it has been hyphenated across a new line or page (this will assist in making word searches)
  3. added unique paragraph IDs (which are used in the "citation tool" which is part of the "enhanced HTML" version of this text)
  4. retained the spaces which separate sections of the text
  5. created a "blocktext" for large quotations
  6. moved the Table of Contents to the beginning of the text
  7. placed the footnotes at the end of the book
  8. reformatted margin notes to float within the paragraph
  9. inserted Greek and Hebrew words as images

 


 

[IV]

Inhaltsverzeichnis.

  • Vorwort III
  • Inhaltsverzeichnis IV
  • Einleitung 1
  • Nation und Staat 7
  • I. Nation und Nationalität 7
    • 1. Die Nation als Sprachgemeinschaft 7
    • 2. Mundart und Kultursprache 17
    • 3. Nationale Wandlungen 22
  • II. Das Nationalitätsprinzip der Politik 25
    • 1. Der liberale oder pazifistische Nationalismus 25
    • 2. Der militante oder imperialistische Nationalismus 31
      • a) Die nationale Frage in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung . 31
      • b) Das Wanderproblem und der Nationalismus 45
      • c) Die Wurzeln des Imperialismus 62
      • d) Der Pazifismus 69
    • 3. Zur Geschichte der deutschen Demokratie 79
      • a) Preußen 79
      • b) Österreich 87
  • Krieg und Wirtschaft 108
    • 1. Die Wirtschaftslage der Mittelmächte im Kriege 108
    • 2. Der Kriegssozialismus 115
    • 3. Autarkie und Großvorratswirtschaft 119
    • 4. Die Kriegskosten der Volkswirtschaft und die Inflation 123
    • 5. Die Deckung der staatlichen Kriegskosten 134
    • 6. Kriegssozialismus und echter Sozialismus 140
  • Sozialismus und Imperialismus 145
    • 1. Der Sozialismus und seine Gegner 145
    • 2. Sozialismus und Utopie 150
    • 3. Zentralistischer und syndikalistischer Sozialismus 160
    • 4. Der sozialistische Imperialismus 167
  • Schlußbetrachtungen 174
  • Fußnoten

 


 

[III]

Vorwort.

Die Blätter, die ich hiemit der Öffentlichkeit übergebe, maßen sich nicht an, mehr zu sein als Betrachtungen über die weltgeschichtliche Krise, in der wir leben, und als Beiträge zur Erkenntnis der politischen Verhältnisse der Zeit. Ich weiß, daß jeder Versuch, mehr zu bieten, verfrüht und daher verfehlt wäre. Selbst wenn wir in der Lage wären, die Zusammenhänge klar zu durchschauen und zu erkennen, wohin die Entwicklung führt, wäre es uns unmöglich, den gewaltigen Ereignissen unserer Tage objektiv gegenüber zu treten und sich den Blick nicht durch Wünsche und Hoffnungen trüben zu lassen. Wenn man mitten im Kampfe steht, müht man sich vergebens, kühle Ruhe zu bewahren. Es geht über Menschenkraft, die Lebensfragen seiner Zeit sine ira et studio zu behandeln. Man wird mir keinen Vorwurf daraus machen können, daß auch ich von dieser Regel keine Ausnahme bilde.

Es wird vielleicht scheinen, daß die Gegenstände, die in den einzelnen Teilen dieser Schrift behandelt werden, nur äußerlich zusammenhängen. Doch ich glaube, daß sie innerlich verknüpft werden durch den Zweck, dem diese Studie dient. Selbstverständlich kann es sich bei derartigen Betrachtungen, die immer ein Bruchstück bleiben müssen, nicht um Vollständigkeit und Geschlossenheit des Ganzen handeln. Die Aufgabe kann nur die sein, die Aufmerksamkeit des Lesers auf Punkte, die in der öffentlichen Erörterung nicht genug berücksichtigt zu werden pflegen, hinzulenken.

Wien, Anfang Juli 1919.

Prof. Dr. L Mises.

 


 

[1]

Einleitung.

Nur unhistorische Denkungsart vermag die Frage aufzuwerfen, ob und wie der Weltkrieg hätte vermieden werden können. Daß es zum Kriege kam, beweist, daß die Kräfte, die wirksam waren ihn herbeizuführen, stärker waren als jene, die ihn hintanzuhalten suchten. Es ist leicht, nachträglich zu zeigen, wie man es hätte besser anstellen können, müssen oder sollen. Daß das deutsche Volk im Krieg Erfahrungen gemacht hat, die es vom Krieg abgehalten hätten, wenn es eben diese Erfahrungen schon früher gemacht hätte, ist klar. Aber Völker wie einzelne werden nur durch Erfahrung, und nur durch die eigene Erfahrung klug. Jetzt freilich ist es leicht einzusehen, daß das deutsche Volk heute ganz anders dastehen würde, wenn es in jenem schicksalsschweren Jahre 1848 das Joch der Fürstenherrschaft abgeschüttelt, wenn Weimar über Potsdam gesiegt hätte und nicht Potsdam über Weimar. Aber jeder Mensch muß sein Leben, jedes Volk seine Geschichte nehmen, wie es gekommen ist; nichts ist unnützer als das Klagen über nicht mehr gutzumachende Fehler, nichts vergeblicher als die Reue. Nicht als Richter, die Lob und Tadel verteilen, nicht als Rächer, die die Schuldigen ausfindig machen wollen, dürfen wir der Vergangenheit gegenübertreten. Wir suchen die Wahrheit, nicht die Schuld; wir wollen wissen, wie es kam, um es zu verstehen, nicht um Verdammungsurteile zu fällen. Wer an die Geschichte herantritt wie der Staatsanwalt an die Akten eines Kriminalfalles, um daraus Material für Anklagen zu gewinnen, der sollte lieber davon bleiben. Fem sei es ihr, das Bedürfnis der Menge nach Helden und nach Sündenböcken zu befriedigen.

Das ist der Standpunkt, den ein Volk gegenüber seiner Geschichte einzunehmen hat. Nicht das ist ihre Aufgabe, den Haß und die Gegensätze der Gegenwart in die Vergangenheit zurückzuprojizieren und aus längst ausgefochtenen Kämpfen Waffen für den Streit der eigenen Zeit zu holen; sie soll uns lehren, die Ursachen zu erkennen, die treibenden Kräfte zu begreifen; und wenn wir alles verstehen, dann werden wir alles verzeihen. So stehen die Engländer, [2] die Franzosen ihrer Geschichte gegenüber. Der Engländer, welcher politischen Richtung auch immer er angehört, vermag der Geschichte der Glaubens- und Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts, der Geschichte des Abfalles der Neu-Englandstaaten im 18. Jahrhundert objektiv gegenüberzutreten; es gibt keinen Engländer, der in Cromwell oder Washington nichts anderes zu sehen vermöchte als die Verkörperung nationalen Unglückes. Und es gibt keinen Franzosen, der Ludwig XIV., Robespierre oder Napoleon aus der Geschichte seines Volkes streichen wollte, gleichviel ob er Imperialist, Royalist oder Republikaner sei. Und auch dem katholischen Tschechen fallt es nicht schwer, Hussiten und mährische Brüder aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Von solcher Geschichtsauffassung führt dann unschwer der Weg zum Verständnis und zur Anerkennung des Fremden.

Nur der Deutsche ist noch weit entfernt von einer Geschichtsauffassung, die die Vergangenheit nicht mit den Augen der Gegenwart sieht. Noch immer ist Martin Luther einem Teile des deutschen Volkes der große Befreier der Geister, dem anderen der leibhaftige Antichrist. Und gar erst die spätere Geschichte. Für die moderne Zeit, die mit dem Abschlüsse des Westfälischen Friedens beginnt, hat Deutschland zwei Geschichtsschreibungen, die preußisch-protestantische und die österreichisch-katholische, die sich kaum in einem Punkte zu einer einheitlichen Auffassung durchzuringen wußten. Für die Zeit von 1815 an setzt dann noch ein weiterer Gegensatz der Auffassungen ein, der zwischen der liberalen und der obrigkeitlichen Staatsidee [1] , und schließlich ist neuerdings der Versuch gemacht worden, der „kapitalistischen" Geschichtsschreibung eine „proletarische" gegenüberzustellen. In all dem tritt nicht nur ein auffallender Mangel an wissenschaftlichem Sinn und geschichtlicher Kritik, sondern auch eine betrübende Unreife des politischen Urteiles zu Tage.

Wo es nicht gelingen konnte, Einheit in der Auffassung längst verklungener Kämpfe zu erzielen, da kann man noch viel weniger erwarten, Übereinstimmung in der Würdigung der jüngsten Vergangenheit vorzufinden. Schon sehen wir auch hier zwei einander schroff widersprechende Legenden entstehen. Auf der einen Seite wird behauptet, das deutsche Volk hätte sich, durch defaitistische Propaganda verführt, des Willens zur Macht begeben, und so sei durch den „Zusammenbruch der inneren Front" der unausbleibliche Endsieg, der ihm die Erde Untertan gemacht hätte, in die fürchterlichste Niederlage verwandelt worden. Vergessen ist, daß die Verzweiflung sich des Volkes erst bemächtigte, als die vom Generalstab angekündigten entscheidenden Siege ausblieben, Millionen deutscher Männer sich in zwecklosen Kämpfen gegen einen an Zahl weit überlegenen und besser ausgerüsteten Gegner verbluteten und der Hunger [3] Tod und Krankheit unter die Daheimgebliebenen trug. [2] Nicht minder weit von der Wahrheit entfernt sich die andere Legende, die die Schuld am Krieg und damit auch an der Niederlage dem Kapitalismus, dem auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Wirtschaftssystem, zuschreibt. Vergessen ist, daß der Liberalismus stets pazifistisch und antimilitaristisch war, daß erst seine Niederwerfung, die nur den vereinten Bemühungen des preußischen Junkertums und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft gelungen ist, den Weg für die Politik Bismarcks und Wilhelm II. frei legte; erst mußte die letzte Spur des liberalen Geistes aus Deutschland verschwinden, mußte der Vorwurf liberaler Gesinnung zu einer Art Ehrenkränkung werden, ehe das Volk der Dichter und Denker zum willenlosen Werkzeuge der Kriegspartei werden konnte. Vergessen ist, daß die deutsche sozialdemokratische Partei wie ein Mann zur Kriegspolitik der Regierung gehalten hat, und daß das Abschwenken zuerst einzelner, dann immer größerer Massen erst in dem Maß erfolgte, in dem die militärischen Mißerfolge die Unvermeidbarkeit der Niederlage immer deutlicher zeigten und in dem die Hungersnot stärker fühlbar wurde. Vor der Marneschlacht und vor den großen Niederlagen im Osten gab es im deutschen Volke keinen Widerstand gegen die Kriegspolitik.

Aus solcher Legendenbildung spricht der Mangel politischer Reife, die nur der erwirbt, der politische Verantwortung zu tragen hat. Der Deutsche hatte keine zu tragen; er war Untertan, nicht Bürger seines Staates. Wir hatten freilich einen Staat, der sich das Deutsche Reich nannte und den man uns als die Erfüllung der Ideale der Paulskirche empfahl. Doch dieses Großpreußen war ebensowenig der Staat der Deutschen wie das italienische Königreich Napoleon I. der Staat der Italiener oder das polnische Königreich Alexander I. der Staat der Polen gewesen waren. Dieses Reich war nicht aus dem Willen des deutschen Volkes hervorgegangen; gegen den Willen nicht nur des deutschen, sondern auch der Mehrzahl des hinter seinen Konfliktsabgeordneten stehenden preußischen Volkes war es auf dem Schlachtfelde von Königgrätz geschaffen worden. Es umschloß auch Polen und Dänen, aber es schloß viele Millionen Deutschösterreicher aus; es war ein Staat deutscher Fürsten, aber nicht des deutschen Volkes.

Viele der Besten haben sich nie mit diesem Staat ausgesöhnt, die anderen spät und widerwillig. Doch es war nicht leicht, grollend [4] abseits zu stehen. Es kamen glänzende Tage für das deutsche Volk, an äußeren Ehren und an militärischen Siegen reich. Die preußisch-deutschen Heere siegten über das kaiserliche und über das republikanische Frankreich, Elsaß-Lothringen wurde wieder deutsch (oder richtiger preußisch), der altehrwürdige Kaisertitel wurde wieder hergestellt. Das Deutsche Reich nahm unter den europäischen Mächten eine geachtete Stellung ein, deutsche Kriegsschiffe befuhren den Ozean, die deutsche Flagge wehte über — freilich ziemlich wertlosen — afrikanischen, polynesischen und ostasiatischen Besitzungen. All diese Romantik mußte den Sinn der Menge gefangen nehmen, die bei Auffahrten und Hoffesten gafft. Sie war zufrieden, weil es zu schauen gab, und weil sie satt war. Denn zu gleicher Zeit stieg der deutsche .Wohlstand wie nie zuvor. Es waren die Jahre, da die wundervolle Erschließung der entferntesten Gebiete durch die Entwicklung des modernen Verkehres für Deutschland ungeahnte Reichtümer brachte. Das hatte nichts mit den politischen und militärischen Erfolgen des deutschen Staates zu tun, aber man urteilt bald post hoc ergo propter hoc.

Die Männer, die im Vormärz die Kerker gefüllt hatten, die 1848 auf den Barrikaden gestanden waren, die dann ins Exil gehen mußten, waren mittlerweile alt und weich geworden; sie schlössen entweder ihren Frieden mit der neuen Ordnung oder schwiegen still. Ein neues Geschlecht kam auf, das nichts anderes sah und merkte als das unausgesetzte Wachsen des Wohlstandes, der Bevölkerungszahl, des Handels, der Schiffahrt, kurz all das, was man Aufschwung zu nennen pflegt. Und sie fingen an, der Armut und der Machtlosigkeit der Väter zu spotten, sie hatten nur mehr Verachtung für die Ideale des Volkes der Dichter und Denker. In Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie kamen neue Ideen zum Durchbruche; die Machttheorie trat in den Vordergrund. Die Philosophie wurde zur Schutzgarde von Thron und Altar, die Geschichte verkündete den Ruhm der Hohenzollern, die Nationalökonomie pries das soziale Königtum und den lückenlosen Zolltarif mid nahm den Kampf auf gegen die „blutleeren Abstraktionen der englischen Manchesterschule".

Der etatistischen Schule der Wirtschaftspolitik erscheint die sich selbst überlassene Volkswirtschaft als ein wüstes Chaos, in das nur das staatliche Eingreifen Ordnung zu bringen vermag. Der Etatist tritt an jede wirtschaftliche Erscheinung prüfend heran, um sie zu verwerfen, wenn sie seinem sittlichen und politischen Empfinden nicht zusagt. Der Staatsgewalt obliegt es dann, das Urteil, das die Wissenschaft gesprochen hat, zu vollstrecken, und an Stelle des Mißgebildes, das die freie Entwicklung geschaffen hat, das zu setzen, was der Allgemeinheit frommt. Daß der Staat, all weise und allgerecht, auch stets nur das Allgemeinbeste will, und daß er die Macht hat, alle Übelstände wirksam zu bekämpfen, wird überhaupt nicht [5] bezweifelt. Soweit auch die Ansichten der einzelnen Vertreter dieser Schule im übrigen auseinander gehen mögen, in dem einen Punkte stimmen sie überein, daß sie die Existenz ökonomischer Gesetze bestreiten und alle wirtschaftlichen Vorgänge auf die Wirksamkeit von Machtfaktoren zurückführen. [3] Der ökonomischen Macht kann der Staat seine politisch-militärische Übermacht gegenüberstellen. Für alle Schwierigkeiten, die sich dem deutschen Volk im Innern und im Äußern entgegenstellen, wird die kriegerische Lösung empfohlen, rücksichtsloser Gebrauch der Macht allein wird als vernünftige Politik bezeichnet.

Das waren die Ideen der deutschen Politik, die die Welt Militarismus genannt hat. [4]

Dennoch hat die Formel, die den Weltkrieg einfach auf die Machenschaften dieses Militarismus zurückführt, Unrecht. Denn der deutsche Militarismus entspringt nicht etwa den gewalttätigen Instinkten der „teutonischen Rasse", wie die englisch französische Kriegsliteratur meint; er ist nicht letzte Ursache, sondern das Ergebnis [6] der Verhältnisse, in denen das deutsche Volk gelebt hat und lebt. Es gehört nicht allzu viel Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, um zu erkennen, daß das deutsche Volk den Krieg von 1914 ebensowenig gewollt hätte wie das englische, französische oder amerikanische, wenn es in der Lage Englands, Frankreichs oder der Vereinigten Staaten gewesen wäre. Den Weg vom friedlichen Nationalismus und Kosmopolitismus der Klassikerzeit zum militanten Imperialismus der Wilhelminischen Ära hat das deutsche Volk unter dem Drucke von politischen und wirtschaftlichen Tatsachen zurückgelegt, die ihm ganz andere Probleme stellten als den glücklicheren Völkern des Westens. Die Verhältnisse, unter denen es heute an die Neuordnung seiner Wirtschaft und seines Staates zu schreiten hat, sind wieder durchaus verschieden von jenen, unter denen seine Nachbarn im Westen mid im Osten leben. Wenn man diese Verhältnisse in ihrer Besonderheit erfassen will, darf man es nicht scheuen, auf scheinbar entfernter liegende Dinge einzugehen.

 


 

[7]

Nation und Staat.

I. Nation und Nationalität.

1. Die Nation als Sprachgemeinschaft.

Die Begriffe Nation und Nationalität sind in dem Sinne, in dem wir sie verstehen, verhältnismäßig jung. Wohl ist das Wort Nation uralt; es entstammt der lateinischen Sprache und ist frühzeitig in alle modernen Sprachen übergegangen. Doch war mit ihm ein anderer Sinn verknüpft. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewinnt es allmählich die Bedeutung, die wir ihm heute beilegen, und erst im 19. Jahrhundert wird dieser Gebrauch des Wortes allgemein. [5] Und schrittweise mit dem Begriff entwickelt sich seine politische Bedeutung, wird die Nationalität zu einem Mittelpunkte des politischen Denkens. Wort und Begriff der Nation gehören ganz dem modernen Ideenkreise des politischen und philosophischen Individualismus an; Wichtigkeit für das Leben gewinnen sie erst in der modernen Demokratie.

Wollen wir zur Erkenntnis des Wesens der Nationalität vordringen, dann dürfen wir nicht von der Nation, dann müssen wir vom Individuum ausgehen. Wir müssen uns fragen, was denn das Nationale am einzelnen Menschen sei, was über seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation entscheide.

Da erkennen wir sogleich, daß dies weder der Wohnsitz noch auch die Staatszugehörigkeit sein können. Nicht jedermann, der in Deutschland wohnt oder die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist darum auch schon Deutscher, und es gibt Deutsche, die weder in Deutschland wohnen noch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die Gemeinsamkeit der Wohnsitze und des Staatsverbandes hat ihre Rolle in der Entwicklung der Nationalität, doch sie gehört nicht zu ihrem Wesen. Und nicht anders ist es mit der Gemeinsamkeit der Abstammung. Die genealogische Auffassung der Nationalität ist nicht brauchbarer als die geographische oder die etatistische. Nation und Rasse fallen nicht zusammen, es gibt keine Nation, die blutrein wäre. [6] [8] Alle Völker sind aus einer Rassenmischung hervorgegangen. Die Abstammung ist nicht maßgebend für die Nationszugehörigkeit. Nicht jeder, der von deutschen Ahnen abstammt, ist darum auch schon ein Deutscher; wie viele Engländer, Amerikaner, Magyaren, Tschechen, Russen müßten sonst als Deutsche angesprochen werden? Und es gibt Deutsche, unter deren Ahnen sich kein Deutscher befindet. Bei den Angehörigen der höheren Bevölkerungsschichten und bei berühmten Männern und Frauen, deren Stammbaum man nachzuforschen pflegt, kann man die volksfremden Ahnen öfter nachweisen als bei den Angehörigen der niederen Volksschichten, deren Herkunft sich im Dunkel verliert; doch auch diese sind seltener reinen Blutes, als man anzunehmen geneigt ist.

Es gibt Schriftsteller, die sich ehrlich bemüht haben, die Bedeutung der Abstammung' und der Rasse für Geschichte und Politik zu erforschen; welchen Erfolg sie damit erreichten, ist nicht hier zu besprechen. Manche Schriftsteller wieder fordern, man möge der Gemeinsamkeit der Rasse politische Bedeutung beilegen, man möge Rassenpolitik treiben. Über die Berechtigung dieser Forderung kann man verschiedener Ansicht sein; sie zu prüfen ist nicht unsere Sache. Auch mag es dahingestellt bleiben, inwieweit sie bereits heute erfüllt ist, ob und wie Rassenpolitik wirklich gemacht wird. Doch daran müssen wir festhalten, daß so wie die Begriffe Nation und Rasse nicht zusammenfallen, auch Nationalpolitik und Rassenpolitik zwei verschiedene Dinge sind. Auch der Begriff der Rasse in dem Sinne, in dem ihn die Rassenpolitiker verwenden, ist jung, noch am beträchtliches jünger als der der Nation. Er wurde in die Politik in bewußtem Gegensatze zum Nationsbegriff eingeführt. Die individualistische Idee der nationalen Gemeinschaft sollte durch die kollektivistische Idee der Rassengemeinschaft verdrängt werden. Der Erfolg ist diesen Bestrebungen bis nun versagt geblieben. Die geringe Bedeutung, die dem Rassenmoment in den kulturellen und politischen Bewegungen der Gegenwart zukommt, sticht von der gewaltigen Wichtigkeit, die die nationalen Gesichtspunkte haben, grell ab. Lapouge, einer der Begründer der anthroposoziologischen Schule, gab vor einem Menschenalter der Meinung Ausdruck, man werde sich im 20. Jahrhundert wegen ein oder zwei Graden mehr oder weniger im Schädelindex nach Millionen schlachten. [7] Wir haben es wirklich erlebt, daß man sich nach Millionen geschlachtet hat, aber niemand wird behaupten können, daß in diesem Kriege Dolichokephalie und Brachykephalie die Losung der Parteien gewesen wären. Wir stehen freilich erst am Ende des zweiten Jahrzehnts des Jahrhunderts, für das Lapouge seine Prophezeiung ausgesprochen hat. Es mag sein, [8] daß er doch noch Recht behalten wird; auf das Gebiet prophetischer Voraussage können wir ihm nicht folgen und wollen nicht um Dinge rechten, die noch im Schöße der Zukunft dunkel verborgen ruhen. In der Politik der Gegenwart spielt das Rassenmoment keine Rolle; das allein ist für uns wichtig.

Der Dilettantismus, der sich in den Schriften unserer Rassentheoretiker breit macht, darf uns freilich nicht dazu verleiten, über das Rassenproblem selbst leichtfertig hinwegzugehen. Sicherlich gibt es kaum ein zweites Problem, dessen Erhellung mehr zur Vertiefung unseres historischen Verständnisses beizutragen imstande wäre. Möglicherweise führt der Weg zu den letzten Erkenntnissen auf dem Gebiete geschichtlichen Werdens und Vergehens über Anthropologie und Rassenlehre. Das, was bisher in diesen Wissenschaften gefunden wurde, ist allerdings recht dürftig und wird von einem Gestrüpp von Irrtum, Phantasie und Mystizismus überwuchert. Aber es gibt auch auf diesem Gebiet echte Wissenschaft, es gibt auch hier große Probleme. Es mag sein, daß uns ihre Lösung nie gelingen wird; aber das sollte uns nicht abhalten, weiter zu forschen und darf uns nicht veranlassen, die Bedeutung des Rassenmomentes für die Geschichte zu leugnen.

Wenn man das Wesen der Nationalität nicht in der Rassenverwandtschaft erblickt, so bedeutet das nicht, daß man den Einfluß der Rassenverwandtschaft auf alle Politik und auf die nationale Politik im besonderen abstreiten will. Im Leben wirken viele verschiedene Kräfte in verschiedener Richtung; wollen wir sie erkennen, dann müssen wir sie nach Möglichkeit im Geiste zu sondern suchen. Das heißt aber nicht, daß wir bei Betrachtung der einen Kraft ganz vergessen sollen, daß neben ihr oder gegen sie noch andere wirken.

Wir erkennen, daß eine dieser Kräfte die Sprachgemeinschaft ist; es ist wohl nicht möglich, dies zu bestreiten. Wenn wir nun sagen, das Wesen der Nationalität liegt in der Sprache, so ist dies nicht lediglich eine terminologische Frage, über die nicht weiter zu streiten wäre. Zunächst sei festgestellt, daß wir uns damit in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauche befinden. Der Sprache legen wir zuerst und ihr allein im ursprünglichen Sinne die Bezeichnung bei, die dann zur nationalen Bezeichnung wird. Wir sprechen von deutscher Sprache, und alles andere, was das Attribut deutsch trägt, empfängt es von der deutschen Sprache : wenn wir von deutscher Schrift, von deutschem Schrifttum, von deutschen Männern und Frauen reden, so liegt die Beziehung zur Sprache auf der Hand. Dabei ist es gleichgültig, ob die Bezeichnung der Sprache älter ist als die des Volkes oder ob sie von dieser hergenommen ist; sobald sie einmal zur Bezeichnung der Sprache wurde, ist sie es, die für die weitere Entwicklung des Gebrauches dieses Ausdruckes [10] maßgebend wird. Und wenn wir schließlich von deutschen Strömen und von deutschen Städten, von deutscher Geschichte und vom deutschen Kriege reden, so macht es uns keine Schwierigkeit, zu begreifen, daß in letzter Linie auch diese Ausdrucksweise auf die ursprüngliche Benennung der Sprache als deutsch zurückgeht. Der Begriff der Nation ist, wie schon gesagt, ein politischer Begriff. Wir müssen, wenn wir seinen Inhalt erkennen wollen, die Politik ins Auge fassen, in der er eine Rolle spielt. Da sehen wir nun, daß alle nationalen Kämpfe Sprachenkämpfe sind, daß sie um die Sprache geführt werden. Das spezifisch „Nationale" liegt in der Sprache. [8]

Die Gemeinsamkeit der Sprache ist zunächst die Folge einer ethnischen oder sozialen Gemeinschaft; sie selbst aber wird, unabhängig von ihrer Entstehung, nun zu einem neuen Bande, das bestimmte gesellschaftliche Beziehungen hervorruft. Indem das Kind die Sprache erlernt, nimmt es die von der Sprache vorgezeichnete Art des Denkens und des Gedankenausdruckes an und empfängt so einen Stempel, den es aus seinem Leben kaum auslöschen kann. Die Sprache öffnet dem Menschen den Weg zum Gedankenaustausche mit allen jenen, die sich ihrer bedienen; er kann auf sie einwirken und von ihnen Einwirkung empfangen. Die Gemeinsamkeit der Sprache verbindet, die Verschiedenheit der Sprache trennt Menschen mid Völker. Wem etwa die Erklärung der Nation als Sprachgemeinschaft zu dürftig zu sein scheint, der vergegenwärtige sich einmal, welch ungeheure Bedeutung der Sprache für das Denken und für den Gedankenausdruck, für den gesellschaftlichen Verkehr und für alle Lebensäußerungen zukommt.

Wenn man sich trotz der Erkenntnis dieser Zusammenhänge vielfach dagegen sträubt, das Wesen der Nation in der Sprachgemeinschaft zu erblicken, so liegt dies an gewissen Schwerigkeiten, die die Abgrenzung der einzelnen Nationen nach diesem Kriterium mit sich bringt. [9] Nationen und Sprachen sind nicht unwandelbare Kategorien, sondern vorläufige Ergebnisse eines im beständigen Flusse befindlichen Prozesses ; sie verändern sich von Tag zu Tag, und so sehen wir einen Reichtum von Zwischenformen vor uns, deren Bestimmung einiges Kopfzerbrechen erfordert.

[11]

Ein Deutscher ist, wer deutsch denkt und spricht. So wie es verschiedene Grade der Beherrschung der Sprache gibt, so gibt es auch verschiedene Grade des Deutschseins. Die Gebildeten sind in ganz anderer Weise in den Geist und den Gebrauch der Sprache eingedrungen als die Ungebildeten. Die Fähigkeit der Begriffsbildung und die Herrschaft über das Wort sind das Kriterium der Bildung; mit Recht legt die Schule das Hauptgewicht auf die Erlangung der Fähigkeit, Gesprochenes und Geschriebenes ganz zu erfassen und sich in Wort und Schrift verständlich auszudrücken. Vollbürger der deutschen Nation sind nur die, die sich die deutsche Sprache vollkommen angeeignet haben. Die Ungebildeten sind nur soweit Deutsche, als ihnen das Verständnis deutscher Rede erschlossen ist. Ein Bäuerlein eines weltabgeschiedenen Dorfes, das nur seine heimatliche Mundart kennt, sich mit anderen Deutschen nicht zu verständigen und die Schriftsprache nicht zu lesen vermag, zählt überhaupt nicht zur deutschen Nation. [10] Wenn alle anderen Deutschen ausstürben and allein Leute, die nur ihren Dialekt kennen, übrigblieben, müßte man sagen, die deutsche Nation sei erloschen. Auch Jene Bauern sind national nicht farblos; nur gehören sie nicht der deutschen Nation an, vielmehr einem kleinen Natiönchen, das aus jenen gebildet wird, die dieselbe Mundart sprechen.

Der einzelne gehört in der Regel nur einer Nation an. Doch kommt es mitunter auch vor, daß einer zwei Nationen angehört. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn er zwei Sprachen spricht, vielmehr nur dann, wenn er zwei Sprachen derart beherrscht, daß er in jeder von beiden denkt und spricht und sich die besondere Denkungsart, die jede von ihnen auszeichnet, voll zu eigen gemacht hat. Solche Leute gibt es immerhin, mehr als man glaubt. In Gebieten mit gemischter Bevölkerung und an internationalen Handels- und Verkehrsplätzen trifft man sie häufig unter Kaufleuten, Beamten usw. Da sind es oft Personen, die nicht auf der Höhe der Bildung stehen. Unter den Männern und Frauen mit vertiefter Bildung sind die Utraquisten seltener, da die höchste Vollkommenheit der Sprachbeherrschung, die den wahrhaft Gebildeten auszeichnet, in der Regel nur in einer Sprache erreicht wird. Der Gebildete mag mehr Sprachen und alle weit besser beherrschen als der Utraquist, er ist trotzdem nur einer Nation zuzuzählen, wenn er nur in einer Sprache denkt und alles, was er in den fremden Sprachen empfängt, durch das an dem Aufbau und der Begriffsbildung der eigenen Sprache gebildete Denken hindurchgehen läßt. Doch auch unter den „Bildungsmillionären" [11] gibt es Utraquisten, Männer und Frauen, die die Bildung [12] zweier Kulturkreise ganz in sich verarbeitet haben. Etwas häufiger als sonst fand und findet man sie dort, wo eine alte, vollausgebildete Sprache mit alter Kultur und eine noch wenig entwickelte Sprache eines Volkes, das erst im Begriffe ist, seinen Eintritt in die Kultur zu vollziehen, zusammenstoßen. Da ist es physisch und psychisch leichter, die Beherrschung[ zweier Sprachen und zweier Kulturkreise zu erlangen. So gab es m Böhmen unter der Generation, die der jetzt lebenden unmittelbar' voranging, weit mehr Utraquisten als gegenwärtig. In einem gewissen Sinne kann man hieher auch alle jene rechnen, die neben der Kultursprache auch einen Dialekt voll beherrschen.

Jedermann gehört in der Regel zumindest einer Nation an. Nur Kinder und Taubstumme sind nationslos; jene erwerben eine Heimat des Geistes erst durch den Eintritt m eine Sprachgemeinschaft, diese durch die Ausbildung ihres Denkvermögens zur Erlangung der Verständigungsmöglichkeit mit den Angehörigen einer Nation. Der Vorgang, der sich hier abspielt, ist im Grunde genommen der gleiche wie jener, durch den Erwachsene, die bereits einer Nation angehören, zu einer anderen übertreten. [12]

Der Sprachforscher findet zwischen den Sprachen Verwandtschaften; er kennt Sprachfamilien und Sprachstämme, er spricht von Schwestersprachen und von Tochtersprachen. Man hat dies ohneweiters auch auf die Nationen übertragen wollen; andere wieder haben di« ethnologische Verwandtschaft zu einer nationalen machen wollen. Beides ist ganz und gar unzulässig. Wenn man von nationaler Verwandtschaft sprechen will, dann darf man dies nur im Hinblick auf die Möglichkeit der Verständigung zwischen den Nationsangehörigen tun. In diesem Sinne sind die Dialekte untereinander und mit einer oder gar auch mit mehreren Kultursprachen verwandt. Auch zwischen Kultursprachen, zum Beispiel zwischen einzelnen slawischen Sprachen, kommt solche Verwandtschaft vor. Ihre Bedeutung für die nationale Entwicklung erschöpft sich darin, daß sie den Übergang von einer Nationalität zur anderen erleichtert.

Dagegen ist es politisch ganz belanglos, daß die grammatische Verwandtschaft der Sprachen ihre Erlernung erleichtert. Daraus erwächst keine kulturelle und keine politische Annäherung, darauf lassen sich keine politischen Konstruktionen aufrichten. Der Gedanke [13] der Völkerverwandtschaft entspringt nicht dem nationalpolitisch-individualistischen, sondern dem rassenpolitisch -kollektivistischen Ideenkreis; er ist in bewußter Gegnerschaft gegen den freiheitlichen Gedanken der modernen Autonomie ausgebildet worden. Panlatinismus, Panslawismus und Pangermanismus sind Hirngespinste, die beim Zusammenstoß mit den nationalen Bestrebungen der einzelnen Völker stets den Kürzeren gezogen haben. Sie nehmen sich sehr gut aus bei Verbrüderungsfesten von Völkern, die für den Augenblick gleichlaufende politische Ziele verfolgen; sie versagen, sobald sie mehr sein wollen. Staatsbildende Kraft haben sie nie besessen. Es gibt keinen Staat, der auf ihnen aufgebaut wäre.

Wenn man sich lange dagegen gesträubt hat, das Merkmal der Nation in der Sprache zu erblicken, so war dafür auch der Umstand maßgebend, daß man nicht imstande war, diese Theorie in Einklang zu bringen mit der Wirklichkeit, die uns angeblich Fälle zeigt, in denen eine Nation mehrere Sprachen spricht, und andere, in denen mehrere Nationen sich einer Sprache bedienen. Die Behauptung, daß es möglich sei, daß die Angehörigen einer Nation mehreren Sprachen angehören können, wird mit dem Hinweis auf die Verhältnisse der „tschechoslowakischen" und der „südslawischen" Nation gestützt. Tschechen und Slowaken sind in diesem Krieg als einheitliche Nation aufgetreten. Die Sonderbestrebungen kleiner slowakischer Gruppen sind zumindest nicht nach außen hin hervorgekommen und haben nicht vermocht, irgend welche politischen Erfolge zu zeitigen. Nun wird voraussichtlich ein tschechoslowakischer Staat gebildet werden, dem alle Tschechen und alle Slowaken angehören werden. Doch darum bilden Tschechen und Slowaken noch nicht eine Nation. Die Dialekte, aus denen die slowakische Sprache gebildet wurde, stehen den Dialekten der tschechischen Sprache außerordentlich nahe, und es ist für einen slowakischen Landmann, der nur seine Mundart beherrscht, nicht schwer, sich mit Tschechen, besonders mit mährischen, zu verständigen, wenn diese in ihrer Mundart sprechen. Wären die Slowaken noch zur Zeit, bevor sie an die Ausbildung einer selbständigen Kultursprache schritten, also etwa um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, in engere politische Verbindung mit den Tschechen getreten, dann wäre es wohl zweifellos ebensowenig zur Ausbildung einer slowakischen Kultursprache gekommen, wie es in Schwaben nicht zur Ausbildung einer selbständigen schwäbischen Kultursprache gekommen ist. Politische Momente waren dafür maßgebend, daß in der Slowakei der Versuch, eine selbständige Sprache zu schaffen, unternommen wurde. Diese slowakische Kultursprache, die ganz nach dem Muster des Tschechischen ausgebildet wurde und ihm in jeder Beziehung nahe stand, konnte sich jedoch, gleichfalls aus politischen Umständen, nicht entfalten. Unter der Herrschaft des magyarischen Staates führte sie, von Schule, Amt und [14] Gericht ausgeschlossen, ein kümmerliches Dasein in Volkskalendern und oppositionellen Blättchen. Die geringe Entwicklung der slowakischen Sprache wieder war es, die die Bestrebungen zur Übernahme der tschechischen Kultursprache, die es in der Slowakei von allem Anfang an gegeben hat, immer wieder Boden gewinnen ließ. Heute stehen sich in der Slowakei zwei Richtungen gegenüber: eine, die aus der slowakischen Sprache jeden Tschechismus ausrotten und die Sprache rein und selbständig entwickeln will, und eine zweite, die den Anschluß an das Tschechische wünscht. Sollte diese Richtung siegen, dann werden die Slowaken Tschechen werden und der tschechoslowakische Staat wird zu einem rein tschechischen Nationalstaat erwachsen. Wenn aber jene Richtung siegen sollte, dann wird der tschechische Staat schrittweise genötigt werden, wenn er nicht als Unterdrücker auftreten will, den Slowaken Autonomie und schließlich vielleicht volle Selbständigkeit zu gewähren. Es gibt keine tschechoslowakische Nation, die sich aus den tschechisch und den slowakisch Redenden zusammensetzt. Was wir vor uns sehen, ist der Kampf um die Lebensmöglichkeit einer besonderen slawischen Nation. Wie er ausgehen wird, wird von politischen, sozialen und kulturellen Umständen abhängen. Vom rein sprachlichen Gesichtspunkt aus ist jede von beiden Entwicklungen möglich.

Nicht anders liegt der Fall bei dem Verhältnisse der Slowenen zur jugoslawischen Nation. Auch die slowenische Sprache kämpft seit ihrem Entstehen zwischen Selbständigkeit und Annäherung oder völliger Verschmelzung mit der kroatischen. Die illyrische Bewegung wollte auch die slowenische Sprache in den Kreis ihrer Einheitsbestrebungen einbeziehen. Sollte das Slowenische imstande sein, seine Selbständigkeit auch in Hinkunft zu bewahren, dann wird der jugoslawische Staat den Slowenen Autonomie gewähren müssen.

Die Südslawen bieten auch eines der am häufigsten genannten Beispiele zweier Nationen, die dieselbe Sprache sprechen. Kroaten und Serben bedienen sich der gleichen Sprache. Die nationale Verschiedenheit zwischen beiden, wird behauptet, liege ausschließlich in der Religion. Hier sei ein Fall, den die Theorie, welche das nationale Merkmal in der Sprache erblickt, nicht zu erklären vermöge.

Im serbokroatischen Volke stoßen die schärfsten religiösen Gegensätze zusammen. Ein Teil des Volkes gehört der orthodoxen, ein anderer Teil der katholischen Kirche an, einen nicht ganz unbeträchtlichen Teil bilden noch heute die Mohammedaner. Zu diesen religiösen Gegensätzen kommen alte politische Feindschaften, die zum Teil noch aus Zeiten herrühren, deren politische Verhältnisse heute längst überwunden sind. Die Mundarten aller dieser religiös und politisch zerspaltenen Völkerschaften sind aber außerordentlich nahe verwandt. So nahe waren diese Dialekte miteinander verwandt, [15] daß die Bestrebungen, eine Kultursprache zu schaffen, die von verschiedener Seite ausgingen, immer wieder zu dem gleichen Ergebnisse führten; aus allen Bemühungen resultierte immer nur dieselbe Kultursprache. Vuk Stefanovic Karadzic wollte eine serbische Sprache schaffen, Ljudevit Gaj eine einheitliche südslawische; Panserbismus und Illyrismus standen sich schroff gegenüber. Aber da sie dasselbe mundartliche Material vor sich hatten, war das Ergebnis ihrer Arbeit identisch. Die Sprachen, die sie geschaffen haben, unterscheiden sich voneinander so wenig, daß sie schließlich zu einer einheitlichen Sprache verschmolzen. Würden sich nicht die Serben der cyrillischen, die Kroaten der lateinischen Schriftzeichen ausschließlich bedienen, dann gäbe es äußerlich kein Merkmal, ein Schriftwerk der einen oder der anderen Nation zuzuweisen. Die Verschiedenheit der Schriftzeichen kann auf die Dauer eine einheitliche Nation nicht trennen; auch die Deutschen bedienen sich verschiedener Schriften, ohne daß dies irgend welche nationale Bedeutung erlangt hätte. Die politische Entwicklung der letzten Jahre vor dem Krieg und während des Krieges selbst hat gezeigt, daß die konfessionelle Verschiedenheit zwischen Kroaten und Serben, auf die die österreichische Politik des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Umgebung Luftschlösser aufgebaut hat, lange nicht mehr jene Bedeutung hat, die ihr früher zukam. Es scheint kein Zweifel darüber zu bestehen, daß auch bei den Serben und Kroaten im politischen Leben das nationale Moment der gemeinsamen Sprache alle hemmenden Einflüsse zurückdrängen wird, und daß die religiöse Verschiedenheit in der serbokroatischen Nation keine größere Rolle spielen wird als sie im deutschen Volke spielt.

Zwei andere Beispiele, die man gewöhnlich zu nennen pflegt, um zu zeigen, daß Sprachgemeinschaft und Nation sich nicht decken, sind das Angelsächsische und das Dänisch-Norwegische. Der englischen Sprache, wird behauptet, bedienen sich zwei Nationen, die Engländer und die Amerikaner, und dies allein zeige schon, daß es nicht angehe, das nationale Merkmal allein in der Sprache zu suchen. In Wahrheit sind Engländer und Amerikaner eine einheitliche Nation. Daß man geneigt ist, sie als zwei Nationen zu bezeichnen, rührt daher, daß man sich gewöhnt hat, das Nationalitätsprinzip dahin auszulegen, daß es mit Notwendigkeit die Forderung nach Vereinigung aller Teile einer Nation zu einem einheitlichen Staatswesen enthalte. Es wird im nächsten Abschnitte zu zeigen sein, daß dies durchaus nicht zutrifft, und daß man datier keineswegs das Kriterium der Nation in dem Bestreben, einen Einheitsstaat zu bilden, suchen dürfe. Daß Engländer und Amerikaner verschiedenen Staaten angehören, daß die Politik dieser Staaten nicht immer im Einklänge war, und daß die Gegensätze zwischen ihnen mitunter selbst zu Kriegen geführt haben, das alles ist noch kein Beweis dafür, daß Engländer und [16] Amerikaner nicht eine Nation wären. Niemand konnte je daran zweifeln, daß England mit seinen Dominions und mit den Vereinigten Staaten durch ein nationales Band verbunden ist, das seine Bindekraft in Tagen großer politischer Krisen zeigen wird. Der Weltkrieg hat den Beweis dafür erbracht, daß zwischen den einzelnen Teilen der angelsächsischen Nation nur dann Gegensätze vorhanden sein können, wenn nicht die Gesamtheit von anderen Nationen bedroht erscheint.

Schwieriger schon scheint es auf den ersten Blick, das Problem der Iren mit der linguistischen Theorie der Nation in Einklang zu bringen. Die Iren haben einst eine selbständige Nation gebildet; sie bedienten sich einer besonderen keltischen Sprache. Noch im Anfange des 19. Jahrhunderts haben 80 % der Bevölkerung Irlands keltisch gesprochen, und mehr als 50 % verstanden überhaupt kein Englisch. Seither ist die irische Sprache stark zurückgedrängt worden. Nur etwas mehr als 600.000 Menschen bedienen sich noch ihrer, und nur selten sind in Irland noch Leute zu finden, welche kein Englisch verstehen. Wohl gibt es heute auch in Irland Bestrebungen, die irische Sprache zu neuem Leben zu erwecken und ihren Gebrauch allgemein zu machen. Tatsache ist jedoch, daß sehr viele von jenen, die auf der Seite der politischen irischen Bewegung stehen, der Nation nach Engländer sind. Der Gegensatz zwischen Engländern und Irländern ist sozialer, religiöser, nicht ausschließlich nationaler Natur, und so kann es geschehen, daß der Bewegung auch solche Bewohner Irlands in großer Zahl angehören, die national keine Iren sind. Sollte es den Iren gelingen, die angestrebte Autonomie zu erlangen, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß ein großer Teil der heute englischen Bevölkerung Irlands sich der irischen Nation assimilieren wird.

Auch das viel berufene dänisch-norwegische Beispiel kann die Behauptung, daß das Nationale in der Sprache liegt, nicht entkräften. Während der jahrhundertelang währenden politischen Union zwischen Norwegen und Dänemark war die alte norwegische Kultursprache von der dänischen Kultursprache vollkommen verdrängt worden; sie fristete nur noch in den zahlreichen Mundarten der Landbevölkerung ein kümmerliches Dasein. Nach der Loslösung Norwegens von Dänemark (1814) machten sich Bestrebungen geltend, eine eigene nationale Sprache zu schaffen. Doch die Bemühungen jener Partei, welche eine neue norwegische Kultursprache in Anlehnung an die alte norwegische Sprache zu schaffen bemüht war, sind wohl endgültig gescheitert. Den Erfolg haben die davon getragen, die das Dänische nur durch Einführung von Ausdrücken aus dem Wortschatze der norwegischen Dialekte zu bereichern suchen, im übrigen aber für die Beibehaltung der dänischen Sprache sind. In dieser Sprache sind [17] die Werke der großen norwegischen Dichter Ibsen und Björnson geschrieben. [13] Dänen und Norweger bilden denn noch heute, mögen sie auch politisch zwei Staaten angehören, eine einheitliche Nation.

2. Mundart und Kultursprache.

In der Urzeit führt jede Wanderung nicht nur zu örtlicher Absonderung der Sippen und Stämme, sondern auch zu geistiger. Wirtschaftliche Austauschbeziehungen sind noch nicht vorhanden; es gibt keinen Verkehr, der der Differenzierung und Entstehung neuer Arten entgegenwirken könnte. Die Mundart eines jeden Stammes entfernt sich immer mehr und mehr von jener, die die Vorfahren redeten, als sie noch mitsammen hausten. Die Zersplitterung der Mundarten schreitet unaufhaltsam weiter. Die Nachkommen verstehen sich nicht mehr.

Ein Bedürfnis nach sprachlicher Vereinheitlichung kommt dann von zwei Seiten her. Die Anfänge des Handels machen eine Verständigung zwischen den Angehörigen fremder Stämme zur Notwendigkeit. Aber diesem Bedürfnisse wird Genüge geleistet, wenn einzelne Vermittler des Verkehres die erforderlichen Sprachkenntnisse erwerben ; füi' die ältere Zeit, in der der Austausch von Gütern zwischen entfernteren Gegenden verhältnismäßig nur eine geringe Bedeutung hatte, dürften auf diesem Wege kaum mehr als einzelne Ausdrücke und Wortstämme zu allgemeinerem Gebrauche gelangt sein. Viel bedeutsamer für die Vereinheitlichung der Mundarten mußten die politischen Veränderungen werden. Eroberer traten auf, schufen Staaten und politische Verbände aller Art. Die politischen Führer weiter Gebiete traten in engere persönliche Beziehungen; in den Heeresaufgeboten vereinigten sich die Angehörigen aller sozialen Schichten zahlreicher Stämme. Teils unabhängig von der politischen und militärischen Organisation, teils in engster Verbindung mit ihr entstehen religiöse Einrichtungen, die von einem Stamme zum anderen übergehen. Mit den politischen und religiösen Einheitsbestrebungen gehen sprachliche Hand in Hand. Bald gewinnt die Mundart des Herrenoder des Priesterstammes das Übergewicht über die Mundarten der Unterworfenen und der Laien, bald bildet sich aus den verschiedenen Dialekten der Staats- und Religionsgenossen ein einheitlicher Mischdialekt heraus.

Die Aufnahme des Schriftgebrauches wird zur stärksten Stütze der Sprachvereinheitlichung. Die schriftlich festgehaltenen Glaubenslehren, Gesänge, Rechtssätze mid Urkunden verschaffen der Mundart, in der sie ausgedrückt wurden, ein Übergewicht. Nun ist die weitere [18] Sprachzersplitterung behindert, nun gibt es ein Sprachideal, das zu erreichen and nachzuahmen als erstrebenswert gilt. Der geheimnisvolle Nimbus, der den Buchstaben in der Urzeit umgibt und der bis heute — wenigstens dem gedruckten gegenüber — noch nicht ganz geschwunden ist, erhöht das Ansehen des Dialektes, in dem die Niederschrift erfolgte. Aus dem Chaos der Dialekte taucht die allgemeine Sprache empor, die Sprache der Herren und der Gesetze, die Sprache der Priester und der Sänger, die Schriftsprache. Sie wird zur Sprache der Höheren und der Gebildeteren, sie wird zur Staats- und Kultursprache [14] , sie erscheint schließlich als die einzig richtige und edle Sprache; die Mundarten aber, aus denen sie hervorgegangen ist, werden fortan als minderwertig angesehen. Man hält sie für korrumpierte Schriftsprache, man beginnt in ihnen die Rede des gemeinen Mannes zu verachten.

Zur Herausbildung der Einheitssprachen wirken von allem Anfang an immer politische und kulturelle Einflüsse zusammen. Das ist das Urwüchsige an der Mundart des Volkes, daß sie aus dem Leben derer, die sie sprechen, ihre Kraft schöpft. Dahingegen ist die Kultur- und Einheitssprache ein Erzeugnis der Studierstuben und Kanzleien. Zwar stammt auch sie in letzter Linie vom gesprochenen Worte des einfachen Mannes und von den Schöpfungen begnadeter Dichter mid Schriftsteller her. Aber immer ist sie auch mit mehr oder weniger Pedanterie und Alexandrinertum durchsetzt. Die Mundart lernt das Kind von der Mutter, sie allein kann Muttersprache sein; die Kultursprache lehrt die Schule.

In dem Ringen, das nun zwischen Kultursprache und Mundart anhebt, hat diese den Vorteil, daß sie vom Menschen schon in der empfänglichsten Zeit Besitz ergreift. Aber auch jene steht nicht ohne Hilfe da. Daß sie die allgemeine ist, daß sie über regionale Zersplitterung hinausführt zur Verständigung mit weiteren Kreisen, macht sie dem Staat und der Kirche unentbehrlich. Sie ist Trägerin der schriftlichen Überlieferung und Vermittlerin der Kultur. So kann sie über die Mundart siegen. Wenn sie aber von ihr allzu weit entfernt ist, wenn sie ihr so fremd ist oder im Wandel der Zeiten wird, daß sie nur noch dem verständlich ist, der sie mit Mühe erlernt, dann muß sie unterliegen; dann steigt aus der Mundart eine neue Kultursprache auf. So wurde das Lateinische durch das Italienische, das Kirchenslawische durch das Russische verdrängt; so wird vielleicht [19] im Neogriechischen die Vulgärsprache den Sieg davontragen über die des Klassizismus.

Der Glanz, mit dem die Schule und die Grammatiker die Kultursprache zu umgeben pflegen, die Verehrung, die sie ihren Regeln zollen, die Verachtung, der sie jeden anheim geben, der gegen diese Regeln sündigt, lassen das Verhältnis zwischen Kultursprache und Mundart in einem falschen Licht erscheinen. Die Mundart ist nicht korrumpierte Kultursprache, sie ist urwüchsige Sprache; aus den Mundarten heraus ist erst die Kultursprache gebildet worden, sei es, daß ein einzelner Dialekt, sei es, daß eine aus verschiedenen Dialekten künstlich gebildete Mischform zur Kultursprache erhoben wurde. Man kann daher gar nicht die Frage aufwerfen, ob ein bestimmter Dialekt dieser oder jener Kultursprache angehört. Das Verhältnis zwischen Kultursprache und Dialekt ist nicht immer das einer zweifelfreien Zuordnung oder gar Über- und Unterordnung, und die sprachgeschichtlichen und grammatischen Beziehungen sind dafür nicht allein maßgebend. Politische, wirtschaftliche und allgemein kulturelle Vorkommisse der Vergangenheit und Gegenwart entscheiden darüber, welcher Kultursprache die Menschen einer bestimmten Mundart zuneigen, und es kann vorkommen, daß auf diese Weise ein einheitlicher Dialekt sich teils an eine, teils an eine andere Kultursprache anschließt.

Der Vorgang, durch den Menschen, die einen bestimmten Dialekt sprechen, dazu übergehen, sich fortan ausschließlich oder neben dem Dialekt einer bestimmten Kultursprache zu bedienen, ist ein besonderer Fall nationaler Assimilation. Er ist dadurch besonders gekennzeichnet, daß es sich um ein Hinüberwechseln zu einer grammatisch nahestehenden Kultursprache handelt, und daß dieser Weg in aller Regel im gegebenen Falle der einzig denkbare ist. Der bayerische Bauernsohn hat im allgemeinen keinen anderen Weg zur Kultur offen als den über die deutsche Kultursprache, mag es auch in seltenen Einzelfällen vorkommen, daß er ohne diesen Umweg unmittelbar Franzose oder Tscheche wird. Doch für den Niederdeutschen gibt es bereits zwei Möglichkeiten, die Assimilation an die deutsche und die an die niederländische Kultursprache. Welche von beiden er nimmt, darüber entscheiden weder linguistische noch genealogische Momente, sondern politische, wirtschaftliche und soziale. Heute gibt es kein rein plattdeutsches Dorf mehr; überaJl herrscht zumindest Utraquismus vor. Wollte man heute einen plattdeutschen Bezirk von Deutschland abtrennen und zu den Niederlanden schlagen, die deutsche Schule, die deutsche Amts- und Gerichtssprache durch die niederländische ersetzen, dann würden die davon Betroffenen darin eine nationale Vergewaltigung erblicken. Doch vor hundert oder zweihundert Jahren wäre eine derartige Abtrennung eines deutschen Landstriches ohne Schwierigkeiten durchführbar gewesen, und die [20] Nachkommen der damals Abgetrennten wären heute ebenso gute Holländer wie sie heute gute Deutsche sind.

Im Osten Europas, wo Schule und Amt noch lange nicht jene Bedeutung besitzen wie im Westen, ist derartiges noch heute möglich. Der Sprachforscher wird in der Lage sein, bei der Mehrzahl der in Oberungarn gesprochenen slawischen Dialekte zu bestimmen, ob sie dem Slowakischen näher stehen als dem Ukrainischen, und vielleicht auch in Mazedonien in vielen Fällen zu entscheiden, ob eine bestimmte Mundart dem Serbischen oder dem Bulgarischen näher steht. Doch die Frage, ob die Leute, die diese Mundart sprechen, Slowaken oder Ukrainer, Serben oder Bulgaren werden, ist damit noch nicht beantwortet. Denn dies hängt nicht nur von den linguistischen Voraussetzungen ab, sondern auch von politischen, kirchlichen und sozialen. Ein Dorf mit einer zweifellos dem Serbischen näher stehenden Mundart kann verhältnismäßig rasch die bulgarische Kultursprache mehr oder weniger annehmen, wenn es eine bulgarische Kirche und eine bulgarische Schule erhält.

Nur so kann man zum Verständnisse des überaus schwierigen ukrainischen Problems vordringen. Die Frage, ob die Ukrainer eine selbständige Nation oder nur Russen, die einen besonderen Dialekt sprechen, seien, ist, in dieser Gestalt, sinnlos. Hätte die Ukraine nicht im 17. Jahrhundert ihre politische Unabhängigkeit an den großrussischen Staat der Zaren verloren, so hätte sich wohl eine besondere ukrainische Kultursprache entwickelt. Wären alle Ukrainer, also auch die in Galizien, in der Bukowina und in Oberungarn, spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter die Herrschaft der Zaren gekommen, dann hätte dies wohl die Entwicklung einer besonderen ukrainischen Literatur nicht verhindert, aber diese hätte wahrscheinlich dem Großrussischen gegenüber keine andere Stellung eingenommen als das plattdeutsche Schrifttum gegenüber dem Deutschen; sie wäre Mundartdichtung ohne besondere kulturelle und politische Ansprüche geblieben. Doch der Umstand, daß mehrere Millionen Ukrainer unter österreichischer Herrschaft standen und auch religiös von Rußland unabhängig warben, schuf die Vorbedingungen für die Ausbildung einer besonderen ruthenischen Kultursprache. Zweifellos haben die österreichische Regierung mid die katholische Kirche es lieber gesehen, daß die österreichischen Reußen eine besondere Sprache ausbilden, statt die russische zu übernehmen. In diesem Sinne steckt in der von den Polen aufgestellten Behauptung, die Ruthenen seien eine österreichische Erfindung, ein Funken Wahrheit. Nur darin gehen die Polen fehl, daß sie meinen, es wäre bei Ausbleiben dieser obrigkeitlichen Unterstützung der ersten Anfänge der ruthenischen Bestrebungen überhaupt zu keiner reußischen Bewegung in Ostgalizien gekommen. Die nationale Erhebung der Ostgalizianer wäre ebensowenig zu unterdrücken gewesen wie das [21] Erwacihen der anderen geschichtslosen Nationen. Hätten Staat und Kirche sie nicht in andere Bahnen zu lenken gesucht, so hätte sie sich wohl schon von Beginn an weit stärker in großrussischem Sinn entwickelt.

Die ukrainische Bewegung in Galizien hat dann die separatistischen Bestrebungen der südrussischen Ukrainer zumindest bedeutend gefördert, vielleicht überhaupt erst ins Leben gerufen. Die jüngsten politischen und sozialen Umwälzungen haben den südrussischen Ukrainismus so sehr gefördert, daß es nicht ganz ausgeschlossen ist, daß er vom Großrussentum nicht mehr zu überwinden sein wird. Aber das ist kein ethnographisches oder linguistisches Problem. Nicht der Grad der Verwandtschaft der Sprachen und Rassen wird entscheiden, ob die ukrainische oder die russische Sprache den Sieg davon tragen wird, sondern politische, wirtschaftliche, konfessionelle und allgemein kulturelle Umstände. Und es ist leicht möglich, daß darum die letzte Entscheidung in den vormals österreichischen und ungarischen Teilen der Ukraine anders ausfallen wird als in den seit altersher russischen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Slowakei. Auch die Selbständigkeit der slowakischen Sprache gegenüber der tschechischen ist ein Produkt einer in gewissem Sinne zufälligen Entwicklung. Hätten zwischen Mährem und Slowaken keine konfessionellen Gegensätze bestanden und wäre die Slowakei spätestens im 18. Jahrhundert mit Böhmen und Mähren politisch verbunden worden, dann hätte sich wohl kaum eine besondere slowakische Schrift- und Kultursprache entwickelt. Hätte anderseits die ungarische Regierung sich weniger auf die Magyarisierung der Slowaken verlegt und ihrer Sprache in der Schule und in der Verwaltung mehr Spielraum gewährt, dann hätte sie sich wohl kräftiger entwickelt und würde heute der tschechischen gegenüber mehr Widerstandskraft besitzen. [15]

Dem Sprachforscher mag es im allgemeinen nicht unmöglich dünken, durch Zuordnung der einzelnen Mundarten an bestimmte Kultur sprachen die Sprachgrenzen zu ziehen. Doch seine Entscheidung ist für den geschichtlichen Verlauf nicht präjudiziell. Politische und [22] kulturelle Ereignisse geben den Ausschlag. Die Linguistik vermag nicht zu erklären, warum Tschechen und Slowaken zwei besondere Nationen wurden und sie wird keine Erklärung wissen, wenn die beiden in Zukunft etwa zu einer Nation verschmelzen sollten.

3. Nationale Wandlungen.

Lange Zeit hindurch hat man die Nationen als unwandelbare Kategorien betrachtet und nicht bemerkt, daß Völker und Sprachen im Laufe der Geschichte den größten Veränderungen unterliegen. Die deutsche Nation des 10. Jahrhunderts ist eine andere als die deutsche Nation des 20. Jahrhunderts. Das tritt auch äußerlich darin zutage, daß die Deutschen von heute eine andere Sprache reden als die Zeitgenossen der Ottonen.

Die Zugehörigkeit zu einer Nation ist beim Individuum keine unveränderliche Eigenschaft. Man kann seiner Nation näher kommen oder ihr entfremdet werden, man kann sie auch ganz verlieren und dafür eine andere eintauschen.

Die nationale Assimilation, die von der Verschmelzung und Umwandlung der Rassen, mit der sie in gewissen Wechselwirkungen steht, wohl unterschieden werden muß, ist eine Erscheinung, deren geschichtliche Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie ist eine der Erscheinungsformen jener Kräfte, deren Wirken Völker- und Staatengeschichte macht. Überall sehen wir sie am Werke. Könnten mr sie in ihren Bedingungen mid in ihrem Wesen voll verstehen, dann hätten wir einen guten Schritt weiter getan auf dem Wege, der zur Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung führt. In auffälligem Widerspruche zu dieser Wichtigkeit des Problems steht die Achtlosigkeit, mit der die Geschichtswissenschaft und die Gesellschaftslehre bisher an ihm vorübergegangen sind.

Die Sprache dient dem Umgange mit den Mitmenschen. Wer zu seinen Mitmenschen reden will und verstehen will, was sie reden, muß sich ihrer Sprache bedienen. Jedermann muß sich daher bemühen, die Sprache seiner Umgebung zu verstehen und zu sprechen. Darum nehmen einzelne und Minderheiten die Sprache der Mehrheit an. Voraussetzung dafür aber ist immer, daß zwischen der Mehrheit und der Minderheit Verkehr stattfindet; ist dies nicht der Fall, dann erfolgt auch keine nationale Assimilation. Die Assimilation geht um so schneller vor sich, je enger der Verkehr der Minderheit mit der Mehrheit, je schwächer der Verkehr unter der Minderheit selbst und je schwächer ihr Verkehr mit entfernter wohnenden Volksgenossen ist. Es folgt daraus ohneweiters, daß die soziale Stellung der verschiedenen Nationalitäten hier von besonderer Bedeutung sein muß ; denn der persönliche Verkehr ist mehr oder weniger durch die Klassenzugehörigkeit gebunden. So können einzelne soziale Schichten [23] inmitten einer fremd nationalen Umgebung nicht nur jahrhundertelang ihre Sonderart und Sondersprache bewahren, sondern auch andere sich assimilieren. Ein deutscher Edelmann, der um 1850 herum nach Ostgalizien einwanderte, wurde nicht etwa Ruthene, sondern Pole; ein Franzose, der sich um 1800 herum in Prag niederließ, nicht Tscheche, sondern Deutscher. Pole wurde in Ostgalizien aber auch der ruthenische Bauer, der durch sozialen Aufstieg in die Herrenklasse gelangte, und Deutscher wurde der tschechische Bauernsohn, der ins Bürgertum aufstieg. [16]

In einer ständisch oder kastenmäßig gegliederten Gesellschaft können auf demselben Territorium verschiedene Nationen jahrhundertelang nebeneinander leben, ohne ihre nationale Selbständigkeit zu verlieren. Die Geschichte kennt genug Beispiele dafür. In den baltischen Landen Livland, Estland und Kurland, in Krain mid in Südsteiermark hielt sich deutscher Adel, in den böhmischen, ungarischen und polnischen Städten deutsches Bürgertum viele Geschlechter hindurch inmitten einer volksfremden Umgebung. Ein anderes Beispiel sind die Zigeuner. Wenn der gesellschaftliche Verkehr zwischen den Nationen fehlt, wenn zwischen ihnen kein connubium und nur in beschränktem Umfange commercium besteht, wenn der Wechsel des Standes oder der Kaste nur in seltenen Ausnahmefällen möglich ist, dann sind die Bedingungen der nationalen Assimilation nur selten gegeben. Darum konnten sich geschlossene bäuerliche Ansiedlungen inmitten eines von anderssprachiger Bevölkerung bewohnten Landes erhalten, solange die landwirtschaftlichen Schichten an die Scholle gebunden waren. Als jedoch die liberale Wirtschaftsverfassung alle Gebundenheit beseitigte, die Sonderrechte der Stände aufhob und den Arbeitern die Freizügigkeit gab, kam in die erstarrte nationale Schichtung Bewegung. Der soziale Aufstieg und die Wanderungen haben die nationalen Minderheiten rasch zum Verschwinden gebracht oder zumindest in eine nur schwer zu haltende Verteidigungsstellung gedrängt.

Das Niederreißen der Schranken, die den Übertritt von einer sozialen Klasse zur anderen wehrten, die Freizügigkeit der Person, all das, was den modernen Menschen frei gemacht hat, haben das Vordringen der Kultursprachen den Mundarten gegenüber sehr erleichtert. „Wo heute die so gewaltig erleichterten Verkehrsverbindungen in ungeahnter Weise die Menschen durcheinander würfeln und mengen, da ist es aus mit lokaler Mundart, mit lokalen Sitten, Sagen und Bräuchen; ihnen hat die Eisenbahnpfeife ihr Grablied gesungen. In wenigen Jahren werden sie dahingeschwunden sein, in wenigen Jahren wird es zu spät sein, sie zu sammeln und vielleicht [24] noch sie zu schützen" bemerkte schon vor Jahrzehnten ein englischer Philologe. [17] Heute kann man auch als Bauer oder Arbeiter in Deutschland nicht mehr leben, wenn man die hochdeutsche Kultursprache nicht wenigstens versteht und zur Not zu gebrauchen vermag. Die Schule trägt das ihre dazu bei, um diesen Prozeß zu beschleunigen.

Von der natürlichen Assimilation durch den persönlichen Verkehr mit Anderssprachigen ist die künstliche Assimilation, die Entnationalisierung durch staatlichen oder sonstigen Zwang, wohl zu unterscheiden. Die Assimilation ist als sozialer Prozeß an bestimmte Voraussetzungen geknüpft; sie kann nur eintreten, wenn ihre Bedingungen gegeben sind. Zwangsmittel bleiben da machtlos; sie können nie zum Erfolge führen, wenn die Vorbedingungen nicht vorhanden sind oder nicht gesetzt werden. Obrigkeitlicher Zwang kann mitunter diese Bedingungen und so mittelbar auch die Assimilation herbeiführen; unmittelbar vermag er die nationale Umformung nicht hervorzurufen. Wenn man einzelne in eine Umgebung versetzt, in der sie, vom Umgange mit ihren Volksgenossen abgetrennt, ausschließlich auf den Verkehr mit Fremden angewiesen sind, dann bereitet man ihrer Assimilation die Wege. Doch wenn man nur zu Zwangsmitteln zu greifen imstande ist, die die Umgangssprache nicht beeinflussen, dann haben die Versuche nationaler Vergewaltigung kaum Aussicht auf Erfolg.

Vor dem Anbruche des Zeitalters der modernen Demokratie, als die nationalen Fragen noch nicht die politische Bedeutung hatten, die ihnen heute zukommt, konnte schon aus diesem Grunde von nationaler Vergewaltigung nicht die Rede sein. Wenn die katholische Kirche und der habsburgische Staat im 17. Jahrhundert in Böhmen das tschechische Schrifttum unterdrückten, waren sie von religiösen und politischen, doch nicht von nationalpolitischen Gesichtspunkten geleitet; sie verfolgten die Ketzer und Rebellen, nicht die tschechische Nation. Erst die jüngste Zeit hat nationale Vergewaltigungsversuche großen Stiles gesehen. Rußland, Preußen und Ungarn vor allem sind die klassischen Länder der zwangsweisen Entnationalisierung gewesen. Welchen Erfolg Russifizierung, Germanisierung und Magyarisierung erzielt haben, ist bekannt. Die Prognose, die man nach diesen Erfahrungen etwaigen zukünftigen Polonisierungs oder Tschechisierungsbestrebungen stellen kann, ist keine günstige.

[25]

II. Das Nationalitätsprinzip der Politik.

1. Der liberale oder pazifistische Nationalismus.

Daß die Politik national sein soll, ist eine moderne Forderung.

In den meisten Ländern Europas hatte seit dem Beginne der Neuzeit der Fürstenstaat den Ständestaat des Mittelalters abgelöst. Der Staatsgedanke des Fürstenstaates ist das Interesse des Herrschers. Ludwig XIV. berühmte Maxime „l'etat c'est moi" drückt die Auffassung am kürzesten aus, die an den drei europäischen Kaiserhöfen noch bis zu den letzten Umwälzungen lebendig war. Nicht minder klar ist es, wenn Quesnay, dessen Lehren doch schon in die neue Staatsauffassung hinüberleiten, seinem Werke das Motto voranschickt: „Pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre roi." Es genügt ihm nicht, den Nachweis zu erbringen, daß vom Wohlstande des Landmannes auch der des Staates abhängt; er hält es noch für nötig, zu zeigen, daß auch der König nur reich sein kann, wenn es der Bauer ist. Damit erst erscheint der Nachweis der Notwendigkeit, Maßnahmen zur Hebung des Wohlstandes der Bauern zu ergreifen, erbracht. Denn der Zweck des Staates ist eben der Fürst.

Gegen den Fürstenstaat erhebt sich dann im 18. und 19. Jahrhundert die Freiheitsidee. Sie erneuert die politischen Gedanken der Republiken des Altertums und der mittelalterlichen Freistädte, sie knüpft an die Fürstenfeindschaft der Monarchomachen an; sie richtet sich an dem Vorbild Englands auf, wo das Königtum bereits im 17. Jahrhundert eine entscheidende Niederlage erlitten hatte; sie kämpft mit dem ganzen Rüstzeuge der Philosophie, des Rationalismus, des Naturrechtes und der Geschichte; sie gewinnt die große Menge durch die Dichtkunst, die sich ganz in ihren Dienst stellt. Dem Anstürme der Freiheitsbewegung erliegt das absolute Königtum. An seine Stelle tritt hier die parlamentarische Monarchie, dort die Republik.

Für den Fürstenstaat gibt es keine natürlichen Grenzen. Mehrer seines Hausgutes zu sein, ist das Ideal des Fürsten; er strebt danach, seinem Nachfolger mehr Land zu hinterlassen, als er von seinem Vater geerbt hat. In der Erwerbung neuen Besitztums so weit zu gehen, bis man auf gleich starke oder stärkere Widersacher stoßt, ist das Streben der Könige. Denn grundsätzlich kennt ihre Ländergier keine Grenzen; das Verhalten der einzelnen Fürsten und die Ansichten der literarischen Verfechter der Fürstenidee stimmen darin überein. Dieses Prinzip bedroht zunächst die Existenz aller kleineren und schwächeren Staaten. Daß sie sich doch zu erhalten vermögen, ist nur auf die Eifersucht der großen zurückzuführen, die ängstlich darüber wachen, daß keiner zu stark werde. Das ist der Gedanke [26] des europäischen Gleichgewichtes, der Koalitionen bildet und wieder sprengt. Wo es ohne Gefährdung des Gleichgewichtes möglich ist, werden schwächere Staaten vernichtet; ein Beispiel: die Teilung Polens. Die Fürsten betrachten die Länder nicht anders als ein Gutsherr seine Wälder, Wiesen und Äcker. Sie verkaufen sie, sie tauschen sie aus (z. B. zur „Arrondierung"), und jedesmal wird die Herrschaft über die Einwohner mit übertragen. Republiken erscheinen dieser Auffassung als herrenloses Gut, das sich jeder aneignen darf, wenn er es kann. Ihren Höhepunkt hat diese Politik übrigens erst im 19. Jahrhundert erreicht, im Reichsdeputationshauptschluß von 1803, in den Napoleonischen Staatsgründungen und in den Beschlüssen des Wiener Kongresses.

Länder und Völker sind in den Augen der Fürsten nichts anderes als Gegenstand fürstlichen Besitzes; jene bilden die Grundlage der Souveränität, diese das Zugehör des Landbesitzes. Von den Menschen, die in „seinem" Lande wohnen, fordert der Fürst Gehorsam und Treue, er faßt sie gleichsam als sein Eigentum auf. Dieses Band, das ihn mit jedem einzelnen seiner Untertanen verbindet, soll aber auch das Einzige sein, das die einzelnen Individuen zu einer Einheit zusammenschließt. Der absolute Herrscher hält nicht nur jede andere Gemeinschaft zwischen seinen Untertanen für gefährlich, so daß er alle überkommenen genossenschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen, die ihre Herkunft nicht aus den von ihm gegebenen Staatsgesetzen ableiten, zu lösen sucht und jeder neuen Gemeinschaftsbildung, etwa durch Vereine, feindselig gegenübertritt; er will auch nicht zulassen, daß sich die Untertanen seiner verschiedenen Gebiete in ihrer Untertaneneigenschaft als Genossen zu fühlen beginnen. Aber freilich, indem der Fürst alle ständischen Bindungen zu zerreißen sucht, um aus Adeligen, Bürgern und Bauern Untertanen zu machen, atomisiert er den gesellschaftlichen Körper und schafft damit die Voraussetzung für das Aufkommen eines neuen politischen Empfindens. Der Untertan, der es verlernt hat, sich als Angehöriger eines engen Kreises zu fühlen, beginnt sich als Mensch, als Volksgenosse, als Staats- und als Weltbürger zu fühlen. Die Bahn für die neue Weltanschauung wird frei.

Die liberale fürstenfeindliche Staatstheorie verwirft die Ländergier und den Länderschacher der Fürsten. Ihr erscheint es zunächst selbstverständlich, daß Staat und Nation zusammenfallen. Denn so ist es in Großbritannien, dem Musterlande der Freiheit, so in Frankreich, dem klassischen Lande des Freiheitskampfes. Man hält das für so selbstverständlich, daß man darüber weiter kein Wort verliert. Da eben Staat und Nation zusammenfallen und ein Bedürfnis, dies zu ändern, nicht besteht, so gibt es liier kein Problem.

Das Problem der Staatsgrenzen trat erst auf, als die Macht des Freiheitsgedankens Deutschland und Italien erfaßte. Hier und in [27] Polen stellt hinter den jämmerlichen Despoten der Gegenwart der große Schatten eines entschwundenen Einheitsstaates. Allen Deutschen, Polen und Italienern ist ein großes politisches Ziel gemeinsam : die Befreiung ihres Volkes von der Fürstenherrschaft. Das gibt ihnen zunächst die Einheit des politischen Denkens und dann die Einheit des Handelns. Über die Staatsgrenzen hinweg, die von Zollwächtern und Gendarmen bewacht werden, reichen sich die Völker die Hand zum Bunde. Der Allianz der Fürsten gegen die Freiheit tritt der Bund der um ihre Freiheit kämpfenden Völker entgegen.

Dem fürstlichen Prinzipe, so viel Land als nur erreichbar der eigenen Herrschaft zu unterwerfen, stellt die Freiheitslehre den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker entgegen, der mit Notwendigkeit aus dem Prinzipe der Menschenrechte folgt. [18] Kein Volk und kein Volksteil soll wider seinen Willen in einem Staatsverbande festgehalten werden, den es nicht will. Die Gesamtheit der Freiheitlichgesinnten, die gewillt sind, einen Staat zu bilden, erscheint als die politische Nation; patrie, Vaterland, wird zur Bezeichnung des Landes, das sie bewohnen, Patriot wird synonym mit freiheitlich gesinnt. [19] In diesem Sinne beginnen sich die Franzosen als Nation zu fühlen, indem sie den Despotismus der Bourbonen brechen und indem sie den Kampf gegen die Koalition der Monarchen aufnehmen, die ihre eben erkämpfte Freiheit bedrohen. Die Deutschen, die Italiener werden national gesinnt, weil fremde Fürsten, durch die heilige Allianz verbunden, sie hindern, den Freiheitsstaat aufzurichten. Dieser Nationalismus richtet sich nicht gegen fremde Völker, sondern gegen den Despoten, der auch fremde Völker knechtet. Der Haß des Italieners gilt zunächst nicht den Deutschen, sondern den Bourbonen und den Habsburgern, der Haß des Polen nicht den Deutschen oder Russen, sondern dem Zaren, dem Preußenkönig und dem Kaiser von Österreich. Und nur weil die Truppen, auf die sich die Herrschaft der Tyrannen stützt. Fremde sind, nimmt der Kampf auch das Schlagwort vom Fremden an. Aber selbst im Kampfe riefen die Garibaldianer den österreichischen Soldaten zu : „Passate l'Alpi e tornerem fratelli! [20] Untereinander vertragen sich die einzelnen um die Freiheit kämpfenden Nationen ausgezeichnet. Alle Völker begrüßen den Freiheitskampf der Griechen, der Serben, der Polen. Im „Jungen Europa" sind die Freiheitskämpfer ohne Unterschied der Nationalität verbunden.

[28]

Das Nationalitätsprinzip trägt zunächst keine Spitze gegen Angehörige anderer Nationen. Es richtet sich in tyrannos.

Daher besteht denn auch zunächst zwischen nationaler und weltbürgerlicher Gesinnung kein Gegensatz. [21] Der Freiheitsgedanke ist national und kosmopolitisch zugleich. Er ist revolutionär, denn er will alle Herrschaft beseitigen, die sich nicht mit seinen Grundsätzen verträgt, aber er ist auch pazifistisch. [22] Was für einen Kriegsgrund könnte es noch geben, wenn einmal alle Völker befreit sein werden? Darin begegnet sich der politische Liberalismus mit dem wirtschaftspolitischen, der die Interessensolidarität der Völker verkündet.

Das muß man sich auch vor Augen halten, wenn man den ursprünglichen Internationalismus der sozialistischen Parteien seit Marx begreifen will. Auch der Liberalismus ist in seinem Kampfe gegen den Absolutismus des Fürstenstaates kosmopolitisch. Wie die Fürsten zusammenstehen, um dem neuen Geiste das Vordringen zu wehren, so halten auch die Völker gegen die Fürsten zusammen. Wenn das kommunistische Manifest die Proletarier aller Länder auffordert, sich im Kampfe gegen den Kapitalismus zu vereinigen, so ist das eine Losung, die sich folgerichtig aus der behaupteten Tatsache der Gleichheit der kapitalistischen Ausbeutung in allen Ländern ergibt. Es ist aber kein Gegensatz gegen die liberale Forderung des nationalen Staates. Es ist kein Gegensatz zum Programme der Bourgeoisie, denn auch sie ist ja in diesem Sinn international. Nicht auf dem Wort „aller Länder" liegt der Nachdruck, sondern auf dem Worte „Proletarier". Daß gleichgesinnte und in gleicher Lage befindliche Klassen aller Länder sich zusammentun müssen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn man in dieser Aufforderung überhaupt eine Spitze erblicken kann, so ist es nur die gegen die pseudonationalen Bestrebungen, die jede Veränderung überkommener Einrichtungen als eine Beeinträchtigung der berechtigten nationalen Eigenart bekämpfen.

Die neuen politischen Ideen der Freiheit und Gleichheit haben zuerst im Westen gesiegt. England und Frankreich wurden so für das übrige Europa die politischen Musterländer. Wenn aber die Liberalen die Übernahme fremder Einrichtungen forderten, so war es nur natürlich, daß der Widerstand, der von den alten Mächten geleistet wurde, auch das uralte Mittel des Fremdenhasses gebrauchte. Die deutschen und die russischen Konservativen bekämpfen die Freiheitsideen auch mit dem Argument, daß es fremde Dinge seien, die für ihre Völker nicht taugen. Hier wird die nationale Wertung zu politischen [29] Zwecken mißbraucht. [23] Aber von einer Gegnerschaft gegen die fremde Nation als Ganzes oder ihre einzelnen Individuen ist nicht die Rede.

Das nationale Prinzip ist also, soweit die Beziehungen zwischen den Völkern in Frage kommen, zunächst durchaus friedlich. Es ist als politisches Ideal mit dem friedlichen Nebeneinanderleben der Völker ebenso vereinbar wie der Nationalismus Herders als Kulturideal mit seinem Kosmopolitismus. Erst im Laufe der Zeit wandelt sich der friedliche Nationalismus, der nur den Fürsten, nicht aber auch den Völkern feind ist, in einen kriegerischen Nationalismus. Diese Wandlung vollzieht sich aber erst in dem Augenblicke, wo die modernen Staatsprinzipien in ihrem Siegeslaufe von Westen nach Osten die Gebiete mit gemischter Bevölkerung erreichen.

Ganz besonders klar wird uns die Bedeutung des Nationalitätsprinzipes in seiner älteren friedlichen Gestaltung, wenn wir die Entwicklung seiner zweiten Forderung betrachten. Zunächst enthält das Nationalitätsprinzip nur die Ablehnung jeder Herrschaft und damit auch jeder Fremdherrschaft; es fordert Selbstbestimmung, Autonomie. Dann aber erweitert sich sein Inhalt; nicht nur Freiheit, auch Einheit heißt die Losung. Aber auch das Verlangen nach nationaler Einheit ist zunächst durchaus friedlich.

Eine seiner Quellen ist, wie schon erwähnt, die geschichtliche Erinnerung. Aus trüber Gegenwart wendet sich der Blick zurück in eine bessere Vergangenheit. Und diese Vergangenheit zeigt einen Einheitsstaat, nicht jedem Volk in so glanzvollen Bildern wie den Deutschen und den Italienern, aber doch den meisten verlockend genug.

Der Einheitsgedanke ist aber nicht nur Romantik, er ist auch realpolitisch wichtig. In der Einheit sucht man die Kraft, um der Allianz der Unterdrücker Herr zu werden. Die Einheit im Einheitsstaate bietet den Völkern die höchste Gewähr für die Erhaltung ihrer Freiheit. Und auch da tritt der Nationalismus nicht in Gegensatz zum Kosmopolitismus. Denn die geeinte Nation will nicht Feindschaft mit den Nachbarvölkern, sondern Frieden und Freundschaft.

So sehen wir denn auch, daß der Einheitsgedanke seine Staaten vernichtende und Staaten aufbauende Kraft dort nicht zu äußern vermag, wo Freiheit und Selbstverwaltung ohne ihn schon vorhanden sind und gesichert scheinen. Die Schweiz hat bis heute kaum irgend welche Anfechtung von seiner Seite erfahren. Am wenigsten Neigung zum Abfalle zeigen die deutschen Schweizer; sehr begreiflich, hätten sie doch nur die Freiheit mit der Untertänigkeit im deutschen Obrigkeitsstaate vertauschen können. Aber auch die Franzosen und im großen und ganzen auch die Italiener haben sich in der Schweiz so [30] frei gefühlt, daß sie keine Gelüste nach der politischen Vereinigung mit ihren Volksgenossen trugen.

Für den nationalen Einheitsstaat wirkt aber noch eine dritte Überlegung. Ohne Zweifel verlangt schon die heute erreichte Entwicklungsstufe der internationalen Arbeitsteilung eine weitgehende Vereinheitlichung des Rechtes und der Verkehrseinrichtungen überhaupt, und diese Forderung wird um so dringender werden, je mehr sich die Wirtschaft weiter zur Weltwirtschaft umgestalten wird. Als die wirtschaftlichen Verkehrsbeziehungen noch in den ersten Anfängen waren, als sie sich im großen und ganzen kaum über die Gemarkungen eines Dorfes hinaus erstreckten, da war die Zersplitterung der Erdoberfläche in unzählige kleine Rechts- und Verwaltungsbezirke die naturgemäße Form politischer Organisation. Es gab, abgesehen von den militärischen und außenpolitischen Interessen, die ja nicht überall zum Zusammenschluß und zur Eildung großer Reiche drängten und auch dort, wo sie in dieser Richtung wirksam waren, im Zeitalter des Feudalismus und noch mehr in dem des Absolutismus nicht immer zur Eildung von Nationalstaaten führten, keine Umstände, die die Vereinheitlichung des Rechtes und der Verwaltung forderten. Das wurde erst in dem Maße zur Notwendigkeit, in dem die wirtschaftlichen Beziehungen über die Gemarkungen der Landschaften, der Länder, schließlich der Weltteile immer mehr mid mehr hinauszugreifen begannen.

Der Liberalismus, der volle Freiheit der Wirtschaft fordert, sacht die Schwierigkeiten, die die Verschiedenheit der politischen Einrichtungen der Entwicklung des Verkehres entgegenstellt, durch Entstaatlichung der Ökonomie zu lösen. Er strebt nach möglichster Vereinheitlichung des Rechtes, in letzter Linie nach Weltrechtseinheit. Doch er glaubt nicht, daß man, um dieses Ziel zu erreichen, große Imperien oder gar ein Weltimperium schaffen, müsse. Er beharrt auf dem Standpunkte, den er dem Problem der Staatsgrenzen gegenüber einnimmt. Die Völker selbst mögen darüber entscheiden, wie weit sie ihr Recht angleichen wollen; jede Vergewaltigung ihres Willens wird grundsätzlich abgelehnt. So trennt den Liberalismus eine tiefe Kluft von allen jenen Auffassungen, die den Großstaat um der Wirtschaft willen zwangsweise schaffen wollen.

Doch die Realpolitik muß vorerst noch mit dem Bestände von Staaten und mit den Schwierigkeiten, die sich der Schaffung überstaatlichen Rechtes und zwischenstaatlicher Verkehrsfreiheit entgegenstellen, rechnen. Mit Neid sehen daher die Patrioten der Nationen, die in viele Staaten zersplittert leben, auf die national geeinten Völker. Ihnen wollen sie es nachtun. Sie sehen die Dinge mit anderen Augen an als die liberalen Doktrinäre. In dem Deutschland des Deutschen Bundes war die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des Rechtes und der Rechtsprechung, der Verkehrseinrichtungen und der [31] gesamten Verwaltung als dringend erkannt. Ein freies Deutschland hätte auch durch Umwälzung innerhalb der einzelnen Staaten geschaffen werden können, dazu hätte es nicht erst des Zusammenschlusses bedurft. Für den Einheitsstaat spricht in den Augen der Realpolitiker aber nicht nur die Notwendigkeit, dem Bunde der Unterdrücker den Bund der Unterdrückten gegenüberzustellen, um die Freiheit überhaupt zu erringen [24] und die weitere Notwendigkeit, beisammen zu bleiben, um in der Einheit die Kraft zu finden, die Freiheit auch zu bewahren. Auch abgesehen davon, drängt die Notwendigkeit des Verkehres zur Einheit hin. Es geht nicht mehr länger an, die Zersplitterung im Rechtsleben, im Geldwesen, im Verkehrswesen und in vielen anderen Dingen bestehen zu lassen. Auf allen diesen Gebieten verlangt die Zeit schon über die nationalen Grenzen hinaus Vereinheitlichung. Schon gehen die Völker daran, die ersten Vorbereitungen zu treffen für die Welteinheit in allen diesen Belangen. Scheint es da nicht naheliegend, zunächst in Deutschland das zu erreichen, was die anderen Völker schon erreicht hatten, ein deutsches Privatrecht zu schaffen als den Vorläufer des kommenden Weltrechtes, ein deutsches Strafrecht als Vorstufe der Weltstrafordnung, einen deutschen Eisenbahnverein, ein deutsches Geldwesen, eine deutsche Post? Das alles aber soll der deutsche Einheitsstaat gewähren. Das Programm der Freiheitsmänner kann sich daher nicht auf die „Auktion von dreißig Fürstenhüten" (Freiligrath) beschränken, es muß, dem Stande der wirtschaftlichen Entwicklung gemäß, schon den einheitlichen Staat fordern.

So hegt in dem Streben nach dem Einheitsstaat auch schon der Keim der neuen Auffassung des Nationalitätsprinzipes, die vom friedlichen liberalen Nationalitätsprinzip zum militanten, machtpolitischen Nationalismus, zum Imperialismus, hinüberleitet.

2. Der militante oder imperialistische Nationalismus.

a) Die nationale Frage in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung.

Der Fürstenstaat strebt rastlos nach Ausdehnung des Staatsgebietes und Vermehrung der Untertanenzahl. Auf der einen Seite geht er nach Landerwerb aus und fördert die Einwanderung, auf der anderen Seite setzt er auf die Auswanderung die strengsten Strafen. Je mehr Land und je mehr Untertanen, desto mehr Einkünfte, desto mehr Soldaten. Nur in der Größe des Staates liegt die Gewähr für seine Erhaltung. Die kleineren Staaten sind immer in Gefahr, von den größeren verschlungen zu werden.

Für den freien Volksstaat gelten alle diese Argumente nicht. Der Liberalismus kennt keine Eroberungen, keine Annexionen; so [32] wie er dem Staat überhaupt gleichgültig gegenübersteht, so ist ihm auch das Problem der Staatsgröße unwichtig. Er zwingt niemand wider seinen Willen in das Staatsgefüge hinein. Wer auswandern will, wird nicht zurückgehalten. Wenn ein Teil des Staatsvolkes aus dem Verband auszuscheiden wünscht, der Liberalismus hindert ihn nicht daran. Kolonien, die sich selbständig machen wollen, mögen es nur tun. Die Nation als organisches Gebilde kann durch staatliche Veränderungen weder vergrößert noch verkleinert werden, die Welt als Ganzes dadurch weder gewinnen noch verlieren.

Der Liberalismus hat sich nachhaltig nur im Westen Europas und in Amerika durchsetzen können. In Mittel- und Osteuropa ist er nach kurzer Blüte wieder verdrängt worden; sein demokratisches Programm lebte hier nur noch in den Programmen, seltener in den Taten der sozialistischen Parteien fort. Die Staatspraxis hat das pazifistische Nationalitätsprinzip des Liberalismus allmählich in sein Gegenteil, in das militante, imperialistische Nationalitätsprinzip der Unterdrückung verkehrt. Sie hat ein neues Ideal aufgestellt, das Eigenwert beansprucht, das der äußeren, zahlenmäßigen Größe der Nation.

Vom kosmopolitischen Standpunkte muß man die Zersplitterung der Menschheit in verschiedene Völker als einen Umstand bezeichnen, der viel Mühe und Kosten bereitet. Viel Arbeit wird auf das Erlernen fremder Sprachen verwendet, mit Übersetzungen vertan. Jeder Kulturfortschritt würde sich leichter durchsetzen, jeder Verkehr zwischen den Menschen besser vor sich gehen, wenn es nur eine Sprache gäbe. Auch wer den unermeßlichen Kulturwert der Differenzierung der körperlichen und geistigen Anlagen und der Entwicklung besonderer Einzel- und Volkscharaktere zu würdigen weiß, muß dies zugeben und darf nicht bestreiten, daß der Fortschritt der Menschheit ganz außerordentlich erschwert wäre, wenn es nicht neben den kleinen Völkern, die nur einige Hunderttausend oder Millionen Seelen zählen, auch noch größere Völker gäbe.

Aber auch der einzelne kann es zu spüren bekommen, daß die Mannigfaltigkeit der Sprachen unbequem werden kann. Er spürt es, wenn er in die Fremde reist, wenn er fremde Schriften lesen, wenn er zu seinen Mitmenschen sprechen oder für sie schreiben will. Dem einfachen Manne mag es gleichgültig sein, ob sein Volk an Zahl größer oder kleiner ist; für den geistigen Arbeiter ist es von größter Bedeutung. Denn „für ihn ist die Sprache mehr als bloßes Verständigungsmittel im gesellschaftlichen Verkehr, sie ist für ihn eines seiner vornehmsten Werkzeuge, ja oft sein einziges, und eines, das er kaum wechseln kann". [25] Für den Erfolg literarischen Wirkens ist es entscheidend, ob es eine größere oder kleinere Zahl ist, der sich der Verfasser unmittelbar [33] verständlich machen kann. Niemand wünscht daher die Größe der eigenen Nation sehnlicher als der Dichter und der gelehrte Schriftsteller, die geistigen Führer der Völker. Es ist leicht zu verstehen, daß sie sich für sie zu begeistern vermögen. Aber das allein erklärt noch lange nicht die Volkstümlichkeit dieses Ideales.

Denn einmal vermögen diese Führer dem Volk auf die Dauer keine Ziele zu empfehlen, die das Volk nicht selbst erwählt hat. Und dann gibt es auch noch andere Wege, um das Publikum der Schriftsteller zu erweitern. Man erweitere die Bildung im Volk, und man schafft damit ebenso mehr Leser und Hörer als durch Verbreitung der nationalen Sprache im Auslande. Diesen Weg haben die skandinavischen Nationen beschritten. Sie suchen nationale Eroberuingen nicht in der Fremde, sondern zu Hause.

Daß der Volksstaat imperialistisch werden konnte, daß er unter Hintansetzung älterer Grundsätze zuerst in der Erhaltung und dann in der Mehrung der Zahl der Nationsangehörigen, selbst auf Kosten des Selbstbestimmungsrechtes einzelner wie ganzer Volksteile und Völker, ein Ziel seiner Politik erblicken konnte, dafür waren Umstände maßgebend, die dem im Westen entstandenen Liberalismus und seinem pazifistischen Nationalitätsprinzipe fremd waren. Es war die Tatsache, daß die Völker im Osten nicht völlig getrennte Siedlungsgebiete haben, vielmehr in weiten Gebieten in örtlicher Vermengung wohnen, und dann die weitere Tatsache, daß solche Völkermischung, als Folge der Völkerwanderungen immer von Neuem entsteht. Diese beiden Probleme haben den militanten oder imperialistischen Nationalismus gezeitigt. Er ist deutschen Ursprunges, denn die Probleme, aus denen er entstand, rückten zuerst in das Licht der Geschichte, als der Liberalismus deutschen Boden erreicht hatte. Aber er ist durchaus nicht etwa auf Deutschland beschränkt geblieben; alle Völker, die in der Lage sind, aus diesen Umständen einen TeU ihrer Volksgenossen der nationalen Entfremdung ausgesetzt zu wissen, sind dem deutschen Volk auf der gleichen Balm nachgefolgt oder werden es tun, wenn die Geschichte nicht früher eine andere Lösung des Problems findet.

Jede Betrachtung der Probleme, denen wir uns jetzt zuwenden, muß von der Tatsache ausgehen, daß die Bedingungen, unter denen die Menschen auf den einzelnen Teilen der Erdoberfläche leben, verschieden sind. Welche Bedeutung dieser Tatsache zukommt, werden wir am besten erkennen, wenn wir versuchen wollten, von ihr abzusehen. Wenn die Lebensbedingungen überall auf der Erdoberfläche die gleichen wären, dann würde im großen und ganzen für einzelne und für Völker keine Veranlassung vorliegen, die Wohnsitze zu wechseln. [26]

[34]

Daß aber die Lebensbedingungen ungleich sind, bewirkt, daß, um ein Wort Ségurs zu gebrauchen, die Menschheitsgeschichte das Streben der Völker ist, von einem schlechteren Wohngebiete nach einem besseren fortzuschreiten. Die Weltgeschichte ist die Geschichte der Völkerwanderungen.

Die Völkerwanderungen vollziehen sich entweder in gewaltsamer militärischer Art oder in friedlichen Formen. Die militärische Form war früher die vorherrschende. Die Goten, Vandalen, Longobarden, Normannen, Hunnen, Avaren und Tartaren nahmen mit Gewalt ihre neuen Wohnsitze und vertilgten, vertrieben oder unterjochten die dort ansässige Bevölkerung. Dann gab es im Lande zwei Klassen verschiedener Nationalität, die Herren und die Knechte, die sich nicht nur als politische und soziale Klassen gegenüber standen, sondern auch der Abstammung, der Kultur und der Sprache nach fremd waren. Im Laufe der Zeiten sind diese nationalen Gegensätze geschwunden, sei es, daß die Sieger ethnisch in den Besiegten aufgegangen sind, oder daß die Unterworfenen sich den Siegern assimiliert haben. Jahrhunderte liegen zurück seit der Zeit, da sich dieser Prozeß in Spanien und Italien, in Gallien und in England vollzogen hat.

Im Osten Europas gibt es noch weite Gebiete, wo dieser Assimilationsprozeß noch gar nicht begonnen hat oder erst in den Anfängen ist. Zwischen den baltischen Baronen und ihren estnischen und lettischen Hintersassen, zwischen dem magyarischen oder magyarisierten Adel Ungarns und den slawischen oder romanischen Bauern und Landarbeitern, zwischen den deutschen Bürgern der mährischen Städte und den tschechischen Proletariern, zwischen den italienischen Grundherren Dalmatiens und den slawischen Kolonen und Kontadinen klafft noch heute die tiefe Kluft nationaler Verschiedenheit.

Die im Westen Europas ausgebildete Lehre vom modernen Staat und von der modernen Freiheit weiß nichts von diesen Verhältnissen. Das Problem der national gemischten Bevölkerung besteht für sie nicht. Für sie ist die Nationenbildung ein abgeschlossener geschichtlicher Prozeß. Franzosen und Engländer nehmen in ihren europäischen Wohnsitzen heute keine fremden Bestandteile mehr auf, sie wohnen in geschlossenen Siedlungsgebieten, und wenn einzelne Fremde zu ihnen kommen, so werden sie leicht und schmerzlos assimiliert. Aus der Anwendung des Nationalitätsprinzipes konnten sich auf englischem und französischem Boden in Europa (denn anders liegt es in den Kolonien und in den Vereinigten Staaten) kerne Reibungen zwischen den Nationen ergeben. Und so konnte auch die [35] Meinung entstehen, daß die volle Durchführung des Nationalitätsprinzipes den ewigen Frieden verbürgen könne. Denn da nach liberaler Auffassung Kriege doch nur durch die Eroberungslust der Könige entstehen, kann es keinen weiteren Krieg mehr geben, sobald einmal jedes Volk als ein besonderer Staat konstituiert ist. Das ältere Nationalilätsprinzip ist friedlich; es will keinen Krieg zwischen den Völkern mid glaubt, daß zu einem solchen kein Anlaß vorliegt.

Da entdeckt man nun plötzlich, daß die Welt nicht überall das gleiche Gesicht zeigt wie an der Themse und an der Seine. Die Bewegungen des Jahres 1848 hoben zuerst den Schleier, den der Despotismus über das Völkergemisch des Kaisertums der Habsburger gebreitet hatte; die revolutionären Bewegungen, die dann später in Rußland, in Mazedonien und Albanien, in Persien und China zum Ausbruche kamen, enthüllten auch dort die gleichen Probleme. Solange der Absolutismus des Fürstenstaates alle in gleicher Weise bedrückt hatte, konnte man sie nicht erkennen. Jetzt aber treten sie, kaum daß der Freiheitskampf beginnt, drohend auf. [27]

Es lag nahe, ihre Lösung mit den überlieferten Mitteln der abendländischen Freiheitslehre anzustreben. Dort war es das Mehrheitsprinzip, das, gleichviel ob in der Gestalt der Volksabstimmung oder in anderer Weise durchgeführt, als geeignet angesehen wird, alle Schwierigkeiten zu lösen. Das ist die Antwort, die die Demokratie weiß. Aber war eine solche Lösung hier überhaupt denkbar und möglich? Hätte sie hier Frieden stiften können?

Der Grundgedanke des Liberalismus und der Demokratie ist die Harmonie der Interessen aller Teile eines Volkes und dann die Harmonie der Interessen aller Völker. Weil das richtig verstandene Interesse aller Schichten der Bevölkerung zu denselben politischen Zielen und Forderungen führt, kann man die Entscheidung politischer Fragen der Abstimmung des ganzen Volkes überlassen. Es mag sein, daß die Mehrheit irrt. Aber nur durch Fehler, die es selbst beging und deren Folgen es am eigenen Leibe spürt, kann ein Volk zur Einsicht gelangen, kann es politisch reif werden. Die Fehler, die einmal begangen wurden, werden nicht wieder gemacht werden; man wird erkennen, wo das Beste in Wahrheit zu finden ist. Daß es Sonderinteressen einzelner Klassen oder Gruppen gibt, die dem Allgemeinbesten entgegenstehen, leugnet die liberale Theorie. Sie kann daher in den Beschlüssen der Mehrheit nur Gerechtigkeit sehen; denn die Fehler, die begangen wurden, rächen sich eben an allen, auch an jenen, die für sie eingetreten sind, und die unterlegene Minderheit muß eben dafür büßen, daß sie es nicht verstanden hat, die Mehrheit auf ihre Seite herüberzuziehen.

[36]

Sobald man aber die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit wirklich gegensätzlicher Interessen zugibt, hat auch das demokratische Prinzip seine Geltung als „gerechtes" Prinzip verloren. Wenn der Marxismus und die Sozialdemokratie überall den unversöhnlichen Gegensatz der widerstreitenden Klasseninteressen sehen, dann müssen sie folgerichtig auch das demokratische Prinzip verwerfen. Man hat dies lange übersehen, weil der Marxismus gerade bei jenen beiden Völkern, bei denen er die größte Zahl von Anhängern zu werben vermochte, bei den Deutschen und bei den Russen, nicht nur sozialistische, sondern auch demokratische Ziele verfolgte. Aber das ist eben nur historische Zufälligkeit, die Folge des Zusammentreffens ganz bestimmter Umstände. Die Marxisten kämpften für Wahlrecht, Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht, solange sie nicht die herrschende Partei waren; wo sie zur Macht kamen, haben sie nichts Eiligeres zu tun gehabt, als diese Freiheiten zu beseitigen. [28] Das stimmt ganz mit dem Verhalten der Kirche überein, die auch überall dort, wo andere herrschen, sich demokratisch gebärdet, dort .aber, wo sie selbst herrscht, von Demokratie nichts wissen will. „Gerecht" wie dem Liberalismus kann für den Marxisten eine Mehrheitsentscheidung nie sein, sie ist ihm immer nur der Ausdruck des Willens einer bestimmten Klasse. Sozialismus mid Demokratie sind daher, schon unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, unlösbare Gegensätze; das Wort Sozialdemokrat enthält eine contradictio in adjecto. Für den Marxisten ist eben nur der Sieg des Proletariates, das vorläufige Ziel und Ende der geschichtlichen Entwicklung, gut, alles andere schlecht.

Auch die Nationalisten leugnen, ähnlich wie die Marxisten, die Lehre von der Harmonie aller Interessen. Zwischen den Völkern bestünden unversöhnliche Gegensätze; hier könne man es niemals auf die Entscheidung der Mehrheit ankommen lassen, wenn man die Macht habe, sich ihr zu widersetzen.

Die Demokratie versucht zunächst, die politischen Schwierigkeiten, die sich der Aufrichtung des Volksstaates in den Gebieten mit national gemischter Bevölkerung entgegenstellen, mit jenen Mitteln zu lösen, die sich in den national einheitlichen Ländern bewährt haben. Die Mehrheit soll entscheiden, die Minderheit soll sich der Mehrheit fügen. Das aber zeigt, daß sie das Problem überhaupt nicht sieht, daß sie gar nicht ahnt, wo die Schwierigkeit liegt. Doch das Vertrauen in die Richtigkeit mid Allheilkraft des Mehrheitsprinzipes war so stark, daß man lange gar nicht erkennen wollte, daß mit ihm hier nichts anzufangen war. Man schrieb den offenbaren Mißerfolg stets anderen Ursachen zu. Es gab Schriftsteller und Politiker, die [37] die nationalen Wirren in Österreich darauf zurückführten, daß es in seinem Gebiete noch keine Demokratie gebe; würde das Land demokratisch regiert werden, dann würden alle Reibungen zwischen den Völkern verschwinden. Gerade das Gegenteil ist richtig. Die nationalen Kämpfe können nur auf dem Boden der Freiheit entstehen; wo alle Völker niedergehalten werden — wie im vormärzlichen Österreich — da kann es zwischen ihnen keine Mißhelligkeiten geben. [29] Die Heftigkeit der Kämpfe zwischen den Nationen wuchs in dem Maß, in dem das alte Österreich sich der Demokratie näherte. Durch die Auflösung des Staates sind sie keineswegs beseitigt worden; sie werden in den neuen Staaten, in denen den nationalen Minderheiten die herrschenden Mehrheiten ohne die manche Härte mildernde Vermittlung des Obrigkeitsstaates gegenüberstehen, nur noch erbitterter geführt werden.

Um die tieferen Gründe des Versagens der Demokratie in den Nationalitätenkämpfen der Zeit zu erkennen, muß man zunächst Klarheit über das Wesen der demokratischen Regierung zu gewinnen trachten.

Demokratie ist Selbstbestimmung, Selbstverwaltung, Selbstherrschaft. Auch in der Demokratie beugt sich der Bürger Gesetzen und gehorcht Staatsorganen und Staatsdienern. Doch die Gesetze sind unter seiner Mitwirkung zustande gekommen, die Träger der Amtsgewalt sind unter seiner mittelbaren oder unmittelbaren Mitwirkung zum Amte gelangt. Die Gesetze können außer Kraft gesetzt oder abgeändert werden, die Amtsleute können abgesetzt werden, wenn die Mehrheit der Bürger es will. Das ist das Wesen der Demokratie, darum fühlen sich die Bürger in der Demokratie frei.

Wer gezwungen ist, Gesetzen zu gehorchen, auf deren Entstehen er keinen Einfluß hat, wer es dulden muß, daß über ihm eine Regierung waltet, auf deren Bildung er nicht einwirken kann, ist im politischen Sinn unfrei, ist politisch rechtlos, mag er auch in seiner Privatrechtssphäre geschützt sein. [30] Das soll nicht heißen, daß im demokratischen Staate jede Minorität politisch unfrei ist. Minoritäten können zur Majorität werden, und diese Möglichkeit beeinflußt ihre Stellung und das Verhalten, das die Majorität ihnen gegenüber einschlagen muß. Die Mehrheitsparteien müssen stets darauf achten, daß ihre Handlungen die Minorität nicht stärken, ihr nicht die Möglichkeit bieten, zur Herrschaft zu gelangen. Denn die Gedanken und Programme der Minorität wirken auf das ganze politische Volk, gleichviel, ob sie sich durchzusetzen vermögen oder nicht. Die Minderheit [38] ist die unterlegene Partei, aber sie hat im Kampfe der Parteien die Möglichkeit gehabt, zu siegen, und in der Regel behält sie auch trotz der Niederlage die Hoffnung, später einmal zu siegen und zur Mehrheit zu werden.

Die Angehörigen nationaler Minderheiten, die nicht durch Vorrecht eine Herrscherstellung einnehmen, sind aber politisch unfrei. Ihre politische Betätigung kann nie zum Erfolge führen. Denn die Mittel politischer Einwirkung auf die Mitmenschen, das gesprochene und das geschriebene Wort, sind national gebunden. In dem großen politischen Gespräche des Volkes, aus dem die politischen Entschlüsse hervorgehen, stehen fremdnationale Bürger als stumme Zuschauer daneben. Über sie wird mit verhandelt, aber sie verhandeln nicht mit. Der Deutsche in Prag muß Gemeindeumlagen entrichten, er wird von jeder Verfügung der Gemeinde mit betroffen, aber er muß abseits stehen, wenn der politische Kampf um die Herrschaft in der Gemeinde tobt. Was er in der Gemeinde wünscht und begehrt, ist seinen tschechischen Mitbürgern gleichgültig. Denn er hat kein Mittel, um auf sie einzuwirken, es sei denn, daß er seine völkische Sonderart aufgibt, sich den Tschechen anpaßt, ihre Sprache lernt, ihre Art zu denken mid zu fühlen annimmt. Solange er aber dies nicht tut, solange er in seinem ererbten Sprach- und Kulturkreise bleibt, ist er ausgeschlossen von jeder politischen Wirksamkeit. Mag er auch formell, dem Worte des Gesetzes entsprechend, ein Bürger vollen Rechtes sein, mag er selbst, vermöge seiner sozialen Stellung, zu den politisch bevorrechteten Klassen gehören, in Wahrheit ist er politisch rechtlos, ein Bürger zweiter Klasse, ein Paria. Denn er wird von anderen beherrscht, ohne selbst an der Herrschaft Anteil zu haben.

Die politischen Gedanken, die Parteien werden und vergehen lassen, Staaten aufbauen und zerstören, sind heute ebensowenig national gebunden wie irgend eine andere Kulturerscheinung. Wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Ideen sind sie Gemeingut aller Völker; kein einzelnes Volk vermag sich ihrer Einwirkung zu entziehen. Doch jedes Volk bildet die Gedankengänge in besonderer Art aus, verarbeitet sie anders. Sie treffen bei jedem Volk auf einen anderen Nationalcharakter und auf eine andere Konstellation der Verhältnisse. Die Idee der Romantik war international; aber jedes Volk hat sie anders entwickelt, hat sie mit besonderem Inhalt erfüllt, hat aus ihr etwas anderes gemacht. Mit Recht sprechen wir daher von der deutschen Romantik als einer besonderen Kunstrichtung, die wir der Romantik der Franzosen oder der Russen gegenüberstellen können. Und nicht anders ist es mit den politischen Ideen. Etwas anderes mußte der Sozialismus in Deutschland werden, etwas anderes in Frankreich, etwas anderes in Rußland. Traf er doch überall auf eine besondere Art, politisch zu denken und zu fühlen, auf eine andere [39] gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklung, kurz auf andere Menschen und auf andere Zustände.

Wir erkennen nun den Grund, warum nationale Minderheiten, die kraft besonderer Vorrechte die politische Herrschaft inne haben, an diesen Vorrechten und der mit ihnen verbundenen Herrschaftsstellung unvergleichlich zäher hängen als andere Privilegierte. Eine Herrenklasse, die national von den Beherrschten nicht verschieden ist, behält, auch wenn sie gestürzt wird, noch immer einen größeren politischen Einfluß als ihr, ihrer Kopfzahl unter den neuen Herrschern entsprechend, zufallen sollte. Sie behält zumindest die Möglichkeit, unter den neuen Verhältnissen als Oppositionspartei von Neuem um die Macht zu kämpfen, ihre politischen Gedanken zu verfechten und zu neuen Siegen zu führen. Die englischen Tories haben noch jedesmal eine politische Auferstehung gefeiert, so oft sie auch durch eine Reform um ihre Privilegien gebracht worden waren. Die französischen Dynastien haben durch die Entthronung nicht jede Aussicht auf Wiedererlangung der Krone eingebüßt. Es gelang ihnen, mächtige Parteien zu bilden, die die Restauration anstreben, und wenn, ihre Bestrebungen in der dritten Republik nicht zum Erfolg geführt haben, so lag dies an der Intransigenz und an der persönlichen Jämmerlichkeit des jeweiligen Prätendenten, nicht aber daran, daß solche Bestrebungen überhaupt aussichtslos wären. Volksfremde Herren aber, die einmal vom Schauplatz abgetreten sind, können nie mehr die Herrschaft wieder erlangen, es sei denn mit fremder Waffenhilfe, und, was noch viel wichtiger ist, sie sind, sobald sie einmal nicht mehr die Herrschaft inne haben, nicht nur ihrer Vorrechte beraubt, sondern politisch völlig ohnmächtig. Sie vermögen nicht nur nicht jenen Einfluß zu behalten, der ihrer Kopfzahl entspricht, sie haben als national Fremde überhaupt nicht mehr die Möglichkeit, politisch selbst tätig zu sein oder auf andere einzuwirken. Denn die politischen Gedanken, die nun zur Herrschaft kommen, gehören einem Kulturkreis an, der ihnen fremd ist, werden in einer Sprache gedacht, gesprochen und geschrieben, die sie nicht verstehen; sie selbst aber sind nicht in der Lage, ihre politischen Anschauungen in diesem Milieu zur Geltung zu bringen. Aus Herrschern werden sie nicht gleichberechtigte Bürger, sondern Parias ohne Macht, die nichts mitzureden haben, wenn über sie verhandelt wird. Wenn wir — ungeachtet der theoretischen und antiquarischen Bedenken, die man dagegen vorbringen mag — in dem alten Postulate der Stände nil de nobis sine nobis einen Grundsatz moderner Demokratie erblicken wollen, so sehen wir, daß er für die nationalen Minderheiten nicht durchführbar ist. Sie werden regiert, sie regieren nicht mit; sie werden politisch geknechtet. Ihre „Behandlung" durch die nationale Mehrheit mag eine recht gute sein, sie mögen auch im Besitze zahlreicher nichtpolitischer und selbst einzelner politischer [40] Vorrechte verbleiben, sie behalten doch die Empfindung des Unterdrücktwerdens, weil sie eben überhaupt „behandelt" werden und nicht mithandeln dürfen.

Die deutschen Großgrundbesitzer in jenen österreichischen Kronländem, die eine slawische Landtagsmajorität hatten, fühlten sich trotz ihres privilegierten Wahlrechtes, das ihnen eine besondere Vertretung in der Landstube und im Landesausschusse sicherte, doch als unterdrückt, da ihnen eben eine Mehrheit gegenüber stand, auf deren politische Gedanken sie nicht einzuwirken vermochten. Aus dem gleichen Grunde fühlten sich die deutschen Beamten und Hausbesitzer, die in einer Gemeinde mit slawischer Gemeinderatsmehrheit ein privilegiertes Wahlrecht besaßen, das ihnen den dritten Teil der Gemeinderatsmandate sicherte, bedrückt.

Nicht minder politisch ohnmächtig sind nationale Minderheiten, die niemals die politische Herrschaft besessen haben. Von den Angehörigen der geschichtslosen Nationen, die jahrhundertelang unter fremden Herren als politische Hintersassen dahingelebt haben, muß dies ebensowenig erst noch besonders erwähnt werden wie von den Einwanderern in den kolonialen Ansiedlungsgebieten über See. "Vorübergehend mögen zufällige Umstände ihnen die Möglichkeit politischen Einflusses geben; auf die Dauer ist dies ausgeschlossen. Wollen sie nicht politisch einflußlos bleiben, dann müssen sie ihr politisches Denken dem ihrer Umgebung anpassen, müssen sie ihre nationale Sonderart und ihre Sprache aufgeben.

In gemischtsprachigen Gebieten ist daher die Einführung einer demokratischen Verfassung durchaus nicht auch gleichbedeutend mit Einführung demokratischer Autonomie. Die Mehrheitsherrschaft bedeutet hier etwas ganz anderes als in national einheitlichen Gebieten; sie ist hier für einen Teil des Volkes nicht Volksherrschaft, sondern Fremdherrschaft. [31] Wenn nationale Minderheiten sich gegen demokratische Einrichtungen sträuben, wenn sie, je nach den Verhältnissen, fürstlichen Absolutismus, Obrigkeitsregiment oder oligarchische Verfassung vorziehen, so tmi sie das, weil sie wohl wissen, daß Demokratie für sie gleichbedeutend ist mit Unterwerfung unter die Herrschaft anderer. Das gilt überall und bisher auch zu aller Zeit. Das oft angezogene Beispiel der Schweiz trifft hier nicht zu. Die Schweizer demokratische Lokalverwaltung ist bei den nationalen Zuständen der Schweiz nur darum ohne Reibungen möglich, weil die Binnenwanderungen zwischen den einzelnen Nationen dort schon lange keine Bedeutung haben. Würden etwa Wanderungen der französischen Schweizer nach dem Osten zur Bildung stärkerer fremdnationaler [41] Minderheiten in den deutschen Kantonen führen, dann wäre es mit dem nationalen Frieden der Schweiz schon lange vorbei.

Allen Freunden der Demokratie, allen jenen, die nur in der Selbstverwaltung und Selbstregierung eines Volkes das politische Heil erblicken, muß dies schweren Kummer bereiten. In dieser Lage waren vor allem die deutschen Demokraten Österreichs und die wenigen aufrichtigen Demokraten, die das magyarische Volk in seiner Mitte zählte. Sie waren es, die nach neuen Formen der Demokratie Ausschau hielten, die auch in gemischtsprachigen Ländern die Demokratie ermöglichen sollten.

Sonst pflegt man gegen die Mängel, die dem Mehrheitssystem anhaften, die Proportionalwahl als Abhilfe zu empfehlen. Für national gemischte Gebiete ist aber die Proportional wähl kein Ausweg, der aus diesen Schwierigkeiten hinausführt. Das System der Proportionalabstimmung ist nur für Wahlen anwendbar, nicht aber auch für Entscheidungen über Akte der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung. Die Proportionalwahl macht es einerseits unmöglich, daß eine Partei durch Künstelei bei der Abgrenzung der Wahlkreise im Vertretungskörper schlechter vertreten werde, als ihrer Stärke entspricht, anderseits vermag sie der Minderheit eine Vertretung in den Körperschaften der Gewählten zu sichern und ihr so die Möglichkeit zu bieten, die Mehrheit zu kontrollieren und die eigene Stimme vernehmlich zu machen. All das kommt für eine nationale Minderheit nicht in Frage. Sie, die eine wirkliche Minderheit im Volk ist, kann nie darauf hoffen, durch die Verhältniswahl die Mehrheit im Vertretungskörper zu erhalten. Für sie bliebe also nur die zweite Bedeutung der Verhältniswahl. Aber die bloße Möglichkeit, im Vertretungskörper mit dabei zu sitzen, ist für die nationale Minderheit von geringem Wert. Auch wenn ihre Abgesandten im Vertretungskörper sitzen, mitberaten, mitreden und mitentscheiden dürfen, bleibt die nationale Minderheit doch von der Mitwirkung am politischen Leben ausgeschlossen. Politisch mitwirkend im wahren Sinne des Wortes ist nur die Minderheit, auf deren Stimme man hört, weil sie Aussicht hat, einmal ans Ruder zu kommen. Für eine nationale Minderheit ist das aber ausgeschlossen. So bleibt die Tätigkeit ihrer Abgeordneten von vornherein auf fruchtlose Kritik beschränkt. Die Worte, die sie sprechen, haben keine Bedeutung, weil sie zu keinem politischen Ziele führen können. Bei den Abstimmungen können ihre Stimmen nur dann den Ausschlag geben, wenn national unwichtige Fragen an der Tagesordnung stehen; in allen übrigen Fragen — und sie sind die Mehrzahl — steht die nationale Mehrheit wie eine Phalanx geschlossen gegen sie. Man denke nur an die Rolle, die die Dänen, Polen und Elsässer im deutschen, die Kroaten im ungarischen Reichstage gespielt haben, oder an die Stellung, die den Deutschen im böhmischen Landtage zufiel, um sich dies zu vergegenwärtigen. Wenn [42] im österreichischen Abgeordnetenhause die Dinge anders lagen, wenn hier, weil keine Nation die absolute Mehrheit hatte, es der „Delegation" einer jeden Nation möglich war, in die Majorität einzutreten, so beweist dies nichts dagegen, weil ja Österreich ein Obrigkeitsstaat war, in dem nicht das Parlament, sondern die Regierung das Heft in Händen hielt. Gerade das österreichische Abgeordnetenhaus, in dem die Parteibildung in erster Linie durch die nationalen Gegensätze bedingt war, hat gezeigt, wie wenig ein parlamentarisches Zusammenarbeiten verschiedener Völker möglich ist.

Es ist daher zu verstehen, warum auch das Prinzip der Verhältniswahl nicht als ein brauchbares Mittel zur Behebung der aus dem Zusammen wohnen verschiedener Nationen sich ergebenden Schwierigkeiten angesehen werden kann. Wo man sie eingeführt hat, hat man die Erfahrung machen müssen, daß sie zwar für gewisse Zwecke ganz brauchbar ist, daß sie manche Reibungen beseitigt, daß sie aber weit entfernt davon ist, das Mittel gegen die nationalen Streitigkeiten zu sein, für das wohlmeinende Utopisten sie gehalten haben.

In Österreich, dem klassischen Lande des Nationalitätenkampfes, ist im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der Vorschlag aufgetaucht, die nationalen Schwierigkeiten durch Einführung nationaler Autonomie auf dem Boden des Personalitätsprinzipes zu beseitigen. Diese Vorschläge, die von den Sozialdemokraten Karl Renner [32] und Otto Bauer [33] ausgingen, sahen die Umwandlung des Obrigkeitsstaates Österreich in einen demokratischen Volksstaat vor. Die Gesetzgebung und Verwaltung des Gesamtstaates und die Lokalverwaltung der autonomen Kreise sollten sich auf die national strittigen Belange nicht erstrecken; die sollten in der Lokal Verwaltung von den nach dem Personalitätsprinzip organisierten Angehörigen der Nationen selbst verwaltet werden, über denen dann als höchste Instanz der einzelnen Nationen Nationalräte stehen sollten. Als national strittige Fragen sollten in erster Linie das Unterrichtswesen und die Pflege der Kunst und Wissenschaft betrachtet werden.

Hier ist nicht von der Bedeutung die Rede, die das Programm der nationalen Autonomie in der geschichtlichen Entwicklung der Nationalitätenprogramme der Deutschösterreicher hatte, und nicht von den Grundvoraussetzungen, von denen es ausging. Wir müssen uns hier nur die Frage vorlegen, ob dieses Programm imstande gewesen wäre, eine befriedigende Lösung jener Grundschwierigkeit, die aus dem Zusammenwohnen verschiedener Völker entsteht, zu lösen. Man kann diese Frage nur verneinen. Nach wie vor blieben ja jene [43] Tatsachen bestehen, die eine nationale Minderheit von der Mitherrschaft ausschließen, die sie, trotz des Wortlautes der Gesetze, die sie zum Mitregieren berufen, nicht Mitregierer sein lassen, sondern nur Regierte. Es ist von vornherein ganz undenkbar, alle Angelegenheiten national zu sektionieren. Es ist unmöglich, in einer national gemischten Stadt zweierlei Sicherheitswache zu schaffen, etwa eine deutsche und eine tschechische, von denen eine jede nur gegen Angehörige der eigenen Nation einzuschreiten hätte. Es ist unmöglich, in einem zweisprachigen Land eine doppelte Eisenbahnverwaltung zu schaffen, eine, die nur den Deutschen, eine zweite, die nur den Tschechen unterstellt wird. Wenn man aber das nicht tut, dann bleiben die Schwierigkeiten, von denen wir oben gesprochen haben, bestehen. Denn die Sache liegt ja nicht etwa so, daß bloß die Behandlung jener politischen Probleme, die mit der Sprache unmittelbar zusammenhängen, nationale Schwierigkeiten bereitet; diese Schwierigkeiten durchziehen vielmehr das ganze öffentliche Leben.

Die nationale Autonomie hätte den nationalen Minderheiten die Möglichkeit geboten, ihr Schulwesen selbständig zu verwalten und zu ordnen. Diese Möglichkeit hatten sie aber bis zu einem gewissen Grad auch ohne die Durchführung dieses Programmes, wenn auch auf eigene Kosten. Die nationale Autonomie hätte ihnen ein besonderes Besteuerungsrecht für diese Zwecke eingeräumt und sie anderseits von der Beitragsleistung zu den Schulen der anderen Nation entlastet. Das allein ist aber nicht so viel wert, als die Urheber des Programmes der nationalen Autonomie meinten.

Die Stellung, die die nationale Minderheit durch die Gewährung der nationalen Autonomie erhalten hätte, hätte sich der Stellung jener privilegierten Fremdenkolonien angenähert, die der Ständestaat und dann der Fürstenstaat nach Mustern, die der Ständestaat ihm hinterlassen hatte, eingerichtet haben, etwa jener Stellung, wie sie die Sachsen in Siebenbürgen einnahmen. Eine Befriedigung in der modernen Demokratie hätte dies nicht bedeutet. Überhaupt weist der ganze Gedankengang der nationalen Autonomie mehr auf die mittelalterlichen Verhältnisse des Ständestaates zurück denn auf die Verhältnisse der modernen Demokratie. Bei der Unmöglichkeit, im Nationalitätenstaate moderne Demokratie zu schaffen, mußten sich seine Verfechter, wenn sie als Demokraten den Fürstenstaat ablehnten, notwendigerweise den Idealen des Ständestaates zuwenden.

Wenn man ein Vorbild der nationalen Autonomie in gewissen Problemen der Organisation der Minoritätskirchen erblicken will, so ist dies nur rein äußerlich genommen ein richtiger Vergleich. Denn es wird übersehen, daß zwischen den Angehörigen verschiedener Kirchen heute, da die Kraft des Glaubens nicht mehr wie einst die gesamte bürgerliche Lebenshaltung des einzelnen zu bestimmen vermag, nicht mehr jene Unmöglichkeit einer politischen Verständigung [44] vorliegt, wie sie eben durch die Verschiedenheit der Sprache und der dadurch bewirkten Verschiedenheit der Denk- und Anschauungsweise zwischen verschiedenen Völkern besteht.

Das Personalitätsprinzip kann keine Lösung der Schwierigkeiten, die unser Problem bietet, bringen, weil es sich einer gewaltigen Täuschung über den Umfang der strittigen Fragen hingibt. Wären nur die im engeren Sinne sogenannten Sprachenfragen Gegenstand des nationalen Kampfes, dann könnte man daran denken, durch ihre besondere Behandlung den Frieden zwischen den Völkern anzubahnen. Aber der nationale Streit ist durchaus nicht auf Schulen und Bildungsstätten und auf die Amtssprache der Gerichte und Behörden beschränkt. Er umfaßt das ganze politische Leben, auch alles das, was, wie Renner und mit ihm viele andere glauben, ein einigendes Band um die Nationen schließt, das sogenannte Wirtschaftliche. Es ist erstaunlich, daß dies gerade Österreicher verkennen konnten, die doch täglich sehen mußten, wie alles zu einem nationalen Zankapfel wurde. Bahnbauten und Steuerreformen, Bankgründungen und öffentliche Lieferungen, Zolltarife und Ausstellungen, Fabriken und Spitäler. Und gar erst die rein politischen Fragen. Jede außenpolitische Frage ist im Nationalitätenstaat ein Gegenstand des nationalen Streites, und niemals hat sich dies in Österreich-Ungarn deutlicher als im Weltkriege gezeigt, da jede Nachricht vom Kriegsschauplatze von den verschiedenen Nationalitäten verschieden aufgenommen wurde, da die einen triumphierten, wenn die anderen trauerten, und niedergeschlagen waren, wenn die anderen frohlockten. Alle diese Fragen sind national strittig, und wenn man sie in die Lösung der nationalen Frage nicht einbezieht, dann ist die Lösung eben nicht vollständig.

Das Problem, das uns die nationale Frage bietet, ist ja eben das, daß Staat und Verwaltung notwendigerweise auf der gegenwärtigen Stufe der volkswirtschaftlichen Entwicklung territorial aufgebaut sein und daher notwendigerweise in gemischtsprachigen Gebieten die Angehörigen verschiedener Nationen umfassen müssen.

Nun sind die großen Nationalitätenstaaten Rußland, Österreich, Ungarn und die Türkei zerfallen. Aber auch das ist keine Lösung des Verfassungsproblems in gemischtsprachigen Gebieten. Die Auflösung des Nationalitätenstaates schafft viele überflüssige Verwicklungen aus der Welt, weil sie die Gebiete, die die Angehörigen eines Volkes geschlossen bewohnen, voneinander sondert. [34] Durch die Auflösung Österreichs ist die nationale Frage für das Innere Böhmens, für Westgalizien, für den größten Teil Krains gelöst. Aber sie bleibt nach wie vor ein Problem in den isolierten deutschen Städten und [45] Dörfern, die in das tschechische Sprachgebiet Böhmens eingesprengt sind, in Mähren, in Ostgalizien, im Gottscheer Land usf.

In den gemischtsprachigen Gebieten führt die Anwendung des Mehrheitsprinzipes nicht zur Freiheit aller, sondern zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Die Sache wird dadurch nicht besser, daß die Mehrheit, in innerer Erkenntnis ihres Unrechtes, sich bestrebt zeigt, sich die Minderheiten zwangsweise national zu assimilieren. Darin liegt freilich — wie ein geistreicher Schriftsteller bemerkt hat — auch ein Ausdruck des Nationalitätsprinzipes, ein Zugeständnis an die Forderung, daß die Staatsgrenzen nicht über die Volksgrenzen hinausgehen sollen. [35] Doch die gequälten Völker warten auf den Theseus, der diesen modernen Prokrustes bezwingen soll.

Aus diesen Schwierigkeiten muß aber ein Ausweg gefunden werden. Denn es handelt sich nicht etwa nur um kleine Minderheiten, die Überbleibsel von längst zum Stillstande gekommenen Wanderbewegungen, wie der zu meinen geneigt wäre, der dieses Verhältnis nur unter dem Gesichtswinkel einiger deutscher Städte in Mähren oder Ungarn oder der italienischen Kolonien an der Ostküste der Adria beurteilt. Die großen Völkerwanderungen der Gegenwart haben allen diesen Fragen eine erhöhte Wichtigkeit beigelegt. Denn alle Tage werden durch neue Wanderbewegungen neue gemischtsprachige Gebiete geschaffen, und das Problem, das vor einigen Jahrzehnten nur in Österreich sichtbar war, ist, wenn auch in anderer Form, schon lange ein Weltproblem geworden.

Die Katastrophe des Weltkrieges hat gezeigt, an welchen Abgrund es die Menschheit geführt hat. Und alle Ströme von Blut, die in diesem Kriege geflossen sind, haben das Problem nicht um ein Haar seiner Lösung näher gebracht. Im gemischtsprachigen Gebiet erscheint die Demokratie der Minderheit als Bedrückung. Wo nur die Wahl frei ist, entweder selbst zu unterdrücken oder unterdrückt zu werden, entscheidet man sich leicht für jenes. Der liberale Nationalismus weicht dem militanten antidemokratischen Imperialismus.

b) Das Wanderproblem und der Nationalismus.

Die Verschiedenheit der Lebensbedingungen in den einzelnen Teilen der Erdoberfläche löst die Wanderungen einzelner Menschen und ganzer Völker aus. Wäre die Weltwirtschaft durch die Verfügung einer alles überblickenden und auf das Zweckmäßigste ordnenden Behörde geleitet, dann würden nur die absolut günstigsten Produktionsbedingangen verwertet werden. Nirgends würde ein weniger ergiebiges Bergwerk, ein weniger ergiebiger Acker in Betrieb stehen, wenn anderwärts noch ergiebigere Bergwerke oder Äcker unverwendet [46] da liegen. Ehe eine minder ergiebige Produktionsbedingung zur Ausnützung herangezogen wird, müßte man sich jedesmal erst die Überzeugung verschaffen, ob es nicht doch noch ergiebigere gibt, und etwa im Betriebe befindliche, weniger ergiebige Produktionsbedingungen würden sofort aufgelassen werden, wenn es gelingen sollte, andere zu finden, deren Ergiebigkeit um so vieles größer ist, daß von der Auflassung der alten und der Indienstnahme der neuen Produktionsquellen, ungeachtet des dabei durch Unbrauchbarwerden des unentfernbar investierten Kapitales zu gewärtigenden Verlustes, ein Mehrgewinn zu erreichen wäre. Da die Arbeiter genötigt sind, sich an den Produktionsstätten oder in ihrer nächsten Nähe anzusiedeln, ergeben sich die Folgen für die Siedlungsverhältnisse von selbst.

Die natürlichen Produktionsbedingungen sind keineswegs unveränderlich. Sie sind im Laufe der Geschichte starken Veränderungen unterworfen. In der Natur selbst können Veränderungen vor sich gehen, z. B. als Folge von Änderungen des Klimas, von vulkanischen Katastrophen und anderen Elementarereignissen. Dann kommen die Wandlungen, die sich unter menschlicher Einwirkung vollziehen, z. B. Erschöpfung der Bergwerke und der Bodenkräfte. Noch wichtiger aber sind die Veränderungen der menschlichen Erkenntnis, die die überkommenen Ansichten über die Ergiebigkeit der Produktionsfaktoren umstoßen. Neue Bedürfnisse werden geweckt, entweder aus der Entwicklung des menschlichen Charakters heraus oder weil die Auffindung neuer Stoffe oder Kräfte sie angeregt hat. Bisher unbekannte Produktionsmöglichkeiten werden entdeckt, sei es durch die Aufdeckung und Nutzbarmachung von bis dahin unbekannten Naturkräften, sei es durch die Fortschritte der Produktionstechnik, die die Heranziehung früher un verwertbarer oder weniger verwertbarer Naturkräfte ermöglichen. Daraus ergibt sich, daß es für den Leiter der Weltwirtschaft nicht genügen würde, ein für allemal die Standorte der Produktion zu bestimmen; er müßte darin beständig, je nach dem Wechsel der Umstände, Veränderungen vornehmen, und jede Veränderung müßte mit einer Umsiedlung von Arbeitern Hand in Hand gehen.

Das, was in dem idealen Weltsozialismus durch Anordnung des Generaldirektors der Weltwirtschaft vor sich gehen würde, vollzieht im Ideal der freien Weltwirtschaft das Walten des Wettbewerbes. Die weniger ertragreichen Unternehmungen erliegen der Konkurrenz der ertragreicheren. Urproduktion und Gewerbe wandern von den Stätten der minder ergiebigen Produktionsbedingungen zu den Stätten der ergiebigeren, und mit ihnen wandern die Kapitalien, soweit sie beweglich sind, mid die Arbeiter. Das Ergebnis für die Volksbewegung ist also in jedem Falle das gleiche: Von den weniger fruchtbaren Gebieten geht der Bevölkerungsstrom nach den fruchtbareren.

[47]

Das ist das Grundgesetz der Menschen- und Völkerwanderungen. Es gilt in gleichem Maße für die sozialistische und für die freie Weltwirtschaft; es ist identisch mit dem Gesetz, unter dessen Einwirkung sich die Verteilung der Bevölkerung in jedem kleineren, von der Außenwelt abgeschlossenen Gebiete vollzieht. Es gilt immer, mag seine Wirksamkeit auch durch außerwirtschaftliche Gründe, etwa durch Unkenntnis der Verhältnisse, durch jene Gefühlsmomente, die wir als Liebe zur Heimat zu bezeichnen pflegen, oder durch Einwirkung einer äußeren Macht, die die Wanderung behindert, in größerem und geringerem Umfange gestört sein.

Das Wanderungs- und Standortgesetz ermöglicht es uns, einen exakten Begriff der relativen Übervölkerung aufzustellen. Die Welt oder ein isoliertes Land, aus dem die Abwanderung unmöglich ist, sind als absolut übervölkert anzusehen, wenn das Optimum der Bevölkerung, das heißt jener Punkt überschritten ist, über den hinaus eine Vermehrung der Volkszahl nicht eine Erhöhung, sondern eine Abnahme des Wohlstandes bedeuten würde. [36] Relativ übervölkert ist ein Land, in dem wegen der großen Bevölkerungszahl weniger günstige Produktionsbedingungen als in anderen Ländern zur Arbeit herangezogen werden müssen, so daß caeteris paribus hier der gleiche Aufwand von Kapital und Arbeit geringeren Ertrag abwirft. Bei voller Freizügigkeit der Menschen und Güter würden relativ übervölkerte Gebiete ihren Bevölkerungsüberschuß so lange an andere Gebiete abgeben, bis dieses Mißverhältnis verschwunden ist.

Die Freiheitsprinzipien, die sich seit dem 18. Jahrhundert allenthalben nach und nach durchsetzen, gaben den Menschen die Freizügigkeit. Die wachsende Rechtssicherheit erleichtert die Kapitalwanderung, die Verbesserung der Verkehrseinrichtungen die Entfernung der Produktions- von den Konsumtionsstätten. Das fällt — nicht zufälligerweise — mit einer gewaltigen Umwälzung der gesamten Produktionstechnik und mit der Einbeziehung der gesamten Erdoberfläche in den Weltverkehr zusammen. So nähert sich die Welt allmählich einem Zustande freien Verkehres der Menschen und der Kapitalgüter. Eine gewaltige Wanderbewegung setzt ein. Viele Millionen haben im 19. Jahrhundert Europa verlassen, um in der Neuen Welt und mitunter auch in der Alten Welt neue Heimstätten zu finden. Und nicht minder wichtig ist die Wanderung der Produktionsmittel, der Kapitalexport. Kapital und Arbeit ziehen von den Gebieten der weniger günstigen Produktionsbedingungen nach den Gebieten der günstigeren Produktionsbedingungen.

Nun ist aber — als Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses der Vergangenheit — die Erde unter die Nationen aufgeteilt. Jede

[48]

Nation hat bestimmte Gebiete inne, die ausschließlich oder überwiegend von ihren Angehörigen bewohnt werden. Nur ein Teil dieser Gebiete hat gerade jene Bevölkerung, die er, den Produktionsbedingungen entsprechend, auch bei voller Freizügigkeit behalten würde, so daß weder ein Zufluß noch ein Abfluß von Menschen stattfinden würde. Die übrigen Gebiete sind so besiedelt, daß sie bei voller Freizügigkeit entweder Bevölkerung abgeben oder empfangen müßten.

Die Wanderungen führen mithin Angehörige einiger Nationen in das Gebiet anderer Nationen. Daraus ergeben sich besonders qualifizierte Konflikte zwischen den Völkern.

Wir denken dabei nicht an jene Konflikte, die sich aus den rein wirtschaftlichen Begleiterscheinungen der Wanderungen ergeben. In Abwanderungsgebieten treibt die Abwanderung den Lohnsatz in die Höhe, in den Einwanderungsgebieten drückt die Einwanderung auf die Höhe des Lohnsatzes. Das ist eine notwendige Begleiterscheinung der Arbeiterwanderung und nicht etwa, wie die sozialdemokratische Doktrin glauben machen will, eine zufällige Folge des Umstandes, daß die Auswanderer aus Gebieten niedriger Kultur und niedrigen Arbeitslohnes stammen. Denn der Beweggrund des Auswanderers ist eben die Tatsache, daß er in der alten Heimat wegen ihrer relativen Übervölkerung keinen höheren Lohn erhalten kann. Fiele dieser Grund weg, gäbe es zwischen Galizien und Massachusetts keinen Unterschied in der Produktivität der Arbeit, dann würde kein Galizianer auswandern. Will man die europäischen Auswanderungsgebiete auf die Kulturhöhe der Oststaaten der Union heben, dann gibt es eben nichts anderes, als die Auswanderung so lange fortgehen zu lassen, bis die relative Übervölkerung jener und die relative Untervölkerung dieser geschwunden sind. Daß die amerikanischen Arbeiter diese Einwanderung ebenso ungern sehen wie die europäischen Arbeitgeber die Auswanderung, ist klar. Doch der ostelbische Junker denkt über Landflucht der Arbeiter nicht anders, wenn sein Inste nach Westdeutschland als wenn er nach Amerika geht; den gewerkschaftlich organisierten Arbeiter des Rheinlandes erregt der Zuzug aus Ostelbien nicht weniger als den Angehörigen einer pennsylvanischen trade union. Aber daß in dem einen Falle die Möglichkeit vorliegt, die Aus- und die Einwanderung zu verbieten oder doch zu erschweren, während in dem anderen Falle daran höchstens einige Sonderlinge, die um ein paar Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen sind, denken können, ist allein darauf zurückzuführen, daß neben der Verletzung der Interessen einzelner in dem Falle der zwischenvolklichen Auswanderung noch andere Interessen verletzt werden.

Auswanderer, die sich in bisher unbewohnten Gebieten niederlassen, können auch in der neuen Heimat ihr Volkstum bewahren und weiter pflegen. Die örtliche Absonderung kann dazu führen, daß [49] die Auswanderer im Laufe der Zeit eine neue, selbständige Nationalität ausbilden. Solche Verselbständigung war jedenfalls leichter in Zeiten, da der Verkehr noch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und die schriftliche Überlieferung der nationalen Kulturgüter in der geringen Verbreitung der Schriftkunde auf große Hindernisse stieß. Bei der gegenwärtigen Entwicklung der Verkehrsmittel, bei dem verhältnismäßig hohen Stande der Volksbildung und der Verbreitung der Denkmäler des nationalen Schrifttums ist solche nationale Abspaltung und Bildung neuer nationaler Kulturen weit schwerer. Der Zug der Zeit geht eher auf Annäherung der Kultur entfernt wohnender Völker, wenn nicht gar auf eine Verschmelzung der Nationen. Das Band der gemeinsamen Sprache und Kultur, das England mit seinen weit entfernten Dominions und mit den nun seit bald eineinhalb Jahrhunderten politisch unabhängigen Vereinigten Staaten von Amerika verbindet, ist nicht loser, sondern enger geworden. Ein Volk, das heute Kolonisten in ein menschenleeres Gebiet entsendet, kann darauf rechnen, daß die Auswanderer ihr Volkstum bewahren werden.

Wenn sich jedoch die Auswanderung nach bereits bewohnten Gebieten richtet, dann sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Es kann sein, daß die Einwanderer so massenhaft kommen oder durch ihre physische, sittliche oder intellektuelle Verfassung eine solche Überlegenheit besitzen, daß sie die ursprünglichen Einwohner entweder ganz verdrängen, wie die Indianer der Prairien von den Bleichgesichtern verdrängt und in den Untergang getrieben wurdeQ, oder daß sie zumindest die Herrschaft in der neuen Heimat erlangen, wie dies vielleicht bei den Chinesen in den Weststaaten der Union der Fall gewesen wäre, wenn die Gesetzgebung nicht rechtzeitig ihre Einwanderung gehemmt hätte, oder wie es bei den europäischen Einwanderern nach Nordamerika und Australien in Zukunft der Fall sein könnte. Anders ist es, wenn die Einwanderung in ein Land erfolgt, dessen Bewohner vermöge ihrer Zahl und ihrer kulturellen und" politischen Organisation den Einwanderern überlegen sind. Dann sind es die Einwanderer, die früher oder später die Nationalität der Mehrheit annehmen müssen. [37]

Durch die großen Entdeckungen war seit dem Ausgange des Mittelalters die ganze Oberfläche der Erde den Europäern bekannt geworden. Nun mußten sich allmählich alle überkommenen Anschauungen über die Bewohnbarkeit der Erde wandeln; die Neue Welt mit ihren vortrefflichen Produktionsbedingungen mußte Ansiedler aus dem alten, nun relativ übervölkerten Europa anziehen. Zunächst waren es freilich nur Abenteurer und politisch Unzufriedene, die in [50] die Ferne zogen, um dort eine neue Heimat zu finden. Der Raf ihrer Erfolge zog dann andere nach, zuerst nur wenige, dann immer mehr und mehr, bis endlich im 19. Jahrhundert, nach Verbesserung der Verkehrsmittel zur See und Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen in Europa, die Millionen auf die Wanderschaft gingen.

Es ist nicht hier der Ort zu untersuchen, wie es gekommen ist, daß alles Kolonialland, das für die Ansiedlung weißer europäischer Menschen geeignet war, von Engländern, Spaniern und Portugiesen kolonisiert wurde; uns muß hier das Ergebnis genügen, daß die besten Stücke der für die Weißen bewohnbaren Erdoberfläche dadurch englisches Nationalgut wurden, daß daneben noch die Spanier und Portugiesen in Amerika und kaum noch Niederländer in Südafrika und Franzosen in Kanada in Betjacht kamen. Und dieses Ergebnis ist überaus wichtig. Es hat die Angelsachsen zur volkreichsten Nation unter den weißen Kulturvölkern gemacht, und dies hat, in Verbindung mit dem Umstände, daß die Engländer die größte Handelsflotte der Welt besitzen, und daß sie die besten Gebiete der heißen Zone als politische Herren verwalten, dazu geführt, daß die Welt heute ein englisches Gesicht trägt. Englische Sprache und englische Kultur haben der Gegenwart ihren Stempel aufgedrückt.

Für England bedeutet dies vor allem das, daß Engländer, die die großbritannische Insel wegen ihrer relativen Übervölkerung verlassen, sich nahezu immer in Gebieten niederlassen können, in denen englische Sprache und englische Kultur herrschen. Wenn der Brite in die Fremde geht, sei es nach Kanada, oder nach den Vereinigten Staaten, oder nach Südafrika, oder nach Australien, hört er zwar auf, Brite zu sein, aber er hört nicht auf, Angelsachse zu sein. Es ist wahr, daß die Engländer diesen Umstand bis in die jüngste Zeit nicht zu schätzen wußten, daß sie der Auswanderung kein besonderes Augenmerk zuwendeten, daß sie den Dominions und den Vereinigten Staaten gleichgültig, kalt, ja mitunter selbst feindlich gegenüber standen, und daß sie erst unter Einwirkung der gegen sie gerichteten Bestrebungen Deutschlands anfingen, zuerst mit den Dominions and dann mit den Vereinigten Staaten engere wirtschaftliche und politische Beziehungen zu suchen. Und ebenso richtig ist es, daß auch die anderen Völker, die im Erwerb überseeischen Besitzes weniger erfolgreich gewesen waren, dieser Entwicklung der Dinge lange ebensowenig Beachtung schenkten wie die Engländer selbst, und daß sie die Engländer mehr mn die reichen tropischen Kolonien, um die Handels- und Hafenkolonien, um die Schiffahrt, die Industrie und den Handel beneideten als um den Besitz der weniger geschätzten Ansiedlungsgebiete.

Erst als der zuerst nur aus England reichlich fließende Auswandererstrom anfing, auch aus anderen europäischen Gebieten mehr Nahrung zu erhalten, begann man, sich um das nationale Schicksal [51] der Auswanderer zu bekümmern. Man bemerkte, daß, während die englischen Auswanderer in der neuen Heimat Muttersprache und nationale Kultur, heimatliche Sitte und Väterbrauch bewahren konnten, die anderen europäischen Auswanderer drüben schrittweise aufhörten,' Holländer, Schweden, Norweger usw. zu sein und sich national ihrer Umgebung anpaßten. Man sah, daß die Entfremdung unvermeidlich war, daß sie sich hier schneller, dort langsamer vollzog, daß sie aber niemals ausblieb, und daß die Auswanderer spätestens in der dritten meist schon in der zweiten, ja nicht selten schon in der ersten Generation zu Angehörigen der angelsächsischen Kultur wurden. Die Nationalisten, die für die Größe ihrer Nation schwärmten, sahen es mit Kummer, aber es schien ihnen doch, als ließe sich dagegen nichts machen. Sie gründeten Vereine, die für die Kolonisten Schulen, Büchereien und Zeitungen stifteten, um die nationale Entfremdung der Auswanderer aufzuhalten; aber was sie dadurch erreichten, war nicht viel. Denn daß die Gründe, die zur Auswanderung führten, zwingender wirtschaftlicher Natur waren, und daß man die Auswanderung als solche nicht hindern konnte, darüber gab man sich keiner Täuschung hin. Nur ein Dichter wie Freiligrath konnte die Auswanderer fragen :

Oh sprecht! warum zogt ihr von dannen?
Das Neckartal hat Wein und Korn.

Der Staatsmann mid der Volkswirt wußten wohl, daß es drüben mehr Wein mid mehr Korn gibt als in der Heimat.

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte man die Bedeutung dieses Problems kaum ahnen. Noch die Ricardosche Außenhandelstheorie geht von der Voraussetzung aus, daß die freie Beweglichkeit von Kapital und Arbeit nur innerhalb der Landesgrenzen bestehe. Im Inlande wird jede örtliche Verschiedenheit des Gewinnsatzes und des Arbeitslohnes durch Wanderungen des Kapitals und der Arbeiter zur Ausgleichung gebracht. Nicht so bei Verschiedenheiten zwischen mehreren Ländern. Da fehle die Freizügigkeit, die ja letzten Endes dazu führen müßte, daß von dem Lande, das weniger günstige Produktionsbedingungen bietet, Kapital und Arbeit nach dem Lande der günstigeren Bedingungen strömen. Eine Reihe von Gefühlsmomenten („which I should be sorry to see weakened" schiebt hier der Patriot und Politiker Ricardo in die Ausführungen des Theoretikers ein) steht dem entgegen. Kapital und Arbeiter bleiben, trotzdem sie dadurch eine Einkommensminderung erleiden, im Land und wenden sich jenen Produktionszweigen zu, für die, wenn auch nicht absolut, so doch relativ die günstigeren Bedingungen gegeben sind. [38] Die Grundlage der Freihandelstheorie ist mithin die Tatsache, daß Kapital [52] und Arbeit aus nicht wirtschaftlichen Gründen nicht über die Landesgrenzen gehen, auch wenn dies aus wirtschaftlichen Motiven vorteilhaft erscheint. Dies mochte im großen und ganzen in den Tagen Ricardos zutreffen, aber es trifft schon lange nicht mehr zu.

Fällt aber die Grundvoraussetzung der Ricardoschen Lehre von den Wirkungen des Freihandels, dann muß auch diese mit fallen. Es liegt kein Grund vor, zwischen den Wirkungen des freien Verkehres im Binnenhandel mid im Außenhandel einen grundsätzlichen Unterschied zu suchen. Wenn die Beweglichkeit von Kapital und Arbeit im Innern von der Beweglichkeit zwischen den Staaten nur graduell verschieden ist, dann kann auch die nationalökonomische Theorie zwischen den beiden keinen grundsätzlichen unterschied machen. Sie muß vielmehr notwendigerweise zu dem Schlüsse gelangen, daß dem Freihandel die Tendenz innewohnt, die Arbeitskräfte und das Kapital ohne Rücksicht auf die politischen und nationalen Grenzen nach den Stätten der günstigsten natürlichen Produktionsbedingungen zu ziehen. In letzter Linie muß daher der unbeschränkte Freihandel zu einer Änderung der Besiedlungsverhältnisse auf der ganzen Erdoberfläche führen; von den Ländern mit weniger günstigen Produktionsbedingungen strömen Kapital und Arbeit nach den Ländern mit günstigeren Produktionsbedingungen.

Auch die auf diese Weise modifizierte Freihandelstheorie gelangt geradeso wie die Ricardosche Lehre zu dem Schlüsse, daß vom rein wirtschaftlichen Standpunkte nichts gegen den freien Verkehr, alles gegen den Protektionismus spricht. Aber indem sie zu ganz anderen Ergebnissen in Bezug auf die Wirkung des Freihandels auf die örtlichen Verschiebungen von Kapital und Arbeit führt, bietet sie einen ganz veränderten Ausgangspunkt für die Prüfung der außerwirtschaftlichen Gründe für mid wider das Schutzsystem.

Hält man an der Ricardoschen Annahme fest, daß Kapital und Arbeit auch durch günstigere Produktionsbedingungen im Auslande nicht zur Abwanderung veranlaßt werden, dann ergibt sich, daß in den einzelnen Ländern gleiche Aufwendungen von Kapital und Arbeit zu verschiedenem Erfolge führen. Es gibt reichere und ärmere Völker. Handelspolitische Eingriffe können daran nichts ändern. Sie können die ärmeren Völker nicht reicher machen. Völlig sinnlos aber erscheint der Protektionismus der reicheren Völker. Läßt man jene Ricardosche Annahme fallen, dann sieht man auf der ganzen Erde eine Tendenz zur Ausgleichung des Kapitalgewinnsatzes und des Arbeitslohnes vorwalten. Dann gibt es schließlich nicht mehr ärmere und reichere Völker, sondern nur noch dichter und weniger dicht besiedelte mid bewirtschaftete Länder.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Ricardo und seine Schule auch dann nichts anderes als die Freihandelspolitik vorgeschlagen hätten, da sie sich der Erkenntnis nicht zu verschließen [53] vermochten, daß Schutzzölle nicht der Weg sind, um aus diesen Schwierigkeiten hinauszuführen. Für England aber hat es dieses Problem nie gegeben. Sein reicher Besitz an Siedlungsgebieten läßt ilim die Auswanderung national gleichgültig erscheinen. Die britischen Auswanderer können auch in der Ferne ihr Volkstum bewahren, sie hören auf, Engländer und Schotten zu sein, aber sie bleiben Angelsachsen. Und was das politisch bedeutet, hat der Krieg von neuem gezeigt.

Doch für das deutsche Volk hegen die Dinge anders. Aas Ursachen, die weit zurückreichen, hat das deutsche Volk keine Siedlungsgebiete zur Verfügung, in denen die Auswanderer ihr Deutschtum bewahren können. Deutschland ist relativ übervölkert, es muß früher oder später seine überschüssige Bevölkerung abgeben, und wenn es dies aus irgend einem Grunde nicht tun könnte oder wollte, dann müßte dies die Lebenshaltung der Deutschen auf eine niedrigere Stufe herabdrücken. Wenn aber Deutsche auswandern, dann verlieren sie ihr Volkstum, wenn nicht in der ersten Zeit, so doch in der zweiten, dritten oder spätestens in der vierten Generation.

Das war das Problem, vor das sich die deutsche Politik nach Aufrichtung des Kaisertums der Hohenzollern gestellt sah. Das deutsche Volk stand vor einer jener großen Entscheidungen, die ein Volk nicht in jedem Jahrhundert zu treffen hat. Und es war ein Verhängnis, daß die Lösung dieses großen Problems unaufschiebbar wurde, bevor noch ein anderes, nicht minder großes, das der Begründung des deutschen Volksstaates, gelöst war. Um eine Frage von dieser Bedeutung und von dieser geschichtlichen Schwere auch nur in ihrer vollen Tragweite aufzufassen, hätte es eines Geschlechtes bedurft, das furchtlos und frei über sein Schicksal verfügen durfte. Das aber war dem deutschen Volke des großpreußischen Reiches, den Untertanen der zweiundzwanzig Bundesfürsten, nicht erlaubt. Es nahm sein Schicksal auch in diesen Fragen nicht selbst in die Hand, es überließ die wichtigste Entscheidung den Generälen und Diplomaten; es folgte blindlings seinen Führern, ohne zu merken, daß es in den Abgrund geführt wurde. Das Ende war die Niederlage.

Schon seit Beginn der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts hatte man in Deutschland begonnen, sich mit dem Problem der Auswanderung zu befassen. Bald waren es die Auswanderer selbst, die den mißglückten Versuch machten, in Nordamerika einen deutschen Staat zu gründen, bald wieder waren es die Deutschen in der Heimat, die die Organisation der Auswanderung in die Hand zu nehmen versuchten. Daß diese Bestrebungen zu keinem Erfolge führen konnten, kann nicht überraschen. Wie hätte auch der Versuch, einen neuen Staat zu gründen, Deutschen glücken sollen, denen es doch nicht einmal gelungen war, im Mutterlande die jämmerliche Vielheit von mehreren Dutzend Patrimonialfürstentümern mit ihren Enklaven, ihren Erbverbrüderungen und ihren Hausgesetzen in einen Volksstaat [54] umzugestalten? Wie hätten deutsche Männer die Kraft finden können, sich draußen in der Welt zwischen Yankees und Kreolen zu behaupten, da sie doch zu Hause nicht einmal imstande waren, der possenhaften Herrlichkeit der Miniaturthrone der reußischen und schwarzburgischen Fürsten em Ende zu bereiten. Woher sollte dem deutschen Untertan die politische Einsicht kommen, die die große Politik verlangt, da ihm doch zu Hause verwehrt war, „die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen" ? [39]

In der Mitte der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hatte das Problem der Auswanderung eine solche Bedeutung erlangt, daß die Lösung nicht länger hinausgezogen werden konnte. Nicht das war das Entscheidende, daß die Auswanderung beständig wuchs. Nach den Nachweisungen der Vereinigten Staaten war die Einwanderung der Deutschen dortselbst (ohne die Österreicher) von 6761 im Jahrzehnt 1821 bis 1830 auf 822.007 im Jahrzehnt 1861 bis 1870 gestiegen; doch trat gerade seit 1874 in der deutschen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten ein — allerdings zunächst nur vorübergehender — Rückschlag ein. Weit wichtiger war die Tatsache, daß es sich immer deutlicher herausstellte, daß für die Landwirtschaft und für die wichtigsten Gewerbezweige die Produktionsbedingungen in Deutschland so ungünstig liegen, daß der Wettbewerb mit dem Auslande nicht mehr möglich war. Die Ausdehnung des ji Eisenbahnnetzes in den Ländern des europäischen Ostens und die Entwicklung der See-und Flußschiffahrt ermöglichten es, landwirtschaftliche Erzeugnisse in solcher Menge mid zu so billigen Preisen i] nach Deutschland einzuführen, daß der Fortbestand der großen Masse der deutschen landwirtschaftlichen Betriebe auf das Ernsteste bedroht war. Schon seit den Fünfzigerjahren war Deutschland ein Roggen einführendes Land, seit 1875 ist es auch ein Weizen einführendes Land. Auch eine Reihe von Industriezweigen, besonders die Eisenindustrie, hatte mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen.

Es ist klar, wo die Ursachen lagen, mögen es auch die Zeitgenossen nur dunkel gefühlt haben. Die Überlegenheit der natürlichen Produktionsbedingungen des Auslandes machte sich eben immer stärker fühlbar, je mehr die fortschreitende Entwicklung der Verkehrsmittel die Fracht verbilligte. Man hat wohl versucht, die Tatsache der geringeren Konkurrenzfähigkeit der deutschen Produktion auf andere Weise zu erklären, und man hat sich dabei, wie dies ja überhaupt die Erörterung wirtschaftspolitischer Probleme in Deutschland während der letzten Jahrzehnte kennzeichnet, vorwiegend mit [55] unwesentlichen Nebensachen abgegeben und darüber die große prinzipielle Bedeutung des Problems ganz übersehen.

Hätte man die grundsätzliche Bedeutung dieser Probleme erkannt und den tieferen Zusammenhang der Dinge begriffen, dann hätte man sich sagen müssen, daß Deutschland relativ übervölkert sei, und daß zur Herstellung einer den Produktionsbedingungen entsprechenden Verteilung der Bevölkerung über die ganze Erdoberfläche ein Teil der Deutschen auswandern muß. Wer die nationalpolitischen Bedenken gegen eine Abnahme der Volkszahl oder auch nur einen Stillstand der Bevölkerungszunahme in Deutschland nicht teilte, hätte sich mit dieser Erkenntnis zufrieden gegeben. Allenfalls hätte er sich noch damit getröstet, daß die Abwanderung der einzelnen Produktionszweige sich zum Teil in der Weise vollziehen wird, daß deutsche Unternehmer im Auslande Betriebe eröffnen, so daß die Verzehrung des Unternehmereinkommens im Deutschen Reich erfolgen und damit den Nahrungsmittelspielraum des deutschen Volkes erhöhen mrd.

Der Patriot, der in der hohen Volkszahl sein Ideal erblickt, hätte sich sagen müssen, daß sein Ziel ohne Herabminderung der Lebenshaltung der Nation nicht erreicht werden könne, außer man schafft durch Erwerbung von Ansiedlungskolonien die Möglichkeit, einen Teil der überschüssigen Bevölkerung trotz der Abwanderung aus dem Mutterlande der Nation zu erhalten. Alle seine Kräfte hätte er dann der Erwerbung von Ansiedlungsland zuwenden müssen. In der Mitte der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts und noch ein Jahrzehnt länger lagen die Dinge durchaus noch nicht so, daß es nicht möglich gewesen wäre, dieses Ziel zu erreichen. Es war jedenfalls nur im Bunde mit England zu erreichen. England war damals und noch lange danach von einer großen Sorge gequält, von der Angst, es könnte sein indischer Besitz durch Rußland ernstlich bedroht werden. Darum bedurfte es eines Bundesgenossen, der imstande gewesen wäre, Rußland in Schach zu halten. Dafür kam nur das Deutsche Reich in Frage. Deutschland war stark genug, England den Besitz Indiens zu garantieren; niemals hätte Rußland daran denken können, Indien anzugreifen, solange es an seiner Westgrenze Deutschlands nicht sicher war. [40] Für diese Garantie hätte England große Gegenleistung gewähren können und sicherlich auch gewährt. Vielleicht hätte es seine [56] ausgedehnte südafrikanische Besitzung, die damals nur eine sehr dünne angelsächsische Besiedlung hatte, an Deutschland überlassen; vielleicht hätte es auch Deutschland zu einem größeren Siedlungsgebiet in Brasilien oder Argentinien oder im Westen Kanadas verholfen. Ob dies zu erreichen war, mag immerhin bezweifelt werden. [41] Aber das ist gewiß, daß, wenn Deutschland damals in dieser Richtung etwas hätte erreichen können, dies nur im Bunde mit England geschehen konnte. Das großpreußische Reich der ostelbischen Junker wollte aber kein Bündnis mit dem liberalen England. Aus innerpolitischen Gründen schien ihm das Drei-Kaiser-Bündnis, die Fortsetzung der heiligen Allianz, die einzige angemessene Verbindung, die es eingehen konnte, und als dieses Bündnis sich schließlich unhaltbar zeigte und das Deutsche Reich, vor die Wahl gestellt, entweder mit Rußland gegen Österreich-Ungarn oder mit Österreich-Ungarn gegen Rußland zu gehen, sich für die Verbindung mit Österreich entschied, da suchte Bismarck doch immer wieder ein freundschaftliches Verhältnis zu Rußland zu bewahren. So blieb denn diese Gelegenheit, für Deutschland ein großes Siedlungsgebiet zu erwerben, ungenützt.

Statt im Bunde mit England die Erwerbung einer Ansiedlungskolonie zu versuchen, vollzog das Deutsche Reich seit 1879 den Übergang zum Schutzzoll. Wie immer in den großen Wendepunkten der Politik, sah man auch hier weder die tiefere Bedeutung des Problems noch auch den Sinn der neuen Politik, die man einschlug. Den Liberalen erschien der Schutzzoll als ein vorübergehender Rückfall in ein überwundenes System; die Realpolitiker, jenes Gemisch von Zynismus, Gesinnungslosigkeit und unverhüllter Selbstsucht, werteten sie bloß vom Standpunkt ihrer eigenen Interessen als Einkommensmehrung der Grundbesitzer und Unternehmer. Die Sozialdemokraten holten ihre verblaßten Erinnerungen an Ricardo hervor; an der tieferen Erkenntnis der Dinge, die doch an der Hand dieses Führers nicht schwer gefallen wäre, hinderte sie das doktrinäre Festhalten an der marxistischen Lehre. Erst viel später, und auch dann nur zögernd, hat man die große Bedeutung jener Wendung nicht nur für das deutsche Volk, sondern für alle Völker begriffen. [42]

Das Bemerkenswerteste an der Schutzzollpolitik des Deutschen Reiches ist der Umstand, daß sie jeder tieferen Begründung ermangelte. [57] Für den Realpolitiker war sie genügsam dadurch gerechtfertigt, daß sie im deutschen Reichstage die Majorität fand. Mit der theoretischen Begründung der Schutzzolltheorie aber sah es sehr schlecht aus. Die Berufung auf Lists Lehre vom Erziehungszoll war durchaus unstichhältig. Es ist keine Widerlegung des Freihandelsargumentes, wenn man die Behauptung aufstellt, daß durch das Schutzsystem brach liegende Produktivkräfte verwertet werden. Daß sie ohne Schutz nicht zur Verwertung gelangen, beweist, daß ihre Ausnützung weniger ergiebig ist als die jener Produktivkräfte, die an ihrer statt gebraucht werden. Auch der Erziehungszoll kann ökonomisch nicht gerechtfertigt werden. Alte Industrien sind jungen gegenüber in mancher Hinsicht im Vorteil. Aber nur dann ist das Aufkommen neuer Industrien vom Standpunkte der Gesamtheit produktiv zu nennen, wenn die mindere Ergiebigkeit der Anfangszeit in der späteren größeren Ergiebigkeit zumindest ihre Deckung findet. dann aber sind die neuen Unternehmungen nicht nur volkswirtschaftlich produktiv, sondern auch privatwirtschaftlich rentabel; sie würden auch ohne Förderung ins Leben gerufen werden. Jeder neu errichtete Betrieb rechnet mit solchen Gründungsunkosten, die später eingebracht werden sollen. Es ist unstichhältig, wenn demgegenüber darauf hingewiesen wird, daß nahezu alle Staaten die Entstehung der Industrie durch Schutzzölle und andere protektionistische Maßnahmen unterstützt haben. Es bleibt die Frage offen, ob nicht auch ohne solche Förderung die Entwicklung lebenskräftiger Industrien vor sich gegangen wäre. Innerhalb der Staatsgebiete gehen Standortsveränderungen ohne jede äußere Hilfe vor sich. In früher industrielosen Gebieten sehen wir Industrien erstehen, die sich nicht nur erfolgreich neben denen älterer Industriegebiete behaupten, sondern nicht selten jene gänzlich vom Markte verdrängen.

Von keinem der deutschen Zollsätze konnte man übrigens sagen, daß er ein Erziehungszoll sei; weder die Getreidezölle, noch die Eisenzölle, noch auch einen der vielen hundert anderen Schutzzölle darf man mit diesem Namen belegen. Und andere als Erziehungszölle hat List nie vertreten; er war grundsätzlich Freihändler.

Im übrigen ist die Aufstellung einer Schutzzolltheorie in Deutschland überhaupt nicht einmal versucht worden. [43] Die langatmigen und widerspruchsvollen Ausführungen über die Notwendigkeit des Schutzes jeder nationalen Arbeit und eines lückenlosen Tarifes können nicht Anspruch auf diesen Namen erheben. Sie deuten wohl die [58] Richtung an, in der man die Beweggründe der Schutzzollpolitik .zu suchen hatte, sie konnten aber, schon weil sie von vornherein auf jeden nationalökonomischen Gedankengang verzichteten und rein machtpolitisch orientiert waren, nicht geeignet sein, die Frage zu prüfen, ob die Ziele, die man anstrebte, auch wirklich durch dieses Mittel erreicht werden konnten.

Von den Argumenten der Schutzzöllner müssen wir das militärische — oder, wie man jetzt zu sagen pflegt, „kriegswirtschaftliche" — der Autarkie für den Kriegsfall zunächst bei Seite lassen; davon soll später gesprochen werden. Alle anderen Argumente gehen von der Tatsache aus, daß die natürlichen Bedingungen für große mid wichtige Zweige der Produktion in Deutschland ungünstiger sind als in anderen Gebieten, und daß man, soll man überhaupt in Deutschland produzieren, durch Schutzzölle die natürlichen Nachteile ausgleichen muß. Bei der Landwirtschaft konnte es sich dabei nur um die Behauptung des Inlandmarktes handeln, bei der Industrie um die Behauptung der fremden Märkte, ein Ziel, das nur durch das dumping der unter dem Schutze des Zolles kartellierten Produktionszweige erreicht werden konnte. Deutschland, als relativ übervölkertes Land, das in einer Reihe von Produktionszweigen unter ungünstigeren Bedingungen arbeitet als das Ausland, mußte entweder Waren oder Menschen ausführen. Es entschied sich für das erste. Es hat aber übersehen, daß die Warenausfuhr nur möglich ist, wenn man mit den Ländern der günstigeren Produktionsbedingungen in Wettbewerb tritt, das heißt, wenn man trotz höherer Produktionskosten ebenso billig liefert wie die mit geringeren Produktionskosten arbeitenden Länder. Das aber bedeutet Herabdrückung des Lohnes der Arbeiter und der Lebenshaltung des ganzen Volkes.

Jahrelang konnte man sich in Deutschland darüber schweren Täuschungen hingeben. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, hätte man nationalökonomisch denken müssen und nicht etatistisch und machtpolitisch. Aber einmal mußte es sich doch mit unabweislicher Logik jedem aufdrängen, daß das Schutzzollsystem schließlich versagen muß. Man konnte sich darüber, daß es den relativen Wohlstand des deutschen Volkes schädigte, täuschen, solange man noch das absolute Wachstum des Volksreichtums beobachten konnte. Aber aufmerksame Beobachter der weltwirtschaftlichen Entwicklung konnten nicht umhin, ihre Bedenken über die zukünftige Entwicklung des deutschen Außenhandels zu äußern. Was sollte mit dem deutschen Warenexporte geschehen, wenn einmal in den Ländern, die noch das Absatzgebiet der deutschen Industrie bildeten, eine selbständige Industrie zur Entfaltung gelangt sein würde, die unter günstigeren Bedingungen zu arbeiten in der Lage wäre? [44]

[59]

Aus dieser Lage heraus erwuchs dem deutschen Volke schließlich doch der Wunsch nach großen Ansiedlungskolonien und nach tropischen Gebieten, die Deutschland mit Rohstoffen versorgen könnten. Und weil England der Verwirklichung dieser Absichten im Wege stand, weil England über weite Gebiete verfügt, in denen sich Deutsche hätten ansiedeln können, und weil England große tropische Kolonien sein eigen nennt, erwuchs daraus der Wunsch, England anzugreifen und im Kriege zu besiegen. Das war der Gedanke, der zum Bau der deutschen Schlachtflotte führte.

England hat die Gefahr rechtzeitig erkannt. Zunächst strebte es die friedliche Auseinandersetzung mit Deutschland an; es war bereit, dafür einen hohen Preis zu. zahlen. Als diese Absicht am Widerstände der deutschen Politik scheiterte, richtete England sich danach. Es war fest entschlossen, nicht so lange zu warten, bis Deutschland über eine Flotte verfügen würde, die der englischen überlegen ist; es war entschlossen, den Krieg früher zu führen und warb Bundesgenossen gegen Deutschland. Als Deutschland 1914 wegen der Balkanangelegenheiten in Krieg mit Rußland und Frankreich geriet, schlug auch England los, weil es wußte, daß es im Falle eines deutschen Sieges in wenigen Jahren allein einen Krieg mit Deutschland zu bestehen haben werde. Der Bau der deutschen Schlachtflotte mußte zum Kriege mit England führen, ehe die deutsche Flotte die Überlegenheit über die englische erlangt hatte. Denn die Engländer wußten, daß die deutschen Schiffe keine andere Verwendung finden könnten als die, Englands Flotte mid seine Küste anzugreifen. Der Vorwand, mit dem Deutschland die letzten Absichten, die es mit dem Bau der Flotte verfolgte, zu verbergen strebte, war der, daß es eine mächtige Flotte als Schutz für seinen groß gewordenen Seehandel brauche. Die Engländer wußten, was sie davon zu halten hatten. Einst, als es noch Seeräuber gab, mußten die Handelsschiffe in den gefährdeten Meeren durch Kreuzer geschützt werden. Seit der Herstellung der Sicherheit auf dem Meer (ungefähr seit 1860) ist das nicht mehr nötig. Vollends den Bau einer Schlachtflotte, die nur in den europäischen Gewässern verwendbar war, konnte man unmöglich damit erklären, daß man den Handel schützen wolle.

Es ist auch ohneweiters begreiflich, warum nahezu alle Staaten der Welt von vornherein mit ihren Sympathien auf Seite Englands gegen Deutschland standen. Die meisten mußten Deutschlands Kolonialhunger fürchten. Nur wenige Völker Europas befinden sich in ähnlicher Lage wie das deutsche, daß sie auf ihren Staatsgebieten ihre Bevölkerung nur unter ungünstigeren Bedingungen, als sie in der übrigen Welt zu finden sind, ernähren können. Dazu gehören in erster [60] Linie die Italiener, aber auch die Tschechen. Daß auch diese beiden Völker auf der Seite unserer Gegner zu finden waren, war österreichische Sache. [45]

Nun ist der Krieg geschlagen und wir haben ihn verloren. Die deutsche Volkswirtschaft ist durch die lange „Kriegswirtschaft" gänzlich zerrüttet; sie wird überdies schwere Entschädigungslasten zu tragen haben. Aber weit ärger als alle diese unmittelbaren Kriegsfolgen muß die Rückwirkung auf Deutschlands weltwirtschaftliche Stellung erscheinen. Deutschland hat die Rohstoffbezüge, auf die es angewiesen ist, teils durch Fabrikatenausfuhr, teils aus dem Ertrage seiner ausländischen Unternehmungen und Kapitalien bezahlt. Das wird in Hinkunft nicht mehr möglich sein. Die ausländischen Anlagen der Deutschen wurden im Krieg enteignet oder zur Bezahlung der Einfuhr verschiedener Güter auf gebraucht . Der Fabrikatenexport wird aber gewaltigen Schwierigkeiten begegnen. Viele Absatzmärkte sind im Laufe des Krieges verloren gegangen und werden nicht leicht wieder zu gewinnen sein. Auch hier hat der Krieg keine neue Lage geschaffen, sondern nur die Entwicklung, die sich auch ohne ihn vollzogen hätte, beschleunigt. Die durch den Krieg hervorgerufene Behinderung des Handels hat in den bisherigen Absatzgebieten Deutschlands neue Industrien ins Leben gerufen. Sie wären auch ohne den Krieg entstanden, aber später. Jetzt, da sie einmal da sind und unter günstigeren Produktionsbedingungen arbeiten als die deutschen Betriebe, werden sie der deutschen Ausfuhr schwere Konkurrenz bereiten. Das deutsche Volk wird gezwungen sein, seinen Verbrauch einzuschränken. Es wird billiger arbeiten, das heißt schlechter leben müssen als die anderen Völker. Das ganze Niveau der deutschen! Kultur wird dadurch herabgedrückt. Denn Kultur ist Reichtum. Ohne Wohlstand, ohne Reichtum hat es nie Kultur gegeben.

Wohl bliebe noch die Auswanderung offen. Aber die Einwohner der Gebiete, die dafür in Betracht kämen, wollen keine deutschen Einwanderer aufnehmen. Sie fürchten die Majorisierung durch die deutschen Elemente; sie fürchten den Druck, den die Einwanderung auf die Löhne ausüben müßte. Schon lange vor dem Kriege konnte Wagner darauf hinweisen, daß es außer den Juden kein zweites Volk gebe als das deutsche, „das in so vielen zahlreichen Volkssplittern und einzelnen beinahe über den ganzen Erdenrund, miter andere Kulturvölker und sonstige Nationen verstreut ist, oft hier ein ganz tüchtiges Element bildet, oft auch nur eine Art Kulturdünger, selten in leitenden, häufiger in mittleren bis hinab zu den unteren Lebensstellungen, Männlein wie Weiblein". Und er hatte hinzugefügt, daß „diese deutsche Diaspora" nicht viel beliebter, wenn auch [61] geachteter sei als Juden und Armenier, und nicht selten ebenso starker Abneigung der einheimischen Bevölkerung unterliegt. [46] Wie wird es erst nach dem Kriege werden?

Man kann erst jetzt voll den Schaden überblicken, den die Abkehr von den Grundsätzen der liberalen Politik dem deutschen Volke zugefügt hat. Wie ganz anders stünden Deutschland und Österreich heute da, wenn sie nicht die verhängnisvolle Rückkehr zum Schutzzolle vollzogen hätten. Freilich, die Bevölkerungszahl wäre nicht so groß, wie sie es heute ist. Aber die kleinere Bevölkerung könnte unter gleich günstigen Bedingungen leben und arbeiten wie die der übrigen Länder der Welt. Das deutsche Volk wäre reicher und glücklicher als es heute ist, es hätte keine Feinde und keine Neider. Hunger und Anarchie, das ist das Ergebnis der protektionistischen Politik.

Der Ausgang des deutschen Imperialismus, der das deutsche Volk in bitteres Elend gestürzt und zu einem Pariavolke gemacht hat, zeigt, daß die, deren Führung es im letzten Menschenalter gefolgt ist, nicht auf dem richtigen Wege waren. Nicht Ruhm, noch Ehre, nicht Reichtum, noch Glück waren auf diesen Pfaden zu finden. Die Ideen von 1789 hätten das deutsche Volk nicht dahin gebracht, wo es heute steht. Haben nicht die Männer der Aufklärungszeit, denen man heute Mangel an Staatsempfinden vorwirft, [47] besser verstanden, was dem deutschen Volke und der ganzen Welt frommt? Deutlicher als alle Theorien es könnten, zeigt der Gang der Geschichte, daß der richtig verstandene Patriotismus zum Kosmopolitismus führt, daß das Heil eines Volkes nicht in der Niederwerfung der anderen Völker liegt, sondern im friedlichen Zusammenwirken. Alles, was das deutsche Volk besessen hat, geistige und materielle Kultur, hat es einem Phantom nutzlos geopfert, niemand zum Hell, sich selbst zum Schaden.

Ein Volk, das an sich und seine Zukunft glaubt, ein Volk, das das sichere Gefühl zu heben meint, daß die Volksgenossen untereinander nicht bloß durch den Zufall der Geburt verbunden sind, sondern durch den gemeinsamen Besitz einer Kultur, die jedem von ihnen über alles wertvoll ist, müßte es gleichmütig ertragen können, wenn es einzelne zu anderen Nationen übergehen sieht. Ein seines eigenen Wertes bewußtes Volk wird darauf verzichten, die, die fortgehen wollen, mit Zwang zurückzuhalten, und die, die nicht freiwillig kommen wollen, mit Gewalt in die nationale Gemeinschaft einzufügen. Im freien Wettbewerbe mit anderen Völkern die Anziehungskraft der eigenen Kultur sich bewähren zu lassen, das allein ist einer stolzen Nation würdig, das allein wäre echte National- und Kulturpolitik. Dazu bedarf es keineswegs der Mittel der Macht und der politischen Herrschaft.

[62]

Daß Völker, die das Schicksal begünstigt hat, weite Ansiedlungsgebiete ihr eigen nennen, konnte keinen triftigen Grund abgeben, eine andere Politik einzuschlagen. Es ist wahr, jene Kolonien sind nicht mit sanften Reden genommen worden, und man vermag nur mit Grauen mid Entsetzen an die fürchterlichen Massenmorde zu denken, die den Boden für manche der heute blühenden Kolonialsiedlungen bereitet haben. Doch auch alle anderen Blätter der Weltgeschichte sind mit Blut geschrieben worden, und nichts ist törichter als die Bemühungen, den Imperialismus von heute mit allen seinen Brutalitäten durch den Hinweis auf die Greueltaten längst verflossener Geschlechter zu rechtfertigen. Man muß erkennen, daß die Zeit für Eroberungszüge vorbei ist, daß es heute zumindest nicht mehr angeht, Völker weißer Rasse zu vergewaltigen. Wer sich mit diesem Grundsatze des modernen politischen Weltrechtes, der der Niederschlag der liberalen Ideen der Aufklärungszeit ist, in Widerspruch setzen wollte, mußte sich in Gegensatz zu allen anderen Völkern der Welt bringen. Es war ein verhängnisvoller Irrtum, mit Kanonen und Panzerschiffen eine neue Teilung der Erde vornehmen zu wollen.

Die Völker, die in ihren Wohnsitzen unter relativer Übervölkerung leiden, können sich heute nicht mehr jener Mittel der Abhilfe bedienen, die zur Zeit der Völkerwanderung üblich waren. Volle Aus- und Einwanderungsfreiheit und uneingeschränkte Freizügigkeit des Kapitales muß ihre Forderung sein. Nur auf diesem Wege können sie für ihre Volksgenossen die günstigsten wirtschaftlichen Bedingungen erreichen.

Freilich, ganz wird aus den gemischtsprachigen Gebieten der Streit der Nationen um den Staat mid um die Herrschaft nicht verschwinden können. Doch er wird an Schärfe in dem Maße verlieren, in dem die Funktionen des Staates eingeschränkt und die Freiheit des Individuums erweitert wird. Wer den Frieden zwischen den Völkern will, muß den Etatismus bekämpfen.

c) Die Wurzeln des Imperialismus.

Man pflegt die Wurzeln des modernen Imperialismus in dem Wunsche nach Ausiedlungsgebieten mid nach Exploitationskolonien zu suchen. In diesem Sinne wird der Imperialismus als eine ökonomische Notwendigkeit dargestellt. Daß diese Auffassung unzulänglich ist, erkennen wir am besten, wenn wir mis vergegenwärtigen, wie sich der Liberalismus zu demselben Problem stellt. Seine Losung ist Freizügigkeit; er ist gleichzeitig allen kolonialen Unternehmungen abhold. Unwiderlegbar ist der Beweis, den die liberale Schule geführt hat, daß der Freihandel, mid nur der Freihandel, vom rein wirtschaftlichen Standpunkt als gerechtfertigt erscheint, daß nur er die beste [63] Versorgung aller Menschen, den größten Arbeitsertrag bei kleinstem Kostenaufwande gewährleistet.

Dieses liberale Dogma kann auch durch die Behauptung — deren Richtigkeit wir dahingestellt sein lassen wollen — nicht erschüttert werden, daß es Völker gebe, die für die Selbstverwaltung nicht reif sind und nie reif sein werden. Diese niederen Rassen müßten eben von den höheren Rassen politisch regiert werden, ohne daß dadurch die wirtschaftliche Freiheit irgendwie eine Einschränkung zu erfahren hätte. So haben die Engländer lange ihre Herrschaft in Indien aufgefaßt, so war der freie Kongostaat gedacht: Offene Tür für wirtschaftliche Betätigung aller Nationen im freien Wettbewerbe sowohl mit den Angehörigen des Herrenvolkes als auch mit den Eingeborenen. Daß die Praxis der Kolonialpolitik von diesem Ideal abweicht, daß sie wieder wie einst die Eingeborenen nur als Mittel, nicht als Selbstzweck betrachtet, daß sie — allen voran die Franzosen mit ihrem handelspolitischen Assimilationssystem — aus den Kolonialgebieten alle, die nicht dem Herrenvolk angehören, ausschließt, ist erst eine Folge der imperialistischen Gedankengänge. Woher aber stammen diese her?

Man kann für den Imperialismus auch eine individualistische Motivierung finden. Das ist die Begründung, die sich aus den Verhältnissen der Gebiete mit gemischter Bevölkerung ergibt. Dort mußten schon die Konsequenzen der Anwendung des demokratischen Prinzipes selbst zum militanten, aggressiven Nationalismus treiben, und nicht anders liegt es in jenen Gebieten, nach denen sich heute der Strom der Einwanderung richtet. Dort entsteht das Problem der Gemischtsprachigkeit immer wieder von Neuem, dort muß auch der imperialistische Nationalismus immer wieder von Neuem erstehen. So sehen wir in Amerika und in Australien die Bestrebungen zur Einschränkung der unerwünschten — fremdnationalen — Einwanderung wachsen, Bestrebungen, die aus der Angst, im eigenen Lande durch Fremde majorisiert zu werden, in demselben Augenblick entstehen mußten, in dem die Befürchtung aufkam, daß die Einwanderer fremdnationaler Herkunft nicht mehr voll assimiliert werden könnten.

Zweifellos war dies der Punkt, von dem die Wiedergeburt des imperialistischen Gedankens ausging. Von hier hat der Geist des Imperialismus allmählich den ganzen Gedankenbau des Liberalismus untergraben, bis er schließlich auch die individualistische Begründung, von der er ausgegangen war, durch eine kollektivistische ersetzen konnte. Die Idee des Liberalismus geht von der Freiheit des Einzelnen aus, sie lehnt jede Herrschaft eines Teiles der Menschen über die übrigen Menschen ab, sie kennt keine Herrenvölker und keine Knechtvölker, wie sie im Volke selbst keine Herren und keine Knechte unterscheidet. Dem vollendeten Imperialismus gilt der einzelne nichts mehr. [64] Er ist ihm nur als Glied des Ganzen wertvoll, als Soldat einer Armee. Dem Liberalen ist die Zahl der Volksgenossen keine übermäßig wichtige Sache. Anders für den Imperialismus. Er strebt nach zahlenmäßiger Größe der Nation. Um Eroberungen zu machen und um sie festzuhalten, muß man militärisch die Oberhand haben, und militärische Bedeutung ist immer auch von der Zahl der Streiter, die zur Verfügung stehen, abhängig. So wird die Erreichung mid Erhaltung einer großen Bevölkerungszahl zu einem besonderen Ziele der Politik. Der Demokrat strebt den nationalen Einheitsstaat an, weil er glaubt, daß dies der Wille der Nation ist. Der Imperialist will einen möglichst großen Staat; dabei ist es ihm gleich, ob das dem Wunsche der Völker entspricht. [48]

Der imperialistische Volksstaat unterscheidet sich in der Auffassung von der Herrschaft und ihren Grenzen kaum noch vom alten Fürstenstaate. Wie dieser kennt er keine anderen Schranken für die Ausdehnung seiner Herrschaft als die, die ihm das Entgegentreten einer gleich starken Macht zieht. Auch seine Eroberungslust ist unbegrenzt. Vom Rechte der Völker will er nichts hören. Wenn er ein Gebiet „benötigt", dann nimmt er es eben und verlangt von den unterworfenen Völkern womöglich noch, daß sie dies gerecht und vernünftig finden. Die fremden Völker sind in seinen Augen nicht Subjekte, sondern Objekte der Politik. Sie sind — ganz wie es der Fürstenstaat einst gedacht hat — Zugehör des Landes, in dem sie wohnen. Daher kehren denn auch in der modernen imperialistischen Redeweise Ausdrücke wieder, die man schon vergessen glaubte. Man spricht wieder von geographischen Grenzen [49] , von der Notwendigkeit, ein Stück Land als „Glacis" zu gebrauchen, man arrondiert wieder Gebiete, man tauscht und verkauft sie gegen Geld.

Diese imperialistischen Lehren sind heute allen Völkern gemein. Engländer, Franzosen mid Amerikaner, die auszogen, um den Imperialismus zu bekämpfen, sind nicht weniger imperialistisch als die Deutschen. Freilich unterschied sich ihr Imperialismus von dem [65] deutschen vor dem November 1918 in einem wichtigen Punkte. Während die anderen Völker ihre imperialistischen Bestrebungen nur gegenüber den Völkern der Tropen und Subtropen zur Geltung brachten und sich gegenüber den Völkern weißer Rassen getreu den Grundsätzen der modernen Demokratie verhielten, haben die Deutschen, eben wegen ihrer Stellung in den gemischtsprachigen Gebieten in Europa, auch europäischen Völkern gegenüber die imperialistische Politik hervorgekehrt. [50] Die großen Kolonialmächte haben in Europa und Amerika am demokratisch-pazifistischen Nationalitätsprinzipe festgehalten und nur den afrikanischen und asiatischen Völkern gegenüber Imperialismus getrieben. Sie sind daher nicht mit dem Nationalitätsprinzip der weißen Völker in Widerspruch geraten wie das deutsche Volk, das auch in Europa überall Imperialismus zu treiben versucht hat.

Um die Anwendung imperialistischer Grundsätze in Europa zu rechtfertigen, sah sich die deutsche Theorie genötigt, das Nationalitätsprinzip zu bekämpfen und an seine Stelle die Lehre vom Unionsstaat zu setzen. Kleine Staaten hätten gegenwärtig keine Existenzberechtigung mehr. Sie seien zu klein und zu schwach, um ein selbständiges Wirtschaftsgebiet zu bilden. Sie müßten daher notwendigerweise einen Anschluß an größere Staaten suchen, um mit ihnen zusammen eine „Wirtschafts- und Schützengrabengemeinschaft" zu bilden. [51]

Wenn damit nichts anderes gesagt sein soll, als das, daß kleine Staaten kaum imstande sind, der Eroberungslust mächtigerer Nachbarn genügenden Widerstand entgegenzusetzen, so kann man nicht widersprechen. Die kleinen Staaten können sich in der Tat auf dem Schlachtfelde mit den großen nicht messen; kommt es zwischen ihnen und einem großen zum Kriege, so müssen sie unterliegen, wenn ihnen nicht von auswärts her Hilfe ersteht. Diese Hilfe bleibt selten aus. Sie wird von großen und kleinen Staaten nicht aus Mitleid oder aus Prinzip, sondern aus eigenem Interesse geleistet. In der Tat sehen wir, daß sich die kleinen Staaten durch Jahrhunderte hindurch ebensogut erhalten haben wie die Großmächte, und der Verlauf des Weltkrieges zeigt, daß auch in der Gegenwart die kleinen Staaten sich am Ende nicht immer als die schwächsten erweisen. Wenn man die kleinen Staaten durch Drohungen zum Anschluß an einen größeren Staat zu bewegen sucht, oder wenn man sie durch Waffengewalt [66] zur Unterwerfung zwingt, so ist dies kein Beweis für die Behauptung „kleinstaatliche Souveränitäten haben die Zeit gegen sich". [52] Dieser Satz ist heute nicht weniger richtig oder falsch als er es in den Tagen Alexanders des Großen, Tamerlans oder Napoleons war. Die politischen Ideen der Neuzeit lassen, den Bestand eines kleinen Staates heute eher gesicherter erscheinen als in früheren Jahrhunderten. Keineswegs berechtigt uns der Umstand, daß die Mittelmächte im Verlaufe des Weltkrieges militärische Siege über eine Anzahl von Kleinstaaten erfochten haben, dazu, zu erklären, daß der „Kleinbetrieb der Staatlichkeit" heute ebenso überholt sei wie der eines Eisenwerkes. Wenn Renner im Hinblick auf die militärischen Siege, die die deutschen und österreichischen Truppen über die Serben erfochten, das Nationalitätsprinzip mit der marxistischen Wendung abzutun glaubt : „Die materiellen Bedingungen der Staatlichkeit rebellieren gegen ihre ideellen — ein begrifflicher Widerstreit, der praktisch Volk und Staat zum tragischen Verhängnisse wird" [53], so übersieht er, daß militärische Schwäche auch vor Jahrtausenden den Kleinstaaten verderblich werden konnte.

Die Behauptung, daß alle Kleinstaaterei überlebt sei, wird von Naumann, Renner und ihren Anhängern weiters damit begründet, daß man sagt, ein Staat müsse zumindest über ein Gebiet verfügen, das für eine selbstgenügsame Wirtschaft ausreiche. Daß dies nicht zutrifft, ist aus dem vorher Gesagten bereits klar. Von dem' Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit kann in der Staatsbildung in einer Zeit, in der die Arbeitsteilung weite Landstrecken, ganze Kontinente, ja die ganze Welt umfaßt, nicht die Rede sein. Es ist gleichgültig, ob die Bewohner eines Staates ihre Bedürfnisse direkt oder indirekt durch die Produktion im Inlande decken; wichtig ist allein nur, daß sie sie überhaupt zu decken vermögen. Wenn Renner den einzelnen österreichischen Nationen, die nach politischer Selbständigkeit strebten, die Frage entgegenhielt, wo sie denn diesen oder jenen Artikel beziehen wollten, wenn sie sich einmal aus der Gesamtheit des österreichisch-ungarischen Staates losgelöst haben würden, so ist dies widersinnig. Auch zur Zeit des Bestandes des einheitlichen Staatsgefüges haben sie ja diese Güter nicht umsonst, sondern nur gegen Leistung des Gegenwertes erhalten, und dieser Gegenwert wird nicht größer, wenn die politische Gemeinsamkeit hinweggefallen ist. Einen Sinn hätte dieser Einwand nur dann gehabt, wenn wir in einer Zeit leben würden, in der der zwischenstaatliche Handel unmöglich ist.

Auf die Größe des Staatsgebietes kommt es mithin nicht im. Eine andere Frage ist es, ob ein Staat lebensfähig ist, wenn das [67] Volk, das ihn bildet, klein ist. Da ist nun festzustellen, daß die Kosten einer großen Anzahl von staatlichen Einrichtungen bei kleinen Staaten größer sind als bei großen. Die Zwergstaaten, deren wir in Europa noch eine Anzahl haben, wie Liechtenstein, Andorra, Monako, können z. B. ihre Gerichtsorganisation nur dann instanzenmäßig gliedern, wenn sie sich an einen Nachbarstaat anschließen. Es ist klar, daß ein solcher Staat finanziell vollkommen unmöglich wäre, wollte er versuchen, eine ähnlich umfassende Grerichtsorganisation, wie sie ein größerer Staat seinen Bürgern zur Verfügung stellt, z. B. durch die Errichtung eines Kassationshofes, auszubauen. Man kann sagen, daß, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, Staaten, welche eine geringere Volkszahl umfassen als die Verwaltungseinheiten der größeren Staaten, nur in Ausnahmefällen, nämlich nur dann, wenn es sich um eine besonders reiche Bevölkerung handelt, die Möglichkeit der Existenz haben. Die kleineren Staaten, bei denen diese Voraussetzung nicht zutrifft, werden sich aus staatsfinanziellen Gründen in ihrer Verwaltung an einen größeren Nachbarstaat anlehnen müssen. [54] Nationen, die ihrer Volkszahl nach so klein sind, daß sie diesen Bedingungen nicht entsprechen, gibt es aber gar nicht und kann es gar nicht geben, da die Entwicklung einer selbständigen Kultursprache immerhin den Bestand von mehreren hunderttausend Volksgenossen voraussetzt.

Wenn Naumann, Renner und ihre zahlreichen Jünger den kleinen Völkern Europas den Anschluß an ein unter deutscher Führung stehendes Mitteleuropa empfohlen haben, so haben sie das Wesen der Schutzzollpolitik vollkommen mißverstanden. Aus politischen oder militärischen Gründen könnte den kleinen Völkern des Ostens und Südostens von Europa ein Bündnis mit dem deutschen Volke, das allen Beteiligten die Unabhängigkeit sichert, erwünscht sein. Keinesfalls konnte ihnen aber ein Bund willkommen erscheinen, der ausschließlich deutschen Interessen dienstbar wäre. Einen solchen aber haben die Verfechter Mitteleuropas allein im Auge gehabt. Denn sie wollten ein Bündnis, das Deutschland militärisch in die Lage setzen sollte, mit den großen Weltmächten im Wettkampf um den Kolonialbesitz zu bestehen, um einen Kolonialbesitz, dessen Vorteile allein dem deutschen Volke hätten zugute kommen können. Sie dachten sich ferner das mitteleuropäische Weltreich als Schutzzollgemeinschaft. Das gerade aber wollen alle diese kleineren Völker nicht. Sie wollen nicht lediglich Absatzgebiet für die Industrieprodukte der deutschen Industrie sein, sie wollen nicht darauf verzichten, jene Industriezweige bei sich zu Hause zu entwickeln, die dort ihren natürlichen Standort haben, und jene Waren, die außerhalb Deutschlands

[68]

billiger erzeugt werden, von dorther zu beziehen. Man dachte, für die vorwiegend agrarischen Staaten, auf deren Einverleibung in das mitteleuropäische Reich man es abgesehen hatte, müßte schon die Erhöhung des Preises der Bodenprodukte, die als Folge der Aufnahme in das mitteleuropäische Zollgebiet unfehlbar hätte eintreten müssen, anziehend wirken. Man hat jedoch übersehen, daß dieses Argument nur bei nationalökonomisch Ungeschulten Eindruck machen konnte. Es ist nicht zu leugnen, daß etwa Rumänien bei Aufnahme in eine deutsch-österreichisch-ungarische Zollgemeinschaft eine Steigerung der Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse erfahren hätte. Man übersieht jedoch, daß anderseits die Industrieprodukte im Preise gestiegen wären, da dann Rumänien die höheren deutschen Inlandspreise hätte bezahlen müssen, während es, wenn es nicht in Zollgemeinschaft mit Deutschland ist, die billigeren Weltmarktpreise zahlt. Das, was es durch die Aufnahme in die deutsche Zollgemeinschaft verloren hätte, wäre größer gewesen als das, was es dadurch gewonnen hätte. Denn gegenwärtig ist Rumänien ein relativ untervölkertes, zumindest noch kein übervölkertes Land; das heißt die große Menge seiner Ausfuhrgüter kann gegenwärtig und in absehbarer Zeit ohne jedes dumping exportiert werden. Rumänien hat in der Urproduktion keine, in der Industrie nur wenige Betriebe, deren natürlicher Standort nicht gegeben wäre. Anders Deutschland, das gerade in den wichtigsten Produktionszweigen unter ungünstigeren Bedingungen arbeitet als das Ausland.

Die imperialistische Denkungsart, die mit dem Anspruch auftritt, der modernen Wirtschaftsentwicklung zu ihrem Rechte zu verhelfen, ist in Wahrheit in natural wirtschaftlichen und feudalen Vorstellungen befangen. Im Zeitalter der Weltwirtschaft ist es geradezu widersinnig, die Forderung nach Schaffung großer, autarker Wirtschaftsgebiete als wirtschaftliche Forderung hinzustellen. Es ist im Frieden gleichgültig, ob man Nahrungsmittel und Rohstoffe im Inlande selbst erzeugt oder ob man sie, falls dies wirtschaftlicher erscheint, aus dem Ausland im Tausche für andere Produkte, die man erzeugt hat, bezieht. Wenn ein mittelalterlicher Fürst einen Landstrich erwarb, in dem Erzbergbau getrieben wurde, so hatte er ein Recht, dieses Bergwerk nun sein zu nennen. Aber wenn ein moderner Staat sich einen Bergwerksbesitz einverleibt, sind diese Bergwerke darum noch nicht die seiner Bürger geworden. Sie müssen ihre Produkte geradeso durch Hingabe von Produkten ihrer Arbeit kaufen, wie sie es bisher getan haben, und der Umstand, daß in der politischen Ordnung Veränderungen vorgegangen sind, bleibt ohne Bedeutung für das Eigentum an ihnen. Wenn der Fürst sich ob der Einverleibung einer neuen Provinz freut, wenn er auf die Größe seines Reiches stolz ist, so ist dies ohneweiters zu verstehen. Wenn aber der Spießbürger darob vergnügt ist, daß „unser" Reich größer [69] geworden, daß „wir" eine neue Provinz erworben haben, so ist das eine Freude, die nicht aus der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse entspringt.

Wirtschaftspolitisch entspricht der Imperialismus keineswegs der Stufe der weltwirtschaftlichen Entwicklung, die 1914 erreicht war. Wenn die Hunnen mordend und sengend durch Europa zogen, haben sie durch die Zerstörung, die sie hinter sich ließen, ihre Feinde geschädigt, nicht auch sich selbst. Doch wenn die deutschen Truppen Kohlengruben und Fabriken zerstört haben, dann haben sie auch des deutschen Konsumenten Versorgung verschlechtert. Daß Kohlen und verschiedene Fabrikate in Hinkunft nur in geringerer Menge oder nur mit höheren Kosten werden erzeugt werden können, wird jeder spüren, der in den weltwirtschaftlichen Verkehr verflochten ist.

Hat man das aber erkannt, dann kann man zugunsten nationaler Ausdehnungspolitik nur noch das militärische Argument ins Treffen führen. Die Nation müsse zahlreich sein, um viele Soldaten stellen zu können. Soldaten braucht man aber, um Land zu erwerben, auf dem man Soldaten aufziehen kann. Das ist der Kreis, aus dem die imperialistische Denkungsart nicht herauskommt.

d) Der Pazifismus.

Schwärmer und Menschenfreunde haben seit altersher für die Idee des allgemeinen und ewigen Friedens geworben. Aus dem Elend und Jammer, den die Kriege über einzelne und Völker gebracht haben, erwuchs die tiefe Sehnsucht nach dem Frieden, der nie wieder gestört werden soll. Utopisten malen die Vorteile des kriegslosen Zustandes in den prächtigsten Farben und fordern die Staaten auf, sich zu einem dauernden Friedensbund, der die ganze Welt umfassen soll, zu vereinen. Sie appellieren an den Edelmut der Kaiser und Könige, sie berufen sich auf göttliche Gebote und versprechen dem, der ihre Ideale verwirklichen wollte, unsterblichen Ruhm, der selbst den der großen Kriegshelden bei weitem übertreffen werde.

Die Geschichte ist über diese Friedensvorschläge zur Tagesordnung übergegangen. Sie sind nie etwas anderes gewesen als literarische Kuriositäten, die niemand ernst genommen hat. Die Gewaltigen haben nie daran gedacht, auf ihre Macht zu verzichten; nie ist ihnen eingefallen, ihre Interessen den Interessen der Menschheit unterzuordnen, wie es die naiven Schwärmer verlangten.

Ganz anders als dieser von allgemeinen Erwägungen der Menschenfreundlichkeit und der Scheu vor dem Blutvergießen getragene ältere Pazifismus ist der Pazifismus der naturrechtlichen Aufklärungsphilosophie, des wirtschaftlichen Liberalismus und der politischen Demokratie, der seit dem 18. Jahrhundert zur Ausbildung [69] gelangte, zu beurteilen. Er entspringt nicht einer Gesinnung, die vom einzelnen und vom Staate fordert, daß sie auf die Verfolgung ihrer irdischen Interessen aus Ruhmsucht oder aus Hoffnung auf Lohn im Jenseits verzichten sollen; er steht auch nicht vereinzelt als ein Postulat da, das mit anderen sittlichen Forderungen keine organische Verbindung hat. Der Pazifismus ergibt sich hier vielmehr mit logischer Notwendigkeit aus dem gesamten System des gesellschaftlichen Lebens. Wer vom utilitaristischen Standpunkte die Herrschaft der einen über die anderen verwirft und volles Selbstbestimmungsrecht für Individuen und Völker fordert, hat damit auch den Krieg verworfen. Wer die Harmonie der richtig verstandenen Interessen aller Schichten innerhalb des Volkes und aller Völker untereinander zur Grundlage seiner Weltanschauung gemacht hat, kann keinen vernünftigen Grund zum Kriegführen mehr finden. Wem schon Schutzzölle und Gewerbeverbote als allen Teilen schädliche Maßnahmen erscheinen, kann noch viel weniger verstehen, wie man den Krieg als etwas anderes ansehen kann denn als Zerstörer und Vernichter, kurz als ein Übel, das alle trifft, den Sieger sowohl als den Besiegten. Der liberale Pazifismus fordert den Frieden, weil er den Krieg für unnütz hält. Das ist eine Anschauung, die nur vom Standpunkte der Freihandelslehre, wie sie die klassische Theorie von Hume, Smith und Ricardo ausgebildet hat, verständlich ist. Wer einen dauernden Frieden vorbereiten will, der muß, wie Bentham, Freihändler mid Demokrat sein, mit Entschiedenheit dafür eintreten, daß alle politische Beherrschung von Kolonien durch ein Mutterland aufgehoben wird und für volle Freizügigkeit der Personen und Güter kämpfen. [55] Denn das, und keine anderen, sind die Voraussetzungen eines ewigen Friedens. Will man Frieden machen, dann muß man die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Völkern aus der Welt schaffen. Die Kraft dazu haben nur die Gedanken des Liberalismus und der Demokratie. [56]

Sobald man aber einmal diesen Standpunkt verlassen hat, kann man gegen Krieg und Kampf nichts Stichhältiges vorbringen. Wenn man der Anschauung ist, daß es zwischen den einzelnen Schieb der Gesellschaft unversöhnliche Klassengegensätze gibt, die nicht anders als durch den gewaltsamen Sieg der einen Klasse über die andere entschieden werden können, wenn man glaubt, daß zwischen den einzelnen Völkern kein anderer Verkehr möglich sei als solcher, [71] bei dem der eine gewinnt, was der andere verliert, dann freilich muß man zugestehen, daß Revolutionen im Inneren und Kriege im Äußeren nicht zu vermeiden seien. Der marxistische Sozialist verwirft den äußeren Krieg, weil er nicht im fremden Volke, sondern in den besitzenden Klassen des eigenen Volkes den Feind sieht. Der nationalistische Imperialist verwirft die Revolution, weil er von der Interessensolidarität aller Schichten des Volkes im Kampfe gegen den auswärtigen Feind überzeugt ist. Beide sind keine grundsätzlichen Gegner des bewaffneten Eingreifens, keine grundsätzlichen Gegner des Blutvergießens wie die Liberalen, die nur den Verteidigungskrieg billigen. Nichts steht daher den marxistischen Sozialisten so schlecht an, als sich über den Krieg, nichts den Chauvinisten so schlecht an, als sich über die Revolution aus philantropischen Erwägungen wegen des dabei unschuldig vergossenen Blutes zu ereifern. Quis tulerit Gracchos de seditione querentes ?

Der Liberalismus verwirft den Angriffskrieg nicht aus philantropischen Erwägungen heraus, sondern vom Nützlichkeitsstandpunkt. Er lehnt den Angriffskrieg ab, weil er den Sieg für schädlich erachtet, und will keine Eroberungen, weil er in ihnen ein untaugliches Mittel zur Erreichung der von ihm angestrebten letzten Zwecke erblickt. Nicht durch Krieg und Sieg, sondern nur durch Arbeit kann ein Volk die Vorbedingungen für das Wohlergehen, der Volksgenossen schaffen. Eroberervölker gehen endlich zugrunde, sei es, daß sie durch Stärkere vernichtet werden, sei es, daß sie als Herrenklasse von den Unterjochten kulturell überwunden werden. Einmal schon haben die Germanen die Welt erobert und sind schließlich doch unterlegen. Ostgoten und Vandalen sind kämpfend untergegangen; Westgoten, Franken und Longobarden, Normannen und Waräger blieben Sieger in der Schlacht, aber sie sind von den Unterworfenen kulturell besiegt worden; sie, die Sieger, haben die Sprache der Besiegten angenommen, sind in ihnen aufgegangen. Das eine oder das andere ist das Schicksal aller Herrenvölker. Die Grundherren vergehen, die Rauem bestehen; wie es der Chor in der „Braut von Messina" ausdrückt : „Die fremden Eroberer kommen und gehen, wir gehorchen, aber wir bleiben stehen." Das Schwert erweist sich auf die Dauer nicht als das geeignetste Mittel, um einem Volk Ausbreitung zu verschaffen. Das ist die „Ohnmacht des Sieges", von der Hegel Spricht. [57] [58]

[72]

Der philantropische Pazifismus will den Krieg beseitigen, ohne an den Kriegsursachen zu rütteln.

Man hat vorgeschlagen, die zwischen den Völkern entstehenden Streitigkeiten durch Schiedsgerichte austragen zu lassen. So wie ini Verkehre zwischen den einzelnen die Selbsthilfe nicht mehr zugelassen wird und der Verletzte, von besonderen Ausnahmefällen abgesehen, nur das Recht hat, die Gerichte anzurufen, so müsse es auch im Verkehre zwischen den Völkern werden. Die Gewalt müsse auch hier dem Rechte weichen. Es sei nicht schwerer, die Streitigkeiten der Völker friedlich auszutragen als die der einzelnen Volksgenossen. Die Gegner der Schiedsgerichtsbarkeit in Völkerstreitigkeiten wären nicht anders zu beurteilen als die mittelalterlichen Feudalherren und Raufbolde, die sich auch, soviel sie konnten, gegen die staatliche Gerichtsbarkeit gewehrt hatten. Man müsse solche Widerstände eben besiegen. Wäre dies schon vor Jahren gelungen, dann hätte sich der Weltkrieg mit allen seinen traurigen Folgen vermeiden lassen. Andere Befürworter der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit gehen mit ihren Forderungen weniger weit. Sie wünschen die obligatorische Einführung der Schiedsgerichtsbarkeit, wenigstens für die nächste Zeit, nicht für alle Streitigkeiten, sondern nur für jene, die weder die Ehre noch die Existenzbedingungen der Völker berühren, also nur für die kleineren Fälle, während für die anderen die alte Methode der Entscheidung auf dem Schlachtfelde noch beibehalten werden könnte.

Es ist eine Täuschung, wenn man annimmt, daß man damit die Zahl der Kriege herabmindern würde. Schon seit vielen [73] Jahrzehnten sind Kriege nur noch aus gewichtigen Ursachen möglich gewesen. Das bedarf weder einer Erhärtung durch Anführung geschichtlicher Beispiele noch auch erst einer langen Erklärung. Die Fürstenstaaten führten Krieg, so oft es das Interesse der auf Machterweiterung ausgehenden Fürsten erheischte. Der Krieg war im Kalkül des Fürsten und seiner Räte ein Mittel genau so wie jedes andere; frei von jeder gefühlsmäßigen Rücksichtnahme auf Menschenleben, die dabei aufs Spiel gesetzt wurden, erwog man kühl die Vor- und Nachteile militärischen Eingreifens, wie ein Schachspieler seine Züge bedenkt. Der Weg der Könige führte buchstäblich über Leichen. Die Kriege wurden nicht etwa, wie man zu sagen pflegt, aus „nichtigen Ursachen" begonnen. Die Kriegsursache war immer dieselbe : die Machtgier der Fürsten. Das, was nach außen hin als Kriegsursache erschien, war nur ein Vorwand. (Man erinnere sich etwa an die schlesischen Kriege Friedrich des Großen.) Das demokratische Zeitalter kennt keinen Kabinettskrieg mehr. Auch die drei europäischen Kaisermächte, die die letzten Vertreter des alten absolutistischen Staatsgedankens waren, hatten schon lange nicht mehr die Macht, solche Kriege anzustiften. Dazu war die demokratische Opposition im Inneren schon viel zu stark. Von dem Augenblick an, da der Sieg des liberalen Staatsgedankens dem Nationalitätsprinzipe zum Durchbruche verhelfen hatte, waren Kriege nur aus nationalen Gründen möglich. Daran konnte weder der Umstand etwas ändern, daß der Liberalismus bald durch das Vordringen des Sozialismus arg gefährdet wurde, noch auch die Tatsache, daß die alten Militärmächte in Mittel- und Osteuropa noch am Ruder blieben. Das ist ein Erfolg des liberalen Gedankens, den nichts mehr auslöschen kann, und das sollte niemand vergessen, der es unternimmt, Liberalismus und Aufklärung zu schmähen.

Ob man nun für minder wichtigere Streitfälle, die aus den Beziehungen der Völker entspringen, das schiedsgerichtliche Verfahren wählt, oder ob die Austragung den Verhandlungen zwischen den Beteiligten überlassen werden soll, ist eine Frage, die uns hier weniger interessiert, so wichtig sie auch sonst sein mag. Nur das muß festgestellt werden, daß alle Schiedsgerichtsverträge, von denen in den letzten Jahren die Rede war, nur zur Austragung solcher minder wichtiger Streitsachen geeignet erscheinen, und daß bisher alle Versuche, das Gebiet der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit weiter auszudehnen, gescheitert sind.

Wenn man behauptet, es ließen sich schlechterdings alle Streitigkeiten zwischen den Völkern durch Schiedsgerichte aus der Welt schaffen, so daß die kriegerische Austragung ganz ausgeschaltet werden kann, so muß darauf hingewiesen werden, daß jede Rechtsprechung einmal den Bestand eines allgemein anerkannten Rechtes und dann [74] die Möglichkeit, die Rechtssätze auf den einzelnen Fall anzuwenden,' voraussetzt. Beides trifft bei jenen Streitigkeiten zwischen den Völkern, von denen wir sprechen, nicht zu. Alle Versuche, ein materielles; Völkerrecht zu schaffen, durch dessen Anwendung die Völkerstreitigkeiten entschieden werden könnten, sind fehlgeschlagen. Vor hundert Jahren hat die heilige Allianz das Prinzip der Legitimität zum Grundsatze des Völkerrechtes zu erheben versucht. Der damalige Besitzstand der Fürsten sollte geschützt und garantiert werden, sowohl gegen andere Fürsten als auch, dem politischen Gedanken der Zeit entsprechend, gegen die Ansprüche revolutionärer Untertanen. Nach den Ursachen des Mißlingens dieses Versuches muß man nicht erst lange forschen; sie liegen auf der Hand. Und doch scheint man heute nicht übel Lust zu haben, denselben Versuch wieder zu erneuern und im Völkerbunde Wilsons eine neue heilige Allianz zu schaffen. Denn daß es heute nicht Fürsten sind, die sich ihre Besitzstände garantieren, sondern Völker, ist ein Unterschied, der das Wesen der Dinge nicht trifft. Das Entscheidende ist, daß überhaupt Besitzstand gesichert wird. Es ist wieder wie vor hundert Jahren eine Teilung der Welt, die sich anmaßt, eine ewige und letzte zu sein. Sie wird doch nicht dauerhafter sein als jene und nicht weniger als jene der Menschheit Blut und Not bringen.

Als das Legitimitätsprinzip, so wie es die heilige Allianz verstand, bereits erschüttert war, verkündete der Liberalismus ein neues Prinzip für die Regelung der Völkerbeziehungen. Das Nationalitätsprinzip schien das Ende aller Völkerstreitigkeiten zu bedeuten, es sollte die Norm sein, nach der jeder Konflikt friedlich gelöst werden sollte. Der Völkerbund von Versailles nimmt auch diesen Grundsatz auf, freilich nur für die Völker Europas. Doch er übersieht dabei, daß die Anwendung dieses Grundsatzes überall dort, wo die Angehörigen verschiedener Völker durcheinander wohnen, den Völkerstreit erst recht entzündet. Noch schwerer fällt in die Wagschale, daß der Völkerbund die Freizügigkeit der Person nicht anerkennt, daß die Vereinigten Staaten und Australien sich auch weiterhin gegen unerwünschte Einwanderer absperren dürfen. Ein solcher Völkerbund hat so lange Bestand, als er die Macht hat, die Gegner niederzuhalten; sein Ansehen und die Kraft seiner Grundsätze sind auf der Gewalt aufgebaut, der die Benachteiligten sich beugen müssen, die sie aber nie als Recht anerkennen werden. Nie werden Deutsche, Italiener, Tschechen, Japaner, Chinesen u. a. es als gerecht ansehen können, daß die unermeßlichen Bodenschätze Nordamerikas, Aus: liens und Ostindiens ausschließliches Eigentum der angelsächsischen Nation bleiben sollen, und daß die Franzosen Millionen Quadratkilometer des besten Landes wie einen Privatpark einhegen dürfen.

Die sozialistische Doktrin erhofft von der Verwirklichung des Sozialismus die Begründung des ewigen Friedens. „Jene Wanderungen [75] der einzelnen," meint Otto Bauer, „die von den blind waltenden Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz beherrscht, der Wirksamkeit bewußter Satzungen fast völlig entzogen sind, hören dann auf. An ihre Stelle tritt die bewußte Regelung der Wanderungen durch die sozialistischen Gemeinwesen. Sie werden Einwanderer heranziehen, wo die größere Zahl der Arbeitenden die Ergiebigkeit der Arbeit vermehrt; sie werden einen Teil der Bevölkerung zur Auswanderung veranlassen, wo der Boden wachsender Menschenzahl sinkenden Ertrag spendet. Indem so die Aus- und Einwanderung von der Gesellschaft bewußt geregelt wird, fällt erst in die Hände jeder Nation die Macht über ihre Sprachgrenzen. So werden dann nicht mehr soziale Wanderungen gegen den Willen der Nation das Nationalitätsprinzip immer wieder durchbrechen können." [59]

Wir können uns die Verwirklichung des Sozialismus in zweifacher Weise vorstellen. Zunächst in höchster Vollendung als sozialistischen Weltstaat, als einheitlichen Weltsozialismus. In einem solchen wird das xAmt, dem die oberste Leitung der Produktion obliegen wird, die Standorte einer jeden Produktion bestimmen und damit auch die Arbeiterwanderungen regeln, mithin dieselben Aufgaben erfüllen, die in der — bisher auch nicht annähernd durchgeführten — freien Wirtschaft dem Wettbewerbe der Produzenten zukommen. Dieses Amt wird die Arbeiter aus den Gebieten mit ungünstigeren Produktionsbedingungen in die mit günstigeren Bedingungen verpflanzen. Damit aber werden auch im sozialistischen Weltgemeinwesen die nationalen Probleme auftauchen. Wenn die Spinnerei und die Eisenerzeugung in Deutschland eingeschränkt und in den Vereinigten Staaten erweitert werden soll, dann wird man deutsche Arbeiter in das angelsächsische Siedlungsgebiet versetzen müssen. Solche Umsiedlungen sind es gerade, die, wie Bauer sagt, gegen den Willen der Nation das Nationalitätsprinzip immer wieder durchbrechen; aber sie durchbrechen es nicht, wie er meint, nur in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern gerade so auch in der sozialistischen. Daß sie in der liberalen Wirtschaftsverfassung von den „blind waltenden" Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz beherrscht sind, im sozialistischen Gemeinwesen aber von der Gesellschaft „bewußt" geregelt werden, ist nebensächlich. Denn wenn die bewußte Regelung der Arbeiterwanderungen von den rationellen Gesichtspunkten der reinen Wirtschaftlichkeit geleitet ist — was ja auch Bauer und mit ihm jeder Marxist als selbstverständlich voraussetzt — dann muß sie zu dem gleichen Ergebnisse führen, zu dem auch die freie Konkurrenz hinleitet, nämlich dazu, daß die Arbeiter ohne Rücksicht auf geschichtlich überkommene nationale Siedlungsverhältnisse dorthin verpflanzt werden, wo man ihrer zur Ausnützung [76] der günstigsten Produktionsbedingungen bedarf. Darin aber liegt die Wurzel aller nationalen Reibungen. Anzunehmen, daß die Arbeiterwanderungen, die über die Grenzen der nationalen Siedlungsgebiete hinausführen, im sozialistischen Gemeinwesen nicht zu den gleichen nationalen Konflikten führen sollten wie im freien, wäre doch wohl recht utopisch gedacht. Freilich, wenn man sich das sozialistische Gemeinwesen als nicht demokratisches denken will, dann ist eine solche Annahme zulässig, denn, wie wir gesehen haben, ergeben sich alle nationalen Reibungen erst in der Demokratie. Der Weltsozialismus, als ein Weltimperium allgemeiner Völkerknechtschaft gedacht, würde freilich auch den nationalen Frieden bringen.

Die Verwirklichung des Sozialismus ist aber auch anders möglich als durch den Weltstaat. Wir können mis vorstellen, daß eine Reihe selbständiger sozialistischer Staatswesen — etwa nationale Einheitsstaaten — nebeneinander bestehen, ohne daß eine gemeinschaftliche Leitung der Weltproduktion Platz greift. Die einzelnen Gemeinwesen, die dann Besitzer der auf ihren Gebieten befindlichen natürlichen mid produzierten Produktionsmittel sind, stehen untereinander lediglich in einem Güteraustauschverkehr. In einem so gearteten Sozialismus werden die nationalen Gegensätze gegenüber der Lage in der liberalen Wirtschaftsverfassung nicht nur nicht gemildert, sondern wesentlich verschärft sein. Das Wanderproblem würde von seiner Völkerkonflikte erzeugenden Eigenschaft nichts verlieren. Die einzelnen Staaten würden sich vielleicht gegen die Einwanderung nicht ganz abschließen, doch sie würden den Einwanderern die Seßhaftmachung und Erlangung voller Anteile am Ertrage der nationalen Produktion verweigern. Es würde sich eine Art internationaler Sachsengängerei herausbilden. Da jedes einzelne dieser sozialistischen Gemeinwesen über den Ertrag der auf seinem Gebiete befindlichen Naturschätze verfügen würde, so daß das Einkommen der Angehörigen der einzelnen Gebiete verschieden groß sein wird — bei den einen Völkern größer, bei den anderen kleiner — würde man schon aus diesem Grunde sich gegen den Zuzug fremdnationaler Elemente zur Wehr setzen. In der liberalen Wirtschaftsordnung ist es den Angehörigen aller Völker möglich, Privateigentum an den Produktionsmitteln der ganzen Welt zu erwerben, so daß z. B. auch Deutsche sich einen Teil der Bodenschätze Indiens zu sichern vermögen und anderseits wieder deutsches Kapital nach Indien wandern kann, um dort die günstigeren Produktionsbedingungen verwerten zu helfen. In einer sozialistischen Gesellschaftsordnung wäre dergleichen nicht möglich, da politische Herrschaft und wirtschaftliche Verwertung hier zusammenfallen müssen. Die europäischen Völker wären vom Besitz in fremden Erdteilen ausgeschlossen. Sie müßten ruhig dulden, daß die unermeßlichen Schätze der überseeischen Gebiete allein den dortigen Einwohnern zugute kommen, und müßten zusehen, wie ein Teil [77] dieser Bodenschätze unverwertet bleibt, weil das Kapital zu ihrer Ausnutzung nicht beschafft werden kann.

Aller Pazifismus, der nicht auf der Grundlage einer liberalem, auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln aufgebauten Wirtschaftsverfassung aufgebaut ist, bleibt stets utopisch. Wer Frieden zwischen den Völkern will, muß den Staat und seinen Einfluß auf das Stärkste einzuschränken suchen.

Es ist kein Zufall, daß die Grundgedanken des modernen Imperialismus sich schon in den Schriften zweier Väter des deutschen Sozialismus und des modernen Sozialismus überhaupt, nämlich in den Werken von Engels und Rodbertus, nachweisen lassen. Der etatistischen Auffassung eines Sozialisten liegt es nahe, zu begreifen, daß sich ein Staat aus geographischen und kommerziellen Notwendigkeiten nicht vom Meer abschließen lassen dürfe. [60] Die Frage des Zuganges zum Meere, die die russische Eroberungspolitik in Europa und in Asien stets geleitet und das Verhalten des deutschen und des österreichischen Staates in Bezug auf Triest und des ungarischen Staates gegenüber den Südslawen beherrscht hat, die zu den berüchtigten „Korridor"-Theorien geführt hat, denen man die deutsche Stadt Danzig zum Opfer bringen will, gibt es für den Liberalen überhaupt nicht. Er vermag nicht zu begreifen, wie man Menschen als „Korridor" verwenden darf, da er von vornherein auf dem Standpunkte steht, daß Menschen und Völker nie als Mittel dienen dürfen, sondern immer Zweck sind, und weil er die Menschen niemals als eine Pertinenz des Bodens, auf dem sie wohnen, auffaßt. Der Freihändler, der auf dem Standpunkte vollkommener Freizügigkeit steht, kann nicht verstehen, was für einen Vorteil es einem Volke bieten könnte, wenn es die Waren, die es ausführt, bis zur Küste über eigenes Staatsgebiet leiten kann. Wenn das alte Rußland des Zarismus einen norwegischen Hafen und dazu einen Korridor quer durch Skandinavien bis zu diesem Hafen erworben hätte, so hätte es dabei die Entfernung der einzelnen Teile des russischen Binnenlandes vom Meere nicht abzukürzen vermocht. Das, was die russische Volkswirtschaft als nachteilig empfindet, ist der Umstand, daß die russischen Produktions Stätten weit vom Meere gelegen sind und daher jene Vorteile im Transportwesen entbehren, die die Leichtigkeit des Gütertransportes zur See gewährt. Doch daran wird durch die Erwerbung eines skandinavischen Hafens nichts geändert; wenn Freihandel besteht, ist es ganz gleichgültig, ob die nächstgelegenen Häfen von russischen oder von anderen Beamten verwaltet werden. Der Imperialismus braucht Häfen, weil er Flottenstützpunkte braucht und weil er Wirtschaftskriege führen will. Nicht, um sie zu benützen, [78] sondern um andere von ihnen auszuschließen, bedarf er ihrer. Die entstaatlichte Wirtschaft des staatsfreien Verkehres kennt diese Argumentation nicht.

Rodbertus und Engels treten beide gegen die politischen Ansprüche der nichtdeutschen Völker Österreichs auf. Daß die Deutschen und Magyaren zu der Zeit, als überhaupt in Europa die großen Monarchien eine historische Notwendigkeit wurden, „alle diese kleinen, verkrüppelnden, ohnmächtigen Natiönchen zu einem großen Reiche zusammenschlugen und sie dadurch befähigten, an einer geschichtlichen Entwicklung teilzunehmen, der sie, sich selbst überlassen, gänzlich fremd geblieben wären", das nicht verstanden zu haben, wirft Engels den Panslawisten vor. Er gibt zu, daß sich dergleichen nicht durchsetzen läßt, „ohne manch sanftes Nationenblümlein gewaltsam zu zerknicken. Aber ohne Gewalt mid ohne eherne Rücksichtslosigkeit wird nichts durchgesetzt in der Geschichte, und hätten Alexander, Cäsar und Napoleon dieselbe Rührungsfähigkeit besessen, an die jetzt der Panslawismus zugunsten seiner verkommenen Klienten appelliert, was wäre da aus der Geschichte geworden! Und sind die Perser, Kelten und christlichen Germanen nicht die Tschechen, Oguliner mid Sereschaner wert? [61] Diese Sätze könnten ganz gut von einem alldeutschen Schriftsteller oder mutatis mutandis von einem tschechischen oder polnischen Chauvinisten herrühren. Engels setzt dann fort : „Jetzt aber ist die politische Zentralisation infolge der gewaltigen Fortschritte der Industrie, des Handels, der Kommunikationen noch ein viel dringenderes Bedürfnis geworden, als damals im 15. und 16. Jahrhundert. Was sich noch zu zentralisieren hat, zentralisiert sich. Und jetzt kommen die Panslawisten und verlangen, wir sollen diese halbgermanisierten Slawen ,freilassen', wir sollen eine Zentralisation aufheben, die diesen Slawen durch alle ihre materiellen Interessen aufgedrängt wird?" Das ist doch im Kerne nichts anderes als die Lehre Renners von der Konzentrationstendenz im Staatsleben und von der wirtschaftlichen Notwendigkeit des Nationalitätenstaates. Man sieht, die orthodoxen Marxisten haben Renner Unrecht getan, wenn sie ihn als „Umlerner" verketzert haben.

Der Weg zum ewigen Frieden führt nicht über die Erstarkung der Staats- und Zentralgewalt, wie sie der Sozialismus anstrebt. Je größer der Raum wird, den der Staat im Leben des einzelnen beansprucht, desto wichtiger wird die Politik für ihn, desto mehr Reibungsflächen werden damit in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung geschaffen. Die Beschränkung der Staatsgewalt auf das Mindestmaß, wie sie der Liberalismus anstrebte, würde die Gegensätze, die zwischen verschiedenen Nationen, die in demselben Gebiete nebeneinander [79] wohnen, wesentlich mildern. Die einzig wahre nationale Autonomie ist die Freiheit des einzelnen dem Staate und der Gesellschaft gegenüber. Die „Durchstaatlichung" des Lebens und der Wirtschaft führt mit Notwendigkeit zum Kampfe der Völker.

Volle Freizügigkeit der Personen und Güter, umfassendster Schutz des Eigentums und der Freiheit jedes einzelnen, Beseitigung eines jeden staatlichen Zwanges im Schulwesen, kurz die genaueste und vollständigste Durchführung der Ideen von 1789 sind die Voraussetzungen des friedlichen Zustandes. Wenn dann die Kriege aufhören, „dann ist der Friede aus den inneren Kräften der Wesen hervorgegangen, dann sind die Menschen, und zwar die freien Menschen, friedlich geworden". [62]

Nie sind wir von diesem Ideal weiter entfernt gewesen als heute.

3. Zur Geschichte der deutschen Demokratie.

a) Preußen.

Zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Geschichte der letzten hundert Jahre gehört die Tatsache, daß die modernen politischen Ideen der Freiheit und Selbstverwaltung sich beim deutschen Volke nicht durchzusetzen vermochten, während sie sich sonst nahezu überall auf Erden Geltung zu verschaffen wußten. Überall hat die Demokratie den alten Fürstenstaat zu überwinden gewußt, überall haben die revolutionären Kräfte gesiegt. Nur gerade in Deutschland und in Österreich — und sonst nur noch in Rußland — ist die demokratische Revolution immer wieder unterlegen. Während jedes Volk Europas und Amerikas verfassungs- und wirtschaftspolitisch ein Zeitalter des Liberalismus durchgemacht hat, sind in Deutschland und Österreich dem Liberalismus nur geringe Erfolge beschieden gewesen. Auf politischem Gebiete mußte sich zwar der alte Fürstenstaat, wie er sich am reinsten in der Verfassung Preußens unter Friedrich dem Großen darstellte, zu einigen Zugeständnissen bequemen, aber er war weit davon entfernt, sich in eine parlamentarische Monarchie, etwa von der Art der englischen oder italienischen, umzugestalten; als Ergebnis der großen politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts erscheint hier der Obrigkeitsstaat.

Der demokratische Staat, wie wir ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu überall verwirklicht sehen, beruht auf der Identität der Herrscher und der Beherrschten, des Staates und des Volkes. In ihm ist gegen den Willen der Mehrheit des Volkes keine Regierung möglich. Regierung und Regierte, Staat und Volk sind hier eins. Anders im Obrigkeitsstaate. Hier stehen auf der einen Seite die [80] staatserhaltenden Elemente, die sich selbst und nur sich allein als den Staat betrachten; aus ihnen geht die Regierung hervor und mit ihnen identifiziert sie sich. Auf der anderen Seite steht das Volk, das nur als Objekt, nicht als Subjekt der Regierungshandlungen erscheint, dem Staate gegenüber mitunter bittend, mitunter fordernd auftritt, sich aber niemals mit ihm identifiziert. Seinen beredsten Ausdruck hat dieser Gegensatz in der Sprache des vormaligen österreichischen Parlamentarismus durch die Gegenüberstellung von „Staatsnotwendigkeiten" und „Volksnotwendigkeiten" gefunden. Unter jenen verstand man das, was der Staat, unter diesen, was das Volk von dem finanziellen Aufwände des Budgets für sich anstrebte, und die Abgeordneten waren bemüht, für die Bewilligung von Staatsnotwendigkeiten durch die Bewilligung von Volksnotwendigkeiten — die mitunter Notwendigkeiten der einzelnen politischen Parteien oder gar nur einzelner Abgeordneter waren — belohnt zu werden. Einem englischen oder französischen Politiker wären diese Gegensätze nie begreiflich zu machen gewesen; er hätte es nicht verstehen können, wie denn dem Staate etwas notwendig sein könne, ohne zugleich dem Volke notwendig zu sein, und umgekehrt.

Der Gegensatz zwischen Obrigkeit und Volk, der den Obrigkeitsstaat kennzeichnet, ist nicht ganz identisch mit dem zwischen Fürst und Volk, der den Fürstenstaat charakterisiert; er ist noch weniger identisch mit dem Gegensatze zwischen dem Fürsten und den Ständen im alten Ständestaate. In ihrem Gegensatze zum modernen demokratischen Staate mit seiner grundsätzlichen Einheit von Regierung und Volk tragen jedoch alle diese dualistischen Staatsformen ein gemeinsames Merkmal.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Ursprung und den Grund dieser Eigentümlichkeit der deutschen Geschichte zu erklären. Am leichtesten machten sich das jene Schriftsteller, die den Obrigkeitsstaat als den Ausfluß eines besonders gearteten deutschen Geistes zu verstehen glaubten mid den demokratischen Volksstaat als „undeutsch", als der Seele des Deutschen nicht angemessen zu schildern versuchten. [63] Dann wieder ist der Versuch gemacht worden, die besondere politische Lage Deutschlands zur Erklärung heranzuziehen. Ein Staat, der durch äußere Feinde in solcher Weise gefährdet erscheine wie der deutsche, könne im Inneren keine freiheitliche Verfassung vertragen. „Das Maß von politischer Freiheit, das in den Regierungseinrichtungen gestattet sein kann, muß vernünftigerweise umgekehrt proportional sein dem militärisch-politischen Drucke, der auf den Grenzen des Staates lastet." [64] Daß zwischen der politischen [81] Lage und der Verfassung eines Volkes ein inniger Zusammenhang bestehen müsse, wird man ohneweiters zugeben. Es ist nur auffällig, warum man nur die außenpolitische Lage, nicht aber die innerpolitische zur Erklärung der Verfassungszustände heranzuziehen bemüht war. Im folgenden soll umgekehrt verfahren werden. Es soll versucht werden, jene vielbesprochene Besonderheit des deutschen Verfassungslebens aus innerpolitischen Verhältnissen, nämlich aus der Stellung der Deutschen Preußens und Österreichs in den gemischtsprachigen Gebieten zu erklären.

Als die Untertanen der deutschen Fürsten anfingen, aus ihrem jahrhundertelangen politischen Schlafe zu erwachen, da fanden sie ihr Vaterland in Fetzen zerrissen, als Hausgut verteilt unter eine Reihe von Familien, deren Ohnmacht nach außen hin durch die rücksichtslose Tyrannei, die sie im Inneren übten, nur schlecht bemäntelt wurde. Nur zwei Territorialfürsten waren kräftig genug, um auf eigenen Füßen zu stehen; die Machtmittel, auf die sie sich stützten, beruhten aber nicht auf ihrer deutschen Stellung, sondern auf ihren außerdeutschen Besitzungen. Für Österreich bedarf diese Behauptung keiner weiteren Begründung; die Tatsache wurde nie bestritten. Anders bei Preußen. Man pflegt zu übersehen, daß die Stellung Preußens in Deutschland und in Europa immer zweifelhaft blieb, bis es den Hohenzollern gelang, zuerst durch die Angliederung des damals zur Hälfte slawischen Schlesiens, dann durch die Gewinnung Posens und Westpreußens ein größeres geschlossenes Staatsgebiet zu bilden. Gerade jene Taten Preußens, auf denen seine Machtstellung beruhte, seine Teilnahme an dem Siege über das Napoleonische System, die Niederwerfung der 1848er Revolution und den Krieg von 1866, hätte es ohne die nichtdeutschen Untertanen seiner östlichen Provinzen nicht vollbringen können. Auch der Zuwachs an deutschem Lande, den ihm die mit Hilfe seiner nichtdeutschen Untertanen geführten Kämpfe von 1813 bis 1866 brachten, hat das Schwergewicht des preußischen Staates keineswegs von Osten nach Westen verschoben. Die ungeschmälerte Erhaltung seines ostelbischen Besitzstandes blieb für Preußen nach wie vor eine Existenzfrage.

Das politische Denken des zu öffentlichem Leben langsam heranreifenden deutschen Geistes konnte sich an keinen der auf dem deutschen Boden bestehenden Staaten anlehnen. Was der patriotische Deutsche vor sich sah, waren nur die Trümmer der alten Reichsherrlichkeit und die Schand- und Lotterwirtschaft der deutschen Duodezfürsten. Der Weg zum deutschen Staate konnte nur über die Vernichtung dieser kleinen Despoten führen. Darin stimmten alle [82] überein. Was aber sollte mit den beiden deutschen Mächten geschehen ?

Worin die Schwierigkeit des Problems lag, erkennt man am besten aus dem Vergleiche mit Italien. Auch in Italien waren die Verhältnisse ähnlich wie in Deutschland. Dem modernen Volksstaate standen eine Anzahl von kleinen Fürsten und die Großmacht Österreich entgegen. Mit jenen wären die Italiener schnell fertig geworden, mit dieser wohl — auf sich allein gestellt — nie. Und Österreich hielt nicht nur einen großen Teil Italiens unmittelbar fest, es schützte auch in den übrigen Gebieten die Souveränität der einzelnen Fürsten. Ohne Österreichs Dazwischentreten hätte wohl schon Joachim Murat oder General Pepe den italienischen Volksstaat errichtet. Doch die Italiener mußten so lange warten, bis ihnen das Verhältnis Österreichs zu den anderen Mächten die Möglichkeit bot, ihr Ziel zu erreichen. Französischer und preußischer Hilfe, in gewissem Sinn auch englischer Hilfe, verdankt Italien seine Freiheit und Einheit; um auch Trient zum Königreich Italien zu schlagen, bedurfte es der Hilfe der ganzen Welt. Die Italiener selbst haben alle Schlachten, die sie gegen Österreich geschlagen haben, verloren.

In Deutschland lagen die Verhältnisse anders. Wie sollte es dem deutschen Volke gelingen, Österreich und Preußen, die beiden mächtigen Militärmonarchien, zu bezwingen? Auf fremde Hilfe wie in Italien war nicht zu rechnen. Das Natürlichste wäre es wohl gewesen, wenn der deutsche Nationalgedanke über die Deutschen in Preußen und Österreich so viel Macht erlangt hätte, daß sie zum einigen Deutschland hingestrebt hätten. Wenn die Deutschen, die in der preußischen Armee weitaus in der Mehrzahl waren und in der österreichischen Armee das wichtigste Element darstellten, sich ebenso als Deutsche bewährt hätten wie die Magyaren 1849 als Magyaren, dann wäre aus den Wirren der 1848er Revolution ein deutsches Reich, frei und einig vom Belt bis zur Etsch, hervorgegangen. Die nichtdeutschen Elemente in den Heeren Österreichs und Preußens wären zweifellos nicht imstande gewesen, dem Anstürme des ganzen deutschen Volkes erfolgreich Widerstand zu leisten.

Gegner oder zumindest nur bedingte Anhänger der deutschen Einheitsbestrebungen waren aber auch — und das ist es, was den Ausschlag gab — die Deutschen in Österreich und Preußen. Nicht, wie es die Legende will, wegen Doktrinarismus, Idealismus und professoraler Weltfremdheit haben die Bestrebungen der Männer der Paulskirche Schiffbruch gelitten, sondern an dem Umstand, daß die Mehrheit des deutschen Volkes nur mit halbem Herzen bei der Sache des deutschen Volkes stand, daß sie nicht allein den deutschen Staat, sondern gleichzeitig auch den österreichischen oder den preußischen Staat wollte, von jenen ganz zu schweigen, die sich überhaupt nur als Österreicher oder Preußen und keineswegs als Deutsche fühlten.

[83]

Wir, die wir heute den reinen Preußen und den reinen Österreicher nur in den Gestalten des ostelbischen Konservativen und des alpenländischen Klerikalen zu sehen gewohnt sind, die wir in der Berufung auf Preußen oder Österreich immer nur Vorwände der Feinde des Volksstaates zu erblicken vermögen, können uns nur schwer dazu verstehen, den schwarzgelben und schwarzweißen Patrioten von anno dazumal auch nur den guten Glauben zuzugestehen. Darin liegt nicht nur ein schweres Unrecht gegen Männer, an deren ehrlichem Streben kein Zweifel erlaubt sein sollte; wir versperren uns durch diese durchaus unhistorische Auffassung den Weg zur Erkenntnis wichtigster Vorgänge der deutschen Geschichte.

Jeder Deutsche kennt jene Stelle in Goethes „Dichtung und Wahrheit", in der der alternde Dichter den tiefen Eindruck schildert, den die Gestalt Friedrich des Großen auf seine Zeitgenossen machte. [65] Es ist wahr, auch der Staat der Hohenzollern, den die preußische Hofhistoriographie als die Verwirklichung aller Utopien gepriesen hat, war nicht um ein Haar besser als die anderen deutschen Staaten, und Friedrich Wilhelm I. oder Friedrich IL waren nicht weniger hassenswerte Despoten als irgend ein württembergischer oder hessischer Herr. Aber eines unterschied Brandenburg-Preußen von den anderen deutschen Territorien : Der Staat war nicht lächerlich, seine Politik war zielbewußt, sicher, Macht anstrebend. Man konnte diesen Sta^t hassen, man mochte ihn fürchten, man durfte ihn aber nicht übersehen.

Wenn so die politischen Gedanken selbst der nichtpreußischen Deutschen aus der Enge ihres staatlichen Daseins verstohlen nach Preußen schweiften, wenn selbst die Ausländer nicht ganz abfällig über diesen Staat urteilten, war es da ein Wunder, da.ß die Anfänge' politischen Denkens in den preußischen Landen sich öfter an den preußischen Staat, der bei allen seinen Fehlern doch den Vorteil der realen Existenz für sich hatte, klammerten als an das Traumgebilde eines deutschen Staates, das durch das Elend des Heiligen Römischen Reiches täglich bloßgestellt wurde? So bildete sich in Preußen ein preußisches Staatsbewußtsein. Und nicht nur die besoldeten Träger des preußischen Staatsapparates und seine Nutznießer dachten und fühlten so, sondern auch Männer von unzweifelhaft demokratischer Gesinnung, wie Waldeck [66] und mit ihm Hunderttausende.

Man pflegt, viel zu eng, die deutsche Frage als den Gegensatz von großdeutsch und kleindeutsch hinzustellen. In Wahrheit war das Problem größer und weiter. Es war zunächst der Gegensatz, der [84] zwischen dem deutschen Nationalgefühl auf der einen und dem österreichischen und dem preußischen Staatsbewußtsein auf der anderen Seite klaffte.

Der deutsche Einheitsstaat hätte nur auf den Trümmern der deutschen Staaten aufgebaut werden können; wer ihn aufbauen wollte, mußte daher zuerst jene Gesinnungen ausrotten, die den preußischen und den österreichischen Staat zu erhalten strebten. Das schien im März 1848 leicht zu gelingen. Damals konnte man erwarten, daß die preußischen und österreichischen Demokraten, vor die Notwendigkeit der Entscheidung gestellt, sich, wenn auch vielleicht nach inneren Kämpfen, auf die Seite des großen und einigen Deutschlands schlagen würden. Doch in beiden deutschen Großstaaten ist die Demokratie unterlegen, ehe man es für möglich gehalten hätte. Kaum wenige Wochen dauerte ihre Herrschaft in Wien und Berlin, dann trat der Obrigkeitsstaat auf den Plan, der die Zügel straff anzog. Woran lag das? Der Umschwung kam doch außerordentlich schnell. Gleich nach dem vollen Siege der Demokratie im März begann das Abbröckeln der Macht des neuen Geistes, und schon nach kurzer Zeit konnte das preußische Heer, von dem erst vor kurzem ans dem Lande geflüchteten Prinzen von Preußen geführt, daran gehen, die Offensive gegen die Revolution zu ergreifen.

Darüber, daß hier die Haltung der östlichen Provinzen Preußens den Ausschlag gab, dürfte allgemeine Übereinstimmung herrschen. [67] Wenn man dies festhält, dann wird es nicht allzu schwer, sich über die Ursachen des Umschwunges Klarheit zu verschaffen. Dort im Osten waren die Deutschen inmitten einer an Zahl überlegenen fremdsprachigen Bevölkerung in der Minderzahl, dort hatten sie von der Durchführung und Anwendung der demokratischen Grundsätze den Verlust der bis dahin inne gehabten Herrscherstellung zu befürchten. Sie wären zu einer Minderheit geworden, die niemals auf Erlangung der Macht hätte rechnen dürfen ; sie hätten ganz jene politische Rechtlosigkeit auskosten müssen, die das Schicksal fremdnationaler Minderheiten ist.

Die Deutschen der Provinzen Preußen, Posen und Schlesien konnten von der Demokratie nichts Gutes hoffen. Das bestimmte aber die Haltung der Deutschen Preußens überhaupt. Denn die Deutschen der gemischtsprachigen Gebiete hatten eine viel stärkere politische Bedeutung, als ihrer Kopfzahl zukam. Unter diesen Deutschen befanden sich ja nahezu alle Angehörigen der höheren Bevölkerungsschichten jener Provinzen, die Beamten, Lehrer, Kaufleute, Gutsbesitzer und größeren Gewerbetreibenden. Von den oberen Schichten der Deutschen Preußens bildeten daher die Angehörigen der bedrohten Grenzmarken zahlenmäßig einen weit stärkeren Teil als die deutschen [85] Grenzmarkenbewohner überhaupt in der gesamten deutschen Bevölkerung Preußens. Die geschlossene Masse der Grenzmarkenbewohner stieß zu den staatserhaltenden Parteien und gab ihnen dadurch das Übergewicht. Über die nichtdeutschen Untertanen Preußens konnte der deutsche Staatsgedanke keine Macht gewinnen, und seine Deutschen fürchteten die deutsche Demokratie. Das war die Tragik des demokratischen Gedankens m Deutschland.

Hier liegen die Wurzeln der besonderen politischen Geistesverfassung des deutschen Volkes. Die bedrohte Lage der Deutschen in den Grenzmarken war es, die das Ideal der Demokratie in Deutschland schnell verblassen und die Untertanen Preußens nach kurzen Flitterwochen der Revolution reuig zum Militärstaat zurückkehren ließ. Sie wußten nun, was ihnen in der Demokratie bevorstand. Mochten sie auch den Potsdamer Despotismus noch so sehr verabscheuen, sie mußten sich ihm beugen, wenn sie nicht unter die Herrschaft von Polen und Litauern geraten wollten. Fortan waren sie die treue Garde des Obrigkeitsstaates. Mit ihrer Hilfe siegte der preußische Militärstaat über die Freiheitsmänner. Alle politischen Fragen Preußens wurden mm ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der Lage im Osten beurteilt. Sie war es, die die schwächliche Haltung der preußischen Liberalen im Verfassungskonflikte bestimmte. Sie war es, die Preußen, so lange es nur irgendwie ging, die russische Freundschaft suchen ließ und damit das natürliche Bündnis mit England vereitelte.

Es lag dem preußischen Obrigkeitsstaate nahe, die Methoden, die er angewendet hatte, um seine Stellung in Deutschland zu erobern und zu erhalten, nun auch für die Lösung des größeren deutschnationalen Problems anzuwenden. In Deutschland hatten die Waffen der Junker gesiegt. Sie hatten das deutsche Bürgertum niedergeworfen, sie hatten den habsburgischen Einfluß ausgeschaltet und die Hohenzollern hoch über die kleineren und mittleren Fürsten hinausgehoben. Die preußische Militärmacht hielt die nichtdeutschen Elemente in den slawischen Ostprovinzen Preußens, in Nordschleswig und in ElsaßLothringen nieder. Der helle Glanz der in drei Kriegen erfochtenen Siege umstrahlte den preußischen Militarismus. Wie er mit Macht alles zerschmettert hatte, was ihn auf seinem Wege hemmen wollte, so glaubte er auch zur Lösung aller neu auftauchenden Probleme von der Waffengewalt Gebrauch machen zu sollen. Durch die Macht der Waffen sollte die schwer bedrängte Stellung der Habsburger und der Deutschen in der Donaumonarchie erhalten werden, sollten in Ost und West und Übersee Eroberungen gemacht werden.

Den Fehler, der in dieser Rechnung lag, hat die liberale Staatstheorie schon lange aufgedeckt. Die Machttheoretiker und Machtpolitiker hätten sich jener berühmten Ausführungen Humes erinnern sollen, daß alle Herrschaft auf der Macht über die Geister beruht; [86] jede Regierung ist immer nur Minderheit und kann die Mehrheit nur beherrschen, weil diese entweder von dem guten Rechte der Herrscher überzeugt ist oder die Herrschaft im eigenen Interesse für erwünscht hält. [68] Dann hätten sie nicht übersehen können, daß der deutsche Obrigkeitsstaat auch in Deutschland in letzter Linie nicht auf der Macht der Bajonette, sondern eben auf einer bestimmten Disposition des deutschen Geistes beruhte, die durch die nationalen Siedlungsverhältnisse im Osten des deutschen Volkes bedingt war. Sie hätten sich nicht darüber täuschen lassen dürfen, daß die Niederlage des deutschen Liberalismus allein darauf zurückzuführen war, daß die Siedlungsverhältnisse im deutschen Osten so geartet waren, daß die Herrschaft der Demokratie dort zu einer Verdrängung und Entrechtung der Deutschen geführt hätte, so daß für antidemokratische Strömungen in weiten Kreisen des deutschen Volkes eine Prädisposition geschaffen war. Sie hätten sich sagen müssen, daß auch der deutsche Obrigkeitsstaat, wie jeder andere Staat, nicht auf Siegen der Waffen, sondern auf Siegen des Geistes beruhte, auf Siegen, die die dynastisch -obrigkeitliche Gesinnung über die liberale davongetragen hatte. Man konnte diese Zusammenhänge nicht ärger verkennen als es jene deutsche Schule der Realpolitiker getan hat, die den Einfluß jeder geistigen Strömung im Leben der Völker leugnete und alles auf die „realen Machtverhältnisse" zurückführen wollte. Wenn Bismarck meinte, daß seine Erfolge lediglich auf der Macht der preußischen Armee beruhten, und nur Spott und Hohn für die Ideale der Paulskirche fand, so übersah er, daß auch die Macht des preußischen Staates auf Idealen, wenn auch auf den entgegengesetzten Idealen, gegründet war, und daß sie ohneweiters hätte zusammenbrechen müssen, wenn die liberalen Gedanken in die preußische Armee weiteren Eingang gefunden hätten als dies tatsächlich der FaU war. Jene Kreise, welche ängstlich bemüht waren, den „modernen Geist der Zersetzung" von der Armee fernzuhalten, wußten hier besser Bescheid.

Die Welt konnte der preußische Obrigkeitsstaat nicht besiegen. Ein solcher Sieg hätte von einem hoffnungslos in der Minderheit befindlichen Volke nur durch die Idee, durch die öffentliche Meinung, niemals aber mit den Waffen erzielt werden können. Doch der deutsche Obrigkeitsstaat, von einer grenzenlosen Verachtung der Presse und aller „Literatur" erfüllt, verschmähte die ideellen Kampfmittel. Für die Gegner aber machte der demokratische Gedanke die Propaganda. Erst mitten im Krieg, als es schon zu spät war, erkannte man in Deutschland, welche Macht in dieser Propaganda steckt, und wie vergeblich es ist, mit dem Schwerte gegen den Geist zu kämpfen.

[87]

Wenn das deutsche Volk die Verteilung der Ansiedlungsgebiete auf Erden als ungerecht empfand, so hätte es die öffentliche Meinung der Welt, die die Unbill dieser Verteilung nicht sah, umzustimmen versuchen müssen. Ob dies möglich gewesen wäre, ist eine andere Frage. Es liegt nicht ganz außer aller Wahrscheinlichkeit, daß man. für diesen Kampf Bundesgenossen hätte finden können, mit denen vereint viel, vielleicht auch alles zu erreichen gewesen wäre. Sicher aber ist, daß das Beginnen eines Volkes von 80 Millionen, gegen die ganze übrige Welt anzukämpfen, aussichtslos war, wenn es nicht mit den Rütteln des Geistes geschah. Nicht mit Waffen kann eine Minderheit die Mehrheit bezwingen, sondern nur durch den Geist. Echte Realpolitik ist nur jene, die die Ideen in ihren Dienst zu stellen weiß.

b) Österrreich.

Die teleologische Geschichtsauffassung, der alles geschichtliche Geschehen als Verwirklichung bestimmter, der menschlichen Entwicklung gesetzter Zwecke erscheint, hat dem Donaustaate der Habsburger, der durch vierhundert Jahre seine Stellung unter den europäischen Mächten behauptet hat, mancherlei Aufgaben zugewiesen. Bald sollte er das Schild des Abendlandes gegen die Bedrohung durch den Islam sein, bald der Hort und die Zuflucht des Katholizismus gegen die Ketzer; andere wollten in ihm die Stütze des konservativen Elementes überhaupt sehen, wieder andere den Staat, den seine nationale Buntscheckigkeit berufen habe, den Frieden zwischen den Völkern vorbildlich zu vermitteln. [69] Man sieht, der Aufgaben waren mancherlei und je nach, der Gestaltung der politischen Dinge bevorzugte man bald die eine, bald die andere Konstruktion. Die Geschichte aber geht ihren Gang, ohne auf solche Hirngespinste Rücksicht zu nehmen. Fürsten und Völker kümmern sich recht wenig um das, was ihnen von der Philosophie der Geschichte als ihr Beruf vorgezeichnet wird.

Die kausale Geschichtschreibung sucht nicht nach der „Sendung", nicht nach der „Idee", die Völker und Staaten zu verwirklichen haben; sie sucht den Staatsgedanken, der aus Völkern und Volksteilen Staaten bildet. Der Staatsgedanke, der nahezu allen Staatsbildungen der letzten Jahrhunderte des Mittelalters und der ersten Jahrhunderte der Neuzeit zugrunde lag, war das Fürstentum. Der Staat war um des Königs und seines Hauses Willen da. Das gilt von dem Staate der österreichischen Habsburger von Ferdinand, der als deutscher Kaiser der Erste hieß, bis zu Ferdinand, der als österreichischer Kaiser der Einzige dieses Namens war, geradeso wie von [88] allen anderen Staaten jener Zeit. Darin war der österreichische Staat von den anderen Staaten seiner Zeit nicht verschieden. Die Erblande Leopold I. waren grundsätzlich nichts anderes als der Staat Ludwig XIV. oder Peter des Großen. Aber dann kamen andere Zeiten. Der Fürstenstaat erlag dem Anstürme der Freiheitsbewegung; an seine Stelle trat der freie Volksstaat. Das Nationalitätsprinzip wurde zum Träger des staatlichen Zusammenhaltes, zum Staatsgedanken. Diese Entwicklung konnten nicht alle Staaten ohne Veränderung ihres geographischen Umfanges mitmachen; manche mußten sich Gebietsveränderungen gefallen lassen. Für die Donaumonarchie aber bedeutete das Nationalitätsprinzip die Verneinung der Existenzberechtigung überhaupt.

Weitblickende italienische Patrioten haben schon 1815 das Todesurteil über den Staat des Hauses Habsburg-Lothringen gesprochen; nicht später als 1848 gab es schon bei allen Völkern, die das Reich bildeten, Männer, die sich dieser Meinung anschlössen, und seit mehr als einem Menschenalter konnte man ruhig sagen, daß die ganze denkende Jugend der Monarchie — etwa von einem Teil der in katholischen Schulen herangebildeten Alpendeutschen abgesehen — staatsfeindlich war. Alle Nichtdeutschen im Land erwarteten sehnsüchtig den Tag, der ihnen die Freiheit und den eigenen Volksstaat bringen sollte. Sie strebten fort von dem „zusammengeheirateten" Staate. Manche von ihnen schlössen Kompromisse. Sie sahen mit offenen Augen, wie die Dinge in Europa und in der Welt lagen, sie täuschten sich nicht über die Hindernisse, die der Verwirklichung ihrer Ideale zunächst noch im Wege standen, und waren daher bereit, sich einstweilen zu bescheiden. Sie fanden sich mit dem. vorläufigen Bestände des österreichischen und des ungarischen Staates ab; ja noch mehr, sie machten die Doppelmonarchie zu einem Stein im eigenen Spiele. Die Polen, die Südslawen, die Ukrainer, in gewissem Sinne auch die Tschechen, suchten das Gewicht dieses doch immerhin noch mächtigen Großstaates ihren Zwecken dienstbar zu machen. Oberflächliche Beurteiler haben daraus den Schluß ziehen wollen, daß diese Völker sich mit der Existenz des Staates ausgesöhnt hätten, daß sie ihn selbst wünschten. Nichts war verfehlter als diese Ansicht. Niemals ist der Irredentismus aus dem Programm irgend einer der nichtdeutschen. Parteien ernstlich verschwunden. Man duldete es, daß die offiziellen Kreise die letzten Ziele ihrer nationalen Bestrebungen in Wien nicht offen zeigten; zu Hause aber dachte und sprach man, unter äußerlicher Beachtung der durch die Hochverratsparagraphen des Strafgesetzes gezogenen Schranken, von nichts anderem als von der Befreiung und der Abschüttlung des Joches der fremden Dynastie. Die tschechischen und polnischen Minister, ja selbst die zahlreichen südslawischen Generäle haben nie vergessen, daß sie Söhne unterjochter Völker sind; nie haben sie sich in ihren Hofstellungen als [89] etwas anderes gefühlt denn als Schrittmacher der Freiheitsbewegung, die von diesem Staate fort wollte.

Nur die Deutschen haben dem Staate der Habsburger gegenüber eine andere Stellung eingenommen. Es ist wahr, es hat in Österreich auch einen deutschen Irredentismus gegeben, wenn man auch nicht jedes Hoch, das auf Sonnwendfeiern, Studententagen und Wählerversammlungen auf die Hohenzollern oder auf Bismarck ausgebracht wurde, in diesem Sinne deuten darf. Aber trotzdem die österreichischen Regierungen in den letzten vierzig Jahren des Beistandes des Reiches, von wenigen vorübergehenden Ausnahmen abgesehen, mehr oder weniger deutschfeindlich waren und oft verhältnismäßig harmlose Äußerungen deutschnationaler Gesinnung drakonisch verfolgten, während weit schärfere Reden und Taten der anderen Nationalitäten sich wohlwollender Duldung erfreuten, haben unter den Deutschen die staatserhaltenden Parteien stets die Oberhand behalten. Bis in die letzten Tage des Reiches fühlten sich die Deutschen als die eigentlichen Träger des Staatsgedankens, als die Bürger eines deutschen Staates. War das Verblendung, war es politische Unreife?

Gewiß, ein großer Teil, ja der größte Teil des deutschen Volkes in Österreich war und ist noch heute politisch rückständig. Aber uns kann diese Erklärung nicht genügen. Wir geben uns ja mit der Annahme einer angeborenen politischen Minderwertigkeit des Deutschen nicht zufrieden, wir suchen ja gerade nach den Ursachen, die das deutsche Volk politisch hinter Ruthenen und Serben marschieren lassen. Wir fragen uns, wie es denn kam, daß zwar alle anderen Völker, die den Kaiserstaat bewohnten, die modernen Ideen der Freiheit und nationalen Unabhängigkeit willig aufnahmen, daß aber die Deutschösterreicher sich mit dem Staate der Habsburger so sehr identifizierten, daß sie schließlich für seinen Bestand die ungeheuren Opfer an Gut und Blut, die ihnen der mehr als vierjährige Krieg auferlegte, willig auf sich nahmen.

Deutsche Schriftsteller waren es, die die Lehre vortrugen, der österreichisch-ungarische Doppelstaat sei kein künstliches Gebilde, wie es die vom Nationalitätsprinzip irre geleitete Doktrin verkünde, sondern eine natürliche geographische Einheit. Die Willkür solcher Konstruktionen bedarf wohl erst keiner besonderen Widerlegung. Mit dieser Methode kann man geradeso beweisen, daß Ungarn und Böhmen einen Staat bilden müßten, wie das Gegenteil. Was ist ein geographisches Individuum, was sind „natürliche" Grenzen? Niemand vermag das zu sagen. Mit dieser Methode hat einst Napoleon I. den Anspruch Frankreichs auf Holland begründet, denn die Niederlande seien eine Anschwemmung französischer Flüsse; mit derselben Methode haben vor Erfüllung der italienischen Einheitsbestrebungen österreichische Schriftsteller das Recht Österreichs auf die [90] oberitalienische Tiefebene zu stützen gesucht. [70] Wenn die Deutschen für Habsburgs Staat eingetreten sind, so haben sie es gewiß nicht aus Begeisterung für geographische Doktrinen und für schön abgerundete Landkartenbilder getan.

Eine andere Konstruktion ist die vom Staat als Wirtschaftsgebiet, die vor allem von Renner vertreten wurde, der daneben auch die geographische Staatsauffassung gelten läßt. Für Renner ist der Staat „Wirtschaftsgemeinschaft", „organisiertes Wirtschaftsgebiet". Einheitliche Wirtschaftsgebiete dürfe man nicht zerreißen, weshalb es ein törichtes Beginnen sei, an dem territorialen Bestände der österreichisch-ungarischen Monarchie rütteln zu wollen. [71] Aber die nichtdeutschen Völker Österreichs haben eben dieses einheitliche Wirtschaftsgebiet nicht gemocht, sie haben sich auch durch die Beweise Renners nicht beeinflussen lassen. Warum haben die Deutschen, gerade die Deutschen Österreichs, solche Lehren, die die Notwendigkeit dieses Staates beweisen sollten, geschaffen und zeitweise selbst für richtig gehalten?

Daß die Deutschen immer etwas für den österreichischen Staat übrig hatten, trotzdem dieser Staat beileibe kein deutscher Staat war und, wenn es ihm gerade paßte, die Deutschen geradeso oder noch mehr unterdrückte als seine anderen Völker, das müssen wir aus demselben Prinzip heraus zu verstehen suchen, das uns die Entwicklung des preußisch-deutschen politischen Geistes des Konservatismus und des Militarismus erklärt.

Das politische Denken der Deutschen in Österreich krankte an der doppelten Einstellung auf den deutschen und auf den österreichischen Staat. Wohl wendeten die Deutschen in Österreich, seit sie aus dem jahrhundertelangen Schlaf, in den sie die Gegenreformation versenkt hatte, erwacht waren und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schüchtern anfingen, sich mit öffentlichen Fragen zu befassen, auch dem Reich ihre Gedanken zu, und manch Kühner träumte schon im Vormärz vom deutschen Einheitsstaat. Aber niemals haben sie sich klar gemacht, daß es galt, zwischen deutsch und österreichisch zu wählen, daß man nicht zugleich den deutschen und den österreichischen Staat wollen könne. Sie sahen nicht oder wollten nicht sehen, daß ein freies Deutschland nur möglich sei, wenn Österreich zuerst zerstört wird, und daß Österreich nur bestehen könne, wenn [91] es dem Deutschen Reich einen Teil seiner besten Söhne entzieht. Sie sahen nicht, daß die Ziele, denen sie zustrebten, unvereinbar waren, daß das, was sie wollten, ein Unding war. Sie wurden sich ihrer Halbheit gar nicht bewußt, jener Halbheit, die die ganze jammervolle Unschlüssigkeit ihrer Politik herbeigeführt hat, jener Halbheit, die allem und jedem, was sie unternahmen, den Mißerfolg brachte.

Seit Königgrätz war es in Norddeutschland Mode geworden, an der deutschen Gesinnung der Deutschösterreicher zu zweifeln. Da man deutsch und reichsdeutsch ohneweiters gleichsetzte, und überdies auch noch, getreu der allgemein herrschenden etatistischen Denkungsart, alle Österreicher mit der Politik des Wiener Hofes identifizierte, war es nicht schwer, diese Auffassung zu begründen. Sie war indessen durchaus unrichtig. Nie haben die Deutschen Österreichs ihr Volkstum vergessen, nie, selbst nicht in den ersten Jahren, die auf die Niederlage des böhmischen Feldzuges folgten, ist ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Deutschen jenseits der schwarzgelben Pfähle auch nur für einen Augenblick abhanden gekommen. Sie waren deutsch und wollten es auch bleiben; daß sie gleichzeitig auch Österreicher sein wollten, dürfen ihnen am wenigsten die verargen, die den deutschen Gedanken hinter den preußischen gestellt haben.

Nicht minder unrichtig ist aber die in österreichischen Hofkreisen verbreitete Auffassung, daß die Deutschösterreicher es mit ihrem Österreichertum nicht ernst meinten. Die katholisch orientierten Geschichtsschreiber trauerten wehmütig um den Untergang des alten Österreich, jenes österreichischen Fürstenstaates, der von FerdinandII. bis zum Ausbruche der Märzrevolution der Hort des Katholizismus und der legitimistischen Staatsidee in Europa war. Ihre völlige Verständnislosigkeit für all das, was seit Rousseau gedacht und geschrieben wurde, ihre Abneigung gegen alle politischen Wandlungen, die sich in der Welt seit der französischen Revolution vollzogen hatten, ließ sie glauben, daß jener alte gepriesene Staat der Habsburger noch hätte fortbestehen können, wenn nicht die „Juden und Freimaurer" ihn zu Fall gebracht hätten. Ihr ganzer Groll richtete sich gegen die Deutschen in Österreich und unter ihnen in erster Reihe gegen die deutsch-liberale Partei, denen sie die Schuld am Untergange des alten Reiches beimaßen. Sie sahen, wie der österreichische Staat innerlich immer mehr und mehr zerfiel, und sie schoben die Schuld gerade auf jene, die allein die Träger des österreichischen Staatsgedankens waren, die allein den Staat bejahten, die ihn allein wollten.

Von dem Augenblick an, da die modernen Ideen der Freiheit auch die von Metternich und Sedlnitzky ängstlich behüteten Grenzen Österreichs überschritten hatten, war es um den alten habsburgischen Familienstaat geschehen. Daß er nicht schon 1848 zerfiel, daß er sich [92] noch siebzig Jahre lang erhalten konnte, das war allein das Werk des österreichischen Staatsgedankens der Deutschösterreicher, das war allein das Verdienst der deutschen Freiheitsparteien, eben jener, die vom Hofe mehr gehaßt und verfolgt wurden als alle anderen, mehr gehaßt selbst als jene, die den Bestand des Staates offen bedrohten und bekämpften.

Die materielle Grundlage des österreichischen Staatsgedankens der Deutschösterreicher war die Tatsache der über das ganze Gebiet der habsburgischen Lande zerstreuten deutschen Ansiedlung. Als Ergebnis der jahrhundertelangen Kolonisation waren allenthalben in Österreich und in Ungarn das städtische Bürgertum und die städtische Intelligenz deutsch, der Großgrundbesitz zum großen Teile germanisiert, und überall, auch mitten im fremdsprachigen Lande, gab es deutsche Bauernansiedlungen. Ganz Österreich trug äußerlich ein deutsches Gepräge, überall war deutsche Bildung, deutsches Schrifttum zu finden. Überall im Reiche waren die Deutschen auch unter den Kleinbürgern, unter den Arbeitern und unter den Bauern vertreten, wenn auch in manchen Gegenden, besonders in Galizien, in manchen Teilen Ungarns und in den Küstengebieten, die deutsche Minderheit unter den Angehörigen der niederen Volksschichten recht klein war. Aber i;Ti ganzen Reich (Oberitalien ausgenommen) war der Prozentsatz der Deutschen unter den Gebildeten und unter den Angehörigen der höheren Schichten recht beträchtlich, und alle jene Gebildeten und Großbürger, die nicht selbst deutsch waren und sich nicht selbst zur deutschen Nation bekennen wollten, waren durch ihren Bildungsgang deutsch, sprachen deutsch, lasen deutsch und erschienen zumindest nach außen hin als Deutsche. Jener Teil der österreichischen Bevölkerung, der das Unerträgliche der Tyrannei der Wiener Staatsregierung am stärksten empfand und allein befähigt schien, die Hofkreise in der Herrschaft abzulösen, waren die Großbürger und die Angehörigen der freien Berufe, die Gebildeten, eben jene Schichten, die man als die Bourgeoisie und als die Intellektuellen zu bezeichnen pflegt. Sie aber waren im ganzen Reiche deutsch, zumindest in jenen Ländern, die zum deutschen Bande gehörten. So war zwar Österreich nicht deutsch, aber es trug politisch ein deutsches Antlitz. Jeder Österreicher, der überhaupt irgend ein Interesse an den öffentlichen Dingen nehmen wollte, mußte der deutschen Sprachekundig sein. Für die Angehörigen des tschechischen und des slowenischen Volkes aber führte der Weg zur Bildung und zum sozialen Aufstiege nur über das Deutschtum. Sie hatten ja noch keine eigene Literatur, die es ihnen ermöglicht hätte, auf die Schätze der deutschen Bildung zu verzichten. Wer aufstieg, wurde deutsch, weil eben die Angehörigen der höheren Schichten deutsch waren.

Das sahen die Deutschen und glaubten, daß dies so sein müsse. Sie waren weit entfernt davon, alle Nichtdeutschen zwangsweise [93] germanisieren zu wollen, aber sie dachten, daß sich dies von selbst vollziehen werde. Sie glaubten, jeder Tscheche und Südslawe werde schon im eigenen Interesse danach trachten, ein deutscher Kulturbürger zu werden. Sie glaubten, es werde immer so bleiben, daß für den Slawen der Weg zur Kultur über das Deutschtum führt, mid daß der soziale Aufstieg mit der Eindeutschung verbunden ist. Daran, daß auch diese Völker eine selbständige Kultur und ein selbständiges Schrifttum entwickeln könnten, daß sie aus ihrer Mitte heraus auch ein selbständiges nationales Bürgertum hervorbringen könnten, dachten sie gar nicht. So konnte bei ihnen der naive Glaube entstehen, ganz Österreich fühle und denke politisch so wie sie, alle müßten ihr Ideal in dem großen, mächtigen Einheitsstaat Österreich, der nur deutsches Gepräge tragen konnte, sehen.

Das waren die politischen Gedanken, mit denen die DeutschÖsterreicher in die Revolution gingen. Die Enttäuschung, die sie erfuhren, war jäh und schmerzlich.

Heute, wo wir rückblickend die Entwicklung der letzten sieben Jahrzehnte überschauen, ist es leicht zu sagen, welchen Standpunkt die Deutschen angesichts der neuen Sachlage hätten einnehmen sollen, ist es leicht zu zeigen, wie sie es hätten besser machen können und müssen. Heute kann man klar zeigen, um wieviel besser die deutsche Nation in Österreich gefahren wäre, wenn sie 1848 jenes Programm aufgestellt hätte, das sie dann 1918 notgedrungen zu dem ihren gemacht hat. Der Anteil, der dem deutschen Volke bei einer Zersplitterung Österreichs in selbständige nationale Staaten im Jahre 1848 zugefallen wäre, hätte weit größer sein müssen als der, den es 1918, nach der fürchterlichen Niederlage des Weltkrieges, erhalten hat. Was hielt die Deutschen damals ab, eine reinliche Scheidung zwischen deutsch und nichtdeutsch vorzunehmen? Warum traten sie nicht selbst mit dem Vorschlage hervor, warum lehnten sie ihn ab, als die Slawen ihn vorbrachten?

Es wurde schon erwähnt, daß die Deutschen damals vielfach der Meinung waren, die Germanisierung der Slawen sei nur eine Frage der Zeit, sie werde sich ohne äußeren Zwang durch die Notwendigkeit der Entwicklung vollziehen. Diese Auffassung schon mußte die ganze Stellungnahme zum Nationalitätenproblem beeinflussen. Der entscheidende Grund aber war ein anderer. Der lag darin, daß die Deutschen die in das geschlossene Ansiedlungsgebiet der anderen Völker eingesprengten nationalen Minderheiten nicht aufgeben konnten und wollten. Sie hatten überall im slawischen Gebiete Stammesbrüder wohnen, alle Städte waren dort entweder ganz oder doch zum großen Teile deutsch. Freilich war es nur ein Bruchteil des ganzen deutschen Volkes in Österreich, den sie auf diese Weise aufgegeben hätten. Aber für die Bedeutung des Verlustes, den sie dadurch erlitten hätten, kommt nicht die zahlenmäßige Bedeutung dieser enklavierten [94] Bevölkerung zum ganzen übrigen deutschen Volk in Österreich in Betracht. Diese Enklavierten gehörten zum allergrößten Teile den höheren Schichten der Nation an. Sie aufgeben, bedeutete mitMn einen weit schwereren Verlust als der bloße zahlenmäßige Ausdruck anzeigte. Sie aufgeben, hieß die besten Teile des deutschen Volkes in Österreich aufgeben, hieß die Prager Universität, hieß die für die österreichischen Verhältnisse sehr bedeutenden Kaufleute und Fabriksherren von Prag, Brunn, Pilsen, Budweis, Olmütz, von Triest, Laibach, von Lemberg, Czernowitz, von Pest, Preßburg, Temesvar usf. preisgeben. Sie aufgeben, hieß ein Kolonisationswerk von Jahrhunderten zerstören, hieß deutsche Bauern in allen Teilen des weiten Reiches, deutsche Offiziere und Beamten der Entrechtung ausliefern.

Man begreift nun die Tragik der Lage, in der sich das deutsche Volk in Österreich befand. Mit kühnem, trotzigen Rebellengeiste waren die Deutschen aufgestanden, um die Despotie zu brechen und die Regierung des Staates in die eigene Hand zu nehmen; ein freies großes Österreich wollten sie aus dem Erbgute der Dynastie schaffen. Da mußten sie auf einmal erkennen, daß die große Mehrzahl des Volkes ihr freies deutsches Österreich gar nicht wollte, daß sie selbst lieber Untertanen der Habsburger bleiben wollten als Bürger eines Österreich, das deutsches Gepräge trug. Da entdeckten sie zu ihrem Entsetzen, daß die Anwendung der demokratischen Prinzipien die Auflösung dieses Reiches herbeiführen mußte, dieses Reiches, in dem sie doch geistig die Führenden gewesen waren und die Führenden bleiben wollten. Da mußten sie erkennen, daß die Demokratie die deutschen Bürger der überwiegend von Slawen bewohnten Gebiete politisch entrechten müßte. Sie mußten erkennen, daß die Prager und die Brünner Deutschen wohl imstande waren, den Habsburgern das Zepter zu entreißen und die parlamentarische Regierungsform aufzurichten, daß sie aber dabei nicht nur nichts zu gewinnen, sondern viel zu verlieren hatten. Denn unter dem Despotismus der landesfürstlichen Beamten konnten sie immerhin als Deutsche leben; mochten sie auch Untertanen sein, so waren sie doch Untertanen, die die gleichen Rechte mit den anderen Untertanen genossen. Aber im freien Staate wären sie zu Bürgern zweiter Klasse geworden, denn andere, Fremde, deren Sprache sie nicht verstanden, deren Gedankengang ihnen fremd war, auf deren Politik sie kernen Einfluß zu erlangen vermocht hätten, hätten die Früchte ihres Freiheitskampfes geerntet. Sie erkannten, daß sie gegen die Krone ohne Macht waren, denn die Krone konnte gegen sie immer Völker aufrufen, zu denen ihre Stimme nicht zu dringen vermochte; sie erkannten und mußten es schmerzlich fühlen, als die slawischen Regimenter den Aufruhr der deutschen Bürger und Studenten bezwangen, daß sie keine Aussicht hatten, das Joch, das sie bedrückte, abzuschütteln. Zugleich aber erkannten sie, daß ihnen der Sieg des alten reaktionären Österreich noch immer [95] lieber sein mußte als der Sieg des neuen Freiheitsstaates, denn unter dem Zepter der Habsburger Heß sich für sie als Deutsche noch immer leben, unter der Vorherrschaft der Slawen aber gab es für sie nur politischen Tod.

Kaum ein Volk hat sich je in einer schwierigeren politischen Lage befunden als die Deutschösterreicher nach den ersten Blütetagen der Märzrevolution. Ihr Traum von einem freien deutschen Österreich war jäh zerronnen. Die Auflösung Österreichs in Nationalstaaten konnten sie mit Rücksicht auf ihre im fremden Ansiedlungsgebiete zerstreuten Volksgenossen nicht wollen; sie mußten den Fortbestand des Staates wünschen, und dann blieb ihnen nichts übrig als den Obrigkeitsstaat zu stützen. Die Habsburger aber und ihr Anhang wollten das Bündnis mit den kirchenstürmerischen Liberalen nicht. Sie hätten lieber den Staat zugrunde gehen sehen als ihn mit der deutschen Freiheitspartei geteilt. Sie erkannten nur zu bald, daß die Deutschen in Österreich Stützen des Staates sein müssen, ob sie wollten oder nicht, daß man ohne Gefahr in Österreich ohne, ja selbst gegen die Deutschen regieren könne, weil die Deutschen nicht imstande waren, eine ernstliche Opposition zu bilden, und sie richteten ihre Politik danach ein.

So war den Deutschen Österreichs jede geradlinige Politik unmöglich gemacht. Sie konnten nicht ernstlich auf die Demokratie hinarbeiten, weil das nationaler Selbstmord gewesen wäre; sie konnten nicht auf den österreichischen Staat verzichten, weil er ihnen trotz allem doch noch einen Schutz gegen die äußerste Unterdrückung bot. Aus diesem Zwiespalt erwuchs die zwiespältige deutsche Politik.

Das um und auf dieser Politik wurde die Erhaltung des nationalen Besitzstandes, wie man es nannte, das heißt das Bestreben, die schrittweise vor sich gehende Vernichtung der im fremden Siedlungsgebiete verstreuten deutschen Minderheiten aufzuhalten. Das war von vornherein ein aussichtsloses Beginnen. Denn diese Minderheiten waren dem Untergange geweiht.

Nur die bäuerlichen Ansiedlungen hatten dort, wo die deutschen Ansiedler in geschlossenen Dörfern zusammenlebten, die Möglichkeit, ihre deutsche Art auch weiterhin zu bewahren. Freilich vollzieht sich auch hier unaufhaltsam der Prozeß der Entdeutschung. Schon der wirtschaftliche Verkehr mit den volksfremden Nachbarn, der um so reger wird, je mehr die wirtschaftliche Entwicklung fortschreitet, schleift die Sonderart ab und macht es einer kleinen, vom Hauptstamme des Volkes weit abgesprengten Kolonie schwer, die Muttersprache zu bewahren. Dann kommt die Wirkung der Schule dazu; auch die deutsche Schule im fremden Lande muß die Landessprache in den Unterrichtsplan aufnehmen, soll sie das spätere Fortkommen der Kinder nicht allzu sehr erschweren. Hat aber die Jugend einmal die Landessprache erlernt, so beginnt jener Prozeß der Anpassung [96] an die Umgebung, der schließlich zum vollständigen Aufgehen führt. Den Ausschlag aber gibt der Umstand, daß eine Ortschaft im modernen Wirtschaftsorganismus, in dem beständige Wanderungen vor sich gehen müssen, nicht lange ohne Zuzug von außen oder ohne Abgang von Bevölkerung nach außen hin zu bestehen vermag. Im ersten Fall ist sie der Überflutung durch Angehörige fremder Nationalitäten und in weiterer Folge dem Verluste des ursprünglich nationalen Charakters auch der eingeborenen Bevölkerung ausgesetzt; im zweiten Falle vermag wohl der zurückbleibende restliche Teil der Bevölkerung die ursprüngliche Nationalität zu bewahren, die Abwanderer aber werden national entfremdet. Von den zahlreichen Bauernansiedlungen, die zerstreut und vereinzelt im Habsburger Land entstanden waren, sind zwar nur jene dem Deutschtum entfremdet worden, in denen moderner Industrieoder Bergwerksbetrieb aufkam. In den übrigen blieb Zuzug von auswärts aus. Aber die besseren, tatkräftigeren Elemente ziehen allmählich ab; sie mögen dadurch wirtschaftlich gewinnen, gehen aber ihrer Nationalität verlustig. Die Zurückbleibenden können ihr Volkstum bewahren, leiden aber oft durch Inzucht.

Vollends die deutschen Minderheiten in den im slawischen Lande zerstreuten Städten waren hoffnungslos dem Untergange geweiht. Mit der Beseitigung der Gebundenheit des Vormärz setzte auch in Österreich die Wanderbewegung ein. Binnenwanderungen vollzogen sich in großem Umfange. Tausende zogen vom Land in die Städte und Industrieorte, Und die Zugewanderten waren Slawen, die die Deutschen schnell zahlenmäßig in die Minderheit drängten. [72]

So sahen die Deutschen der Städte ringsum die slawische Flut steigen. Um den alten Kern der Stadt, in dem jahrhundertelang die deutschen Bürger gehaust hatten, legte sich ein Kranz von Vorstädten, in denen man keinen deutschen Laut vernahm. Drinnen in der alten Stadt trug noch alles deutsches Gepräge, deutsch waren die Schulen, deutsch die Sprache der Stadtverwaltung, und die Deutschen hielten noch alle Gemeindeämter in der Hand. Aber von Tag zu Tag schmolz ihre Zahl zusammen. Zuerst verschwanden die deutschen Kleinbürger. Für das Handwerk, auf dessen goldenem Boden einst die deutsche Kolonisation dieser Länder erwachsen war, waren schlechte Zeiten gekommen; unaufhaltsam ging es zurück, da es dem Wettbewerb mit der Fabriksindustrie nicht gewachsen war, eben jener Industrie, die den slawischen Arbeiter heranzog. Der deutsche Handwerksmeister sank ins Proletariat hinab, und seine Kinder, die mit den slawischen Zuzüglern in die Fabrik gingen, [97] wurden durch den Umgang mit ihren neuen Kameraden Slawen. Aber auch die deutschen Patriziergeschlechter wurden immer kleiner an Zahl. Sie verarmten, weil sie sich den neuen Bedingungen nicht anzupassen wußten, oder starben aus. Ersatz kam nicht. Früher waren diejenigen, die von unten hinaufkamen, deutsch geworden. Das war jetzt nicht mehr der Fall. Der reich gewordene Slawe schämte sich nicht mehr seines Volkstums. Wenn die alten deutschen Familien sich den Emporkömmligen verschlossen, bildeten sie eine neue slawische Gesellschaft der oberen Schichten.

Die deutsche Politik in Österreich, die auf die Erhaltung der politischen Machtstellung dieser Minderheiten ausging, wurde auf diese Weise zu einer konservativen, zu einer reaktionären Politik. Jede konservative Politik ist aber von vornherein dem Mißerfolge geweiht; ist es doch ihr Wesen, etwas zu halten, was nicht zu halten ist, sich gegen eine Entwicklung zu stemmen, die man nicht verhindern kann. Was sie bestenfalls erreichen kann, ist Zeitgewinn; aber es fragt sich, ob dies ein Erfolg ist, der den Einsatz lohnt. Jedes Reaktionäre ermangelt der geistigen Selbständigkeit. Wollte man die in Deutschland für alle politischen Gedankengänge übliche Herübernahme von Bildern aus dem militärischen Denken hier anwenden, so könnte man sagen, daß Konservatismus Verteidigung ist und wie jede Verteidigung sich vom Gegner das Gesetz diktieren läßt, während der Angreifer dem Verteidiger das Gesetz des Handelns diktiert.

Das um und auf der deutschen Politik in Österreich war es geworden, verlorene Posten so lange als möglich zu halten. Hier kämpfte man um die Sitze in der Verwaltung einer Gemeinde, dort um eine Handelskammer, dort wieder um eine Sparkasse oder gar nur um eine Beamtenstelle. Kleine Fragen wurden zu großer Bedeutung aufgebauscht. Schlimm genug war es. daß die Deutschen sich dabei immer wieder ins Unrecht setzten, wenn sie z. B. den Slawen die Errichtung von Schulen verweigerten, oder wenn sie mit den Machtmitteln, die ihnen zu Gebote standen, die Bildung von Vereinen oder die Abhaltung von Versammlungen zu erschweren suchten. Aber noch schlimmer war es, daß sie in diesen Kämpfen beständig Niederlagen erlitten, erleiden mußten, und daß sie sich daran gewöhnten, immer auf dem Rückzug, immer die Geschlagenen zu sein. Die Geschichte der deutschen Politik in Österreich ist eine Kette ununterbrochener Mißerfolge.

Verheerend war die Wirkung, die diese Verhältnisse auf den deutschen Geist ausübten. Man gewöhnte sich allmählich, jede Maßregel, jede politische Angelegenheit ausschließlich unter dem Gesichtspunkte ihrer lokalen Bedeutung anzusehen. Jede Reform im öffentlichen Leben, jede wirtschaftliche Maßnahme, jeder Bahnbau, jede Fabriksgründung wurde zu einer Frage des nationalen Besitzstandes. Gewiß, auch die Slawen haben alles und jedes unter diesem Gesichtspunk [98] betrachtet, aber die Wirkung auf den politischen Charakter der Nation war bei ihnen anders. Denn die Deutschen wurden durch diese Betrachtungen zu Reaktionären, zu Feinden jeder Neuerung, zu Gegnern jeder demokratischen Einrichtung. Sie überließen den billigen Ruhm, Vorkämpfer des modernen europäischen Geistes in Österreich zu sein, den Slawen und nahmen es auf sich, immer wieder das Überlebte zu stützen und zu verteidigen. Jeder wirtschaftliche und kulturelle Fortschritt, jede demokratische Reform zumal, die in Österreich zur Durchführung gelangte, mußte gegen die deutschen Minderheiten in den gemischtsprachigen Gebieten wirken. Sie wurde daher von den Deutschen bekämpft, und wenn sie schließlich siegte, so war dieser Sieg eine Niederlage der Deutschen.

Diese Politik nahm den Deutschen auch jede Freiheit gegenüber der Krone. In der jMärzrevolution hatten sich die Deutschen Österreichs gegen die Habsburger und ihren Absolutismus erhoben. Aber die deutschliberale Partei, die die Grundsätze von 1848 auf ihr Banner geschrieben hatte, war nicht imstande, den Kampf gegen die Dynastie und gegen den Hof mit Nachdruck zu führen. Denn sie hatte in den gemischtsprachigen Ländern keinen festen Boden unter den Füßen, sie war dort auf Gnade und Ungnade der Regierung überliefert. Wenn der Hof wollte, konnte er sie vernichten, und er hat es auch getan.

Das Kaisertum der Habsburger war von Ferdinand H. auf den Trümmern der ständischen Freiheiten und des Protestantismus aufgerichtet worden. Es waren nicht nur die böhmischen Stände, gegen die er zu kämpfen hatte, sondern auch die steirischen und österreichischen. Die böhmischen Aufständischen kämpften im Bunde mit Nieder- und Oberösterreichern gegen den Kaiser, mid die Schlacht auf dem Weißen Berge richtete die absolute Herrschaft der Habsburger nicht nur über Böhmen, Mähren und Schlesien, sondern auch über die österreichischen Lande auf. Von Haus aus war das habsburgische Kaisertum weder deutsch noch tschechisch, und als es 1848 neuerlich um seine Existenz kämpfen mußte, da waren ihm tschechische und deutsche Freiheitsbewegungen gleich zuwider. Nach Aufrichtung des Scheinkonstitutionalismus in den Sechzigerjahren hätte der Hof sich viel lieber auf die Slawen als auf die Deutschen gestützt. Jahrelang wurde mit den Slawen gegen die Deutschen regiert, denn nichts war dem Hof verhaßter als das deutsche Element, dem man den Verlust der politischen Stellung im Deutschen Reiche nicht verzeihen konnte. Aber alles Entgegenkonunen des Hofes konnte die Tschechen und die Südslawen nicht beim Obrigkeitsstaat festhalten. Bei allen anderen Völkern Österreichs siegte der demokratische Gedanken über den obrigkeitlichen; mit ihnen war für den autoritären Staat auf die Dauer kein Zusammengehen möglich. Nur bei den Deutschen war es anders. Sie konnten, wider ihren Willen, vom [99] österreichischen Staate nicht loskommen. Wenn der Staat sie rief, waren sie ihm stets zu Diensten. In der Sterbestunde des Reiches standen die Deutschen treu zu den Habsburgern.

Einen Wendepunkt in der Geschichte der Deutschösterreicher bildete der Prager Frieden, der Österreich aus dem politischen Deutschland verdrängte. Xun war es vorbei mit dem naiven Glauben an die Möglichkeit, Deutschtum und Österreichertum seien vereinbar. Nun schien es, als müsse man wählen zwischen deutsch und österreichisch. Aber die Deutschen in Österreich wollten die Notwendigkeit dieser Entscheidung nicht sehen, sie wollten so lange es ging, zugleich Deutsche und Österreicher bleiben.

Der Schmerz, den die Deutschösterreicher 1866 über die Wendung der Dinge empfanden, ging tief; sie haben den Schlag nie verwinden können. So schnell war die Entscheidung über sie hereingebrochen, so rasch hatten sich die Ereignisse auf dem Schlachtfelde abgespielt, daß ihnen kaum bewußt geworden war, um was es sich handelte. Langsam nur erfaßten sie den Sinn des Geschehens. Das deutsche Vaterland hatte sie ausgestoßen. Waren sie denn nicht auch Deutsche? Blieben sie nicht Deutsche, auch wenn für sie kein Platz war in dem neuen Staatswesen, das auf den Trümmern des deutschen Bundes aufgerichtet wurde?

Keiner hat diesem Schmerz besseren Ausdruck verliehen als der greise Grillparzer. Er, der. Ottokar von Horneck das Lob des „wangenroten Jünglings" Österreich in den Mund gelegt hat und Libussa in dunklen Worten den Slawen eine große Zukunft verkünden läßt [73] , er, der ganz ein Österreicher und ganz ein Deutscher war, er findet sein Gleichgewicht wieder in den stolzen Versen:

Als Deutscher ward ich geboren,
Bin ich noch einer?
Nur was ich deutsch geschrieben,
Das nimmt mir keiner.

Aber die Deutschösterreicher mußten sich mit der Tatsache abfinden, daß es kein Deutschland mehr gab, nur ein Großpreußen. Sie existierten fortan nicht mehr für die Deutschen im Reiche; man kümmerte sich um sie nicht mehr, und die schönen Worte, die auf Turn- und Schützenfesten gesprochen wurden, wurden durch die Tatsachen täglich Lügen gestraft. Die großpreußische Politik schickte sich an, jene Wege zu wandeln, auf denen sie schließlich an die Marne gelangte. Für die Deutschen in Österreich hatte sie nichts mehr übrig. Die Verträge, die seit 1879 die österreichisch-ungarische Monarchie mit dem Deutschen Reiche verbanden, wurden von der großpreußischen Obrigkeitsregierung mit dem Kaiser von Österreich und der magyarischen Oligarchie in Ungarn abgeschlossen. Gerade sie nahmen [100] den Deutschen in Österreich die Hoffnung, bei irredentistischen Bestrebungen auf die Hilfe der Deutschen im Reiche zählen zu können.

Die Niederlage, die der großdeutsche Gedanke bei Königgrätz erlitten hatte, wurde zunächst dadurch verhüllt, daß gerade infolge des unglücklichen Ausganges des Krieges die deutschliberale Partei für kurze Zeit einen gewissen, wenn auch beschränkten Einfluß auf die Staatsgeschäfte erlangte. Sie war während eines Dutzend Jahre ministrabel, sie hat während dieser Zeit wiederholt Minister, selbst den Ministerpräsidenten gestellt und manche wichtige Reform gegen den Willen der Krone, des Feudaladels und der Kirche durchgesetzt. Man hat das mit starker Übertreibung die Herrschaft der liberalen Partei in Österreich genannt. In Wahrheit hat die liberale Partei in Österreich nie geherrscht; sie konnte auch nicht herrschen. Die Mehrheit des Volkes ist nie ihren Fahnen gefolgt. Wie hätten auch Nichtdeutsche sich dieser deutschen Partei anschließen können? Und unter den Deutschen fand sie immer, auch zur Zeit ihrer Blüte, heftige Gegnerschaft bei den der Geistlichkeit blindlings folgenden Alpenbauern. Ihre Stellung im Abgeordnetenhause beruhte nicht darauf, daß sie die Mehrheit des Volkes hinter sich hatte, sondern auf der Wahlordnung, die in raffinierter Weise das Großbürgertum und die Intelligenz begünstigte, den Massen aber das Wahlrecht vorenthielt. Jede Erweiterung des Wahlrechtes, jede Änderung der Wahlkreiseinteilung oder der Abstimmungsart mußte ihr schädlich werden und wurde es. Sie war eine demokratische Partei, aber sie mußte die folgerichtige Anwendung der demokratischen Grudsätze fürchten. Das war der innere Widerspruch, an dem sie krankte und an dem sie schließlich zugrunde gehen maßte; er ergab sich mit zwingender Notwendigkeit aus jenem ihres Programms, der das Deutschtum mit dem Österreichertum zu vereinen suchte.

Die deutschliberale Partei konnte solange einen gewissen Einfluß auf die Regierung ausüben, als ihr dies von oben erlaubt wurde. Die militärischen und politischen Niederlagen, die der altösterreichische Fürsten Staat immer wieder erlitten hatte, zwangen den Hof vorübergehend zur Nachgiebigkeit. Man brauchte die Liberalen; nicht etwa, weil man ihnen nicht länger widerstehen konnte, berief man sie in die Ministerien, sondern weil man nur von ihnen die Ordnung der Staatsfinanzen und die Durchführung der Wehrreform erwarten konnte. Da man weder aus noch ein wußte, übertrug man ihnen, als der einzigen Partei, die Österreich bejahte, den Wiederaufbau. Man entließ sie in Ungnade, als man ihrer nicht mehr zu bedürfen glaubte. Als sie sich widersetzen wollten, vernichtete man sie.

Damals gab Österreich sich selbst auf. Denn die deutschliberale Partei war die einzige gewesen, che diesen Staat bejaht hatte, die ihn ehrlich wollte und darnach handelte. Die Parteien, auf die sich die späteren Regierungen stützten, wollten Österreich nicht. Die Polen [101] und Tschechen, die Ministerportefeuilles inne hatten, waren nicht selten als Fachminister tüchtig und haben mitunter selbst eine Politik verfolgt, die dem Staate Österreich und seinen Völkern zum Wohle gereicht hat. Aber all ihr Sinnen und Trachten galt immer nur den nationalen Zukunftsplänen ihres eigenen Volkes. Ihr Verhältnis zu Osterreich war immer nur von der Rücksichtnahme auf die Selbständigkeitsbestrebungen ihres Volkes geleitet. Vor ihrem eigenen Gewissen und vor ihren Volksgenossen erschien ihnen ihre Amtsführung nur durch die Erfolge, die sie im nationalen Emanzipationskampf erreichten, wertvoll. Nicht, daß sie ihr Amt gut geführt, wurde ihnen von ihren Landsleuten, auf deren Meinung allein sie als Parlamentarier Gewicht legten, angerechnet, sondern daß sie manches für die nationalen Sonderbestrebungen geleistet hatten.

Neben Tschechen, Polen, vereinzelten Südslawen und klerikalen Deutschen bekleideten die höchsten Stellen der österreichischen Obrigkeitsregierung fast immer Beamte, deren einziges politisches Ziel die Erhaltung der Obrigkeitsregierung und deren einziges politisches Mittel das divide et impera war. Dazwischen taucht hie und da noch ein alter Liberaler auf, meist ein Professor, der vergebens gegen den Strom zu schwimmen versucht, um endlich nach vielen Enttäuschungen wieder vom politischen Schauplatz zu verschwinden.

Der Punkt, in dem die Interessen der Dynastie und der Deutschen sich zu treffen schienen, war die Abneigung gegen die Demokratie. Die Deutschen Österreichs mußten jeden Schritt auf dem Wege zur Demokratisierung fürchten, weil sie dadurch in die Minorität gedrängt und einer rücksichtslosen Willkürherrschaft fremdnationaler Mehrheiten ausgeliefert wurden. Das hat die deutschliberale Partei erkannt, und sie hat sich gegen alle Demokratisierungsbestrebungen energisch gewendet. Der Widerspruch, in den sie dadurch mit ihrem liberalen Programm geriet, hat sie zugrunde gehen lassen. Zweifellos hat sie, vor eine große geschichtliche Entscheidung gestellt, in der sie zwischen der kümmerlichen Fortfristung des österreichischen Staates für einige Jahrzehnte um den Preis der Aufgabe der freiheitlichen Prinzipien ihres Programmes und zwischen der sofortigen Vernichtung dieses Staates unter Preisgabe der deutschen Minderheiten in den fremdsprachigen Gebieten zu wählen hatte, die falsche Wahl getroffen. Man mag sie darum schelten. Doch nichts ist gewisser als das, daß sie in der Lage, in der sie sich befand, nicht frei wählen konnte. Sie konnte einfach nicht die Minderheiten, preisgeben, so wenig dies eine der auf sie folgenden deutschen Parteien in Österreich tun konnte.

Daher ist kein Vorwurf weniger berechtigt als der, daß die Deutschliberalen schlechte Politiker gewesen seien. Dieses Urteil stützt sich gewöhnlich auf ihre Haltung in der Frage der Okkupation Bosniens und der Herzegowina. Daß die deutschliberale Partei sich [102] gegen die imperialistischen Tendenzen des habsburgischen Militarismus ausgesprochen hat, wurde ihr besonders von Bismarck arg verübelt. Heute wird man darüber anders urteilen. Das, was bisher der deutschliberalen Partei zum Vorwurf gemacht wurde, daß sie sich dem Militarismus zu widersetzen versucht hat, und daß sie gleich im Beginne der Expansionspolitik, die schließlich den Untergang des Reiches herbeigeführt hat, in die Opposition ging, wird ihr in Hinkunft zum Lobe, nicht zum Tadel gereichen.

Die deutschliberale Partei hatte jedenfalls einen viel tieferen Einblick in die Existenzbedingungen des österreichischen Staates als alle anderen Mächte und Parteien, die in diesem Lande am Werke waren. Besonders die Dynastie hat das Möglichste getan, um die Zerstörung des Reiches zu beschleunigen. Ihre Politik war weniger von rationalen Erwägungen als vom Ressentiment geleitet. Sie hat die deutschliberale Partei blindwütig auch noch über das Grab hinaus mit ihrem Hasse verfolgt. Weil die Deutschliberalen antidemokratisch geworden waren, glaubte die Dynastie, die immer nur den alten Fürstenstaat wieder herstellen wollte, und der selbst der Obrigkeitsstaat als eine zu moderne Form der Staatsverfassung erschien, sich von Zeit zu Zeit in demokratischen Mätzchen gefallen zu dürfen. So hat sie wiederholt die Erweiterung des Wahlrechtes gegen den Willen der Deutschen durchgesetzt, jedesmal mit dem Erfolge, daß die deutschen Elemente im Abgeordnetenhause zurückgedrängt wurden und die radikal-nationalen Elemente der Nichtdeutschen immer größeren Einfluß gewannen. Dadurch wurde der österreichische Parlamentarismus schließlich gesprengt. Mit der Badenischen Wahlreform des Jahres 1896 trat das Reich in den Zustand einer offenen Krise ein. Das Abgeordnetenhaus wurde zu einer Stätte, in der die Abgeordneten kein anderes Ziel mehr verfolgten als das, die Unmöglichkeit des Fortbestandes dieses Staates zu erweisen. Jedermann, der die Parteiverhältnisse im österreichischen Abgeordnetenhause beobachtete, mußte ohne weiteres erkennen, daß dieser Staat seine Existenz nur noch fortfristete, weil die europäische Diplomatie bemüht war, die Kriegsgefahr so lange als möglich hinauszuschieben. Die innerpolitischen Verhältnisse Österreichs waren schon zwanzig Jahre vor dem Ausgang des Krieges für den Zerfall überreif.

Auch die deutschen Parteien, welche auf die deutschliberale gefolgt sind, haben weit weniger Einsicht in die politischen Verhältnisse gezeigt als die viel geschmähten Deutschliberalen. Die deutschnationalen Fraktionen, die die Deutschliberalen heftig bekämpft haben, haben sich in den Anfängen ihrer Parteitätigkeit, als es für sie noch galt, die Deutschliberalen zu bezwingen, als Demokraten gebärdet. Sehr bald aber haben sie erkennen müssen, daß die Demokratisierung in Osterreich mit Entdeutschung identisch sei, mid aus dieser Erkenntnis heraus sind sie dann ebenso antidemokratisch geworden, [103] wie es einst die Deutschliberalen geworden waren. Die Deutschnationalen haben sich von den Deutschliberalen, wenn man von den volltönenden Worten, mit denen sie die Dürftigkeit ihres Programms vergebens zu umkleiden suchten, und von ihren antisemitischen Tendenzen, die vom Standpunkte der Erhaltung des Deutschtums in Österreich geradezu als selbstmörderisch zu bezeichnen waren, absieht, eigentlich nur in einem einzigen Punkte unterschieden. Sie haben im Linzer Programm die deutschen Ansprüche auf Galizien und Dalmatien aufgegeben und sich damit begnügt, die Länder des ehemaligen Deutschen Bundes für das Deutschtum zu beanspruchen. In der Erhebung dieses Anspruches aber haben sie an demselben Irrtum festgehalten, den die Deutschliberalen begangen haben, nämlich an der Unterschätzung der Entwicklungsfähigkeit und der Zukunftsaussichten der westösterreichischen Slawen. Sie haben sich ebensowenig wie die Deutschliberalen dazu entschlossen, die im fremdsprachigen Lande eingesprengten deutschen Minoritäten preiszugeben, so daß ihre Politik dieselbe Unentschlossenheit in sich trug wie die der alten Deutschliberalen. Sie haben zwar öfter als jene mit irredentistischen Gedanken gespielt, ernstlich aber haben sie immer nichts anderes im Auge gehabt als die Erhaltung des österreichischen Staates unter deutscher Führung und deutscher Vormacht. Sie haben, vor dieselbe Wahl gestellt, vor die die Deutschliberalen gestellt waren, denselben Weg betreten, den jene schon vor ihnen eingeschlagen hatten. Sie haben sich für die Erhaltung des Reiches und gegen die Demokratie entschieden. So wurde ihr Schicksal auch dasselbe wie das der alten Deutschliberalen. Sie wurden von der Dynastie in derselben Weise verwendet wie jene. Die Dynastie konnte sie so schlecht als möglich behandeln und wußte doch, daß sie sich auf sie jederzeit verlassen könne.

Der größte Fehler, den die Deutschliberalen in der Beurteilung ihrer fremdsprachigen Mitbürger begingen, war der, daß sie in allen Nichtdeutschen nichts anderes sahen als Feinde des Fortschrittes, als Bundesgenossen des Hofes, der Kirche und des Feudaladels. Nichts ist leichter zu begreifen, als daß diese Auffassung entstehen konnte. Die nichtdeutschen Völker Österreichs waren den großösterreichischen 'und großdeutschen Bestrebungen gleich abgeneigt; sie hatten früher als alle anderen, früher selbst als die deutschliberale Partei, erkannt, daß Österreichs Lager nur im Parteiverbande der Deutschliberalen zu suchen war. Die deutschliberale Partei zu vernichten ward daher zum wichtigsten und zunächst einzigen Ziele ihrer Politik, und dabei suchten und fanden sie alle jene als Bundesgenossen, die gleich ihnen diese Partei bis auf den Tod bekämpften. So konnte bei den Liberalen der schwere Irrtum entstehen, den sie teuer bezahlt haben. Sie verkannten das demokratische Element im Kampfe der slawischen Nationen gegen das Reich. Sie sahen in den Tschechen [104] nichts anderes als die Bundesgenossen und willigen Diener der Schwarzenberg und Clam-Martinic. Die slawische Bewegung war in ihren Augen kompromittiert durch die Bundesgenossenschaft der Kirche und des Hofes. Wie hätten auch jene Männer, die 1848 auf den Barrikaden gekämpft hatten, vergessen können, daß der Aufstand des deutschen Bürgertums durch slawische Soldaten unterdrückt worden, war?

Aus diesem Verkennen des demokratischen Gehaltes der Nationalitätenbewegungen ergab sich die verkehrte Stellungnahme der deutschliberalen Partei zu den nationalen Problemen. So wie sie an dem endlichen Siege des Lichtes über die Finsternis, der Aufklärung über den Klerikalismus, nicht zweifelte, so zweifelte sie auch nicht an dem endlichen Sieg des fortschrittlichen Deutschtums über die reaktionären Slawenmassen. In jeder Konzession an die slawischen Ansprüche sah sie nichts anderes als Konzessionen an den Klerikalismus und Militarismus. [74]

Daß die Stellung der Deutschen zu den politischen Problemen Österreichs durch den Zwang der Verhältnisse, in die sie die Geschichte gestellt hatten, bestimmt war, zeigt am besten die Entwicklung des Nationalitätenprogramms der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. Die Sozialdemokratie hatte in Österreich zuerst bei den Deutschen Boden gefaßt, und lange Jahre war und blieb sie nichts anderes als eine deutsche Partei mit einigen Mitläufern unter den Intellektuellen der anderen Nationen. In dieser Zeit, da es ihr infolge der Wahlordnung kaum möglich war, eine Rolle im Parlament zu spielen, konnte sie sich als an den nationalen Kämpfen unbeteiligt betrachten. Sie konnte den Standpunkt einnehmen, daß alle nationalen / Zwistigkeiten nichts weiter als eine interne Angelegenheit der Bourgeoisie seien. Zu den Existenzfragen des Deutschtums in Österreich nahm sie keine andere Stellung ein als ihre Bruderpartei im Deutschen Reiche zur Außenpolitik der Junker, der Nationalliberalen oder gar der Alldeutschen. Wenn jene deutschen Parteien, die den nationalen Kampf führten, ihr ähnlich wie den Deutschklerikalen und Christlichsozialen den Vorwurf machten, daß sie das eigene Volk durch ihr Verhalten schädige, so war dies damals durchaus berechtigt, wenn auch der Umfang dieser Schädigung eben wegen der geringen politischen Bedeutung der damaligen Sozialdemokratie auch nur [105] gering war. Je mehr jedoch die Bedeutung der Sozialdemokratie in Österreich wuchs — und sie wuchs vor allem aus dem Grunde, weil unter den österreichischen Verhältnissen die Sozialdemokratie die einzige demokratische Partei unter den Deutschen Österreichs war — destomehr mußte sie in die Verantwortung eintreten, die jeder deutschen Partei in Österreich in den nationalen Fragen oblag. Sie begann deutschnational zu werden, mid da konnte sie ebensowenig wie die beiden älteren deutschen Parteien Österreichs über die Verhältnisse hinwegkommen, die Deutschtum und Demokratie in Österreich in Gegensatz gebracht hatten. So wie die deutschliberale Partei schließlich ihre demokratischen Prinzipien fallen lassen mußte, weil ihre Verfolgung zu einer Schädigung des Deutschtums in Österreich hätte führen müssen, so wie die deutschnationale Partei dasselbe getan hatte, so hätte dies auch die Sozialdemokratie tun müssen, wenn nicht die Geschichte ihr zuvor gekommen wäre und den österreichischen Staat zerschmettert hätte, ehe diese Wendung ganz vollzogen war.

Zunächst versuchte es die Sozialdemokratie, nachdem eine Reihe von programmatischen Erklärungen, die nur akademischen Wert hatten, von den Tatsachen überholt worden waren, mit dem Programm der nationalen Autonomie. [75]

Es ist kein Zweifel, daß dieses Programm auf einer tieferen Erfassung der nationalen Probleme beruht als das Linzer Programm, -an dem doch seinerzeit auch die Blüte des damaligen Deutschösterreich mitgearbeitet hat. In den Jahrzehnten, die zwischen diesen beiden Programmen liegen, war vieles vorgegangen, das auch den Deutschen Österreichs die Augen öffnen mußte. Aber auch da konnten sie nicht aus dem Zwange heraus, in den sie die geschichtliche Notwendigkeit gestellt hatte. Auch das Programm der nationalen Autonomie war im Grunde genommen, wenn es auch von Demokratie und Selbstverwaltung sprach, nichts anderes als die Nationalitätenprogramme der Deutschliberalen und der Deutschnationalen im Kern wirklich gewesen waren: nämlich ein Programm zur Rettung des österreichischen Staates der Habsburg-Lothringschen Herrschaft über die k. k. Erblande. Es mutete um vieles moderner an als die älteren Programme, es war aber im Wesen doch nichts anderes als sie. Man kann nicht einmal sagen, daß es demokratischer gewesen wäre als jene, denn Demokratie ist ein absoluter Begriff, kein Gradbegriff.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Programm der nationalen Autonomie und den älteren deutschen Nationalitätenprogrammen ist der, daß es die Notwendigkeit fühlt, die Existenzberechtigung und Existenznotwendigkeit des österreichischen Staates nicht nur vom Standpunkte der Dynastie und vom Standpunkte der Deutschen, [106] sondern auch von dem der anderen Nationen zu rechtfertigen und zu beweisen. Und es begnügt sich dabei nicht mit jenen Floskeln, die bei den sogenannten schwarzgelben Schriftstellern üblich waren, wie z. B. mit dem Hinweis auf den Ausspruch Palackys, man müßte Österreich erfinden, wenn es nicht schon da wäre. Doch diese Begründung, die besonders von Renner ausgearbeitet wurde, ist ganz und gar unstichhältig. Sie geht davon aus, daß die Erhaltung des österreichisch-ungarischen Zollgebietes als eines besonderen Wirtschaftsgebietes ein Interesse aller Völkerschaften Österreichs sei, und daß jede daher ein Interesse daran habe, eine Ordnung herzustellen, die dem Staate die Lebensfähigkeit erhalte. Daß diese Beweisführung nicht richtig ist, wurde bereits gezeigt, und wenn man die Fehlerhaftigkeit des Programmes der nationalen Autonomie erkannt hat, dann sieht man auch ohne weiters, daß es nichts anderes enthält als den Versuch, einen Ausweg aus den nationalen Kämpfen zu finden, ohne den habsburgischen Staat zu zertrümmern. Nicht ganz mit Unrecht hat man darum die Sozialdemokraten mitunter als k. k. Sozialdemokraten bezeichnet; erschienen sie doch besonders in jenen Augenblicken der kaleidoskopartig wechselnden Parteikonstellation in Österreich, in denen die Deutschnationalen ihre österreichische Gesinnung zeitweilig zurückstellten und sich irredentistisch gebärdeten, als die einzige Staatspartei in Österreich.

Der Zusammenbruch Österreichs hat die Sozialdemokratie davor bewahrt, in dieser Richtung zu weit zu gehen. In den ersten Jahren des Weltkrieges hat besonders Renner mit seinen von Gegnern als Sozialimperialismus bezeichneten Lehren in dieser Hinsicht alles geleistet, was überhaupt möglich war. Daß ihm die Mehrheit seiner Partei auf diesem Wege nicht unbedingt nachgefolgt ist, war nicht ihr eigenes Verdienst, sondern die Folge der wachsenden Unzufriedenheit mit einer Politik, welche der Bevölkerung die schwersten Blutopfer auferlegte und sie zu Hunger und Elend verdammte.

Die deutschen und deutschösterreichischen Sozialdemokraten konnten sich demokratisch geben, weil sie, solange das deutsche Volk die demokratischen Grundsätze nicht voll anzunehmen vermochte, da es von ihrer Anwendung eine Beeinträchtigung der Deutschen in den gemischtsprachigen Gebieten des Ostens befürchten mußte, verantwortungslose Oppositionsparteien waren. Als beim Ausbruch des Weltkrieges auch ihnen ein Teil, vielleicht der größte Teil der Verantwortung für das Schicksal des deutschen Volkes zufiel, haben auch sie sich auf jenen Weg begeben, den vor ihnen in Deutschland und in Österreich die anderen demokratischen Parteien gegangen waren. Sie haben mit Scheidemann im Reiche mid mit Renner in Österreich jene Wandlung vollzogen, die sie von der Demokratie wegführen mußte. Daß die Sozialdemokratie auf diesem Wege nicht weiter geschritten ist, daß sie nicht eine neue Garde des [107] Obrigkeitsstaates geworden ist, die sich im Punkte der Demokratie von den Nationalliberalen im Reiche und von den Deutschnationalen in Österreich kaum unterschieden hätte, lag in dem Umschwung der Verhältnisse.

Nun sind durch die Niederlage im Weltkriege und ihre Folgen für die deutsche Stellung in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung die Umstände beseitigt, die bisher alle deutschen Parteien von der Demokratie abgedrängt haben. Das deutsche Volk kann das Heil heute nur in der Demokratie, im Selbstbestimmmigsrechte der Einzelnen wie der Völker suchen. [76]

 


 

[108]

Krieg und Wirtschaft.

1. Die Wirtschaftslage der Mittelmächte im Kriege.

Die wirtschaftlichen Begleiterscheinungen des Weltkrieges stehen, nach Art und Maß in der Geschichte einzig da; ähnliches hat es rorher nie gegeben und wird es nie wieder geben. Denn diese Konstellation hatte im allgemeinen in gleicher Weise die gegenwärtige Entwicklungsstufe der Arbeitsteilung zur Voraussetzung wie den dermaligen Stand der Kriegstechnik, im besonderen aber sowohl die Gruppierung der kriegführenden Mächte wie die geographischen und produktionstechnischen Eigentümlichkeiten ihrer Gebiete. Nur das Zusammentreffen einer ganzen Anzahl von Voraussetzungen konnte zu jener Lage führen, die man in Deutschland und Österreich-Ungarn recht unzutreffenderweise unter dem Schlagworte „Kriegswirtschaft" zusammengefaßt hat. Es mag dahingestellt sein, ob dieser Krieg der letzte sein wird oder ob auf ihn noch andere folgen werden. Aber ein Krieg, der die eine Partei wirtschaftlich in eine Lage versetzt, die der, in welcher sich die Mittelmächte in diesem Kriege befanden, ähnlich ist, wird nicht wieder geführt werden, nicht nur weil die wirtschaftsgeschichtliche Konstellation von 1914 nicht wiederkehren kann, sondern auch weil die politischen und psychologischen Vorbedingungen, die dem deutschen Volke einen mehrjährigen Krieg unter solchen Umständen noch immer als aussichtsvoll erscheinen ließen, nie wieder bei einem Volke zutreffen können.

Die wirtschaftliche Seite des Weltkrieges kann kaum ärger verkannt werden, als wenn man erklärt, es werde jedenfalls „das Verständnis der meisten dieser Erscheinungen nicht dadurch gefördert, daß man die friedenswirtschaftlichen Verhältnisse von 1913 gut kennt, wohl aber dadurch, daß man jene der Friedenswirtschaften des 14. bis 18. Jahrhunderts oder der Kriegswirtschaft der Napoleonischen Zeit heranzieht". [77] Wie sehr eine solche Auffassung an Äußerlichkeiten [109] haftet und wie wenig sie uns befähigt, das Wesen der Erscheinungen zu begreifen, ersieht man am besten, wenn man sich etwa vorstellt, der Weltkrieg wäre caeteris paribus bei jenem Stande der internationalen Arbeitsteilung geführt worden, der vor hundert Jahren erreicht war. Dann hätte er nicht zum Aushungerungskrieg werden können; gerade darin aber lag sein Wesen. Auch bei einer anderen Gruppierung der kriegführenden Mächte hätte sich ein ganz anderes Bild ergeben.

Die wirtschaftlichen Begleiterscheinungen des Weltkrieges sind nur zu begreifen, wenn man sich zunächst ihre Abhängigkeit von der gegenwärtigen Entwicklung der weltwirtschaftlichen Verknüpfung der einzelnen Volkswirtschaften, in erster Linie der deutschen und der österreichisch-ungarischen und dann auch der Englands vor Augen hält.

Die Wirtschaftsgeschichte ist die Entwicklung der Arbeitsteilung. Im Ausgangspunkt steht die geschlossene Hauswirtschaft der Familie, die sich selbst genügt, die alles, was sie gebraucht oder verbraucht, auch selbst erzeugt. Die einzelnen Haushalte sind, wirtschaftlich betrachtet, nicht differenziert. Jeder dient nur sich selbst. Es ergibt keinen Wirtschaftsverkehr, keinen Austausch von wirtschaftlichen Gütern.

Die Erkenntnis der Tatsache, daß die arbeitsteilig verrichtete Arbeit produktiver ist als die ohne Arbeitsteilung verrichtete, macht der Isoliertheit der einzelnen Wirtschaften ein Ende. Das Verkehrsprinzip, der Tausch, schlingt ein Band um die einzelnen Wirte. Die Wirtschaft wird aus einer Sache der Einzelnen eine gesellschaftliche Angelegenheit. Schritt für Schritt schreitet die Arbeitsteilung fort. Zunächst nur auf einen engen Kreis beschränkt, erweitert sie sich mehr und mehr. Die gewaltigsten Fortschritte hat hier das Zeitalter des Liberalismus gebracht. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte der Großteil der europäischen Landbevölkerung im allgemeinen in wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit. Der Bauer verbrauchte an Lebensmitteln nur das, was er selbst erzeugt hatte; er trug Kleider aus Wolle oder Leinen, für die er selbst den Rohstoff erzeugt hatte, der dann in seinem Haushalt versponnen, verwebt und genäht worden war. Wohn- und Wirtschaftsgebäude hatte er, allenfalls mit Hilfe der Nachbarn, denen durch ähnliche Dienste gedankt wurde, erbaut und hielt sie selbst instand. In den weltabgeschiedenen Seitentälern der Karpathen, in Albanien und in Mazedonien, hat der Weltkrieg noch ähnliche Zustände vorgefunden. Wie wenig aber diese Wirtschaftsverfassung dem entspricht, was im übrigen Europa heute besteht, ist allzu bekannt, als daß es erst genauer ausgeführt werden müßte.

Die Entwicklung der Arbeitsteilung strebt in örtlicher Beziehung der vollen Weltwirtschaft zu, das heißt einem Zustand, in dem jede [110] Produktion an jene Standorte verlegt wird, die für die Produktivität die günstigsten sind, wobei die Vergleiche mit allen Produktionsmöglichkeiten der Erdoberfläche gezogen werden. Immerfort vollziehen sich solche Wanderungen der Produktionen, wenn z. B. die Schafzucht in Mitteleuropa zurückgeht und in Australien wächst, oder wenn die Leinenproduktion Europas durch die Baumwollproduktion Amerikas, Asiens und Afrikas zurückgedrängt wird.

Nicht minder wichtig als die örtliche Arbeitsteilung ist die persönliche. Sie ist zum Teile durch die örtliche Arbeitsteilung bedingt. Wenn die Produktionszweige sich örtlich differenzieren, dann muß auch eine persönliche Differenzierung der Produzenten eintreten. Wenn wir australische Wolle am Leibe tragen und sibirische Butter verzehren, dann ist es natürlich nicht möglich, daß der Erzeuger der Wolle und der Butter eine und dieselbe Person sind, wie dies einst der Fall war. Doch die persönliche Arbeitsteilung entwickelt sich auch unabhängig von der örtlichen, wie jeder Gang durch unsere Städte oder auch nur durch die Säle einer Fabrik lehrt.

Die Abhängigkeit der Kriegführung von der jeweilig erreichten Entwicklungsstufe der örtlichen Arbeitsteilung macht nun auch heute an sich nicht jeden Krieg unmöglich. Einzelne Staaten können sich im Kriegszustand befinden, ohne daß ihre weltwirtschaftlichen Beziehungen davon wesentlich betroffen werden. Ein deutsch-französischer Krieg hätte 1914 ebensowenig zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands führen müssen oder können wie 1870/71. Aber schlechterdings als unmöglich muß heute ein Krieg erscheinen, der von einem oder mehreren Staaten, die vom großen Weltverkehr abgeschnitten sind, mit einem Gegner geführt wird, der freien Verkehr mit der Außenwelt hat.

Diese Entwicklung der örtlichen Arbeitsteilung ist es auch, die lokale Aufstände von vornherein als ganz aussichtslos erscheinen läßt. Die Bocchesen und Herzegovzen konnten noch im Jahre 1882 wochen- und monatelang gegen die österreichische Regierung mit Erfolg rebellieren, ohne daß sie bei ihrer auf der autarken Hausgenossenschaft beruhenden Wirtschaftsverfassung Mangel gelitten haben. In Westfalen oder Schlesien hätte ein Aufstand, der sich nur über ein so kleines Gebiet erstreckte, schon damals nach wenigen Tagen durch die Unterbindung der Zufuhr unterdrückt werden können. Die Städte konnten vor Jahrhunderten gegen das flache Land in Kriegszustand treten; sie können es schon lange nicht mehr. Die Entwicklung der örtlichen Arbeitsteilung, ihr Fortschritt zur Weltwirtschaft wirkt pazifistischer als alle Bemühungen der Friedensfreunde. Schon die Erkenntnis der weltwirtschaftlichen Verknüpfung der materiellen Interessen hätten den deutschen Militaristen die Gefährlichkeit, ja Unmöglichkeit ihrer Bestrebungen zeigen müssen ; sie waren aber in ihren machtpolitischen Ideen so sehr befangen, daß sie das friedliche Wort [111] Weltwirtschaft nie anders auszusprechen vermochten als in Verbindung mit kriegerischen Gedankengängen. Weltpolitik war ihnen synonym mit Kriegspolitik, Flottenbau und Englandhaß. [78]

Daß die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Weltverkehr für den Ausgang eines Feldzuges von entscheidender Bedeutung sein muß, konnte natürlich auch jenen nicht entgehen, die sich im deutschen Reiche seit Jahrzehnten mit der Vorbereitung des Krieges beschäftigt haben. Wenn sie trotzdem nicht zu der Ansicht gelangten, daß Deutschland schon im Hinblicke auf seine wirtschaftliche Lage nicht imstande sein werde, einen großen Krieg mit mehreren Großmächten erfolgreich zu bestehen, so waren dafür zwei Gründe, ein politischer und ein militärischer, entscheidend. Jenen faßte Helfferich in die Worte zusammen : „Gerade bei der Gestaltung der deutschen Grenzen ist die Möglichkeit einer nachhaltigen Unterbindung der Getreidezufuhr so gut wie ausgeschlossen. Wir haben so viele Nachbarn — einmal das große Meer, dann Holland, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Rußland — so daß es gänzlich undenkbar erscheint, da.ß uns alle die' vielen Getreidezufuhrwege zu Wasser und zu Lande auf einmal versperrt werden könnten. Die ganze Welt müßte gegen uns im Bunde sein, und eine solche Möglichkeit überhaupt nur einen Augenblick fest ins Auge fassen, das heißt doch unserer auswärtigen Politik ein grenzenloses Mißtrauen entgegenbringen. [79] Militärisch aber glaubte man im Hinblick auf die Erfahrungen der europäischen Kriege von 1859, 1866 und 1870/71 nur mit einer Kriegsdauer von wenigen Monaten, ja Wochen rechnen zu müssen. Alle deutschen Kriegspläne waren darauf aufgebaut, daß es binnen wenigen Wochen gelingen werde, Frankreich vollkommen niederzuwerfen; wer etwa damit hätte rechnen wollen, daß der Krieg so lange dauern werde, daß die Engländer und selbst die Amerikaner mit Millionenheeren auf dem europäischen Kontinent erscheinen werden, wäre in Berlin verlacht worden. [112] Daß der Krieg die Gestalt des Stellungskrieges annehmen werde, wurde völlig verkannt; trotz der Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges glaubte man, den europäischen Krieg in kurzer Zeit durch schnelle Offensivstöße beenden zu können. [80] Die militärische Rechnung des Generalstabs war nicht weniger falsch als seine wirtschaftliche und politische.

Es trifft daher nicht zu, wenn man behauptet, das Deutsche Reich hätte es unterlassen, die für den Krieg erforderlichen wirtschaftlichen Vorbereitungen zu treffen. Man hatte eben nur mit einer kurzen Kriegsdauer gerechnet; für einen kurzen Krieg aber waren wirtschaftlich keine andere als finanzielle und kreditpolitische Vorsorgen zu treffen. Zweifellos wäre vor Kriegsausbruch der Gedanke, daß Deutschland einmal genötigt sein könnte, nur im Bunde mit ÖsterreichUngarn (oder richtiger im Bunde mit den Deutschösterreichern und [113] Magyaren, denn die Slawen und Romanen der Monarchie standen mit dem Herzen, viele von ihnen auch mit den Waffen auf Seite der Feinde), der Türkei und Bulgarien viele Jahre gegen nahezu die ganze übrige Welt zu kämpfen, als absurd bezeichnet worden. Und jedenfalls hätte man bei ruhiger Überlegung zur Erkenntnis gelangen müssen, daß ein derartiger Krieg weder geführt werden könne noch geführt werden dürfe, und daß man, wenn schon eine unsagbar schlechte Politik ihn hat entstehen lassen, so schnell als möglich, selbst um den Preis hoher Opfer trachten müßte, Frieden zu schließen. Denn darüber konnte doch nie ein Zweifel bestehen, daß das Ende nur eine fürchterliche Niederlage sein konnte, die das deutsche Volk wehrlos den. härtesten Bedingungen seiner Gegner ausliefert. Ein rascher Friede hätte unter solchen Umständen zumindest Gut und Blut gespart.

Das hätte man auch sofort in den ersten Wochen des Krieges erkennen und dann die einzig möglichen Folgerungen ziehen müssen. Vom ersten Kriegstage an, spätestens aber nach den Niederlagen an der Marne und in Galizien im September 1914, gab es für die deutsche Politik nur ein vernünftiges Ziel: Frieden, wenn auch um den Preis schwerer Opfer. Davon, daß es bis zum Sommer 1918 wiederholt möglich war, unter halbwegs annehmbaren Bedingungen Frieden zu erlangen, daß es dabei voraussichtlich gelungen wäre, die Deutschen les Elsaß, Südtirols, der Sudetenländer und der östlichen Provinzen Preußens vor der Fremdherrschaft zu bewahren, sei dabei ganz abgesehen; selbst dann, wenn bei Fortsetzung des Krieges ein um ein weniges günstigerer Frieden zu erlangen gewesen wäre, hätte man die unverhältnismäßig großen Opfer, die die Fortsetzung des Krieges erforderte, nicht bringen dürfen. Daß dies nicht geschehen ist, daß man den aussichtslosen selbstmörderischen Kampf durch Jahre fortführte, daran waren zunächst politische Rücksichten und schwerwiegende Irrtümer in der militärischen Beurteilung der Ereignisse schuld. [81] Aber auch wirtschaftspolitische Wahnideen haben viel dazu beigetragen.

Gleich zu Beginn des Krieges tauchte ein Schlagwort auf, dessen unselige Wirkungen sich noch heute nicht ganz überblicken lassen: der Wortfetisch „Kriegswirtschaft". Mit diesem Worte schlug man alle Erwägungen nieder, die zu einem Ergebnisse führen konnten, das der Fortsetzung des Krieges widerraten hätte. Mit diesem einen Worte wurden alle nationalökonomischen Gedankengänge abgetan; was von der „Friedenswirtschaft" hergeholt sei, stimme nicht für die anderen Gesetzen gehorchende „Kriegswirtschaft". Mit diesem Schlagwort bewaffnet setzten einige durch die Ausnahmsverfügungen zur Allmacht gelangte Bürokraten und Offiziere an die Stelle dessen, was Staatssozialismus [114] und Militarismus von der freien Wirtschaft noch übrig gelassen hatten, den „Kriegssozialismus". Und als das hungernde Volk zu murren anfing, da beruhigte man es wieder mit dem Hinweis auf die „Kriegswirtschaft". Hatte ein englischer Minister bei Kriegsbeginn die Losung ausgegeben „business as usual", was man in England im Laufe des Krieges doch nicht zu befolgen vermochte, so setzte man in Deutschland und Österreich einen Stolz darein, möglichst neue Wege zu wandeln. Man „organisierte" und merkte nicht, daß das, was man tat, die Organisation der Niederlage war.

Die größte wirtschaftliche Leistung, die das deutsche Volk im Kriege vollbracht hat, die Umstellung der Industrie auf die Bedürfnisse des Krieges war nicht das Werk staatlicher Eingriffe; sie war das Ergebnis der freien Wirtschaft. Ist auch das, was im Reiche auf diesem Gebiete geleistet wurde, der absoluten Menge nach viel bedeutsamer als das, was in Österreich geschehen ist, so darf nicht übersehen werden, daß die Aufgabe, die die österreichische Industrie zu lösen halte, im Verhältnis zu ihren Kräften noch größer war. Denn die österreichische Industrie mußte nicht nur das liefern, was der Krieg über die Friedensvorsorgen hinaus erforderte, sie mußte auch nachholen, was im Frieden unterlassen worden war. Die Geschütze, mit denen die österreichisch-ungarische Feldartillerie in den Krieg zog, waren minderwertig ; die schweren und die leichten Feldhaubitzen und die Gebirgskanonen waren schon zur Zeit ihrer Einführung veraltet und entsprachen kaum den bescheidensten Anforderungen. Diese Geschütze entstammten staatlichen Fabriken, und nun mußte die private Industrie, die im Frieden von der Lieferung des Feld- und Gebirgsgeschützmaterials ausgeschlossen war und solche nur an China und an die Türkei liefern konnte, nicht nur das Material für die Erweiterung der Artillerie herstellen, sie mußte überdies auch noch die unbrauchbaren Muster der alten Batterien durch bessere ersetzen. Nicht viel anders stand es mit der Bekleidung und Beschuhung der österreichisch-ungarischen Truppen. Die sogenannten hechtgrauen, richtiger hellblauen, Stoffe erwiesen sich als feldunbrauchbar und mußten schleunigst durch graue ersetzt werden. Die Versorgung der Armee mit Stiefeln, die im Frieden unter Ausschluß der für den Markt arbeitenden mechanischen Schuhindustrie erfolgt war, mußte den früher von den Intendanzen gemiedenen Fabriken übertragen werden.

Die gewaltige technische Überlegenheit, die die verbündeten Armeen im Frühjahr und Sommer 1915 auf dem östlichen Kriegsschauplatz erlangt hatten, und die die vornehmste Grundlage des Siegeszuges von Tarnów und Gorlice bis tief hinein nach Wolhynien bildete, war ebenso das Werk der freien Industrie wie die staunenswerten Leistungen der deutschen aber auch der österreichischen Arbeit bei der Lieferung von Kriegsmaterial aller Art für den westlichen und für den italienischen Kriegsschauplatz. Die Heeresverwaltungen [115] Deutschlands und Österreich-Ungarns wußten recht wohl, warum sie dem Drängen nach Verstaatlichung der Kriegslieferungsbetriebe nicht nachgaben. Sie stellten ihre ausgesprochene Vorliebe für Staatsbetrieb, die ihrer machtpolitisch und staatsomnipotent orientierten Weltanschauung besser entsprochen hätte, zurück, weil sie ganz gut wußten, daß die gewaltige industrielle Aufgabe, die hier zu vollbringen war, nur von Unternehmern, die unter eigener Verantwortung mit eigenen Mitteln wirtschaften, geleistet werden konnte. Der Kriegssozialismus wußte recht wohl, warum er sich nicht gleich in den ersten Kriegsjahren an die Rüstungsbetriebe herantraute.

2. Der Kriegssozialismus.

Man hat den sogenannten Kriegssozialismus meist mit dem Hinweis auf den durch den Krieg geschaffenen Notstand für ausreichend begründet und gerechtfertigt angesehen. Im Kriege könne man die unzulängliche freie Wirtschaft nicht länger fortbestehen lassen; da müsse an ihre Stelle etwas Vollkommeneres, die Verwaltungswirtschaft, treten. Ob man dann nach dem Kriege wieder zu dem „undeutschen" System des Individualismus zurückkehren solle oder nicht, sei eine andere Frage, die verschieden beantwortet werden könne.

Diese Begründung des Kriegssozialismus ist ebenso einzureichend als charakteristisch für das politische Denken des durch den Despotismus der Kriegspartei in jeder freien Meinungsäußerung behinderten Volkes. Sie ist unzureichend, weil sie doch nur dann beweiskräftig wäre, wenn es als ausgemacht erscheinen könnte, daß die organisierte Wirtschaft höhere Erträge abzuwerfen imstande ist als die freie Wirtschaft; das aber müßte erst bewiesen werden. Für die Sozialisten, die ja ohnehin für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eintreten und damit die Anarchie der Produktion beseitigen wollen, bedarf es nicht erst des Kriegszustandes, um Sozialisierungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Für Gegner des Sozialismus aber ist auch der Hinweis auf den Krieg und seine wirtschaftlichen Folgeerscheinungen kein Umstand, der solche Maßnahmen empfehlen könnte. Wer der Meinung ist, daß die freie Wirtschaft die überlegene Form des Wirtschaftens ist, für den müßte ja gerade die Not, die der Krieg hervorgerufen hat, ein neues Moment sein, das nach Beseitigung aller dem freien Wettbewerb im Wege stehenden Schranken verlangt. Der Krieg als solcher verlangt nicht organisierte Wirtschaft, mag er auch der Verfolgung der wirtschaftlichen Interessen in mancher Richtung gewisse Grenzen ziehen. Im Zeitalter des Liberalismus hätte auch ein Krieg von dem Umfang des Weltkrieges (sofern ein solcher Krieg in einem liberalen, also pazifistischen Zeitalter überhaupt denkbar wäre) keineswegs Sozialisierungstendenzen gefördert.

[116]

Die gangbarste Begründung der Notwendigkeit sozialistischer Maßregeln bildete das Belagerungsargument. Deutschland und seine Verbündeten befänden sich in der Lage einer belagerten Festung, die der Feind durch Aushungerung bezwingen will. Einer solchen Gefahr gegenüber müßten alle jene Maßnahmen zur Anwendung gelangen, die in einer belagerten Stadt üblich seien. Man müsse die gesamten Vorräte als eine einer einheitlichen Verfügung unterstehenden Masse, die zur gleichmäßigen Deckung der Bedürfnisse aller herangezogen werden kann, ansehen und daher den Verbrauch rationieren.

Diese Beweisführung 'geht von unbestreitbaren Tatsachen aus. Es ist klar, daß die Aushungerung (im weitesten Sinne des Wortes), die in der Kriegsgeschichte im allgemeinen nur als taktisches Mittel Verwendung gefunden hatte, in diesem Kriege als strategisches Mittel gebraucht wurde. [82] Doch die Schlußfolgerungen, die man daraus zog, waren verfehlt. Sobald man einmal der Anschauung war, daß die Lage der Mittelmächte mit der einer belagerten Feste zu vergleichen sei, hätte man daraus die Folgerungen ziehen müssen, die vom militärischen Gesichtspunkte allein zu ziehen waren. Man hätte sich darauf besinnen müssen, daß ein belagerter Platz nach allen Erfahrungen der Kriegsgeschichte ausgehungert werden müsse, und daß sein Fall nur durch auswärtige Hilfe abgewendet werden könne. Das Programm des „Durchhalten" hätte nur dann einen Sinn gehabt, wenn man damit hätte rechnen können, daß die Zeit für die Belagerten arbeite. Da aber Hilfe von auswärts nicht zu erwarten war, so hätte man sich nicht der Erkenntnis verschließen dürfen, daß die Stellung der Mittelmächte von Tag zu Tag schlimmer wird, und daß es daher notwendig sei, Frieden zu schließen, auch wenn der Friedensschluß Opfer auferlegt hätte, die durch die augenblickliche taktische Lage nicht gerechtfertigt erschienen. Denn immer noch wären die Gegner zu Zugeständnissen bereit gewesen, wenn sie ihrerseits dafür in der Abkürzung der Kriegsdauer einen Gegenwert erbalten hätten.

Man kann nicht annehmen, daß der deutsche Generalstab dies übersehen hätte. Wenn er nichtsdestoweniger am Schlagwort vom „Durchhalten" festhielt, so lag darin nicht so sehr eine Verkennung der militärischen Lage als die Hoffnung auf eine bestimmte seelische Verfassung des Gegners. Das Krämervolk der Angelsachen werde eher ermüden als die kriegsgewohnten Völker der Mittelmächte. Sobald nur einmal auch die Engländer den Krieg spüren werden, werde es sich zeigen, daß sie, wenn es sich um die Einschränkung ihrer Bedürfnisdeckung handelt, viel empfindlicher seien als die Mitteleuropäer. Dieser schwerwiegende Irrtum, dieses Verkennen der Psyche [117] des englischen Volkes führte auch zur Aufnahme zuerst des eingeschränkten und dann des uneingeschränkten Unterseebootkrieges. Der Unterseebootkrieg beruhte noch auf anderen falschen Rechnungen, auf einer Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und auf einer Unterschätzung der gegnerischen Abwehrmaßnahmen, und schließlich auch auf einer völligen Verkennung der politischen Voraussetzungen der Kriegführung und dessen, was im Kriege erlaubt ist. Doch es ist nicht Aufgabe dieser Schrift, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Die Abrechnung mit den Kräften, die das deutsche Volk in dieses selbstmörderische Abenteuer gestürzt haben, bleibe Berufeneren überlassen.

Aber ganz abgesehen von diesen mehr die allgemein militärische Seite der Frage berührenden Mängeln leidet die Theorie des Belagerungssozialismus auch wirtschaftspolitisch an schweren Gebrechen.

Wenn man Deutschland mit einer belagerten Stadt verglich, übersah man, daß dieser Vergleich nur bezüglich jener Güter zutreffend war, die im Inlande nicht produziert werden und auch durch im Inlande produzierbare Güter nicht ersetzt werden konnten. Für diese Güter war, soferne es sich nicht um Luxusartikel handelte, die Verbrauchsrationierung jedenfalls in dem Augenblick angezeigt, in dem durch die Verschärfung der Blockade und durch den Eintritt Italiens und Rumäniens in den Krieg alle Zufuhrmöglichkeiten abgeschnitten waren. Bis dahin wäre es freilich besser gewesen, zumindest für die aus dem Auslande eingeführten Mengen volle Verkehrs- und Handelsfreiheit zu gewähren, "um den Anreiz zur Beschaffung auf Schleichwegen nicht zu verringern. Verkehrt war es I jedenfalls, wie dies am Anfang des Krieges besonders in Österreich geschah, durch strafrechtliche Bestimmungen der Preissteigerung dieser Waren entgegenzuwirken. Wenn die Händler in spekulativer Absicht die Waren zurückgehalten hätten, um Preissteigerungen zu erzielen, so hätte dies den Verbrauch schon zu Beginn des Krieges in wirksamer Weise eingeschränkt. Die Beschränkung der Preissteigerung mußte also geradezu schädliche Folgen nach sich ziehen. Bei jenen Gütern, die im Inlande in keiner Weise hergestellt werden können und auch nicht durch im Inlande erzeugbare Surrogate zu ersetzen sind, hätte der Staat eher Mindeststatt Höchstpreise festsetzen müssen, um den Verbrauch möglichst einzuschränken.

Die Spekulation nimmt künftige Preisveränderungen vorweg; ihre volkswirtschaftliche Aufgabe besteht darin, die Preisunterschiede zwischen verschiedenen Orten und verschiedenen Zeitpunkten auszugleichen und vermöge des Druckes, den die Preise auf Produktion und Konsum ausüben, Vorrat und Bedarf einander anzupassen. Wenn die Spekulation zu Kriegsbeginn höhere Preise* zu fordern begann, so hat sie zwar augenblicklich eine Steigerung der Preise über jenes [118] Niveau, das sich ohne ihr Eingreifen herausgebildet hätte, herbeigeführt. Doch indem dadurch auch der Konsum eingeschränkt wurde, mußte der für die Versorgung der späteren Kriegszeit zur Verfügung stehende Gütervorrat steigen und damit für die spätere Zeit eine Preisermäßigung gegenüber jenem Niveau, das sich dann ohne Entwicklung der Spekulation herausbilden mußte, herbeigeführt werden. Wenn man diese unentbehrliche volkswirtschaftliche Funktion der Spekulation ausschalten wollte, so hätte man an ihre Stelle sogleich etwas anderes setzen müssen, etwa Beschlagnahme aller Vorräte und staatliche Bewirtschaftung und Rationierung. Keineswegs aber ging es an, sich einfach mit strafrechtlichen Eingriffen zufrieden zu stellen.

Als der Krieg ausbrach, rechnete der Bürger mit einer Kriegsdauer von ungefähr drei bis sechs Monaten. Damach richtete der Kaufmann seine Spekulation ein. Wenn der Staat es besser gewußt hätte, hätte er die Pflicht gehabt, einzugreifen. Wenn er dachte, daß der Krieg schon in vier Wochen beendet sein werde, so hätte er eingreifen können, um zu verhindern, daß die Teuerung größer werde als notwendig schien, um den Zweck, die Vorräte mit dem Bedarf in Einklang zu bringen, zu erreichen. Auch dazu hätte die Festsetzung von Höchstpreisen nicht genügt. Wenn aber der Staat der Meinung war, der Krieg werde weitaus länger dauern als die Zivilisten dachten, dann hätte er, sei es durch Festsetzung von Mindestpreisen, sei es durch Aufkauf der Waren zum Zwecke einer staatlichen Vorratsbildung eingreifen müssen. Denn es bestand ja die Gefahr, daß der Spekulationshandel, mit den geheimen Absichten und Plänen des Generalstabes nicht vertraut, die Preise nicht sogleich derart hi die Höhe treiben werde als nötig war, um die Verteilung der vorhandenen geringen Vorräte auf die ganze Dauer des Krieges sicherzustellen. Das wäre ein Fall gewesen, in dem das Eingreifen des Staates in die Preise durchaus notwendig Und gerechtfertigt gewesen wäre. Daß es dazu nicht gekommen ist, ist leicht zu erklären. Die militärischen und politischen Stellen waren eben am wenigsten über die voraussichtliche Dauer des Krieges unterrichtet. Darum haben alle ihre Vorsorgen versagt, die militärischen sowohl als auch die politischen und volkswirtschaftlichen.

Bezüglich aller jener Waren, die auch trotz des Krieges in dem vom Feinde freien Gebiet der Mittelmächte erzeugt werden konnten, war das Belagerungsargument schon ganz und gar unanwendbar. Es war Dilettantismus schlimmster Art, für diese Waren Höchstpreise festzusetzen. Die Produktion hätte nur durch hohe Preise angeregt werden können; durch die Beschränkung der Preissteigerung hat man sie gedrosselt. Daß der staatliche Anbau-und Produktionszwang versagt hat, kann nicht weiter wunder nehmen.

Es wird Aufgabe der Wirtschaftsgeschichte sein, die Tollheiten der Wirtschaftspolitik der Mittelmächte während des Weltkrieges im [119] einzelnen darzustellen. Bald wurde z. B. die Parole ausgegeben, aus Futtermangel den Viehstand durch Vermehrung der Schlachtungen zu vermindern, bald wieder wurden Schlachtungsverböte erlassen und Maßnahmen zur Aufzucht von Vieh getroffen. Ähnliche Planlosigkeit herrschte auf allen Gebieten. Maßnahmen und Gegenmaßnahmen kreuzten sich, bis das ganze Gefüge des Wirtschaftsverkehres zertrümmert war.

Die nachteiligste Wirkung der Politik des Belagerungssozialismus war die Abschließung der Überschoßbezirke landwirtschaftlicher Produktion gegenüber den Gebieten, in denen der Verbrauch die Erzeugung überstieg. Daß die tschechischen Bezirkshauptleute in den Sudetenländern, die mit dem Herzen auf der Seite der Entente standen, bemüht waren, die Ausfuhr von Lebensmitteln aus den ihrer Leitung unterstellten Bezirken nach den deutschen Teilen Österreichs, vor allem nach Wien, möglichst einzuschränken, ist leicht zu verstehen. Weniger zu begreifen ist es, daß die Wiener Regierung dies duldete, und daß sie auch duldete, daß die deutschen Bezirke es nachmachten und daß auch Ungarn sich gegenüber Österreich abschloß, so daß in Wien schon Hungersnot herrschte, als auf dem flachen Lande und in Ungarn noch reichliche Vorräte vorhanden waren. Ganz unfaßbar aber ist es, daß die gleiche Politik der regionalen Abschließung auch im Deutschen Reiche platzgriff, daß sich hier die agrarischen Bezirke gegen die industriellen abschließen durften. Daß die Bevölkerung der großen Städte gegen diese Politik nicht , rebellierte, kann man nur durch ihre Befangenheit in den etatistischen Vorstellungen vom Wirtschaftsleben erklären, durch ihr blindes Vertrauen auf die Allmacht behördlicher Eingriffe und durch das ihr in Jahrzehnten anerzogene Mißtrauen gegen jede Freiheit.

Indem der Etatismus den unvermeidlichen Zusammenbruch vermeiden wollte, beschleunigte er ihn nur.

3. Autarkie und Großvorratswirtschaft.

Je klarer es im Verlaufe des Krieges werden mußte, daß die Mittelmächte im Aushungerungskrieg endlich unterliegen müßten, desto energischer wurde von verschiedenen Seiten auf die Notwendigkeit hingewiesen, für den nächsten Krieg besser vorzukehren. Die Volkswirtschaft müsse in einer solchen Weise umgestaltet werden, daß Deutschland fähig werde, auch einen mehrjährigen Krieg zu überstehen. Es müsse alles für die Ernährung seiner Bevölkerung und für die Ausrüstung und Bewaffnung seiner Armeen und Flotten Erforderliche im Lande erzeugen können, um in dieser Beziehung nicht länger vom Auslande abhängig zu sein.

[120]

Es braucht nicht erst langer Auseinandersetzungen, um zu zeigen, daß dieses Programm nicht ausführbar ist. Es ist unausführbar, weil das Deutsche Reich zu dicht bevölkert ist, als daß alle Nahrungsmittel, die seine Bevölkerung bedarf, im Inlande ohne Inanspruchnahme ausländischer Rohstoffe erzeugt werden könnten, und weil eine Reihe von Rohstoffen, deren man zur Herstellung der modernen Kriegsmittel bedarf, in Deutschland überhaupt nicht vorkommen. Es ist ein Trugschluß, wenn die Kriegswirtschaftstheoretiker die Möglichkeit einer autarken deutschen Wirtschaft mit dem Hinweis auf die Verwendbarkeit von Ersatzstoffen zu beweisen suchen. Man müsse nicht immer ausländische Erzeugnisse verwenden; es gebe inländische Erzeugnisse, die den fremden an Güte und Billigkeit kaum nachstünden. Dem deutschen Geist, der sich in der angewandten Wissenschaft bereits rühmlich hervorgetan habe, erwachse hier eine große Aufgabe, die er wohl glänzend lösen werde. Die Bemühungen, die auf diesem Gebiete bisher geschahen, hätten zu günstigen Ergebnissen geführt. Schon jetzt seien wir reicher als wir früher waren, da wir gelernt hätten, Stoffe, die früher achtlos hegen gelassen, für minder wichtige Zwecke oder nicht vollständig verwendet wurden, besser zu verwerten als vorher.

Der Fehler, der in diesem Gedankengang enthalten ist, liegt auf der Hand. Es ist wohl richtig, daß die angewandte Wissenschaft noch lange nicht das letzte Wort gesprochen hat, daß wir noch auf Verbesserungen der Technik rechnen dürfen, die an Bedeutung hinter der Erfindung der Dampfmaschine und des Elektromotors nicht zurückstehen. Und es kann geschehen, daß eine oder die andere dieser Erfindungen gerade auf deutschem Boden die günstigsten natürlichen Vorbedingungen für die Anwendung finden wird, daß sie etwa gerade darin besteht, einen Stoff, der in Deutschland häufig vorkommt, nutzbar zu machen. Aber dann liegt die Bedeutung dieser Erfindung eben darin, daß sie die Standortsverhältnisse einer Produktion verschiebt, daß sie die Produktionsbedingungen eines Landes, die bisher als weniger günstig anzusehen waren, unter den gegebenen Verhältnissen günstiger gestaltet. Solche Verschiebungen sind in der Geschichte oft vorgekommen und werden immer wieder vorkommen. Wir wollen hoffen, daß sie in Zukunft derart eintreten, daß Deutschland in höherem Maße als gegenwärtig ein Land der günstigeren Produktionsbedingungen wird. Sollte es das werden, dann werden manche Sorgen vom deutschen Volke genommen sein.

Doch diese Wandlungen in der relativen Gestaltung der Produktionsbedingungen müssen scharf unterschieden werden von der Einführung des Gebrauches von Ersatzstoffen und der Erzeugung von Gütern unter schlechteren Produktionsbedingungen. Man kann freilich Leinen statt Baumwolle nehmen und Holzsohlen statt [121] Ledersohlen. Doch in jenem Falle hat man einen billigeren durch einen teuereren Stoff, das heißt einen, auf dessen Erzeugung mehr Kosten aufgewendet werden müssen, in diesem einen besseren durch einen weniger brauchbaren Stoff ersetzt. Das aber bedeutet, daß die Versorgung schlechter wurde. Daß wir an Stelle von Jutesäcken Papiergarnsäcke und an Stelle der Gummibereifung der Kraftwagen Eisenbereifung gebrauchen, daß wir statt Bohnenkaffee „Kriegs"kaffee trinken, zeigt, daß wir ärmer, nicht daß wir reicher wurden. Und wenn wir Abfälle, die wir früher fortgeworfen haben, nun sorgsam verwerten, so macht dies uns ebensowenig reicher als wenn wir Kupfer durch Einschmelzung von Kunstwerken gewinnen. [83] Gewiß, das Wohlleben ist nicht das höchste Gut, und es mag wie für den Einzelnen so auch für die Völker Gründe geben, ein Leben in Dürftigkeit einem Leben in Luxus vorzuziehen. Aber dann sage man es offen heraus und nehme nicht zu gekünstelten Theoremen seine Zuflucht, die aus weiß schwarz und aus schwarz weiß machen wollen, dann suche man nicht durch angeblich nationalökonomische Ausführun,gen den klaren Sachverhalt zu verdunkeln. [84]

Es soll nicht bestritten werden, daß die Not des Krieges manche nützliche Erfindung zeugen kann und tatsächlich gezeugt hat. Wieviel davon eine dauernde Bereicherung der deutschen Volkswirtschaft darstellt, wird man erst später zu erkennen vermögen.

Folgerichtig denken nur jene Vertreter des Autarkiegedankens, die alle anderen Zwecke hinter dem militärischen zurücktreten lassen. Wer alle Werte nur im Staate verwirklicht sieht und sich den Staat vor allem als stets kriegsbereite militärische Organisation denkt, muß von der Wirtschaftspolitik der Zukunft fordern, daß sie, alle anderen 'Rücksichten beiseiteschiebend, darnach strebe, die inländische Volkswirtschaft zur Selbstgenügsamkeit für den Kriegsfall auszugestalten. Der höheren Kosten, die dadurch erwachsen, ungeachtet, müsse die Produktion in die Bahnen gelenkt werden, die vom wirtschaftlichen Generalstab als die zweckmäßigsten bezeichnet werden. Wenn darunter das Wohlleben der Bevölkerung leide, so könne dies angesichts des hohen Zieles, das zu erreichen sei, gar nicht in Betracht kommen. Nicht Wohlleben sei das höchste Glück der Menschen, sondern Pflichterfüllung.

Doch auch in diesem Gedankengang steckt ein schwerer Fehler. Zugegeben, daß es, wenn man die Kosten nicht berücksichtigt, [122] möglich sei, alles, was man zum Kriegführen benötigt, im Lande zu erzeugen. Doch im Kriege kommt es nicht nur darauf an, daß Waffen und Kriegsgerät überhaupt vorhanden sind, sondern auch darauf, daß sie in genügender Menge und in bester Beschaffenheit zur Verfügung stehen. Ein Volk, das sie unter ungünstigeren Produktionsbedingungen, das heißt mit höheren Kosten herstellen muß, wird schlechter verpflegt, ausgerüstet und bewaffnet ins Feld ziehen als seine Gegner. Freilich läßt sich die Minderwertigkeit der sachlichen Hilfsmittel bis zu einem gewissen Grade durch persönliche Tüchtigkeit der Kämpfer wettmachen. Aber daß es eine Grenze gibt, über die hinaus alle Tapferkeit und alle Aufopferung nichts nützt, haben wir in diesem Krieg von neuem erfahren.

Der Erkenntnis der Undurchführbarkeit der Autarkiebestrebungen entsprang der Plan einer zukünftigen staatlichen Vorratswirtschaft. Der Staat müsse als Vorbereitung für die mögliche Wiederkehr eines Aushungerungskrieges Vorräte von allen wichtigen Rohstoffen, die im Inland nicht erzeugt werden können, anlegen. Auch an einen großen Getreidevorrat wird dabei gedacht und selbst an Lager von Futtermitteln. [85]

Vom wirtschaftlichen Standpunkt scheint die Verwirklichung dieser Vorschläge nicht undenkbar. Ganz aussichtslos ist sie hingegen vom politischen. Es ist kaum anzunehmen, daß die anderen Völker der Ansammlung solcher Kriegsvorräte in Deutschland ruhig zusehen und nicht ihrerseits zu Gegenmaßregeln greifen würden. Sie brauchten ja nur die Ausfuhr der in Frage kommenden Stoffe zu beaufsichtigen und jeweils nur solche Mengen zur Ausfuhr zuzulassen, die den augenblicklichen Bedarf nicht übersteigen, um den ganzen Plan zuschanden zu machen.

Das, was man recht unzutreffenderweise als Kriegswirtschaft bezeichnet hat, sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Kriegführung. Alle Kriegführung ist von dem jeweils erreichten Stande der Arbeitsteilung abhängig. Autarke Wirtschaften können gegenseitig in Kriegszustand treten, die einzelnen Teile einer Arbeits- und Verkehrsgemeinschaft aber nur insoweit, als sie sich zur Autarkie rückzubilden in der Lage sind. Darum sehen wir mit dem Fortschritt der Arbeitsteilung die Zahl der Kriege und Kämpfe immer mehr und mehr abnehmen. Der Geist des Industrialismus, der unermüdlich an der Ausgestaltung der Verkehrsbeziehungen tätig ist, untergräbt den kriegerischen Geist. Die gewaltigen Fortschritte, die die Weltwirtschaft im Zeitalter des Liberalismus gemacht hat, haben den Raum, der für militärische Aktionen freiblieb, beträchtlich eingeengt. Wenn jene [123] Schichten des deutschen Volkes, die den tiefsten Einblick in die weltwirtschaftliche Verknüpfung der einzelnen Volkswirtschaften hatten, daran zweifelten, ob es überhaupt noch jemals zu einem Krieg kommen könne und, wenn überhaupt, höchstens mit einem schnell vorübergehende Kriegszustand rechneten, so bewiesen sie damit besseres Verständnis für die Realitäten des Lebens als jene, die sich dem Wahne hingaben, man könnte auch im Zeitalter des Weltverkehres die politischen und militärischen Grundsätze des dreißigjährigen Krieges praktizieren.

Wenn man das Schlagwort von der Kriegswirtschaft auf seinen Inhalt prüft, so ergibt es sich, daß es nichts anderes enthält als die Forderung, man möge die wirtschaftliche Entwicklung auf einen Zustand zurückschrauben, der der Kriegführung günstiger ist als die Zeit von 1914 es war. Es fragt sich nur, wieweit man dabei gehen soll ? Soll man nur soweit zurückgehen, daß die Kriegführung zwischen Großstaaten möglich wird, oder soll man trachten, auch die Kriegführung zwischen einzelnen Landesteilen und zwischen Stadt und Land zu ermöglichen? Soll nur Deutschland in die Lage gesetzt werden, gegen die ganze übrige Welt Krieg zu führen, oder soll man es auch Berlin ermöglichen, gegen das übrige Deutschland Krieg zu führen?

Wer aus ethischen Gründen den Krieg um seiner selbst willen als Einrichtung des Völkerverkehres ständig erhalten will, der muß sich darüber klar werden, daß dies nur auf Kosten des allgemeinen Wohlstandes geschehen kann, da man die wirtschaftliche Entwicklung der Welt zumindest auf den Stand von anno 1830 zurückschrauben müßte, um dieses militärische Ideal auch nur einigermaßen zu verwirklichen.

4. Die Kriegskosten der Volkswirtschaft und die Inflation.

Die Verluste, die die Volkswirtschaft durch den Krieg erleidet, bestehen, abgesehen von den Nachteilen, die die Ausschaltung aus dem Weltverkehre mit sich bringt, in der Zerstörung von Gütern durch die kriegerischen Handlungen, im Verbrauche von Kriegsmaterial jeder Art und in dem Ausfall an produktiver Arbeit, die die zum Heeresdienst eingezogenen Leute in ihrer bürgerlichen Tätigkeit geleistet hätten. Weitere Verluste durch Arbeitsausfall treten ein, insoweit die Arbeiterzahl um die Zahl der Gefallenen dauernd gemindert wird und die Überlebenden infolge der erlittenen Verletzungen, der ausgestandenen Strapazen, der durchgemachten Krankheiten und der schlechteren Ernährung weniger leistungsfähig werden. Diese Verluste werden nur zum geringsten Teile dadurch wettgemacht, daß der Krieg als dynamischer Faktor wirkt und die Bevölkerung zur Verbesserung der Produktionstechnik antreibt. Auch die Vermehrung der [124] Arbeiterzahl, die im Kriege durch Heranziehung sonst un verwendeter Frauen-und Kinderarbeit und durch Ausdehnung der Arbeitszeit erfolge ist, und die Ersparnis, die durch Einschränkung des Verbrauches erzielt wurde, halten ihnen noch nicht das Gegengewicht, so daß die Volkswirtschaft schließlich aus dem Kriege mit einem beträchtlichen Vermögensverluste hervorgeht. Volkswirtschaftlich betrachtet sind Krieg und Revolution immer schlechte Geschäfte, es sei denn, daß als ihr Ergebnis eine solche Verbesserung des volkswirtschaftlichen Produktionsprozesses resultiert, daß das Mehr an Gütern, das nach dem Krieg erzeugt wird, die Verluste des Krieges wettzumachen imstande ist. Der Sozialist, der davon überzeugt ist, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung die Produktivität der Wirtschaft vervielfachen wird, mag die Opfer, die die soziale Revolution kosten, wird, gering achten.

Doch auch ein Krieg, der der Weltwirtschaft nachteilig ist, kann einzelne Nationen oder Staaten bereichern. Wenn der siegreiche Staat dem geschlagenen solche Lasten aufzulegen imstande ist, daß dadurch nicht nur alle seine Kriegskosten gedeckt werden, sondern auch noch ein Überschuß erzielt wird, dann ist für ihn der Krieg von Vorteil gewesen. Auf dem Glauben, daß solche Kriegsgewinne möglich sind und dauernd festgehalten werden können, beruht der militaristische Gedanke. Man wird ein Volk, das glaubt, durch Kriegführung leichter sein Brot erwerben zu können als durch Arbeit, schwer davon zu überzeugen vermögen, daß Unrecht dulden gottgefälliger sei als Unrecht tun. Man kann die Theorie des Militarismus widerlegen; wenn man sie aber nicht zu widerlegen vermag, kann man den Starken nicht durch den Hinweis auf ethische Momente dazu bewegen, auf den Gebrauch seiner Macht zu verzichten.

Die pazifistische Beweisführung schießt über das Ziel hinaus, wenn sie die Möglichkeit, daß ein Volk durch den Krieg gewinnen kann, schlechthin leugnet. Die Kritik des Militarismus muß damit beginnen, die Frage aufzuwerfen, ob der Sieger denn auch mit Bestimmtheit darauf rechnen kann, immer der Stärkere zu bleiben, oder ob er nicht befürchten muß, durch noch Stärkere verdrängt zu werden. Die militaristische Argumentation kann sich der Einwände, die unter diesem Gesichtspunkte gegen sie erhoben werden, nur erwehren, wenn sie von der Annahme unveränderlicher Rassencharaktere ausgeht. Die Angehörigen der höheren Rasse, die sich untereinander nach pazifistischen Grundsätzen benehmen, halten gegen die niederen Rassen, die sie zu unterjochen bestrebt sind, fest zusammen und sichern sich so ewige Vorherrschaft. Aber schon die Möglichkeit, daß zwischen den Angehörigen der höheren Rassen Differenzen entstehen, die dazu führen, daß ein Teil ihrer Angehörigen sich mit niederen Rassen zum Kampfe gegen die übrigen Angehörigen der höheren verbindet, zeigt die Gefahr des militaristischen Zustandes für alle Teile. Läßt [125] man vollends die Annahme der Konstanz der Rassencharaktere fallen und hält man es für denkbar, daß die früher stärkere Rasse durch eine früher schwächere überflügelt wird, dann zeigt es sich, daß jeder Teil immer damit rechnen muß, vor neue Kämpfe gestellt zu werden, in denen er auch unterliegen kann. Unter dieser Voraussetzung ist die militaristische Theorie nicht aufrecht zu erhalten. Es gibt keinen sicheren Kriegsgewinn mehr, und der militaristische Zustand erscheint zumindest als ein Zustand ewiger Kämpfe, die den Wohlstand so sehr zerrütten, daß schließlich auch der Sieger weniger erhält als er im pazifistischen Zustande zu ernten hätte.

Es gehörte jedenfalls nicht allzu viel volkswirtschaftliche Einsicht dazu, um zu erkennen, daß ein Krieg zumindest unmittelbar Güterzerstörung und Elend bedeutet. Jedermann war es klar, daß schon der Ausbruch des Krieges unheilvolle Stockungen des gesamten Erwerbslebens bringen muß, und mit Bangen sah man anfangs August 1914 in Deutschland mid Österreich der Zukunft entgegen. Überraschenderweise schien es jedoch anders zu kommen. Statt der erwarteten Krise kam eine Periode guten Geschäftsganges, statt des Niederganges Aufschwung. Man fand, daß der Krieg eine günstige Konjunktur sei; die Geschäftsleute, die vor dem Kriege durchaus friedlich gesinnt waren und wegen der Ängstlichkeit, die sie bei jedem Aufflackern von Kriegsgerüchten stets bekundet hatten, von den Kriegsfreunden stets gescholten wurden, fingen an, sich mit dem Krieg auszusöhnen. Auf einmal gab es keine unverkäuflichen Produkte mehr; Unternehmungen, die seit Jahren nur mit Verlust gearbeitet hatten, warfen reichen Gewinn ab. Die Arbeitslosigkeit, die in den ersten Tagen und Wochen des Krieges bedrohlichen Umfang angenommen hatte, schwand vollkommen, und die Arbeitslöhne stiegen. Die ganze Volkswirtschaft bot das Bild eines erfreulichen Aufschwunges. Bald fanden sich auch Schriftsteller, die die Ursachen dieses Aufschwunges zu erklären suchten. [87]

Für jeden unbefangenen Menschen kann es nun natürlich keinem Zweifel unterliegen, daß der Krieg in Wahrheit zumindest unmittelbar keinen wirtschaftlichen Aufschwung nach sich ziehen kann, da doch aus Güterzerstörung niemals Reichtumsvermehrung resultiert. [126] Es wäre kaum allzu schwer gewesen, zu verstehen, daß der Krieg zwar für alle Erzeuger von Waffen, Munition und Heeresgerät jeder Art eine gute Absatzgelegenheit bringt, daß aber das, was diese gewinnen, auf der anderen Seite durch Verluste der anderen Produktionszweige gedeckt wird, und daß die eigentlichen Kriegsverluste der Volkswirtschaft dadurch nicht berührt werden. Mit der Kriegskonjunktur verhält es sich so ähnlich wie mit der Konjunktur, die ein Erdbeben oder eine Seuche mit sich bringen. Das Erdbeben bedeutet guten Geschäftsgang für die Bauhandwerker, und die Cholera fördert den Geschäftsgang der Ärzte, der Apotheker und der Leichenbestatter. Darum hat aber noch niemand versucht, Erdbeben und Cholera als der Allgemeinheit nützliche Anreger der Produktivkräfte zu feiern.

Von der Beobachtung ausgehend, daß der Krieg den Geschäftsgang der Rüstungsindustrie fördert, hat mancher Schriftsteller den Krieg auf Machenschaften der Interessenten der Kriegsindustrie zurückzuführen gesucht. Eine äußerliche Stütze scheint diese Ansicht in dem Verhalten der Rüstungsindustrie mid der Schwerindustrie überhaupt zu finden. Die energischesten Vertreter der imperialistischen Politik waren zwar in Deutschland nicht in den Kreisen der Industrie, sondern in jenen der Intelligenzberufe, vor allem der Beamten und der Lehrer, zu finden; die finanziellen Mittel für die Kriegspropaganda wurden jedoch vor und in dem Kriege von der Rüstungsindustrie beigestellt. Die Rüstungsindustrie hat jedoch so wenig den Militarismus und den Imperialismus erzeugt, wie etwa die Branntweinbrennereien die Trunksucht oder der Verlagsbuchhandel die Schundliteratur. Nicht das Angebot an Waffen hat die Nachfrage hervorgerufen, sondern umgekehrt. An sich sind die Rüstungsindustriellen nicht blutgierig ; sie würden ebenso gern durch die Erzeugung anderer Gebrauchsgegenstände verdienen. Sie erzeugen Kanonen und Gewehre, weil danach Nachfrage besteht; sie würden ebtmso gern Friedensartikel erzeugen, wenn man damit ein besseres Geschäft machen könnte. [86]

Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges der Dinge hätte sich bald verbreiten müssen, und man hätte schnell erkannt, daß die Kriegskonjunktur nur einem kleinen Teile der Bevölkerung zugute kam, daß aber die Volkswirtschaft als Ganzes von Tag zu Tag ärmer wurde, wenn nicht die Inflation einen Schleier um alle diese

[127]

Vorgänge gezogen hätte, den zu durchdringen das durch den Etatismus jeder nationalökonomischen Besinnung entwöhnte Denken nicht imstande war.

Um die Bedeutung der Inflation zu erfassen, empfiehlt es sich, sie sich mit allen ihren Folgeerscheinungen aus dem Bilde der Kriegswirtschaft fortzudenken. Man stelle sich vor, daß der Staat auf jene Aushilfen, die er seinen Finanzen durch die Ausgabe von Papiergeld jeder Art zukommen ließ, verzichtet hätte. Es ist klar, daß die Ausgabe von Noten, wenn wir von den verhältnismäßig unbeträchtlichen Gütermengen, die aus dem neutralen Ausland als Gegenwert für das hinaus gesandte, aus dem Verkehr gezogene Gold bezogen wurden, absehen, die sachlichen und persönlichen Mittel der Kriegführung in keiner Weise gemehrt hat. Durch die Papiergeldausgabe ist nicht eine Kanone, nicht eine Granate mehr erzeugt worden als man auch ohne Inbetriebsetzung der Notenpresse hätte erzeugen können. Der Krieg wird ja nicht mit „Geld" geführt, sondern mit den Gütern, die man für das Geld erwirbt. Für die Erzeugung der Kriegsgüter war es gleichgültig, ob die Geldmenge, mit der man sie kaufte, größer oder kleiner war.

Der Krieg hat den Geldbedarf beträchtlich gesteigert. Viele Einzelwirtschaften sahen sich veranlaßt, ihre Kassenbestände zu vergrößern, da erweiterte Anwendung der Barzahlung an Stelle der früher üblich gewesenen langfristigen Kreditgewährung, die Verschlechterung der Verkehrseinrichtungen und die wachsende Unsicherheit das ganze Gefüge des Zahlungswesens verändert hatten. Die zahlreichen, erst im Krieg aufgerichteten oder in ihrem Geschäftskreis auf eine breitere Grundlage gestellten Militärkassen und die Ausdehnung des Geldumlaufes der Zentralmächte auf die okkupierten Gebiete trugen das ihre dazu bei, um den Geldbedarf der Volkswirtschaft zu vergrößern. Aus diesem Steigen des Geldbedarfes ergab sich eine Tendenz zur Geldwertsteigerung, das heißt zur Erhöhung der Kaufkraft der Geldeinheit, die der durch die vermehrte Notenausgabe ausgelösten entgegengesetzten Tendenz entgegenwirkte.

Wäre das Ausmaß der Notenausgabe nicht über jenes Maß hinausgegangen, das der Verkehr mit Rücksicht auf die durch die Kriegsereignisse eingetretene Erhöhung des Geldbedarfes ohne Steigen des Geldwertes hätte aufnehmen können, dann wären über sie nicht viel Worte zu verlieren. In der Tat ist aber die Notenvermehrung weit größer gewesen. Je länger der Krieg fortschritt, desto stärker wurde die Tätigkeit der Notenpresse in den Dienst der Finanzverwaltung gestellt. Es traten jene Folgen ein, die die Quantitätstheorie beschreibt. Die Preise aller Güter und Dienstleistungen und mit ihnen die Preise der Wechsel auf das Ausland gingen in die Höhe.

Das Sinken des Geldwertes begünstigte alle Schuldner und schädigte alle Gläubiger. Damit sind aber die sozialen Begleiterscheinungen [128] der Geldwertveränderung nicht erschöpft. Die Preissteigerung, die durch die Vermehrung der Geldmenge hervorgerufen wird, tritt nicht mit einem Schlag in der ganzen Volkswirtschaft und allen Waren gegenüber auf. Denn die zusätzliche Geldmenge verteilt sich ja nur allmählich. Zunächst fließt sie bestimmten Wirtschaften und bestimmten Produktionszweigen zu, erhöht daher zunächst nur die Nachfrage nach bestimmten Waren, nicht nach allen; erst später steigen dann auch die anderen Waren im Preise. „Während der Zettelemission," sagen Auspitz und Lieben, „wird sich das Plus an Zirkulationsmitteln in den Händen eines kleinen Bruchteiles der Bevölkerung, z. B. der Lieferanten und Produzenten von Kriegsbedarf konzentrieren. Infolgedessen wird die Nachfrage dieser Personen nach verschiedenen Artikeln zunehmen und somit der Preis und auch der Absatz der letzteren, namentlich aber auch jener der Luxusartikel, steigen. Dadurch verbessert sich die Situation der Produzenten aller dieser Artikel; es werden auch ihre Nachfragen nach anderen Waren zunehmen, die Preis- und Absatzsteigerung also immer weitere Fortschritte machen und sich auf eine immer größere Zahl von Artikeln und zuletzt auf alle erstrecken." [88]

Würde sich die Geldwertverringerung mit einem Schlage in der ganzen Volkswirtschaft "allen Waren gegenüber in gleichem Maße durchsetzen, dann würde sie keine Verschiebung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse mit sich bringen. Denn nur um Verschiebungen in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen kann es sich hier handeln. Die Volkswirtschaft als solche gewinnt dabei nichts, und was der Einzelne gewinnt, müssen andere verlieren. Jene, die solche Waren und Dienstleistungen zu Markte bringen, deren Preise zuerst von der aufsteigenden Preisbewegung erfaßt werden, sind in der günstigen Lage, bereits zu höheren Preisen verkaufen zu können, während sie die Waren und Dienstleistungen, die sie zu erstehen wünschen, noch zu den älteren, niedrigeren Preisen einzukaufen vermögen. Anderseits wieder müssen diejenigen, die solche Güter und Dienste verkaufen, die erst später im Preise steigen, bereits zu höheren Preisen einkaufen, während sie selbst heim Verkaufe nur die älteren, niedrigeren Preise zu erzielen vermögen. Solange der Prozeß der Geldwertveränderung noch im Gange ist, werden beständig solche Gewinne der einen und Verluste der anderen eintreten. Ist der Prozeß endlich zum Stillstande gekommen, dann hören zwar auch diese Gewinne und Verluste auf, doch die Gewinne und Verluste der Zwischenzeit werden nicht wieder ausgeglichen. Die Kriegslieferanten im weitesten Sinne des Wortes (so daß auch die Arbeiter der Kriegsindustrie und die Militärpersonen, die erhöhte Kriegsbezüge erhielten, darunter [129] inbegriffen sind) haben also nicht nur daraus Gewinn gezogen, daß sie unten Geschäftsgang im gewöhnlichen Sinne des Wortes hatten, sondern auch aus dem Umstände, daß ihnen die zusätzliche Geldmenge zunächst zugeflossen ist. Die Preissteigerung der Güter und Dienstleistungen, die sie zu Markte brachten, war eine doppelte; einmal war sie durch die erhöhte Nachfrage nach ihrer Arbeit hervorgerufen, dann aber auch durch das vermehrte Angebot an Geld.

Das ist das Wesen der sogenannten Kriegskonjunktur; sie bereichert die einen uni einen Betrag, den sie anderen entzogen hat. Sie ist nicht steigender Reichtum, sondern Vermögens- und Einkommensverschiebung. [ [89]

Der Reichtum Deutschlands und Deutschösterreichs war vor allem Reichtum an Kapital. Man mag die Bodenschätze und die natürlichen Hilfsquellen unseres Landes noch so hoch veranschlagen, so muß man doch zugeben, daß es andere Länder gibt, die von der Natur reicher ausgestattet sind, deren Boden fruchtbarer, deren Bergwerke ergiebiger, deren Wasserkräfte stärker und deren Gebiet im Hinblick auf die Lage am Meere, den Zug der Gebirge und den Lauf der Ströme leichter zugänglich ist. Die Vorzüge der deutschen Volkswirtschaft beruhten nicht auf dem Naturfaktor, sondern auf dem persönlichen Faktor der Produktion und auf einem geschichtlich gegebenen Vorsprunge. Diese Vorzüge äußerten sich in der relativ großen Kapitalansammlung, nämlich in der Bodenverbesserung der land- und forstwirtschaftlich benützten Fläche und in dem reichen Besitz an produzierten Produktionsmitteln aller Art, an Straßen, Eisenbahnen und anderen Verkehrsanstalten, an Gebäuden und ihrer Einrichtung, an Maschinen und Werkzeugen, schließlich an schon gewonnenen Rohstoffen und Halbfabrikaten. Dieses Kapital war vom deutschen Volk in langer Arbeit angesammelt worden; es war das Werkzeug, das das deutsche Industrievolk für seine Arbeit brauchte und von dessen Verwendung es lebte. Von Jahr zu Jahr wurde dieser Besitz durch Sparsamkeit gemehrt.

Die im Boden schlummernden Naturkräfte werden durch sachgemäße Benützung im Produktionsprozesse nicht zerstört; sie bilden in diesem Sinn einen ewigen Produktionsfaktor. Die im Boden aufgehäuften Bestände an Rohstoffen stellen nur einen begrenzten Vorrat dar, den der Mensch Stück für Stück aufzehrt, ohne imstande zu sein, ihn irgendwie zu ersetzen. Auch die Kapitalgüter haben keinen ewigen Bestand, sie werden als produzierte Produktionsmittel, als [130] Halbfabrikate, die sie in einem weiteren Sinne des Wortes darstellen, im Produktionsprozesse nach und nach in Genußgüter umgewandelt. Bei den einen, beim sogenannten umlaufenden Kapitale, vollzieht sich dies schneller, bei den anderen, bei dem sogenannten stehenden Kapitale, langsamer. Aber auch dieses wird in der Produktion aufgezehrt. Auch die Maschinen und Werkzeuge haben keinen ewigen Bestand; früher oder später werden sie durch Abnützung unbrauchbar. Nicht nur die Mehrung, auch schon die bloße Erhaltung des Kapitalbesitzes setzt daher eine beständige Erneuerung der Kapitalgüte.r voraus. An Stelle der Rohstoffe und Halbfabrikate, die, zu genußreifen Waren umgewandelt, dem Verbrauche zugeführt werden, müssen andere treten, und die im Produktionsprozesse abgenützten Maschinen und Werkzeuge aller Art müssen in dem Maß, in dem die Abnützung Fortschritte macht, durch andere ersetzt werden. Die Lösung dieser Aufgabe setzt voraus, daß man sich über das Maß der Abnützung und des Verbrauches der Produktivgüter ein klares Urteil bildet. Bei Produktionsmitteln, die man immer nur durch gleichartige ersetzen will, ist dies nicht schwer. Man kann das Straßensystem eines Landes erhalten, wenn man trachtet, den Zustand der einzelnen Teile in technischer Hinsicht durch unaufhörliche Instandhaltungsarbeiten auf gleicher Höhe zu erhalten, und man kann es erweitern, indem man immer wieder neue Straßen hinzufügt oder die bestehenden ausbaut. In einer statischen Gesellschaft, in der keine Veränderungen in der Wirtschaft vor sich gehen, wäre dieses Verfahren bei allen Produktionsmitteln anwendbar. In einer Wirtschaft, die Veränderungen unterworfen ist, genügt dieses einfache Verfahren für die Mehrzahl der Produktionsmittel nicht. Denn die verbrauchten und abgenützten Produktionsmittel werden nicht durch gleichartige, sondern durch andere ersetzt. An Stelle der abgenützten Werkzeuge treten nicht solche von gleicher Art, sondern bessere, wenn nicht überhaupt die ganze Richtung der Produktion geändert wird und der Ersatz der in einem Produktionszweige, der eingeschränkt wird, verbrauchten Kapitalgüter durch Einstellung von neuen Kapitalgütern in anderen zu erweiternden oder neu zu begründenden Produktionszweigen erfolgt. An Stelle der Naturalrechnung, die für die primitiven Verhältnisse einer stationären Wirtschaft hinreicht, muß daher die Wertrechnung in Geld treten.

Die einzelnen Kapitalgüter gehen im Produktionsprozeß unter. Das Kapital als solches aber bleibt erhalten und wird gemehrt. Das ist aber nicht eine Naturnotwendigkeit, die von dem Willen der wirtschaftenden Personen unabhängig wäre, vielmehr das Ergebnis einer bewußten Tätigkeit, die Produktion und Konsum so einrichtet, daß die Wertsumme des Kapitales zumindest erhalten wird, und nur die darüber hinaus erzielten Überschüsse zur konsumtiven Verwendung bestimmt. Die Voraussetzung dafür ist die Wertrechnung, deren Hilfsmittel [131] die Buchführung ist. Die volkswirtschaftliche Aufgabe der Buchführung ist die Prüfung des Erfolges der Produktion. Sie hat festzustellen, ob das Kapital gemehrt, erhalten oder vermindert wurde. Auf den Ergebnissen, zu denen sie gelangt, baut sich dann der Wirtschaftsplan und die Verteilung der Güter zwischen Produktion und Konsum auf.

Die Buchführung ist nichts Vollkommenes. Die Exaktheit ihrer Zahlen, die dem Uneingeweihten gewaltig imponiert, ist nur Schein. Die Bewertung von Gütern und Rechten, mit der sie arbeiten muß, ist immer auf Schätzungen aufgebaut, die auf Erfassung von mehr oder weniger unsicheren Elementen beruhen. Soweit diese Unsicherheit von der Warenseite herstammt, sucht die kaufmännische Praxis, die durch die Normen der Handelsgesetzgebung gebilligt wird, ihr dadurch vorzubeugen, daß sie möglichst vorsichtig vorgeht, das heißt niedrige Bewertung der Aktivposten und hohe Bewertung der Passivposten verlangt. Aber die Mängel der Buchführung rühren auch davon her, daß die Bewertungen von der Geldseite her unsicher sind, weil auch der Geldwert Veränderungen unterworfen ist. Auf diese Mängel nimmt das Leben, soweit das Sachgeld, das sogenannte vollwertige Metallgeld, in Betracht kommt, keine Rücksicht. Denn die kaufmännische Praxis sowohl als das Recht haben sich die naive Anschauung des Verkehres, daß das Geld wertstabil sei, das heißt, daß das zwischen dem Geld und den Waren bestehende Austauschverhältnis von Seite des Geldes her keinen Veränderungen unterworfen ist, voll zu eigen gemacht. [90] Die Buchführung nimmt das Geld als wertstabil an. Nur die Schwankungen der Kredit- und Zeichengeldwährungen, der sogenannten Papierwährungen, gegenüber dem Sachgelde wurden von der kaufmännischen Übung durch Einstellung von entsprechenden Reserven und durch Abschreibungen berücksichtigt. Unglückseligerweise hat die deutsche etatistische Nationalökonomie auch in diesem Punkt einen Wandel der Anschauungen angebahnt. Sie hat dadurch, daß sie in der nominalistischen Geldtheorie die Anschauung von der Wertstabilität des Metallgeldes auf alles Geld schlechthin ausdehnte, die Vorbedingungen geschaffen für die unheilvollen Wirkungen der Geldwertverringerung, die wir nun zu verzeichnen haben.

Die Unternehmer achteten nicht darauf, daß die Geldwertverringerung alle Ansätze in den Bilanzen nun als unzutreffend erscheinen ließ. Sie unterließen es, bei der Aufstellung der Bilanzen auf die Geldwertveränderung, die sich seit der letzten Bilanz vollzogen hat, Rücksicht zu nehmen. So konnte es geschehen, daß sie regelmäßig einen Teil des Stammkapitales dem Jahresreinertrage zugeschlagen haben und als Gewinn ansahen, ausschütteten und verzehrten. Der Fehler, der (in der Bilanz einer Aktiengesellschaft) durch die [132] Nichtberücksichtigung der Geldentwertung auf der Passivseite gemacht wurde, wurde nur zum Teil dadurch ausgeglichen, daß auch auf der Aktivseite die Vermögensbestandteile nicht mit einem höheren Wert eingesetzt wurden. Denn diese Nichtberücksichtigung der nominellen Wertsteigerung umfaßte nicht auch das umlaufende Kapital, da bei den Vorräten in dem Maß, in dem sie zur Veräußerung gelangten, die höhere Bewertung zum Vorschein kam; das gerade war es ja, was den Inflationsmehrgewinn der Unternehmungen ausmachte. Die Nichtberücksichtigung der Geldentwertung auf der Aktivseite blieb auf das fixe Anlagekapital beschränkt und hatte zur Folge, daß auch bei den Abschreibungen mit kleineren, den alten Geldwertverhältnissen entsprechenden Ansätzen gearbeitet wurde. Daß die Unternehmungen vielfach besondere Reserven anlegten, um für die Umstellung auf die Friedenswirtschaft vorzusorgen, hat dies in der Regel nicht wettmachen können.

Die deutsche Volkswirtschaft trat in den Krieg mit einem reichen Vorrat an Rohstoffen und Halbfabrikaten aller Art ein. Im Frieden wurde das, was von diesen Vorräten dem Gebrauch oder Verbrauch zugeführt wurde, regelmäßig ersetzt. Im Kriege wurden die Vorräte aufgezehrt, ohne daß Ersatz beschafft werden konnte. Sie sind aus der Volkswirtschaft verschwunden; um ihren Wert ist das Volksvermögen vermindert worden. Das konnte dadurch verschleiert werden, daß im Vermögen des Händlers oder Erzeugers an ihre Stelle Geldforderungen — in der Regel Kriegsanleiheforderungen — getreten waren. Der Geschäftsmann dachte, er sei so reich wie zuvor; meist wird er die Ware zu besseren Preisen, als er im Frieden erhofft, abgesetzt und nun geglaubt haben, er sei reicher geworden. Daß seine Forderungen durch das Sinken des Geldwertes immer mehr entwertet wurden, beachtete er zunächst nicht. Die ausländischen Effekten, die er besaß, stiegen in dem in Mark oder Kronen ausgedrückten Kurse. Auch dies hielt er für einen Gewinn. [91] Wenn er diese Scheingewinne ganz oder teilweise verzehrte, so minderte er, ohne es zu merken, sein Kapital. [92]

Die Inflation zog so einen Schleier um die Kapitalsaufzehrung. Der einzelne glaubte, er sei reicher geworden oder habe zumindest nicht verloren, während in Wahrheit sein Vermögen zusammenschmolz. [133] Der Staat besteuerte diese Verluste der Einzelwirtschaften als „Kriegsgewinne" und verausgabte die eingenommenen Beträge zu unproduktiven Zwecken. Die Öffentlichkeit aber wurde nicht müde, sich mit den großen Kriegsgewinnen zu beschäftigen, die zum guten Teile keine Gewinne waren.

Alle gerieten in einen Taumel. Wer mehr Geld einnahm als früher — und das war bei den meisten Unternehmern und Lohnempfängern und schließlich im weiteren Fortschreiten der Geldentwertung bei allen Personen mit Ausnahme der rentenbeziehenden Kapitalisten der Fall — freute sich seines Scheingewinnes. Während die ganze Volkswirtschaft ihr Kapital aufzehrte und selbst die in den einzelnen Haushalten aufgehäuften Vorräte an gebrauchsfertigen Gütern dahinschwanden, freuten sich alle ob der Prosperität. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, begannen Volkswirte tiefgründige Untersuchungen über ihre Ursachen anzustellen.

Rationelle Wirtschaft ist erst möglich, seit die Menschheit sich an den Geldgebrauch gewöhnt hat. Denn die Wirtschaftsrechnung kann die Zurückführung aller Werte auf einen einheitlichen Nenner nicht entbehren. In allen großen Kriegen wurde die Geldrechnung durch Inflation erschüttert. Früher war es die Münzverschlechterung, heute ist es die" Papiergeldinflation. Die wirtschaftliche Gebarung der Kriegführenden wird dadurch irre geleitet, die wahren Folgen des Krieges ihren Blicken entzogen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Inflation ein unentbehrliches geistiges Mittel des Militarismus ist. Ohne sie würde die Rückwirkung des Krieges auf den Wohlstand viel schneller und eindringlicher offenbar werden, würde die Kriegsmüdigkeit viel früher eintreten.

Es ist nicht leicht, schon heute den ganzen Umfang der materiellen Schädigung zu überblicken, die der Krieg dem deutschen Volke zugefügt hat. Ein solcher Versuch ist von vornherein daran gebunden, von den Verhältnissen der Wirtschaft vor dem Kriege auszugehen. Schon darum allein muß er unvollständig bleiben. Denn die dynamischen Wirkungen des Weltkrieges auf das Wirtschaftsleben der Welt können dabei gar nicht in Betracht gezogen werden, da uns jede Möglichkeit mangelt, die ganze Größe des Verlustes zu überblicken, den die Desorganisation der liberalen Wirtschaftsordnung, des sogenannten kapitalistischen Systems der Volkswirtschaft, nach sich zieht. Nirgends gehen die Meinungen so weit auseinander wie in diesem Punkte. Während die einen die Ansicht vertreten, daß durch die Zerschlagung des kapitalistischen Produktionsapparates der Weg freigemacht wird für eine ungeahnte Kulturentwicklung, fürchten die anderen davon einen Rückfall in die Barbarei.

Aber auch wenn wir davon ganz absehen, dürfen wir zur Beurteilung der wirtschaftlichen Folgen des Weltkrieges für das deutsche Volk uns keineswegs darauf beschränken, lediglich die schon wirklich [134] eingetretenen Kriegsschäden und Kriegsverluste in Rechnung zu stellen. Schwerer als diese an und für sich ungeheuren Vermögensverluste wiegen auch hier die Nachteile dynamischer Natur. Das deutsche Volk wird wirtschaftlich auf sein unzulängliches Siedlungsgebiet in Europa beschränkt bleiben, Millionen Deutscher, die bisher im Ausland ihr Brot erworben haben, werden zwangsweise repatriiert. Dann hat das deutsche Volk seinen beträchtlichen Kapitalbesitz im Auslande verloren. Überdies ist die Grundlage der deutschen Volkswirtschaft, die Verarbeitung von fremden Rohstoffen für fremden Bedarf, erschüttert. Das deutsche Volk wird damit für lange Zeit zu einem armen Volke gemacht.

Noch ungünstiger als die Lage des deutschen Volkes im allgemeinen gestaltet sich die Lage der Deutschösterreicher. Die Kriegskosten des habsburgischen Reiches sind nahezu zur Gänze von den Deutschösterreicheern bestritten worden. Zu den Auslagen der Monarchie hat die österreichische Reichshälfte in einem weit stärkerem Maße beigetragen als die ungarische Reichshälfte. Die Leistungen, die der österreichischen Reichshälfte oblagen, wurden wieder fast ausschließlich von den Deutschen aufgebracht. Das österreichische Steuersystem hat die direkten Steuern fast ausschließlich auf die gewerblichen und kaufmännischen Unternehmer umgelegt und die Landwirtschaft nahezu frei gelassen. Dieser Modus der Besteuerung bedeutete in Wirklichkeit nichts anderes als steuerliche Überlastung der Deutschen und Entlastung der Nichtdeutschen. Noch viel stärker kommt aber in Betracht, daß die Kriegsanleihen fast durchwegs von der deutschen Bevölkerung Österreichs gezeichnet wurden, und daß jetzt, nach Auflösung des Staates, die Nichtdeutschen jeden Beitrag zur Verzinsung und Tilgung der Kriegsanleihen verweigern. Überdies ist der große deutsche Besitz an Geldforderungen gegen die Nichtdeutschen durch die Geldentwertung stark herabgemindert worden. Der sehr beträchtliche Besitz der Deutschösterreicher an industriellen und gewerblichen Unternehmungen und auch an landwirtschaftlichen Gütern in nichtdeutschen Gebieten aber wird teils durch die Nationalisierungs- und Sozialisierungsaktionen, teils durch die Bestimmungen des Friedensvertrages enteignet.

5. Die Deckung der staatlichen Kriegskosten.

Für die Deckung der Kosten, welche dem Staatsschatze aus der Kriegführung erwachsen sind, standen drei Wege offen.

Der erste Weg ist der der Beschlagnahme der für die Kriegführung benötigten Sachgüter und der Inanspruchnahme der für die Kriegführung benötigten persönlichen Dienste ohne jegliche Entschädigung oder gegen eine unzulängliche Entschädigung. Dieses Mittel [135] schien das einfachste zu sein, mid die konsequentesten Vertreter des Militarismus und des Sozialismus sind entschieden für seine Anwendung eingetreten. Man hat von ihm einen ausgedehnten Gebrauch dort gemacht, wo es sich um die Heranziehung der Personen zur Kriegführung selbst handelte. Die allgemeine Wehrpflicht ist im Krieg in manchen Staaten neu eingeführt und in anderen wesentlich erweitert worden. Daß der Soldat eine im Verhältnisse zum Lohne der freien Arbeit nur unbeträchtliche Vergütung für seine Dienste erhalten hat, während der Arbeiter der Munitionsindustrie hoch entlohnt wurde und den Besitzern sachlicher Kriegsmittel, welche enteignet oder beschlagnahmt wurden, eine wenigstens einigermaßen entsprechende Entschädigung zuteil wurde, ist mit Recht als eine auffallende Tatsache bezeichnet worden. Die Erklärung für diese Anomalie mag darin gefunden werden, daß sich auch für den höchsten Lohn heute nur wenig Leute anwerben ließen, und daß es jedenfalls wenig aussichtsvoll wäre, ein Millionenheer auf Grund von Werbungen zusammenstellen zu wollen. Im Vergleiche mit den ungeheuren Opfern, die der Staat durch die Blutsteuer von dem einzelnen fordert, erscheint es ziemlich nebensächlich, ob er den Zeitverlust, den der Soldat durch seine Militärdienstpflicht erleidet, mehr oder weniger reichlich entlohnt. Für Kriegsdienste gibt es in der industriellen Gesellschaft keine angemessene Entlohnung, sie haben in einer solchen Gesellschaft überhaupt keinen Preis; sie können nur zwangsweise gefordert werden, und dann ist es schon von geringerer Bedeutung, ob man sie reichlicher bezahlt oder mit den lächerlich geringen Sätzen, mit denen in Deutschland der Mann entlohnt wurde. In Österreich bekam der Frontsoldat eine Löhnung von 16 Heller und eine Feldzulage von 20 Heller, zusammen 36 Heller täglich ! [93] Daß die Reserveoffiziere auch in den Kontinentalstaaten und die englische und amerikanische Mannschaft ein höheres Entgelt bekamen, erklärt sich aus dem Umstände, daß sich in den Kontinentalstaaten für Offiziersdienste und in England und Amerika für Militärdienste überhaupt als Friedensarbeit ein Lohnsatz herausgebildet hatte, an den man im Krieg anknüpfen mußte. Aber wie hoch oder wie niedrig immer die Entlohnung des Kriegers sein mag, sie ist niemals als eine volle Entschädigung des zwangsweise eingestellten Mannes anzusehen. Das Opfer, das man dem Zwangssoldaten zumutet, kann nur mit ideellen Werten, nie mit materiellen kompensiert werden. [94]

[136]

Im übrigen kam die entschädigungslose Enteignung der Kriegsmittel kaum in Frage. Sie konnte schon ihrer Natur nach nur dort Platz greifen, wo es sich um Güter handelte, die bei Beginn des Krieges in den Einzelwirtschaften in ausreichender Menge vorhanden waren, nicht aber auch dort, wo es sich um die Produktion von neuen Gütern handelte.

Der zweite Weg, der dem Staate zur Beschaffung der Mittel zur Verfügung stand, war der der Einführung neuer Steuern und der Erhöhung des Ausmaßes schon bestehender Steuern. Auch von diesem Mittel ist überall soweit Gebrauch gemacht worden, als es während des Krieges geschehen konnte. Man hat von mancher Seite die Forderung aufgestellt, der Staat möge danach trachten, schon während der Dauer des Krieges die gesamten Kriegskosten durch Steuern hereinzubringen; dabei wurde auf England hingewiesen, das in früheren Kriegen diese Politik verfolgt habe, nichtig ist, daß England die Kosten kleinerer Kriege, die im Verhältnisse zu seinem Nationalreichtum nur unbedeutend waren, schon während der Kriegsdauer zum größten Teil durch Steuern gedeckt hat. Jn den großen Kriegen, die England geführt hat, war dies aber nicht der Fall, weder in den napoleonischen Kriegen noch im Weltkriege. Wenn man so ungeheure Summen, wie sie dieser Krieg erforderte, sogleich ganz auf dem Wege der Besteuerung ohne Aufnahme von Schulden hätte hereinbringen wollen, dann hätte man entweder bei der Veranlagung und Erhebung der Steuern die Rücksichtnahme auf die Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit in der Verteilung der Steuerlasten beiseite lassen und dort nehmen müssen, wo man im Augenblicke nehmen konnte. Man hätte den Besitzern mobiler Kapitalien (nicht nur den großen, sondern auch den kleinen, z. B. den Sparkasseneinlegern) alles fortnehmen und anderseits die Besitzer von Realitäten mehr oder weniger frei lassen müssen.

Veranlagt man aber die hohen Kriegssteuern (denn sie hätten sehr hoch sein müssen, wenn durch sie alljährlich die in demselben Jahre verausgabten Kriegskosten voll zu decken gewesen wären) gleichmäßig, dann müssen diejenigen, welche keine baren Mittel zur Steuerentrichtung haben, durch Schuldaufnahme sich die Mittel dazu beschaffen. Die Grundbesitzer und Besitzer gewerblicher Unternehmungen sind dann genötigt, in großem Maße zur Schuldaufnahme zu schreiten oder gar einen Teil ihres Besitzes zu veräußern. Im ersten Falle würde also zwar nicht der Staat, wohl aber viele Private Schulden machen und sich damit den Kapitalbesitzern zu Zinsenzahlungen verpflichten müssen. Nun ist aber der private Kredit im allgemeinen teurer als der öffentliche Kredit. Jene Grund- und Hausbesitzer hätten also an Zinsen für ihre Privatschulden mehr zu zahlen gehabt als sie indirekt an Zinsen der Staatsschuld bezahlen müssen. Hätten sie sich aber, um die Steuer zu entrichten, zur Veräußerung von [137] kleineren oder größeren Teilen ihres Besitzes veranlaßt gesehen, so hätte dieses plötzliche Ausbieten eines großen Teiles des Realeigentums zum Verkaufe die Preise stark gedrückt, so daß die früheren Besitzer einen Verlust und die Kapitalisten, die in diesem Augenblicke bares Geld zur Verfügung gehabt hätten, durch billigen Kauf einen Gewinn erzielt haben würden. Daß der Staat die Kosten des Krieges nicht zur Gänze durch Steuern, sondern zum größten Teil durch Aufnahme von Staatsschulden bestritten hat, deren Zinsen aus dem Erträgnisse der Steuern gezahlt werden, bedeutet also nicht, wie vielfach angenommen wird, eine Begünstigung der Kapitalisten. [95]

Man hört mitunter die Auffassung vertreten, die Finanzierung des Krieges durch Staatsanleihen bedeute eine Überwälzung der Kriegskosten von dem gegenwärtigen auf die folgenden Geschlechter. Manche fügen hinzu, daß diese Überwälzung auch gerecht sei, da doch der Krieg nicht nur im Interesse der gegenwärtigen Generation, sondern auch im Interesse unserer Kinder und Enkel geführt worden sei. Diese Auffassung ist vollkommen unrichtig. Der Krieg kann nur mit gegenwärtigen Gütern geführt werden. Man kann nur mit Waffen kämpfen, die bereits vorhanden sind; man kann allen Kriegsbedarf nur dem bereits vorhandenen Vermögen entnehmen. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkte betrachtet, führt die gegenwärtige Generation den Krieg, und sie muß auch alle sachlichen Kriegskosten tragen. Die künftigen Geschlechter sind nur insofern mitbetroffen, als sie unsere Erben sind und wir ihnen weniger hinterlassen werden, als wir ihnen ohne Dazutreten des Krieges hätten hinterlassen können. Ob der Staat nun den Krieg durch Schulden oder anders finanziert, kann an dieser Tatsache nichts ändern. Daß der größte Teil der Kriegskosten durch Staatsanleihen finanziert wurde, bedeutet keineswegs eine Überwälzung der Kriegslasten auf die Zukunft, sondern nur ein bestimmtes Verteilungsprinzip der Kriegskosten. Wenn z. B. der Staat jedem Staatsbürger die Hälfte seines Vermögens entziehen müßte, um in die Lage zu kommen, den Krieg finanziell zu bestreiten, so ist es zunächst gleichgültig, ob er das in der Weise tut, daß er ihm einmal die Hälfte seines Vermögens als Steuer vorschreibt, oder ob er von ihm alljährlich jenen Betrag als Steuer einzieht, der der Verzinsung der Hälfte seines Vermögens entspricht. Es ist dem Staatsbürger zunächst gleichgültig, ob er einmal 50.000 Kronen Steuer zu entrichten hat oder jahraus, jahrein die Zinsen von 50.000 Kronen. Von größter Bedeutung wird dies aber für alle jene Staatsbürger, die nicht imstande wären, jene 50.000 Kronen ohne Schuldaufnahme zu zahlen, die sich den auf sie entfallenden Steuerbetrag erst borgen müßten. Denn sie müßten für dieses Darlehen, das sie als Private aufnehmen, mehr an Zinsen leisten als der Staat, der den billigsten [138] Kredit genießt, seinen Gläubigern vergütet. Setzen wir diese Differenz zwischen dem teureren Privatkredit und dem billigeren Staatskredit nur mit ein Prozent a,n, so bedeutet dies in unserem Beispiele für den Steuerpflichtigen eine jährliche Ersparnis von 500 Kronen. Wenn er Jahr für Jahr seinen Beitrag zur Verzinsung des auf ihn entfallenden Teiles der Staatsschuld zu leisten hat, erspart er 500 Kronen gegenüber dem Betrage, den er alljährlich aufwenden müßte zur Verzinsung eines privaten Darlehens, das ihn instand gesetzt hätte, die vorübergehenden hohen Kriegssteuern zu bezahlen.

Je mehr im Verlaufe des Krieges der sozialistische Gedanke an Kraft gewann, desto mehr ward man darauf bedacht, die Kriegskosten durch besondere Steuern auf den Besitz zu decken.

Der Gedanke, das im Krieg erzielte Mehreinkommen und den Vermögenszuwachs einer besonderen progressiven Besteuerung zu unterziehen, muß zunächst noch nicht sozialistisch sein. An und für sich ist das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht sozialistisch. Daß diejenigen, welche im Krieg ein höheres Einkommen erzielten als im Frieden oder ihr Vermögen gemehrt hatten, caeteris paribus leistungsfähiger waren als jene, denen es nicht gelungen war, ihr Einkommen oder ihr Vermögen zu vergrößern, kann nicht bestritten werden. Dabei kann die Frage ganz ausgeschaltet werden, wie weit diese nominellen Vermögens- und Einkommenserweiterungen als reale Einkommens- und Vermögenserweiterungen anzusehen waren, und ob es sich hier nicht bloß um nominelle Vergrößerung des Geldausdruckes infolge der Geldwertverringerung handelte. Denn zweifellos befand sich jemand, der vor dem Krieg ein Einkommen von 10.000 Kronen hatte und es im Krieg auf 20.000 Kronen gemehrt hat, in einer günstigeren Lage als jemand, der bei seinem Vorkriegseinkommen von 10.000 Kronen verblieben war. Allerdings lag in dieser Nichtberücksichtigung des Geldwertes, wie es bei der allgemeinen Tendenz der deutschen und der österreichischen Gesetzgebung nur selbstverständlich ist, eine beabsichtigte Benachteiligung des mobilen Kapitales und eine beabsichtigte Bevorzugung der Grundbesitzer, besonders der Landwirte.

Die sozialistischen Tendenzen der Kriegsgewinnbesteuerung traten vor allem in ihren Motiven hervor. Die Kriegsgewinnsteuern sind von der Anschauung getragen, daß jeder Unternehmergewinn einen Raub an der Gesamtheit darstelle, und daß er von rechtswegen eigentlich gänzlich einzuziehen wäre. Diese Tendenz tritt in dem Ausmaße der Sätze zutage, welche sich immer mehr und mehr der völligen Konfiskation des gesamten Vermögensoder Einkonmmenszuwachses annähern und zweifellos auch dieses Ziel, daß sie sich gesetzt haben, schließlich erreichen werden. Denn darüber darf man sich wohl keiner Täuschung hingeben, daß die abfällige Beurteilung des Untemehmereinkommens, die in diesen Kriegssteuern zutage tritt, nicht auf die Verhältnisse [139] der Kriegszeit allein zurückführt, und daß die Begründung, die für die Kriegssteuern gegeben wurde, daß in dieser Zeit der Volksnot doch jeder Vermögenszuwachs und jeder Einkommenszuwachs unethisch sei, mit derselben Berechtigung, wenn auch mit anderer Ableitung im Einzelnen, auch in der Zeit nach dem Kriege wird aufrecht erhalten werden können.

Ganz klar liegen die sozialistischen Tendenzen auch bei der Idee der einmaligen Vermögensabgabe. Die Popularität, die das Schlagwort von der einmaligen Vermögensabgabe genießt, eine Popularität, die so groß ist, daß sie überhaupt jede ernstliche Diskussion über ihre Zweckmäßigkeit unmöglich macht, ist nur durch die dem Sondereigentum abgeneigte Stimmung der gesamten Bevölkerung zu erklären. Die Frage, ob eine einmalige Besitzabgabe einer laufenden vorzuziehen sei, werden Sozialisten und Liberale ganz verschieden beantworten. Man kann darauf hinweisen, daß die laufende, jährlich wiederkehrende Besitzabgabe (ganz abgesehen davon, daß sie gerechter und gleichmäßiger ist, da sie gestattet, Fehler, welche bei der Veranlagung in einem Jahre vorgekommen sind, im nächsten Jahre zu beseitigen, und da sie unabhängig ist von dem Zufall des augenblicklichen Besitzes und seiner Bewertung, weil sie jahraus, jahrein den Besitz nach der momentanen Höhe seines Vermögens Standes erfaßt) gegenüber der einmaligen Besitzabgabe den Vorteil bietet, daß sie die Kapitalgüter der Verfügung des Einzelnen nicht entzieht. Wenn jemand ein Unternehmen mit einem eigenen Kapital von 100.000 Mark betreibt, so ist es für ihn durchaus nicht gleichgültig, ob er einmalig einen Betrag von 50.000 Mark als Besitzabgabe zu entrichten hat, oder alljährlich nur jenen Betrag, welcher den Zinsen, die der Staat für eine Schuld von 50.000 Mark zu vergüten hat, entspricht. Denn es steht zu erwarten, daß er mit diesem Kapital über den Betrag hinaus, den der Staat von ihm zur Verzinsung der 50.000 Mark beanspruchen müßte, einen Gewinn zu erzielen vermag, der ihm dann verbliebe. Aber für die Stellungnahme des Liberalen ist nicht dies maßgebend, sondern der soziale Gesichtspunkt, daß der Staat durch die einmalige Vermögensabgabe Kapital aus den Händen der Unternehmer in die der Kapitalisten und der Darlehensgeber überführen wird. Wenn der Unternehmer seinen Betrieb nach der Vermögensabgabe in demselben Umfange weiterführen soll, in dem er ihn vor der Vermögensabgabe betrieben hat, dann muß er sich den fehlenden Betrag durch Kreditaufnahme beschaffen, und er wird als Privater mehr an Zinsen zu zahlen haben als der Staat zu zahlen gehabt hätte. Die Folge der Vermögensabgabe wird daher eine stärkere Verschuldung der unternehmenden Schichten der Bevölkerung an die nicht unternehmenden Kapitalisten sein, die als Ergebnis der Abbürdung der Kriegsschuld einen Teil ihrer Forderung an den Staat gegen Privatforderungen eingetauscht haben werden.

[140]

Die Sozialisten freilich gehen noch weiter. Sie wollen die Vermögensabgabe nicht lediglich zur Abbürdung der Kriegsschulden verwenden — viele von ihnen wollen sich der Kriegsschulden in einfacher Weise durch einen Staats bankerott entledigen — sondern sie fordern die Vermögensabgabe, um dem Staate Eigentumsanteile an wirtschaftlichen Unternehmungen aller Art, an industriellen Aktiengesellschaften, am Bergbau und an landwirtschaftlichen Gütern einzuräumen, Sie kämpfen dabei mit dem Schlagwort der Beteiligung des Staates und der Gesellschaft an dem Ertrage der privatwirtschaftlichen Unternehmungen. [96] Als ob nicht der Staat ohnehin durch die Steuergesetzgebung an dem Ertrage aller Unternehmungen beteiligt wäre, so daß er nicht erst einen privatrechtlichen Titel benötigt, um Ertrag aus den Unternehmungen zu ziehen. Heute ist der Staat an dem Ertrage der Unternehmungen beteiligt, ohne daß ihm irgendwelche Mitwirkung bei der Leitung des Produktionsprozesses obliegt, und ohne daß er in irgend einer Weise durch etwaige Verluste des Unternehmens geschädigt werden kann. Wenn aber der Staat an allen Unternehmungen Anteile besitzen wird, wird er auch am Verlust partizipieren und überdies genötigt sein, sich um die Verwaltung der einzelnen Betriebe selbst mitzubekümmern. Das aber gerade ist es ja, was die Sozialisten wünschen.

6. Kriegssozialismus und echter Sozialismus.

Die Frage, ob der sogenannte Kriegssozialismus echter Sozialismus sei, ist wiederholt und mit großem Eifer behandelt worden. Die einen haben die Frage ebenso entschieden bejaht, wie sie von den anderen entschieden verneint wurde. Dabei konnte die auffällige Erscheinung beobachtet werden, daß in dem Maße, in dem der Krieg weiter fortschritt und es immer mehr offenbar wurde, daß er mit einem Mißerfolge der deutschen Sache abschließen wird, auch die Neigung, den Kriegssozialismus als echten Sozialismus zu bezeichnen, abnahm.

Um das Problem richtig behandeln zu können, muß man sich zunächst vor Augen halten, daß Sozialismus Überführung der Produktionsmittel aus dem Sondereigentum Einzelner in das Eigentum der Gesellschaft bedeutet. Das allein und nichts anderes ist Sozialismus. Alles übrige ist Beiwerk. Völlig gleichgültig für die Entscheidung unserer Frage ist es z. B., wer der Machthaber in einem sozialisierten Gemeinwesen ist, ob ein Erbkaiser, ein Caesar oder die demokratisch organisierte Volksgesamtheit. Es gehört nicht zum Wesen des sozialisierten Gemeinwesens, das es unter der Leitung von Arbeiter- und [141] Soldatenräten steht. Auch andere Mächte können den Sozialismus verwirklichen, etwa die Kirche oder der Militärstaat. Übrigens ist zu bemerken, daß eine auf Grund völliger Allgemeinheit und Gleichheit des Stimmrechtes durchgeführte Wahl der Generaldirektion der sozialistischen Volkswirtschaft in Deutschland in den ersten Kriegsjahren für Hindenburg und Ludendorff eine weit stärkere Majorität ergeben hätte als sie Lenin und Trotzki je in Rußland hätten erreichen können.

Unwesentlich ist auch die Art der Verwendung der Erträgnisse der sozialisierten Wirtschaft. Es ist für unser Problem gleichgültig, ob dieses Erträgnis in erster Reihe Kulturzwecken oder der Kriegführung dient. Im Sinne des deutschen Volkes oder doch seiner überwiegenden Mehrheit war es unzweifelhaft, den Sieg im Kriege als den augenblicklich dringendsten Zweck anzusehen. Ob man das billigt oder nicht, ist gleichgültig. [97]

Ebenso gleichgültig ist es, daß der Kriegssozialismus ohne formelle Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse durchgeführt wurde. Nicht auf den Buchstaben des Gesetzes kommt es an, sondern auf den materiellen Inhalt der Rechtsnormen.

Halten wir uns dies alles gegenwärtig, dann ist es nicht schwer zu erkennen, daß die kriegssozialistischen Maßnahmen darauf hinausliefen, die Wirtschaft auf sozialistische Grundlage zu stellen. Das Eigentumsrecht blieb formell unangetastet. Der Eigentümer blieb dem Buchstaben des Gesetzes nach auch weiter Eigentümer der Produktionsmittel. Doch die Verfügungsgewalt über den Betrieb wurde ihm entzogen. Es war nicht mehr seine Sache, zu bestimmen, was produziert werden soll, sich die Rohstoffe zu beschaffen, die Arbeiter anzuwerben und schließlich das Produkt zu verkaufen. Das Ziel der Produktion wurde ihm vorgeschrieben, die Rohstoffe wurden ihm zu bestimmten Preisen geliefert, die Arbeiter wurden ihm zugewiesen und mußten von ihm nach Sätzen, auf deren Bestimmung er keinen unmittelbaren Einfluß hatte, entlohnt werden. Das Produkt aber wurde ihm wieder zu einem bestimmten Preise abgenommen, [142] wenn nicht überhaupt die ganze Erzeugung nur noch im Lohne erfolgte. Diese Organisation ist nicht in allen Industriezweigen gleichmäßig und gleichzeitig durchgeführt worden, in manchen überhaupt nicht. Auch war ihr Netz noch weitmaschig genug, um manches dazwischen durchzulassen. Eine so gewaltige Reform, die einen vollkommenen Umsturz der Produktionsverhältnisse bewirkt, läßt sich eben nicht mit einem Schlage durchführen. Aber das Ziel, das man anstrebte und dem man sich mit jeder neuen Verfügung immer mehr näherte, war dieses und kein anderes. Der Kriegssozialismus war durchaus kein vollendeter Sozialismus, aber er war volle und echte Sozialisierung, er war ein Weg, der zum Sozialismus führen sollte und hinführte. Hätte der Krieg länger gedauert, dann wäre es zur vollen und ausnahmslosen Sozialisierung gekommen, wenn man an dem eingeschlagenen Weg festgehalten hätte.

Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Ertrag der Produktion zunächst dem Unternehmer zufloß. Die im engeren Sinne als kriegssozialistisch bezeichneten Maßnahmen haben den Unternehmergewinn mid den Kapitalzins nicht grundsätzlich beseitigt, wiewohl die Festsetzung der Preise durch die Behörden in dieser Richtung manchen Vorstoß unternahm. Doch zum vollen Bild des Kriegssozialismus gehören eben alle wirtschaftspolitischen Verfügungen der Kriegszeit; es wäre fehlerhaft, nur bestimmte Maßnahmen ins Auge zu fassen und andere außer acht zu lassen. Was die Wirtschaftsdiktatur der verschiedenen Organisationsstellen der Kriegswirtschaft freiließ, wurde von der Steuerpolitik erfaßt. Die Kriegssteuerpolitik stellte den Grundsatz auf, daß jeder Mehrgewinn, der gegenüber den Erträgnissen der Vorkriegszeit erzielt wurde, wegzusteuern sei. Das war von Anfang an das Ziel, dem sie zustrebte mid dem sie mit jeder späteren Verfügung näherkam. Zweifellos hätte sie auch dieses Ziel vollständig erreicht, wenn man ihr nur noch kurze Zeit gelassen hätte. Man ging dabei ohne Rücksichtnahme auf die mittlerweile vor sich gegangene Veränderung des Geldwertes vor, so daß dies nicht etwa eine Beschränkung des Unternehmergewinnes auf das in der Vorkriegszeit erreichte Maß, sondern auf einen Bruchteil dieses Maßes bedeutete. Während so auf der einen Seite der Unternehmergewinn nach oben hin begrenzt wurde, wurde auf der anderen Seite dem Unternehmer kein bestimmter Rentenbezug garantiert. Nach wie vor hatte er den Verlust allein zu tragen, wogegen er keine Gewinstchance mehr behalten sollte.

Viele Sozialisten haben erklärt, daß sie nicht an eine entschädigungslose Enteignung der Unternehmer, Kapitalisten und Grundbesitzer denken. Manchen von ihnen schwebte dabei vor, daß ein sozialistisches Gemeinwesen den besitzenden Klassen den Fortbezug der zuletzt bezogenen Einkommen auch weiterhin belassen könne, da die Sozialisierung eine solch gewaltige Steigerung der Produktivität [143] im Gefolge haben werde, daß es ein leichtes sein werde, diese Entschädigung zu leisten. Bei einer solchen Regelung des Überganges zum Sozialismus wären die Unternehmer mit höheren Beträgen entschädigt worden als bei der vom Kriegssozialismus eingeleiteten. Sie hätten die Erträge, die sie zuletzt bezogen haben, als garantiertes Einkommen fortbezogen. Nebensächlich ist es dabei, ob diese Bezüge der besitzenden Klassen nur für eine bestimmte Zeit oder für alle Zeiten fortzubestehen hätten. Auch der Kriegssozialismus hat ja die Frage nicht für alle Zeiten endgültig geregelt. Die Fortschritte der Vermögens-, Einkommens- und Erbschaftsbesteuerung hätte besonders durch Ausbau der Progression der Steuersätze hier bald eine völlige Konfiskation erzielen können.

Den Besitzern von Leihkapitalien blieb der Fortbezug der Zinsen vorläufig gewahrt. Sie boten, da sie durch die Inflation beständige Vermögens- und Einkommenseinbußen erlitten, kein günstiges Objekt für größere Eingriffe des Steuerfiskus. Ihnen gegenüber erfüllte schon die Inflation die konfiskatorische Aufgabe.

Die ganz von sozialistischem Geist beherrschte öffentliche Meinung Deutschlands und Österreichs hat es immer wieder getadelt, daß mit der Besteuerung der Kriegsgewinne zu lange zugewartet worden sei, und daß man auch später nicht mit der gebotenen Schärfe vorgegangen sei. Man hätte sofort daran gehen sollen, alle Kriegsgewinne, das heißt alle im Kriege erzielten Vermögens- und Einkommenssteigerungen einzuziehen. Man hätte also schon am ersten Kriegstag die volle Sozialisierung — bei Belassung der vor dem Kriege bezogenen Besitzeinkommen , — durchführen sollen. Es wurde bereits ausgeführt, warum man dies nicht getan hat, und welche Folgen es für die Umstellung der Industrie auf den Kriegsfuß nach sich gezogen hätte, wenn man diesem Rate gefolgt wäre.

Je besser der Kriegssozialismus ausgebaut wurde, desto fühlbarer wurden bereits einzelne Konsequenzen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Unternehmungen arbeiteten zwar in technischer Hinsicht nicht unrationeller als früher, da die Unternehmer, die an der Spitze der Unternehmungen verblieben und formell die alte Stellung bekleideten, noch immer die Hoffnung hegten, einen größeren oder geringeren Teil der erzielten Mehrerträge — wenn auch nur auf illegalem Wege — für sich behalten zu können und zumindest von der Zukunft die Aufhebung aller kriegssozialistischen Maßnahmen, die doch offiziell immer nur als Ausnahmsverfügungen für die Kriegszeit erklärt wurden, erhofften. Doch machte sich, besonders im Handel, das Bestreben nach Erhöhung der Spesen bemerkbar, da die Preispolitik der Behörden und die Praxis der Gerichte bei Handhabung der strafrechtlichen Bestimmungen über die Überschreitung der Höchstpreise die erlaubten Preise auf Grund der Auslagen des Unternehmers zuzüglich eines Zuschlages für [144] „bürgerlichen Nutzen" ermittelte, so daß der Gewinn des Unternehmers umso größer wurde, je teurer er eingekauft und je mehr Spesen er gemacht hatte.

Von größter Bedeutung war die Lähmung der Initiative der Unternehmer. Da sie am Verluste stärker als am Gewinne beteiligt waren, war der Anreiz, sich auf gewagte Spekulationen einzulassen, nur gering. Manche Produktionsmöglichkeit blieb in der zweiten Hälfte des Krieges unbenutzt, weil die Unternehmer das Risiko, das mit Neuinvestierungen und mit dem Einschlagen neuer Erzeugungsmethoden verbunden war, scheuten. Da war schon das zu Anfang des Krieges besonders in Österreich geübte Verfahren, von Staatswegen die Haftung für etwaige Verluste zu übernehmen, besser geeignet, die Produktion anzuregen. Gegen Ende des Krieges hatten sich die Anschauungen in diesem Punkte geändert. Als es sich in Österreich darum handelte, bestimmte Rohstoffe aus dem Auslande zu beziehen, entstand die Frage, wer das „Friedensrisiko", die Gefahr eines Verlustes aus einem Preissturz, den man vom Eintritt des Friedens erwartete, tragen solle. Die in den „Zentralen" vereinigten Unternehmer, deren Gewinnchancen begrenzt waren, wollten auf das Geschäft nur eingehen, falls der Staat für den eventuellen Verlust aufzukommen bereit gewesen wäre. Da dies nicht zu erreichen war, unterblieb der Bezug.

Der Kriegssozialismus war nur die Fortsetzung der schon lange vor dem Kriege eingeleiteten staatssozialistischen Politik in einem beschleunigten Tempo. Von Anfang an bestand bei allen sozialistischen Gruppen die Absicht, nach dem Kriege keine der im Kriege getroffenen Maßnahmen fallen zu lassen, vielmehr auf dem Wege zur Vollendung des Sozialismus fortzuschreiten. Wenn man es in der Öffentlichkeit anders vernahm und wenn vor allem die Regierungsstellen immer nur von Ausnahmsverfügungen für die Kriegsdauer sprachen, so hatte dies nur den Zweck, etwaige Bedenken gegen das schnelle Tempo der Sozialisierung und gegen einzelne Maßnahmen zu zerstreuen und die Gegnerschaft dagegen zu ersticken. Man hatte aber schon da.s Schlagwort gefunden, unter dem die weiteren Sozialisierungsmaßnahmen segeln sollten; es hieß Übergangswirtschaft.

Der Militarismus der Generalstäbler brach zusammen; die Übergangswirtschaft nahmen andere Mächte in die Hand.

 


 

[145]

Sozialismus und Imperialismus.

1. Der Sozialismus und seine Gegner.

Der autoritär-militärische Geist des preußischen Obrigkeitsstaates findet sein Widerspiel und seine Ergänzung in den Ideen der deutschen Sozialdemokratie und des deutschen Sozialismus überhaupt. Der flüchtigen Betrachtung erscheinen Obrigkeitsstaat und Sozialdemokratie als unversöhnliche Gegensätze, zwischen denen es keine Vermittlung gibt. Es ist wahr, sie standen sich mehr als fünfzig Jahre lang in schroffer Feindschaft gegenüber. Ihr Verhältnis war nicht das einer politischen Gegnerschaft, wie sie auch bei anderen Völkern zwischen verschiedenen Parteien vorkommt; das war völlige Fremdheit und Todfeindschaft. Zwischen Junkern und Bürokraten einerseits und Sozialdemokraten anderseits war selbst jede persönliche, rem menschliche Berührung ausgeschlossen; kaum jemals ist von der einen oder von der anderen Seite der Versuch gemacht worden, den Gegner zu verstehen oder sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Der unversöhnliche Haß der Monarchie und des Junkertums galt aber nicht dem sozialwirtschaftlichen Programm der sozialdemokratischen Partei. In dem Programm der deutschen sozialdemokratischen Partei sind zwei Elemente verschiedener Herkunft enthalten, die nur ein loses Band verknüpft. Es umfaßt auf der einen Seite alle jene politischen Forderungen, die der Liberalismus, besonders sein linker Flügel, vertritt und in den meisten Kulturstaaten zum Teil auch schon durchgesetzt hat. Dieser Teil des sozialdemokratischen Parteiprogramms baut sich auf dem großen politischen Gedanken des Volksstaates auf, der den Fürsten- und Obrigkeitsstaat ablösen und den Untertanen zum Staatsbürger machen will. Daß die sozialdemokratische Partei dieses Ziel verfolgt hat, daß sie die Fahne der Demokratie aus den kraftlos gewordenen Händen des sterbenden deutschen Liberalismus übernommen und in den trübsten Jahrzehnten der deutschen Politik allen Verfolgungen zum Trotz allein hochgehalten hat, das ist ihr großer Stolz und Ruhm, dem verdankt sie die Sympathie, die ihr die Welt entgegenbringt, das hat ihr zuerst viele ihrer besten Männer und die Massen der Bedrückten und der [146] „bürgerlichen Mitläufer" zugeführt. Nur das allein aber, daß sie republikanisch und demokratisch war, hat ihr den unauslöschlichen Haß der Junker und Bürokraten zugezogen, nur das allein brachte sie in Widerstreit mit Behörden und Gerichten, machte sie zur geächteten und von allen „Gutgesinnten" verachteten Sekte von Staatsfeinden.

Der andere Bestandteil des Programmes der deutschen Sozialdemokratie war der marxistische Sozialismus. Die Anziehungskraft, die das Schlagwort von der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiter und die verheißungsvolle Utopie des Zukunftsstaates auf die große Masse ausübten, war die Grundlage der imponierenden Partei- und Gewerkschaftsorganisation. Viele aber wurden dem Sozialismus nur durch die Demokratie gewonnen. Als das deutsche Bürgertum nach den vernichtenden Niederlagen, die der deutsche Liberalismus erlitten hatte, sich dem Obrigkeitsstaate Bismarcks bedingungslos unterwarf, als vollends die deutsche Schutzzollpolitik die deutsche Unternehmerschaft sich mit dem preußischen Staate identifizieren ließ, so daß Militarismus mid Industrialismus für Deutschland politisch zu verwandten Begriffen, wurden, da hat die sozialistische Seite des Parteigrogramms neue Kraft gesogen aus den demokratischen Bestrebungen. Manche unterließen es, am Sozialismus Kritik zu üben, um der Sache der Demokratie nicht zu schaden. Viele wurden zu Sozialisten, weil sie Demokraten waren mid glaubten, daß Demokratie und Sozialismus in unzertrennlicher Verbindung stehen.

Doch in Wahrheit bestehen gerade zwischen Sozialismus [98] und autokratisch-obrigkeitlicher Staatsform enge und dem Wesen der beiden entsprechende Beziehungen. [99] Darum hat denn auch der [147] Obrigkeitsstaat die sozialistischen Bestrebungen durchaus nicht in jener schroffen Weise bekämpft, mit der er allen demokratischen Anwandlungen gegenübertrat. Im Gegenteil, der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat hat sich stark nach der Seite des „sozialen Königtums" entwickelt und hätte sich noch mehr dem Sozialismus zugewendet, wenn die große Arbeiterpartei Deutschlands schon vor dem August 1914 bereit gewesen wäre, auf ihr demokratisches Programm zu verzichten, um die schrittweise Verwirklichung ihrer sozialistischen Ziele dafür einzutauschen.

Die sozialpolitische Lehre des preußischen Militarismus kann man am besten aus den literarischen Erzeugnissen der preußischen Schule der Wirtschaftspolitik erkennen. Hier finden wir eine vollkommene Harmonie hergestellt zwischen dem Ideal des Obrigkeitsstaates und dem einer weitgehenden Sozialisierung des industriellen Großbetriebes. Viele deutsche Sozialpolitiker lehnen den Marxismus ab, doch nicht, weil sie seine Ziele verwerfen, sondern weil sie seine theoretische Auffassung vom sozialen und ökonomischen Geschehen nicht teilen können. Der Marxismus, man mag gegen ihn was immer vorbringen, hat doch mit aller wissenschaftlichen Nationalökonomie das eine gemein, daß er im geschichtlichen Prozeß das Walten einer Gesetzmäßigkeit erkennt und die kausale Verknüpfung alles Geschehens unterstellt. Hierin vermag ihm der deutsche Etatismus, der überall nur die Spuren des Wirkens großer Könige und mächtiger Staaten sieht, nicht zu folgen. Ihm liegt die heroische und teleologische Geschichtsauffassung näher als die kausale, er kennt keine wirtschaftlichen. Gesetze, er leugnet die Möglichkeit einer nationalökonomischen Theorie. [100] Darum ist der Marxismus der deutschen sozialpolitischen Lehre, die überhaupt keine theoretische Grundlage hat und nie versucht hat, eine solche zu schaffen, überlegen. Alle sozialen Probleme erscheinen dieser Schule als Aufgaben der staatlichen Verwaltung und Politik; mid es gibt keine Aufgabe, an deren Lösung sie sich nicht leichten Herzens heranwagt. Immer aber ist es das gleiche Rezept, das sie empfiehlt: Gebote' und Verbote als kleinere Mittel, Verstaatlichung als das große, nie versagende Mittel.

[148]

Die Sozialdemokratie hatte unter solchen umständen einen leichten Stand. Die marxistische Theorie der Nationalökonomie, die in Westeuropa und in Amerika nur einen kleinen Anhang zu gewinnen und sich neben den Leistungen der modernen nationalökonomischen Theorie nicht zu behaupten vermochte, hatte unter der Kritik der empirisch-realistischen und historischen Schule der deutschen Nationalökonomie nicht viel zu leiden. Die kritische Arbeit, die der marxistischen ökonomischen Lehre gegenüber zu leisten war, hat die in Deutschland verfehmte österreichische Schule, vor allem Böhm-Bawerk vollbracht. [101] Mit der preußischen Schule konnte der Marxismus leicht fertig werden; sie war ihm nicht als Gegner, sondern als Freund gefährlich. Die Sozialdemokratie mußte darauf bedacht sein, zu zeigen, daß die soziale Reform, wie sie die deutsche Sozialpolitik anstrebte, die soziale Revolution nicht zu ersetzen vermöge, und daß Verstaatlichung im preußischen Sinne nicht identisch sei mit Vergesellschaftung. Dieser Nachweis konnte nicht gelingen, aber sein Mißlingen hat der Sozialdemokratie nicht geschadet. Denn sie war ja die ewig zu fruchtloser Opposition verdammte Partei, die gerade aus den Mängeln der sozialreformatorischen und Sozialisierungsmaßnahmen für ihren Parteistandpunkt immer wieder Kapital schlagen konnte.

Daß die Sozialdemokratie im Deutschen Reiche zur mächtigsten Partei wurde, verdankt sie in erster Linie dem demokratischen, als Erbe vom Liberalismus übernommenen Teile ihres Programms. Daß aber auch der Sozialismus als solcher sich der größten Sympathien im deutschen Volke erfreut, so daß nur vereinzelte Stimmen sich ernstlich und grundsätzlich gegen die Sozialisierung aussprechen und daß auch die sogenannten bürgerlichen Parteien, die für die Sozialisierung „reifen" Produktionszweige vergesellschaften wollen, das ist das Ergebnis der Werbearbeit, die der Etatismus geleistet hat. Die sozialistischen Ideen sind keine Überwindung des preußischen Obrigkeitsstaates, sondern seine folgerichtige Entwicklung ; für ihre Volkstümlichkeit in Deutschland hat der Kathedersozialismus der Geheimräte nicht weniger gesorgt als die Werbearbeit der sozialdemokratischen Agitatoren.

Im deutschen Volke ist heute, dank der von der preußischen Schule der Wirtschaftspolitik durch fünfzig Jahre vertretenen Ansichten nicht einmal das Verständnis mehr dafür vorhanden, worin eigentlich der Gegensatz zwischen wirtschaftspolitischem Liberalismus und Sozialismus besteht. Daß der Unterschied der beiden Richtungen [149] nicht im Ziel, sondern in den Mitteln liegt, ist vielen nicht klar. Selbst dem antisozialistischen Deutschen, erscheint der Sozialismus als die allein gerechte und dem Volke die reichlichste Bedürfnisbefriedigung verbürgende Wirtschaftsform, und wenn er sich selbst gegen ihn aufleimt, so handelt er im Bewußtsein, sich ans Eigennutz, weil er sich in seinen Rechten oder Vorrechten bedroht fühlt, gegen das allgemeine Beste zu sträuben. Die Bürokraten stehen meist auf diesem Standpunkt, der sich aber auch oft genug bei Unternehmern findet. Man hat in Deutschland längst vergessen, daß auch der Liberalismus, genau so wie der Sozialismus, sein Wirtschaftssystem nicht aus Rücksichten auf die Interessen Einzelner, sondern auf die der Gesamtheit, der großen Menge, empfiehlt. Daß „das höchste Glück der größten Zahl" das Ziel der Politik sein soll, das hat zuerst ein radikaler Freihändler, Jeremias Bentham, verfochten. Bentham hat z. B. auch seinen berühmten Kampf gegen die Wuchergesetze nicht etwa mit Rücksicht auf die Interessen der Geldverleiher, sondern mit Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit geführt. [102] Der Ausgangspunkt alles Liberalismus liegt in der These von der Harmonie der richtig verstandenen Interessen der Einzelnen, der Klassen und der Völker. Er lehnt den Grundgedanken des Merkantilismus, daß des einen Vorteil des anderen Nachteil sei, ab. Das sei ein Grundsatz, der für Krieg und Raub gelten möge; für Wirtschaft und Handel gelte er nicht. Daher sieht der Liberalismus keinen Grund zur Gegnerschaft zwischen den Klassen, daher ist er im Völkerverkehr pazifistisch. Nicht weil er sich berufen erachtet, die besonderen Interessen der besitzenden Klassen zu vertreten, tritt er für die Beibehaltung des Sondereigentums an den Produktionsmitteln ein, sondern weil er in der auf dem Privateigentum beruhenden Ordnung des Wirtschaftslebens das für alle Teile des Volkes beste und die höchste materielle Befriedigung gewährende Produktions- und Verteilungssystem erblickt. Und wie er den Freihandel im Inlande nicht aus Rücksicht auf bestimmte Klassen, sondern aus Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit fordert, so fordert er Freihandel im internationalen Verkehr nicht um der Ausländer, sondern um des eigenen Volkes willen.

Die interventionistische Wirtschaftspolitik steht auf einem anderen Standpunkt. Sie sieht im zwischenstaatlichen Verkehr unversöhnliche Gegensätze. Der Marxismus aber hat die Lehre vom Klassenkampf verkündet; auf dem unversöhnlichen Gegensatz der Klassen baut sich seine Lehre und seine Taktik auf.

In Deutschland hat man den Liberalismus nie verstanden, hier hat er nie Boden gefunden. Nur so ist es zu erklären, daß auch die Gegner des Sozialismus mehr oder weniger die sozialistischen [150] Doktrinen angenommen haben. Das zeigt sich am deutlichsten in der Stellung der Gegner des Sozialismus zum Problem des Klassenkampfes. Der marxistische Sozialismus predigt den Kampf der Proletarierklasse gegen das Bürgertum. Anderwärts wird diesem Schlachtruf der der Solidarität der Interessen entgegengestellt. Nicht so in Deutschland. Hier stellt man den Proletariern das Bürgertum als Klasse gegenüber. Der proletarischen Partei treten die vereinigten bürgerlichen Parteien entgegen. Sie sehen nicht, daß sie auf diese Weise die Argumentation der Marxisten als richtig anerkennen, und damit ihren Kampf zu einem aussichtslosen machen. Wer zugunsten des Privateigentums an den Produktionsmitteln nichts anderes anzuführen weiß, als daß seine Aufhebung die Rechte der Besitzenden verletzen würde, beschränkt die Anhänger der antisozialistischen Parteien auf die Nichtproletarier. In einem Industriestaat haben natürlich die „Proletarier" die zahlenmäßige Überlegenheit über die anderen Klassen. wenn die Parteibildung durch die Klassenzugehörigkeit bestimmt wird, dann ist es klar, daß die proletarische Partei über die anderen den Sieg davontragen muß.

2. Sozialismus und Utopie.

Der Marxismus sieht das Kommen des Sozialismus als eine unentrinnbare Notwendigkeit an. Selbst wenn man die Richtigkeit dieser Meinung zugeben wollte, müßte man sich durchaus noch nicht zum Sozialismus bekennen. Es mag immerhin sein, daß wir dem Sozialismus nicht entgehen können; doch wer ihn für ein, Übel hält, muß ihn darum noch nicht herbeiwünschen und seine Ankunft zu beschleunigen suchen; im Gegenteil, er hätte die sittliche Pflicht, alles zu tun, imi ihn so lange als möglich hinauszuschieben. Kein Mensch kann dem Tode entrinnen; doch die Erkenntnis dieser Notwendigkeit zwingt uns mitnichten dazu, den Tod möglichst schnell herbeizuführen. So wenig wir zu Selbstmördern werden müssen, so wenig müßten Marxisten zu Sozialisten werden, wenn sie davon überzeugt wären, daß der Sozialismus keine Verbesserung, vielmehr eine Verschlechterung unserer Gesellschaftszustände herbeiführen müßte. [103]

Sozialisten und Liberale erblicken übereinstimmend das letzte Ziel der Wirtschaftspolitik in der Erreichung eines Gesellschaftszustandes, der der größten Zahl das größte Glück verbürgt. Wohlstand für alle, möglichst großer Wohlstand für möglichst viele, das ist sowohl das Ziel des Liberalismus als auch des Sozialismus, mag dies auch mitunter nicht nur verkannt, sondern selbst [151] bestritten werden. Beide lehnen alle asketischen Ideale, die die Menschen zur Genügsamkeit verhalten wollen und Entsagung und Lebensflucht predigen, ab, beide streben gesellschaftlichen Reichtum an. Nur über den Weg, auf dem dieses letzte Ziel der Wirtschaftspolitik zu erreichen wäre, gehen die Ansichten auseinander. Dem Liberalen verbürgt eine auf dem Privateigentum an den Producktionsmitteln beruhende Wirtschaftsordnung, die der Betätigung und der freien Initiative des Einzelnen möglichst großen Spielraum gewährt, die Erreichung des angestrebten Zieles. Der Sozialist dagegen sucht es durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu erreichen.

Der ältere Sozialismus und Kommunismus strebte Gleichheit des Besitzes und der Einkommensverteilung an. Die Ungleichheit sei ungerecht, sie widerstreite göttlichen Gesetzen und müsse beseitigt werden. Die Liberalen erwidern darauf, daß die Fesselung der freien Betätigung des Einzelnen die Allgemeinheit schädigen würde. In der sozialistischen Gesellschaft werde der Unterschied zwischen reich und arm wegfallen, keiner werde mehr besitzen als der andere, aber jeder Einzelne werde ärmer sein als heute auch die Ärmsten, da das kommunistische System produktions- und fortschritthemmend wirke. Es sei wohl richtig, daß die liberale Wirtschaftsordnung große Unterschiede des Einkommens zuläßt, aber darin liege keineswegs eine Ausbeutung der Armen durch die Reicheren. Das, was die Reichen mehr haben, hätten sie nicht den Armen entzogen ; ihr Überfluß könnte in der sozialistischen Gesellschaft nicht etwa auf die Armen aufgeteilt werden, weil er in dieser Gesellschaft überhaupt nicht produziert werden würde. Der Überschuß, der in der liberalen Wirtschaftsverfassung über jenes Quantum hinaus erzeugt wird, das auch von einer kommunistischen Wirtschaftsverfassung produziert werden könnte, werde nicht einmal ganz auf die Besitzenden aufgeteilt; auch von ihm komme ein Teil den Besitzlosen zu, so daß jedermann, auch der Ärmste, ein Interesse an der Aufrichtung und Erhaltung einer liberalen Wirtschaftsverfassung habe. Die Bekämpfung der sozialistischen Irrlehren sei daher nicht ein Sonderinteresse einer einzelnen Klasse, sondern die Sache aller; jedermann werde unter der durch den Sozialismus bedingten Einschränkung der Produktion und des Fortschrittes leiden. Daß der eine mehr, der andere weniger zu verlieren habe, sei nebensächlich gegenüber dem Umstände, daß alle geschädigt würden und daß das Elend, das sie erwartet, gleich groß sei.

Das ist das Argument zugunsten des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das jeder Sozialismus, der nicht asketische Ideale aufstellt, widerlegen müßte. Marx hat wohl die Notwendigkeit dieser Widerlegung gespürt. Wenn er das treibende Moment der sozialen Revolution in dem Umstände erblickt, daß die Eigentumsverhältnisse aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte in [152] Fesseln derselben umschlagen [104] , wenn er einmal im Vorübergehen den — mißlungenen — Beweis dafür zu erbringen sucht, daß die kapitalistische Produktionsweise in einem bestimmten Falle der Entfaltung der Produktivität hemmend entgegentritt [105] , so erkennt er gelegentlich die Wichtigkeit dieses Problems an. Aber weder er noch seine Anhänger konnten ihm jene Bedeutung beilegen, die ihm für die Entscheidung der Frage Sozialismus oder Liberalismus zukommt. Daran hindert sie schon die ganze Einstellung ihres Denkens auf die materialistische Geschichtsauffassung. Ihr Determinismus versteht es gar nicht, wie man für oder gegen den Sozialismus sein könne, da doch die kommunistische Gesellschaft die unentrinnbare Notwendigkeit der Zukunft bilde. Dabei ist es für Marx als Hegelianer ausgemacht, daß diese Entwicklung zum Sozialismus auch im Hegelschen Sinne vernünftig ist und einen Fortschritt zu einer höheren Stufe darstelle. Der Gedanke, daß der Sozialismus eine Katastrophe der Kultur bedeuten könnte, hätte ihm völlig unfaßbar erscheinen müssen.

Für den marxistischen Sozialismus lag mithin keine Veranlassung vor, sich mit der Frage zu befassen, ob der Sozialismus als Wirtschaftsform dem Liberalismus überlegen sei oder nicht. Ihm erscheint es ausgemacht, daß allein der Sozialismus Wohlstand für alle bedeute, während der Liberalismus einige wenige bereichere, die große Masse aber dem Elend preisgebe. Mit dem Auftreten des Marxismus verstummt daher der Streit über die Vorzüge der beiden Wirtschaftsverfassungen. Die Marxisten lassen sich auf solche Diskussionen nicht ein. Sie haben die liberalen Argumente zugunsten des Privateigentums an den Produktionsmitteln ex professo nicht einmal zu widerlegen versucht, geschweige denn widerlegt.

Nach der Auffassung der Individualisten erfüllt das Sondereigentum an den Produktionsmitteln seine gesellschaftliche Funktion dadurch, daß es die Produktionsmittel in jene Hände leitet, die sie am besten zu nützen verstehen. Jeder Eigentümer muß seine Produktionsmittel in einer Weise verwenden, in der sie den besten Ertrag, das heißt den höchsten Nutzen für die Gesellschaft abwerfen. Tue er dies nicht, dann müsse dies zu seinem wirtschaftlichen Zusammenbruch führen und die Produktionsmittel gehen in die Verfügungsgewalt jener über, die sie besser zu nützen verstehen. Dadurch wird der unzweckmäßigen oder nachlässigen Verwendung von Produktionsmitteln vorgebeugt und ihre stärkste Ausnützung gewährleistet. Bei Produktionsmitteln, die nicht im Privateigentum Einzelner, sondern im gesellschaftlichen Eigentum stehen, sei dies nicht in [153] gleicher Weise der Fall. Hier fehle der Antrieb des Eigeninteresses des Besitzers; die Ausnutzung des Materiales sei daher keine so vollständige wie in der Privatwirtschaft, daher könne bei gleichem Aufwand nicht der gleiche Ertrag erzielt werden. Es müsse daher das Ergebnis der gesellschaftlichen Produktion hinter dem der privaten Produktion zurückstehen. Den Beweis dafür hätten die öffentlichen Unternehmungen des Staates und der Gemeinden erbracht. Es sei erwiesen und allbekannt, daß in diesen weniger geleistet wird als in der Privatwirtschaft. Der Ertrag von Unternehmungen, die sich privatwirtschaftlich recht gut rentiert haben, ist nach der Verstaatlichung und Kommunalisierung sofort gesunken. Der öffentliche Betrieb kann sich nirgends in freier Konkurrenz neben dem privaten erhalten; er ist heute nur dort möglich, wo er ein Monopol hat, das die Konkurrenz ausschließt. Darin allein schon liege ein Beweis für seine wirtschaftliche Minderergiebigkeit.

Nur wenige Sozialisten der marxistischen Richtung haben die Bedeutung dieses Gegenarguments erkannt; sie hätten sonst zugeben müssen, daß dies ein Punkt ist, auf den alles ankommt. Wenn die sozialistische Produktionsweise keinen Mehrertrag gegenüber der Privatwirtschaft zu erzielen imstande sein wird, wenn sie im Gegenteil weniger produzieren wird als jene, dann ist von ihr keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des Loses der Arbeiter zu erwarten. Alle Beweisführung der Sozialisten müßte sich daher darauf konzentrieren, zu erweisen, daß es dem Sozialismus gelingen wird, die Produktion über das in der individualistischen Wirtschaftsverfassung mögliche Maß hinaus zu steigern.

Die meisten sozialdemokratischen Schriftsteller schweigen über diesen Punkt überhaupt, die anderen berühren ihn nur gelegentlich. So nennt Kautsky zwei Mittel, die der Zukunftsstaat zur Steigerung der Produktion anwenden werde. Das erste sei die Konzentration der Gesamtproduktion auf die vollkommensten Betriebe und die Stillegung aller übrigen, weniger auf der Höhe stehenden Betriebe. [106] Daß dies ein Mittel zur Steigerung der Produktion ist, kann nicht in Abrede gestellt werden. Aber dieses Mittel ist gerade unter der Herrschaft der freien Konkurrenz in bester Wirksamkeit. Die freie Konkurrenz merzt schonungslos alle minderertragreichen Unternehmungen und Betriebe aus. Daß sie es tut, wird ihr ja gerade immer wieder von den Betroffenen zum Vorwurf gemacht; darum gerade fordern ja die schwächeren Unternehmungen staatliche Subventionen und besondere Berücksichtigung bei öffentlichen Lieferungen, kurz Einschränkung der freien Konkurrenz auf jede mögliche Weise. Daß die auf privatwirtschaftlicher Grundlage stehenden Trusts in höchstem Maße mit diesen Mitteln zur Erzielung höherer Produktivität arbeiten, muß [154] auch Kautsky zugeben, ja er führt sie geradezu als Vorbilder der sozialen Revolution an. Es ist mehr als fraglich, ob der sozialistische Staat auch die gleiche Nötigung verspüren wird, solche Produktionsverbesserungen durchzuführen. Wird er nicht einen Betrieb, der weniger rentabel ist, fortführen, um nicht durch seine Auflassung lokale Nachteile zu vermeiden? Der private Unternehmer läßt rücksichtslos Betriebe auf, die nicht mehr rentieren; er nötigt dadurch die Arbeiter zum Ortswechsel, vielleicht auch zum Berufswechsel. Das ist zweifellos für die Betroffenen zunächst schädlich, aber für die Gesamtheit ein Vorteil, da es die billigere und bessere Versorgung des Marktes ermöglicht. Wird der sozialistische Staat das auch tun? Wird er nicht gerade im Gegenteil aus politischen Rücksichten bestrebt sein, die lokale Unzufriedenheit zu vermeiden? Bei den österreichischen Staatsbahnen sind alle Reformen dieser Art daran gescheitert, daß man die Schädigung einzelner Orte, die aus der Auflassung überflüssiger Direktionen, Werkstätten und Heizhäuser erfolgt wäre, zu vermeiden suchte. Selbst die Heeresverwaltung hat parlamentarische Schwierigkeiten gefunden, wenn sie aus militärischen Rücksichten einem Orte die Garnison entziehen wollte.

Auch das zweite Mittel zur Steigerung der Produktion, das Kautsky erwähnt, „Ersparnisse der verschiedensten Art", findet er nach seinem eigenen Geständnis bei den heutigen Trusts bereits verwirklicht. Er nennt vor allem Ersparnisse an Materialien, Transportkosten, Inseraten- und Reklamespesen. [107] Was nun die Ersparnisse an Material und am Transporte anbelangt, so zeigt die Erfahrung, daß nirgends in dieser Hinsicht so wenig sparsam verfahren wird und daß nirgends eine solche Verschwendung mit Arbeitskraft und mit Material jeder Art betrieben wird wie im öffentlichen Dienste und in den öffentlichen Betrieben. Die Privatwirtschaft dagegen sucht schon im eigenen Interesse der Besitzer möglichst sparsam zu arbeiten.

Der sozialistische Staat wird freilich alle Reklamespesen, alle Kosten für Geschäftsreisende und für Agenten sparen. Doch es ist mehr als fraglich, ob er nicht viel mehr Personen in den Dienst des gesellschaftlichen Verteilungsapparates stellen wird. Wir haben im Kriege bereits die Erfahrung gemacht, daß der sozialistische Verteilungsapparat recht schwerfällig und kostspielig sein kann. Oder sind die Kosten der Brot-, Mehl-, Fleisch-, Zucker- und anderen Karten wirklich geringer als die Kosten der Inserate? Ist der große persönliche Apparat, der zur Ausgabe und Verwaltung dieser Rationierungsbehelfe benötigt wird, billiger als der Aufwand an Geschäftsreisenden und Agenten?

Der Sozialismus wird die kleinen Kramläden beseitigen. Aber er wird an ihren Platz Warenabgabestellen setzen müssen, die nicht [155] billiger sein werden. Auch die Konsumvereine haben ja nicht weniger Angestellte als der modern organisierte Detailhandel verwendet, und sie könnten oft, gerade wegen ihrer hohen Spesen, die Konkurrenz mit den Kaufleuten nicht aushalten, wenn sie nicht in der Besteuerung begünstigt wären.

Man sieht, auf wie schwachen Füßen die Argumentation Kautskys hier steht. Wenn er nun behauptet, „durch Anwendung dieser beiden Mittel kann ein proletarisches Regime die Produktion sofort auf ein so hohes Niveau steigern, daß es möglich wird, die Löhne erheblich zu erhöhen und gleichzeitig die Arbeitszeit zu reduzieren", so ist dies eine Behauptung, für die bisher kein Beweis erbracht wurde. [108]

Mit der Sicherung des höchsten erreichbaren Maßes der Arbeitsproduktivität sind die gesellschaftlichen Funktionen des Sondereigentums an den Produktionsmitteln noch nicht erschöpft. Der wirtschaftliche Fortschritt beruht auf der fortschreitenden Akkumulation von Kapital. Das wurde weder von Liberalen noch von Sozialisten je bestritten. Die Sozialisten, die sich etwas näher mit dem Problem der Einrichtung der sozialistischen Gesellschaft befaßt haben, unterlassen denn auch nicht, stets darauf hinzuweisen, daß im sozialistischen Staat der Gesellschaft die Kapitalsakkumulation, die heute von Privaten besorgt wird, zufallen wird.

In der individualistischen Gesellschaft akkumuliert der Einzelne, nicht die Gesellschaft. Die Kapitalbildung vollzieht sich durch das Sparen ; dem Sparer winkt als Lohn des Sparens der Bezug des Einkommens aus dem ersparten Kapital. In der kommunistischen Gesellschaft wird die Gesellschaft als solche das Einkommen beziehen, das heute den Kapitalisten allein zufließt; sie wird dann dieses Einkommen gleichmäßig auf alle Glieder verteilen oder anders zugunsten der Gesamtheit verwenden. Wird das allein schon einen genügenden Abreiz zum Sparen bieten? Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich vorstellen, daß die Gesellschaft des sozialistischen Staates täglich vor die Wahl gestellt sein wird, ob sie sich mehr auf die Erzeugung von Genußgütern oder mehr auf die von Kapitalgütern verlegen soll, ob sie Produktionen wählen soll, die zwar kürzer währen, aber dafür weniger Ertrag abwerfen, oder solche, die länger währen, aber dann auch größeren Ertrag bringen. Der [156] Liberale meint, daß die sozialistische Gesellschaft sich stets für die kürzere Produktionsperiode entscheiden wird, daß sie es vorziehen wird, Genußgüter statt Kapitalgüter zu produzieren, daß sie die Produktionsmittel, die sie von der liberalen Gesellschaft als Erbe übernommen haben wird, aufzehren, im besten Fall erhalten, aber keinesfalls mehren werde. Das aber würde bedeuten, daß der Sozialismus Stillstand, wo nicht den Verfall unserer ganzen wirtschaftlichen Kultur, Elend und Not für alle bringen wird. Daß der Staat und die Städte schon in großem Maßstabe Investitionspolitik getrieben haben, sei kein Gegenbeweis gegen diese Behauptung, da sie diese Tätigkeit durchaus mit den Mitteln des liberalen Systems betrieben hätten. Denn die Mittel seien durch Anleihen aufgebracht worden, das heißt, sie wurden von Privaten, die davon Vermehrung ihres Kapitaleinkommens erwartet haben, beschafft. Wenn aber in Zukunft der sozialistischen Gesellschaft die Frage vorgelegt werden würde, ob sie ihre Mitglieder besser nähren, kleiden und behausen will, oder ob sie an all diesen Dingen sparen will, um für die kommenden Geschlechter Bahnen und Kanäle zu bauen, Bergwerke zu erschließen, landwirtschaftliche Meliorationen vorzunehmen, dann werde sie sich schon aus psychologischen und politischen Gründen für das erste entscheiden.

Ein dritter Einwand gegen den Sozialismus ist das berühmte Argument von Malthus. Die Bevölkerung habe die Tendenz schneller zu wachsen als die Unterhaltsmittel. In der auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaftsordnung sei eine Beschränkung der Bevölkerungsvermehrung dadurch gegeben, daß jeder nur eine beschränkte Anzahl von Kindern großzuziehen vermag. In der sozialistischen Gesellschaft werde dieses Hindernis der Volksvermehrung wegfallen, da nicht mehr der Einzelne, sondern die Gesellschaft die Sorge für die Auferziehung des Nachwuchses zu tragen haben wird. Damit werde aber bald ein solches Wachstum der Bevölkerung platzgreifen, daß Not und Elend für alle eintreten müßten. [109]

Das sind Einwände gegen die sozialistische Gesellschaft, mit denen sich jedermann auseinanderzusetzen hätte, ehe er für den Sozialismus eintritt.

Es ist durchaus keine Widerlegung der gegen den Sozialismus erhobenen Einwände, wenn die Sozialisten jeden, der nicht ihrer Meinung ist, mit der Bezeichnung „bürgerlicher Nationalökonom" als Vertreter einer Klasse zu stigmatisieren suchen, deren Sonderinteressen dem allgemeinen Interesse zuwiderlaufen. Daß die Interessen der Besitzenden denen der Gesamtheit zuwiderlaufen, das müßte ja [157] erst bewiesen werden ; das ist es ja eben, um das sich der ganze Streit dreht.

Die liberale Lehre geht davon aus, daß die auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhende Wirtschaftsordnung den Widerstreit zwischen privatem und gesellschaftlichem Interesse behebt, indem die Verfolgung des richtig verstandenen Selbstinteresses durch jeden Einzelnen den höchsten erreichbaren Grad allgemeiner Wohlfahrt verbürgt. Der Sozialismus will eine Gesellschaftsordnung aufrichten, in der das Selbstinteresse des Einzelnen, der Eigennutz, ausgeschaltet ist; eine Gesellschaft, in der jedermann unmittelbar dem Gemeinwohl zu dienen haben wird. Es wäre nun die Aufgabe der Sozialisten, zu zeigen, in welcher Weise dieses Ziel erreicht werden könnte. Denn daß zunächst und unmittelbar zwischen den Sonderinteressen des Einzelnen und jenen der Gesamtheit ein Widerstreit besteht, kann auch der Sozialist nicht in Abrede stellen, und er muß auch zugeben, daß man auf dem kategorischen Imperativ allein eine Arbeitsordnung ebensowenig aufbauen kann wie auf der Zwangsgewalt eines Strafgesetzes. Bis nun aber hat kein Sozialist jemals auch nur den Versuch gemacht, zu zeigen, wie diese Kluft zwischen Sonderinteresse und Gesamtwohlfahrt zu überbrücken wäre. Die Gegner des Sozialismus aber halten mit Schäffle das gerade „für den entscheidenden, aber bis jetzt keineswegs entschiedenen Punkt, auf welchen für die Dauer alles ankommen, wovon Sieg oder Niederlage des Sozialismus, Reform oder Zerstörung der Zivilisation durch ihn nach der volkswirtschaftlichen Seite hin abhängig sein würde". [110]

Der marxistische Sozialismus nennt den älteren Sozialismus utopisch, weil er die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren bemüht ist, und weil er nach Mitteln und Wegen sucht, den ausgeheckten Gesellschaftsplan zu verwirklichen. Dagegen sei der Marxismus wissenschaftlicher Kommunismus. Er entdeckt in den Entwicklungsgesetzen der kapitalistischen Gesellschaft die Elemente der neuen Gesellschaft, aber er konstruiert keinen Zukunftsstaat. Er erkennt, daß das Proletariat kraft seiner Lebensbedingungen nicht anders könne, als schließlich jeden Klassengegensatz zu beseitigen und damit den Sozialismus zu verwirklichen; er sucht aber nicht, wie die Utopisten, nach Philanthropen, die bereit wären, die Welt durch die Einführung des Sozialismus zu beglücken. Wenn man die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Utopie darin erblicken will, dann nimmt der marxistische Sozialismus seinen Namen mit Recht in Anspruch. Man könnte aber die Unterscheidung auch in einem anderen Sinne machen. Wenn man als utopisch alle jene Gesellschaftstheorien bezeichnet, die bei der Entwerfung des [158] künftigen sozialen. Systems von der Ansicht ausgehen, daß die Menschen nach Einführung der neuen sozialen Ordnung von wesentlich anderen Triebfedern geleitet sein werden als in unseren gegenwärtigen Zuständen [111] , dann ist auch das sozialistische Ideal des Marxismus Utopie. [112] Denn sein Bestand setzt Menschen voraus, die kein Sonderinteresse gegenüber dem Gesamtinteresse zu verfolgen imstande sind. [113] Immer wieder weist der Sozialist, wenn ihm dieser Einwand gemacht wird, darauf hin, daß doch auch heute und in jedem früheren Gesellschaftszustand sehr viel und oft gerade die höchstqualifizierte Arbeit um ihrer selbst und für die Gesamtheit, und nicht um des direkten Vorteiles für den Arbeiter willen geleistet wird. Er weist auf das unermüdliche Streben des Forschers, auf die Aufopferung des Arztes, auf das Verhalten des Kriegers im Felde hin. In den letzten Jahren konnte man immer wieder hören, daß die großen Taten, die von den Soldaten im Felde vollbracht wurden, nur aus reiner Hingebung an die Sache und aus hohem Opfersinn, schlimmstenfalls etwa noch aus dem Streben nach Auszeichnung, niemals aber aus privatem Gewinnstreben zu erklären seien. Diese Argumentation übersieht aber den grundsätzlichen Unterschied, der zwischen der wirtschaftlichen Arbeit gewöhnlicher Art und jenen besonderen Arbeitsleistungen besteht. Der Künstler und der Forscher finden ihre Befriedigung in dem Genuß, den ihnen die Arbeit an sich gewährt, und in der Anerkennung, die sie einmal, wenn auch vielleicht erst von der Nachwelt, zu ernten hoffen, auch in dem Falle, als der [159] materielle Erfolg ausbleiben sollte. Der Arzt im Seuchengebiet und der Soldat im Felde drängen nicht nur ihre wirtschaftlichen Interessen sondern auch den Selbsterhaltungstrieb zurück; schon daraus ersieht man, daß es sich nicht um einen regulären Zustand, sondern um einen vorübergehenden Ausnahmszustand handeln kann, aus dem keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden können.

Die Behandlung, die der Sozialismus dem Problem des Eigennutzes zuteil werden läßt, weist deutlich auf seinen Ursprung hin. Der Sozialismus kommt aus den Kreisen der Intellektuellen her; an seiner Wiege stehen Dichter und Denker, Schriftsteller und Literaten. Er verleugnet nicht seine Herkunft aus jenen Schichten, die sich schon berufsmäßig mit Idealen zu befassen haben. Er ist ein Ideal der Wirtschaftslosen. Daher ist nicht weiter auffällig, daß in seinem Gefolge Schriftsteller und Literaten jeder Art immer zahlreich vertreten waren, und daß er in Beamtenkreisen immer auf grundsätzliche Zustimmung rechnen konnte.

Die den Beamten eigentümliche Auffassung tritt in der Behandlung des Problems der Sozialisierung deutlich zutage. Vom bürokratischen Gesichtspunkt handelt es sich dabei nur um Fragen der Betriebs- und Verwaltungstechnik, die man leicht lösen kann, wenn man nur den Beamten mehr Freiheit des Handelns läßt. Dann werde man ohne Gefahr der „Ausschaltung freier Initiative und individueller Verantwortungsbereitschaft, auf denen die Erfolge privater Geschäftsführung beruhen" sozialisieren können. [114] In Wahrheit kann es in der sozialisierten Wirtschaft freie Initiative Einzelner nicht geben. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man glaubt, durch irgendwelche organisatorische Maßnahmen auch im sozialisierten Betrieb der freien Initiative einen Spielraum lassen zu können. Ihr Fehlen beruht nicht aui Mängeln der Organisation; es ist im Wesen des sozialisierten Betriebes begründet. Freie Initiative heißt wagen, um zu gewinnen; heißt in einem Spiel, das Gewinn oder Verlust bringen kann, einen Einsatz machen. Alles Wirtschaften setzt sich aus solchen Wagnissen zusammen. Jede Produktion, jeder Einkauf des Händlers und des Produzenten, jedes Zuwarten mit dem Verkauf ist ein solches Wagnis. Noch viel mehr ist es die Vornahme jeder größeren Investition oder Veränderung im Betriebe, ganz zu schweigen von der Anlage neuer Kapitalien. Kapitalisten und Unternehmer müssen wagen, sie können nicht anders, da sie keine Möglichkeit haben, ihren Besitz ohne solche Wagnisse zu erhalten.

Wer über Produktionsmittel verfügen darf ohne ihr Eigentümer zu sein, hat weder das Risiko des Verlustes noch die Gewinstchance so wie der Eigentümer. Der Beamte oder Beauftragte braucht den [160] Verlust nicht zu fürchten, und darum kann man ihn nicht frei und unbehindert wie den Eigentümer schalten lassen. Man muß ihn in irgend einer Weise beschränken. Könnte er schrankenlos walten, dann wäre er eben Eigentümer. Es ist ein Spiel mit Worten, wenn man dem Nichteigentümer individuelle Verantwortungsbereitschaft auferlegen will. Der Eigentümer hat nicht Verantwortungsbereitschaft, er trägt selbst Verantwortung, weil er die Folgen seines Handelns spürt. Der Beauftragte mag noch so viel Verantwortungsbereitschaft haben, er kann doch nie die Verantwortung anders als moralisch tragen. Doch je mehr moralische Verantwortung man ihm auferlegt, desto mehr beengt man seine Initiative. Durch Dienstesinstruktionen und Reformen der Organisation läßt sich das Problem der Sozialisierung nicht lösen.

3. Zentralistischer und syndikalistischer Sozialismus.

Die Frage, ob unsere wirtschaftliche Entwicklung schon „reif" sei für den Sozialismus oder nicht, entspringt der marxistischen Idee von der Entwicklung der Produktivkräfte. Der Sozialismus kann nur verwirklicht werden, wenn seine Zeit gekommen ist. Eine Gesellschaftsform kann nicht früher untergehen, bevor sie nicht alle Produktivkräfte, die sie zu entwickeln vermag, entwickelt hat; dann erst wird sie durch eine andere höhere Form abgelöst. Ehe sich nicht der Kapitalismus überlebt hat, kann der Sozialismus seine Erbschaft nicht übernehmen.

Der Marxismus vergleicht die soziale Revolution mit Vorliebe mit der Geburt. Frühgeburten sind Mißerfolge; sie führen zum Tode des neuen Geschöpf es. [115] Unter diesem Gesichtspunkt untersuchen Marxisten, ob die Versuche der Bolschewiki, in Rußland ein sozialistisches Gemeinwesen aufzurichten, nicht verfrüht sind, in der Tat muß es dem Marxisten, der einen bestimmten Grad der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der Großindustrie als notwendige Bedingung des Eintrittes des Sozialismus ansieht, schwer fallen zu verstehen, warum der Sozialismus gerade im kleinbäuerlichen Rußland und nicht im hochindustriellen Westen Europas oder in den Vereinigten Staaten zum Siege gelangt ist.

Anders ist es, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob dieser oder jener Produktionszweig füi' die Sozialisierung reif sei oder nicht. Diese Frage wird in der Regel so gestellt, daß schon in der Fragestellung grundsätzlich zugegeben wird, daß im allgemeinen vergesellschaftete Betriebe geringeren Ertrag abwerfen als im Sondereigentum stehende, und daß man daher nur bestimmte Produktionszweige, bei denen aus dieser Minderergiebigkeit keine allzu großen Nachteile zu [161] erwarten sind, sozialisieren dürfe. So wird erklärt, daß die Bergwerke, vor allem die Kohlengruben, schon für die Sozialisierung reif seien. Offenbar geht man dabei von der Anschauung aus, daß es leichter sei, ein Bergwerk zu betreiben als etwa eine Spitzenfabrik; man glaubt wohl, daß es beim Bergbau nur auf die Ausnützung von Naturgaben ankomme, was auch der schwerfälligere sozialistische Betrieb treffen könne. Und wenn andere wieder in erster Linie den industriellen Großbetrieb für reif zur Sozialisierung ansehen, so gehen sie dabei von der Erwägung aus, daß im Großbetriebe, der schon , ohnehin mit einem gewissen bureaukratischen Apparat arbeitet, die organisatorischen Voraussetzungen der Vergesellschaftung gegeben seien. In solchen Erwägungen steckt ein schwerer Trugschluß. Um die Notwendigkeit der Sozialisierung bestimmter Betriebe zu erweisen, genügt es nicht, darauf hinzuzeigen, daß bei ihnen die Sozialisierung wenig schadet, weil sie auch dann noch nicht zugrunde gehen würden, wenn sie schlechter arbeiten als es unter der privatwirtschaftlichen Verwaltung der Fall wäre. Wer nicht glaubt, daß durch die Sozialisierung eine Steigerung der Produktivität eintritt, müßte folgerichtig jede Sozialisierung für verfehlt halten.

Ein verstecktes Eingeständnis der geringeren Produktivität der Wirtschaft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung können wir auch in der Anschauung finden, aus der heraus manche Schriftsteller den Satz vertreten, daß der Krieg uns in der Entwicklung zurückgeworfen habe, und daß daher die Zeit der Reife für den Sozialismus durch ihn eher noch hinausgeschoben worden sei. So meint Kautsky : „Der Sozialismus, das heißt allgemeiner Wohlstand innerhalb der modernen Kultur, wird nur möglich durch die gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte, die der Kapitalismus mit sich bringt, durch die enormen Reichtümer, die er schafft tmd die sich in den Händen der kapitalistischen Klasse konzentrieren. Ein Staatswesen, das diese Reichtümer durch eine unsinnige Politik, etwa einen erfolglosen Krieg, vergeudet hat, bietet von vornherein keinen günstigen Ausgangspunkt für die rascheste Verbreitung von Wohlstand in allen Schichten." [116] Wer — wie Kautsky — von der sozialistischen Produktionsweise eine Vervielfältigung der Produktivität erwartet, der müßte doch eigentlich gerade in dem Umstände, daß wir durch den Krieg ärmer geworden sind, einen Grund mehr für die Beschleunigung der Sozialisierung erblicken.

Da sind die Liberalen viel konsequenter. Sie warten nicht darauf, daß ihnen eine andere Produktionsweise, etwa die sozialistische, die Welt reif mache für den Liberalismus; sie sehen immer und überall die Zeit des Liberalismus für gegeben, da sie allgemein und ohne Ausnahme die Überlegenheit der auf dem Privateigentum [162] an den Produktionsmitteln und auf dem freien Wettbewerbe der Produzenten beruhenden Produktionsweise behaupten.

Der Weg, auf dem die Sozialisierung der Betriebe zu erfolgen hätte, ist durch die Verstaatlichungs- und Verstadtlichungsaktionen der Staaten und Gemeinden klar und deutlich vorgezeichnet. Man könnte geradezu sagen, daß der Verwaltungskunst deutscher Staaten und Städte nicht geläufiger ist als diese seit vielen Jahren geübte Praxis. Die Sozialisierung ist, verwaltungstechnisch betrachtet, nichts Neues, und die sozialistischen Regierungen, die jetzt überall am Werke sind, hätten nichts weiter zu machen als das fortzusetzen, was ihre Staats- und kommunalsozialistischen Vorgänger bereits bisher gemacht haben.

Davon wollen freilich weder die neuen Machthaber etwas hören noch auch ihre Wähler. Die Masse. die heute stürmisch die schleunigste Durchführung des Sozialismus begehrt, stellt sich darunter etwas ganz anderes vor als Ausdehnung des Staats- und Gemeindebetriebes. Sie hat es ja von ihren Führern immer wieder zu hören bekommen, daß diese öffentlichen Betriebe mit Sozialismus nichts gemein haben. Was aber Vergesellschaftung sein soll, wenn sie nicht Verstaatlichung und Verstadtlichung ist, weiß niemand zu sagen. [117]

Bitter rächt sich jetzt an der Sozialdemokratie, was sie bisher gefördert hat, daß sie nämlich seit Jahrzehnten immer nur demagogische Politik für den Alltag und nicht grundsätzliche Politik für den endlichen Sieg betrieben hat. In Wahrheit hat die Sozialdemokratie schon lange den zentralistischen Sozialismus aufgegeben: sie ist in der Tagespolitik immer mehr und mehr gewerkschaftlich, syndikalistisch und, im marxistischen Sinne, „kleinbürgerlich" geworden. Nun erhebt der Syndikalismus seine Forderungen, die in unversöhnlichem Widerspruche mit dem Programme des zentralistischen Sozialismus stehen.

Beide Richtungen haben das eine gemein, daß sie den Arbeiter wieder zum Eigentümer der Produktionsmittel machen wollen. Der zentralistische Sozialismus will dies dadurch erreichen, daß die Arbeiterschaft der ganzen Welt oder zumindest eines ganzen Landes als Gesamtheit zum Eigentümer der Produktionsmittel gemacht wird; der Syndikalismus will die Arbeiterschaft der einzelnen Betriebe oder der einzelnen Produktionszweige zu Eigentümern jener Produktionsmittel, die sie benützen, machen. Das Ideal des zentralistischen [163] Sozialismus ist zumindest diskutabel; das des Syndikalismus ist so widersinnig, daß man darüber kaum ein paar Worte zu verlieren hätte.

Eine der großen Ideen des Liberalismus ist es, daß er allein das Konsumenteninteresse gelten läßt und das Produzenteninteresse für nichts achtet. Keine Produktion ist wert erhalten zu bleiben, wenn sie nicht geeignet ist, die billigste und beste Versorgung herbeizuführen. Keinem Produzenten wird das Recht zuerkannt, irgend einer Veränderung der Produktionsverhältnisse entgegenzutreten, weil sie seinen Interessen als Produzent zuwider läuft. Höchstes Ziel alles Wirtschaftens ist die Erlangung bester und reichlichster Bedürfnisbefriedigung bei kleinstem Aufwände von Kosten.

Diese Stellungnahme ergibt sich mit zwingender Logik aus der Erwägung, daß alle Produktion nur um des Konsums willen betrieben wird, daß sie niemals Zweck, sondern immer nur Mittel ist. Der Vorwurf, der gegen den Liberalismus erhoben wurde, daß er damit nur den Genießerstandpunkt berücksichtige und die Arbeit verachte, ist so töricht, daß er kaum einer Widerlegung bedarf. Die Hervorkehrung des Produzenteninteresses gegenüber dem Konsumenteninteresse, die für den Antiliberalismus charakteristisch ist, bedeutet nichts anderes als das Bestreben, Produktionsverhältnisse, die durch die fortschreitende Entwicklung unrationell geworden sind, künstlich zu erhalten. Ein solches System mag diskutabel erscheinen, wenn die Sonderinteressen kleiner Gruppen gegenüber der großen Masse der übrigen geschützt werden, da dann der als Produzent Privilegierte durch sein Privileg mehr gewinnt als er auf der anderen Seite als Konsument verliert; es wird widersinnig, wenn es zu einem allgemeinen Grundsatz erhoben wird, da dann jeder einzelne als Konsument unendlich viel mehr verliert als er als Produzent zu gewinnen vermag. Der Sieg des Produzenteninteresses über das Konsumenteninteresse bedeutet Abkehr von rationeller Wirtschaftsgestaltung und Behinderung jedes wirtschaftlichen Fortschrittes.

Der zentralistische Sozialismus weiß dies sehr wohl. Er schließt sich dem Liberalismus in der Bekämpfung aller überkommenen Produzentenprivilegien an. Er geht von der Meinung aus, daß es im sozialistischen Gemeinwesen überhaupt kein Produzenteninteresse geben werde, da jeder einzelne dort erkennen werde, daß das Konsumenteninteresse allein beachtenswert sei. Ob diese Annahme berechtigt ist oder nicht, soll hier nicht erörtert werden ; es leuchtet ohne weiters ein, daß der Sozialismus, wenn sie nicht zutreffen sollte, das nicht sein könnte, was er zu sein vorgibt.

Der Syndikalismus stellt das Produzenteninteresse der Arbeiter bewußt in den Vordergrund. Indem er die Arbeitergruppen zu Eigentümern (nicht dem Worte, wohl aber der Sache nach) der Produktionsmittel macht, hebt er das Sondereigentum nicht auf. Er [164] gewährleistet auch nicht Gleichheit. Er stellt zwar die bestehende Ungleichmäßigkeit der Verteilung ab, führt aber eine neue ein. Denn der Wert der in den einzelnen Betrieben oder Produktionszweigen angelegten Kapitalien entspricht durchaus nicht der Anzahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter. Das Einkommen eines jeden Arbeiters wird um so größer sein, je kleiner die Zahl der in seinem Betrieb oder Produktionszweige beschäftigten Mitarbeiter und je größer der Wert der darin verwendeten sachlichen Produktionsmittel ist. Der syndikalistisch organisierte Staat wäre kein sozialistischer Staat, sondern ein Staat des Arbeiterkapitalismus, da die einzelnen Arbeitergruppen Eigentümer des Kapitales wären. Der Syndikalismus würde jede Umstellung der Produktion unmöglich machen, er läßt keinen Raum frei für den wirtschaftlichen Fortschritt. Seinem ganzen geistigen Habitus nach entspricht er den Idealen eines bäuerlichen und Handwerkzeitalters, in dem die wirtschaftlichen Verhältnisse ziemlich stationär sind.

Der zentralistische Sozialismus von Karl Marx, der einst über Proudhon und Lassalle gesiegt hatte, ist im Laufe der Entwicklung der letzten Jahrzehnte Schritt für Schritt durch den Syndikalismus zurückgedrängt worden. Der Kampf zwischen den beiden Richtungen, der sich äußerlich in den Formen eines Kampfes zwischen der politischen Parteiorganisation und der gewerkschaftlichen Organisation abspielte und hinter den Kulissen die Gestalt eines Kampfes der aus der Arbeiterschaft aufgestiegenen Führer gegen die intellektuellen Führer annahm, hat mit einem vollen Siege des Syndikalismus geendet. Die Theorien und Schriften der Parteihäupter tragen noch äußerlich das Gewand des zentralistischen Sozialismus, aber die Praxis der Partei ist nach und nach syndikalistisch geworden, und im Bewußtsein der Masse lebt ausschließlich die syndikalistische Ideologie. Die Theoretiker des zentralistischen Sozialismus haben aus taktischen Rücksichten, weil sie den offenen Bruch zwischen beiden Richtungen wie in Frankreich vermeiden wollten, nicht den Mut gehabt, entschieden gegen die syndikalistische Politik aufzutreten; wenn sie den Mut dazu aufgebracht hätten, wären sie in diesem Kampfe zweifellos unterlegen. Sie haben in mancher Hinsicht die Entwicklung syndikalistischer Gedankengänge direkt gefördert, weil sie die Entwicklang zum zentralistischen Sozialismus, die sich unter der Führung des etatistischen Sozialismus vollzog, bekämpften. Sie mußten dies tun, einerseits um zwischen ihrem Standpunkt und dem des Obrigkeitsstaates einen scharfen Unterschied zu markieren, anderseits weil die wirtschaftlichen Mißerfolge, die die Verstaatlichungen und Verstadtlichungen erzielten, doch immerhin so weit allgemein sichtbar wurden, daß sie der inbrünstigen Begeisterung, mit der die Massen dem dunkeln Ideal des Sozialismus folgten, gefährlich werden konnten. Wenn man immer wieder darauf hinwies, daß Staatsbahnen und städtische Beleuchtungswerke durchaus nicht ein erstes Stück Verwirklichung des [165] Zukunftsstaates seien, konnte man die Bevölkerung nicht zum zentralistischen Sozialismus erziehen.

Syndikalismus war es, als die Arbeiter, die durch die Einführung verbesserter Arbeitsmethoden brotlos geworden waren, die neuen .Maschinen zu zerstören suchten. SyndikaJistisch ist die Sabotage, syndikalistisch ist aber schließlich auch jede Arbeitseinstellung, syndikalistisch die Forderung nach Einführung des sozialen Schutzzolles. Mit einem Wort, alle jene Büttel des Klassenkampfes, auf die die sozialdemokratische Partei nicht verzichten wollte, weü sie den Einfluß auf die Arbeitermassen zu verlieren fürchtete, haben nur die syndikalistischen — Marx hätte gesagt „kleinbürgerlichen" — Instinkte der Massen aufgestachelt. Wenn heute der zentralistische Sozialismus überhaupt Anhänger besitzt, so ist dies nicht das Verdienst der sozialdemokratischen Agitation, sondern des Etatismus. Der Staats- und Kommunalsozialismus hat dem zentralistischen Sozialismus Werbearbeit geleistet, indem er praktischen Sozialismus betrieben hat; der Kathedersozialismus hat die literarische Propaganda für ihn besorgt.

Das, was sich heute vor unseren Augen abspielt, ist freilich weder zentralistischer Sozialismus noch Syndikalismus, ist überhaupt nicht Organisation der Produktion, auch nicht Organisation der Verteilung, sondern Verteilung und Verzehrung schon vorhandener Genußgüter und Vernichtung und Zerstörung schon vorhandener Produktionsmittel. Was noch erzeugt wird, das erzeugen die Überreste der freien Wirtschaft, die man noch bestehen ließ; wohin dieser Sozialismus von heute schon eingedrungen ist, da ist von Produktion keine Rede mehr. Die Formen, unter denen sich dieser Prozeß vollzieht, sind recht mannigfach. Arbeitseinstellungen legen die Betriebe still, und wo noch gearbeitet wird, sorgt schon das ca' canny-System dafür, daß die Ausbeute nur gering ist. Durch hohe Steuern und durch den Zwang, hohe Löhne an die Arbeiter, auch wenn für sie keine Beschäftigung vorhanden ist, auszubezahlen, wird der Unternehmer zur Aufzehrung seines Kapitales genötigt. In derselben Richtung wirkt der Inflationismus, der, wie gezeigt wurde, die Kapitalsaufzehrung verschleiert und dadurch fördert. Sabotageakte der Arbeiter und ungeschickte Eingriffe der Behörden zerstören den sachlichen Produktionsapparat und vollenden das Werk, das der Krieg und die Revolutionskämpfe begonnen haben.

Inmitten all dieser Zerstörung bleibt nur die Landwirtschaft, vor allem die kleinbäuerlichen Betriebe, bestehen. Auch sie hat unter den Verhältnissen schwer gelitten, auch hier ist ein großer Teil des Betriebskapitales schon verzehrt, und es wird immer mehr davon verzehrt. Die großen Betriebe dürften voraussichtlich sozialisiert oder gar in kleinbäuerliche Stellen zerschlagen werden. In jedem Falle wird dadurch ihre Produktionskraft, auch abgesehen von der [166] Verminderung des Betriebskapitales, leiden. Doch die Verwüstung der Landwirtschaft bleibt verhältnismäßig klein gegenüber der immer mehr und mehr vor sich gehenden Auflösung des industriellen Produktionsapparates.

Das Absterben des Geistes gesellschaftlicher Kooperation, das das Wesen jenes Sozialrevolutionären Prozesses ausmacht, der sich vor unseren Augen abspielt, muß im Gewerbe, im Verkehrswesen und im Handel, kurz in der Stadt, andere Folgen mit sich bringen als in der Landwirtschaft. Eine Eisenbahn, eine Fabrik, ein Bergwerk können ohne jenen Geist, auf dem die Arbeitsteilung vmd die Arbeitsvereinigung beruhen, überhaupt nicht betrieben werden. Anders ist es in der Landwirtschaft. Wenn sich der Bauer vom Verkehre zurückzieht und seine Produktion auf die Autarkie der geschlossenen Hauswirtschaft umstellt, lebt er zwar schlechter als er einst gelebt hat, aber er kann immerhin weiter leben. So sehen wir die Bauernschaft sich immer mehr und mehr auf sich selbst beschränken. Der Bauer fängt wieder an, all das zu erzeugen, was er in seinem Haushalte zu verzehren wünscht, und auf der anderen Seite seine Produktion für den Bedarf des Städters einzuschränken. [118]

Was das für die Zukunft der Stadtbevölkerung bedeutet, ist klar. Die Industrie Deutschlands und Deutschösterreichs hat das ausländische Absatzgebiet zum größten Teil eingebüßt, nun verliert sie auch das inländische. Wenn die Arbeit in den Werkstätten wieder aufgenommen werden wird, werden sich die Bauern die Frage vorlegen, ob es für sie nicht vorteilhafter ist, die Industrieprodukte billiger und besser aus dem Auslande zu beziehen. Der deutsche Bauer wird wieder Freihändler sein, wie er es bis vor vierzig Jahren gewesen war.

Es ist kaum denkbar, daß sich dieser Prozeß in Deutschland ohne die gewaltigsten Erschütterungen abspielen sollte. Denn er bedeutet ja nichts weniger als den Untergang der deutschen Stadtkultur, den langsamen Hungertod von Millionen deutscher Stadtbewohner.

Sollte der revolutionäre Syndikalismus und Destruktionismus nicht auf Deutschland beschränkt bleiben, sich vielmehr auf ganz Europa und gar auch auf Amerika erstrecken, dann stünden wir vor einer Katastrophe, die man nur mit dem Untergange der antiken Welt vergleichen könnte. Auch die antike Kultur war auf einer weitgehenden Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung aufgebaut, auch in ihr hatte die — wenn auch beschränkte [119] — Wirksamkeit des liberalen Prinzipes eine hohe Blüte der materiellen und geistigen Kultur [167] herbeigeführt. Das alles schwand dahin, als das geistige Band, das dieses ganze System zusammenhielt, als der Geist gesellschaftlicher Kooperation geschwunden war. Auch im sterbenden Römerreich entvölkern sich die Städte, sinkt der Mann ohne Grundbesitz ins Elend hinab, zieht, wer nur irgendwie kann, auf das Land hinaus, um dem Hungertode zu entgehen. [120] Auch damals vollzog sich, äußerlich von den schwersten Erschütterungen des Geldwesens begleitet, der Prozeß der Rückbildung der Geldwirtschaft zur Naturalwirtschaft, der Verkehrswirtschaft zur verkehrslosen Wirtschaft. Von dem Untergange der antiken Kultur würde sich der moderne Prozeß nur dadurch unterscheiden, daß das, was sich einst in Jahrhunderten vollzog, sich jetzt in ungleich schnellerem Tempo vollziehen würde.

4. Der sozialistische Imperialismus.

Die älteren Sozialisten waren Gegner der Demokratie. Sie wollen die ganze Welt mit ihren Plänen beglücken und sind unduldsam gegen jeden, der anderer Meinung ist. Die Staatsform, die ihnen die liebste ist, wäre der aufgeklärte Absolutismus, wobei sie stets heimlich davon träumen, selbst die Stelle des aufgeklärten Despoten einzunehmen. In der Erkenntnis, daß sie diese Stelle weder inne haben noch auch erreichen können, suchen sie den Despoten, der bereits wäre, auf ihre Pläne einzugehen mid ilir Werkzeug zu werden. Andere Sozialisten wieder sind oligarchisch gesinnt und wollen die Welt von einer Aristokratie beherrscht wissen, die die — nach ihrer Meinung — wirklich Besten umfaßt. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Aristokraten die Philosophen des Platon, die Priester der Kirche oder der Newtonsrat St. Simons sein sollen.

Mit Marx vollzieht sich auch hierin ein vollkommener Wandel der Auffassung. Die Proletarier bilden die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung. Sie alle aber müßten, da das Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt werde, notwendigerweise Sozialisten werden. So sei der Sozialismus, im Gegensatze zu allen früheren Klassenkämpfen, die Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten gewesen wären, zum ersten Male in der Geschichte die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der angeheuren Mehrzahl. Daraus ergibt sich, daß die Demokratie das beste Büttel zur Verwirklichung des Sozialismus ist. Der reale Untergrund, auf dem sich der demokratische Sozialismus aufbaute, war die Tatsache, daß er seinen Boden in erster Linie in Deutschland, Österreich und Rußland fand, also in Ländern, in denen die Demokratie nicht verwirklicht war. Dort war das demokratische Programm das gegebene [168] Programm einer jeden Oppositionspartei und infolgedessen notwendigerweise auch des Sozialismus.

Als sich in Rußland einer gegenüber den Millionen dieses Volkes recht kleinen Zahl von Sozialisten die Möglichkeit bot, durch die Eroberung der Machtmittel des niedergebrochenen Zarismus die Herrschaft an sich zu reißen, wurden die Grundsätze der Demokratie rasch über Bord geworfen. In Rußland ist der Sozialismus gewiß nicht eine Bewegung der ungeheuren Mehrzahl. Daß er behauptet, eine Bewegung im Interesse der ungeheuren Mehrzahl zu sein, ist nichts Besonderes ; das haben alle Bewegungen behauptet. Sicher ist, daß die Herrschaft der Bolschewiki in Rußland ebenso auf dem Besitze des Regierungsapparates beruht wie einst die Herrschaft der Romanows. Ein demokratisches Rußland wäre nicht bolschewikisch.

In Deutschland kann es sich bei der Diktatur des Proletariats nicht, wie ihre Verfechter behaupten, darum handeln, den Widerstand der Bourgeoisie gegen die Sozialisierung der Produktionsmittel niederzuwerfen. Wenn man, wie es der heutige Sozialismus beabsichtigt, von vornherein auf die Sozialisierung der kleinbäuerlichen Betriebe verzichtet und auch die kleinen Rentenbezüge aufrecht erhalten will, dann hat man in Deutschland kaum Widerstand gegen die Sozialisierung zu erwarten. Die liberalen Ideengänge, mit denen allein man einen Widerstand gegen den Sozialismus zu leisten vermag, haben in Deutschland niemals viel Boden gewonnen; heute werden sie in Deutschland kaum von einem Dutzend Menschen geteilt. Ein Widerstand gegen die Sozialisierung, der vom privaten Interessentenstandpunkte begründet wird, hat aber — mit Recht — niemals Aussicht auf Erfolg, am allerwenigsten in einem Lande, in dem jeder industrielle und kaufmännische Reichtum der großen Masse stets als ein Verbrechen erschienen ist. Die Enteignung der Industrie, des Bergbaues und des Großgrundbesitzes und die Ausschaltung des Handels sind heute in Deutschland die ungestüme Forderung der erdrückenden Mehrheit des deutschen Volkes. Um sie durchzuführen, bedarf man am allerwenigsten der Diktatur. Der Sozialismus kann sich augenblicklich auf die große Masse stützen; er muß noch nicht die Demokratie fürchten.

Die deutsche Volkswirtschaft ist heute in der denkbar schwierigsten Lage. Auf der einen Seite hat der Krieg ungeheure Vermögenswerte zerstört und dem deutschen Volke die Verpflichtung auferlegt, gewaltige Entschädigungen an die Gegner zu zahlen, auf der anderen Seite hat er die Tatsache der relativen Übervölkerung des deutschen Landes deutlich zum Bewußtsein gebracht. Jedermann muß heute erkennen, daß es für die deutsche Industrie nach dem Krieg außerordentlich schwer, wenn nicht unmöglich sein wird, mit der Industrie des Auslandes ohne starke Herabdrückung des Lohnniveaus zu konkurrieren. Hunderttausende, ja Millionen Deutsche sehen heute ihr [169] kleines Besitztum von Tag zu Tag dahinschmelzen. Leute, die sich noch vor wenigen Monaten für reich gehalten haben, die von Tausenden beneidet wurden und als „Kriegsgewinner" sich in der Öffentlichkeit nicht gerade liebevoller Beachtung erfreut haben, können sich heute genau ausrechnen, wann sie den bescheidenen Rest ihres Scheinreichtums verzehrt haben und als Bettler dastehen werden. Die Angehörigen der freien Berufe sehen, wie ihr Lebensstandard von Tag zu Tag sinkt, ohne daß Hoffnung auf eine Besserung bestünde.

Daß ein Volk, das sich in solcher Lage befindet, Verzweiflung, erfassen kann, wird nicht wundernehmen. Es ist leicht zu sagen, daß es gegen die Gefahr der Verelendung des ganzen deutschen Volkes nur eine einzige Hilfe gibt, nämlich so schnell als möglich die Arbeit wieder aufzunehmen und zu trachten, durch Verbesserungen des Produktionsprozesses die Schäden wettzumachen, die der deutschen Volkswirtschaft zugefügt wurden. Aber es ist begreiflich, daß ein Volk, dem seit Jahrzehnten der Machtgedanke gepredigt wurde, dessen Gewaltinstinkte durch die Schrecken des langen Krieges erweckt wurden, auch in dieser Krisis zunächst wieder zur Machtpolitik seine Zuflucht zu nehmen sucht. Der Terrorismus der Spartakisten setzt die Politik der Junker fort wie der Terrorismus der Bolschewiki die Politik des Zarismus.

Die Diktatur des Proletariates würde es ermöglichen, sich über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für den Augenblick damit hinwegzuhelfen, daß man die in den Händen der besitzenden Schichten befindlichen Genußgüter enteignet. Daß das kein Sozialismus ist, mid daß kein sozialistischer Theoretiker jemals dafür eingetreten ist, ist klar. Auf diese Weise kann man nur schlecht und nur für kurze Zeit die Schwierigkeiten, die der Produktion auf sozialistischer Basis entgegenstehen, verhüllen. Man kann eine gewisse Zeit lang Lebensmittelbezüge aus dem Auslande durch den Verkauf von ausländischen Effekten und durch den Export von Kunstwerken und Juwelen finanzieren. Früher oder später aber muß dieses Mittel versagen.

Die Diktatur des Proletariats will durch den Schrecken jede Regung der Opposition im Keim ersticken. Man glaubt den Sozialismus für alle Ewigkeit begründet zu haben, wenn man einmal den Bourgeois ihren Besitz fortgenommen und jede Möglichkeit, öffentlich Kritik zu üben, beseitigt hat. Es kann freilich nicht geleugnet werden, daß man auf diesem Wege viel erreichen, daß man so vor allem die ganze europäische Kultur zerstören kann; aber eine sozialistische Gesellschaftsordnung baut man damit nicht auf. Wenn die kommunistische Gesellschaftsordnung weniger geeignet ist als eine auf dem Privateigentum an den Produktionsmittel beruhende, „das höchste Glück der größten Zahl" herbeizuführen, dann wird man den Gedanken des Liberalismus auch durch terroristische Maßnahmen nicht ertöten können.

[170]

Der marxistische Sozialismus als grundsätzlich revolutionäre Bewegung ist nach innen gewandter Imperialismus. Das wird niemand bestreiten, am wenigsten die Marxisten selbst, die geradezu den Kultus der Revolution verkünden. Weniger beachtet wird jedoch, daß der moderne Sozialismus notwendig auch nach außen hin imperialistisch sein muß.

Der moderne Sozialismus tritt in der Propaganda nicht als rationalistische Forderung auf; er ist eine wirtschaftspolitische Partei, die sich als Heilslehre nach Art der Religionen gibt. Als wirtschaftspolitische Idee hätte er sich mit dem Liberalismus geistig messen müssen, hätte versuchen müssen, die Argumente seiner Gegner logisch zu entkräften mid ihre Einwände gegen seine eigenen Lehren abzuwehren. Einzelne Sozialisten haben das auch getan. Doch im großen und ganzen haben die Sozialisten sich um die wissenschaftliche Erörterung der Vorzüge und Nachteile der beiden denkbaren Systeme der gesellschaftlichen Produktion kaum gekümmert. Sie haben das sozialistische Programm als Heilslehre verkündet. Alles irdische Leid haben sie als Ausfluß der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hingestellt und von der Durchführung des Sozialismus die Aufhebung alles dessen, was schmerzt, versprochen. Für alle Mängel der Vergangenheit und Gegenwart machten sie die kapitalistische Wirtschaft verantwortlich. Im Zukunftsstaate wird alles Sehnen mid Hoffen erfüllt werden, dort wird der Ruhelose Ruhe finden, der Unglückliche Glück, der Unzulängliche Kraft, der Kranke Genesung, der Arme Reichtum, der Entbehrende Genuß. Im Zukunftsstaate wird die Arbeit Vergnügen und nicht mehr Plage sein. Im Zukunftsstaate wird eine Kunst erblühen, von "deren Herrlichkeit die „bürgerliche" Kunst keine Vorstellung gibt, und eine Wissenschaft, die alle Rätsel der Welt restlos lösen wird. Alle Sexualnot wird schwinden. Mann und Weib werden sich wechselseitig ein Liebesglück schenken, das frühere Geschlechter nicht geahnt haben. Der menschliche Charakter wird eine durchgreifende Wandlung erfahren, er wird edel und makellos werden; alle geistige, sittliche und körperliche Unzulänglichkeit wird vom Menschen abfallen. Was dem germanischen Helden in Walhall, dem Christen in Gottes Schoß, dem Moslim in Mahomets Paradies blüht, das alles will der Sozialismus auf Erden verwirklichen.

Die Utopisten, vor allem Fourier, haben sich in der Ausmalung der Einzelheiten dieses Schlaraffenlebens nicht genug tun können. Der Marxismus hat jede Schilderung des Zukunftsstaates auf das Strengste verpönt. Doch dieses Verbot bezog sich nur auf die Darstellung der Wirtschafts-, Staats- und Rechtsordnung des sozialistischen Staatswesens und war ein meisterhafter Schachzug der Propaganda. Denn indem die Einrichtungen des Zukunftstaates in geheimnisvollem Dunkel belassen wurden, ward den Gegnern des Sozialismus jede Möglichkeit benommen, sie zu kritisieren und etwa nachzuweisen, [171] daß ihre Verwirklichung keineswegs ein Paradies auf Erden schaffen könne. Die Ausmalung der günstigen Folgewirkungen der Vergesellschaftung des Eigentums hat der Marxismus hingegen keineswegs so verdammt wie die Aufzeigung der Mittel und Wege, auf dem. sie erreicht werden könnten. Wenn er immer wieder alle irdischen Übel als notwendige Begleiterscheinungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hinstellte und damit erklärte, daß sie im Zukunftsstaate fehlen werden, hat er an utopischer Ausmalung des Glückes, das er zu bringen verspricht, die phantasiereichsten Verfasser von Staatsromanen übertroffen. Geheimnisvolle Andeutung und mystische Hinweise haben weit stärkere Wirkung als offene Erklärung.

Daß der Sozialismus als Heilslehre auftrat, das hat ihm den Kampf gegen den Liberalismus leicht gemacht. Wer den Sozialismus vernunftgemäß zu widerlegen sucht, trifft bei der Mehrzahl der Sozialisten nicht, wie er erwartet, auf rationale Erwägungen, sondern auf einen nicht aus der Erfahrung geschöpften Glauben an Erlösung durch den Sozialismus. Man kann unzweifelhaft den Sozialismus auch rationalistisch verteidigen. Doch für die große Masse seiner Bekenner ist er Heilslehre; sie glauben an ihn, er ist ihnen, für die die religiösen Heilsbotschaften die Kraft verloren haben, anstatt des Glaubens Trost und Hoffnung in den Nöten des Lebens. Solcher Überzeugung gegenüber versagt jede rationalistische Kritik. Wer dem Sozialisten dieses Schlages mit vernunftgemäßen Einwänden kommt, findet dasselbe Unverständnis, dem rationalistische Kritik der Glaubenslehren beim gläubigen Christen begegnet.

In diesem Sinne war es durchaus berechtigt, den Sozialismus mit dem Christentum zu vergleichen. Doch das Reich Christi ist nicht von dieser Welt; der Sozialismus hingegen will das Reich des Heiles auf Erden errichten. Darin liegt seine Kraft, darin aber auch seine Schwäche, an der er einst ebenso schnell, wie er gesiegt hat, zugrunde gehen wird. Auch wenn die sozialistische Produktionsweise wirklich die Produktivität zu steigern und größeren Wohlstand für alle zu schaffen vermöchte als die liberale, sie wird ihre Anhänger, die von ihr auch höchste Steigerung des inneren Glücksgefühles erhoffen, bitter enttäuschen müssen. Sie wird die Unzulänglichkeit alles Irdischen nicht beheben, den faustischen Drang nicht stillen, das innere Sehnen nicht erfüllen können. Wenn der Sozialismus Wirklichkeit geworden sein wird, wird man erkennen müssen, daß eine Religion, die nicht auf das jenseitige Leben hinweist, ein Unding ist.

Der Marxismus ist eine evolutionistische Theorie. Selbst das Wort Revolution hat im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung die Bedeutung Evolution. Doch die Rücksicht auf den messianischen Charakter der sozialistischen Verkündigung mußte den marxistischen Sozialismus immer wieder zur Bejahung des gewalttätigen Umsturzes, der Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes, [172] hintreiben. Er durfte nicht zugeben, daß die Entwicklung sich anders dem Sozialismus nähere, als indem die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise immer schreiender werden und damit das revolutionäre Umschlagen des Kapitalismus in nähere Zukunft rücken. Hätte er zugeben wollen, daß die Entwicklung dahin führe, schrittweise den Sozialismus zu verwirklichen, dann wäre er in die Verlegenheit gekommen, erklären zu müssen, warum denn nicht auch seine Heilsprophezeiungen in gleichem Maße schrittweise in Erfüllung gehen. Darum mußte der Marxismus, wollte er nicht auf das stärkste Mittel seiner Propaganda, auf die Heilslehre, verzichten, mit Notwendigkeit revolutionär bleiben, darum mußte er aller Wissenschaft zum Trotz an der Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie festhalten, darum mußte er den Revisionismus Bernsteins ablehnen, darum durfte er sich von seiner Orthodoxie kein Jota rauben lassen.

Nun aber ist der Sozialismus Sieger. Der Tag der Erfüllung ist angebrochen. Millionen stehen da und fordern ungestüm das Heil, das ihrer warten soll; sie fordern Reichtum, sie fordern Glück. Und nun sollen die Führer kommen und die Menge damit vertrösten, daß fleißiger Arbeit vielleicht nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten ihr Lohn werden wird, und daß inneres Glück nie mit äußeren Rütteln zu erreichen ist? Wie haben sie doch den Liberalismus gescholten, weil er den Armen Fleiß und Sparsamkeit empfohlen hat? Wie haben sie doch die Lehren verspottet, die nicht alles irdische Ungemach der Mangelhaftigkeit der sozialen Einrichtungen zuschreiben wollten?

Aus dieser Lage gibt es für den Sozialismus nur einen Ausweg. Er muß danach trachten, auch weiterhin, ungeachtet der Tatsache, daß er die Herrschaft ausübt, als gedrückte und verfolgte, von feindlichen Mächten an der Durchsetzung der wesentlichen Teile seines Programmes behinderte Sekte zu erscheinen mid so die Verantwortung für das Nichteintreffen des verkündeten Glückszustandes auf andere abzuwälzen. Damit aber wird der Kampf gegen diese Feinde des allgemeinen Heiles zu einem unabweislichen Bedürfnisse des sozialistischen Gemeinwesens. Es muß im Inneren die Bourgeoisie blutig verfolgen, es muß gegen das noch nicht sozialistische Ausland angriffsweise vorgehen. Es kann nicht warten, bis sich die Ausländer freiwillig zum Sozialismus bekehren müssen. Denn da es das Versagen des Sozialismus nur mit den Machenschaften des Kapitalismus des Auslandes zu erklären vermag, gelangt es notwendig zu einem neuen Begriffe der offensiven sozialistischen Internationale. Der Sozialismus könne nur verwirklicht werden, wenn die ganze Welt sozialistisch wird; ein isolierter Sozialismus eines einzelnen Volkes sei unmöglich. Daher müsse jede sozialistische Regierung sofort daran schreiten, für die Ausbreitung des Sozialismus im Auslande zu sorgen.

Das ist ein ganz anderer Internationalismus als der des kommunistischen Manifestes. Er ist nicht defensiv, sondern offensiv gedacht. [173] Um der Idee des Sozialismus zum Siege zu verhelfen, müßte es doch — sollte man meinen — genügen, wenn die sozialistischen Völker ihr Gemeinwesen so gut einrichten, daß das Beispiel die anderen zur Nachahmung lockt. Doch dem sozialistischen Staat ist der Angriff gegen alle kapitalistischen Staaten Lebensnotwendigkeit. Um sich im Inneren zu halten, muß er nach außen hin aggressiv werden. Er kann nicht eher ruhen, bevor er nicht die ganze Welt sozialisiert hat.

Auch der sozialistische Imperialismus ist wirtschaftspolitisch ganz und gar unbegründet. Es ist nicht abzusehen, warum nicht auch ein sozialistisches Gemeinwesen im Tauschverkehr mit dem Ausland alle jene Güter beschaffen könnte, die es allein nicht zu erzeugen vermag. Der Sozialist, der von der höheren Produktivität der kommunistischen Produktion überzeugt ist, könnte das am wenigsten bestreiten. [121]

Der sozialistische Imperialismus übertrifft jeden früheren Imperialismus an Umfang und Tiefe. Die in dem Wesen der sozialistischen Heilsverkündigung gelegene innere Notwendigkeit, die um hat entstehen lassen, treibt ihn zu grundsätzlicher Grenzenlosigkeit nach jeder Richtung. Er kann nicht eher zur Ruhe kommen, als bis er sich die ganze bewohnte Welt unterworfen und bis er alles, was an andere Formen menschlicher Gesellschaft erinnert, vernichtet hat. Jeder frühere Imperialismus konnte auf die weitere Ausdehnung verzichten, sobald er auf Hindernisse seiner Ausbreitung stieß, die er nicht zu überwinden vermochte. Der sozialistische Imperialismus könnte dies nicht; er müßte in solchen Hindernissen nicht nur Schwierigkeiten der äußeren Ausdehnung, sondern auch seiner Entfaltung im Inneren erblicken. Er muß sie zu vernichten trachten oder selbst untergehen.

 


 

Schlußbetrachtungen.

Der rationalistische Utilitarismus schließt weder Sozialismus noch Imperialismus grundsätzlich aus. Seine Annahme schafft nur einen Standpunkt, von dem aus man die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten sozialer Ordnung vergleichen und werten kann; es wäre denkbar, daß man vom utilitaristischen Standpunkte Sozialist oder selbst Imperialist wird. Doch wer sich einmal auf diesen Standpunkt gestellt hat, ist genötigt, sein Programm rationalistisch zu vertreten. Damit ist jegliches Ressentiment, jede Gefühlspolitik und alle Mystik, gleichviel, ob sie im Gewände des Rassenglaubens oder irgend welcher Heilsverkündung auftritt, abgelehnt. Über die Grundsätze der Politik kann mit Vernunftgründen für und wider gestritten werden, und wenn auch sowohl über die letzten Ziele als auch, wenngleich seltener, über die Wahl der Wege, auf denen ihnen zugestrebt werden soll, eine Einigung nicht erreicht werden kann, da ihre Wertung vom subjektiven Empfinden abhängt, so muß es doch auf diese Weise gelingen, den Umfang des strittigen Gebietes stark einzuengen. Die Hoffnungen vieler Rationalisten gehen freilich noch weiter. Sie meinen, jeden Streit mit intellektuellen Mitteln lösen zu können, da alle Gegensätze nur aus Irrtümern und aus der Unzulänglichkeit der Erkenntnis entstünden. Doch indem sie dies annehmen, setzen sie bereits die These von der Harmonie der richtig verstandenen Interessen der Individuen voraus, und die wird ja gerade von Imperialisten und Sozialisten bestritten.

Das ganze 19. Jahrhundert ist erfüllt vom Kampfe gegen den Rationalismus, dessen Herrschaft an seinem Anfang unbestritten schien. Selbst seine Voraussetzung einer grundsätzlichen Gleichartigkeit des Denkens aller Menschen wird angefochten. Der Deutsche müsse anders denken als der Brite, der Dolichokephale anders als der Brachykephale ; der „bürgerlichen" Logik wird die „proletarische" entgegengesetzt. Dem Verstände wird die Eignung, alle politischen Fragen entscheiden zu können, abgesprochen; Gefühl und Instinkt müßten den Menschen den Weg weisen, den sie zu gehen haben.

[175]

Die rationale Politik und die rationale Wirtschaft haben das Leben des einzelnen und der Völker äußerlich unendlich bereichert, Man konnte das übersehen, da man immer nur die Ärmlichkeit jener beachtet hat, die noch außerhalb der Grenzen der von der freien Wirtschaft bereits eroberten Gebiete leben, und weil man das Los des modernen Arbeiters immer dem des reichen Mannes von heute entgegengestellt hat, statt die Lose beider mit jenen ihrer Vorfahren zu vergleichen. Wahr ist es, daß der moderne Mensch mit seiner wirtschaftlichen Lage nie zufrieden ist, daß er es noch besser haben möchte. Doch gerade dieses unablässige Streben nach mehr Reichtum ist die treibende Kraft unserer Entwicklung; man kann sie nicht ausschalten, ohne die Grundlage unserer wirtschaftlichen Kultur zu zerstören. Die Zufriedenheit des Hörigen, der glücklich war, wenn er gerade nicht Hunger litt und sein Herr ihn nicht allzu sehr prügelte, ist kein Idealzustand, dem man nachweinen könnte.

Wahr ist aber auch, daß dem Steigen des äußeren Wohlstandes keine Vermehrung des inneren Reichtums entspricht. Der moderne Stadtmensch ist reicher als der Bürger des perikleischen Athen und als der ritterliche Troubadour der Provence, doch sein Innenleben erschöpft sich in mechanischen Verrichtungen im Erwerb und in oberflächlichen Zerstreuungen der Mußestunden. Vom Kienspan zum Glühlicht ist ein gewaltiger Fortschritt, vom Volksliede zum Gassenhauer ein trauriger Rückschritt. Nichts ist tröstlicher als das, daß man anfängt, sich dieses Mangels bewußt zu werden. Darin allein liegt die Hoffnung für eine Kultur der Zukunft, die alles Frühere in den Schatten stellen wird.

Doch die Reaktion gegen die innerliche Verarmung daii die Rationalisierung des äußeren Lebens nicht antasten. Die romantische Sehnsucht nach tollen Abenteuern, nach Händeln und äußerer Ungebundenheit ist selbst nur ein Zeichen der inneren Leere; sie haftet am Oberflächlichen, strebt nicht nach Tiefe. Nicht von der Buntheit des äußeren Erlebens ist die Abhilfe zu hoffen. Zu sich selbst muß der Mensch den Weg suchen, in seinem Inneren die Befriedigung finden, die er vergebens von außen her erwartet. Wollten wir Politik und Wirtschaft dem Imperialismus, dem Ressentiment und mystischen Gefühlen ausliefern, so würden wir wohl äußerlich ärmer, innerlich aber nicht reicher werden.

Dem Manne gewährt kriegerisches Tun jene tiefe Befriedigung, die höchste Anspannung aller Kräfte im Widerstreben gegen äußere Fährlichkeiten auslöst. Das ist nicht bloß atavistisches Wiedererwachen von Regungen und Instinkten, die unter den veränderten Verhältnissen sinnlos geworden sind. Das innere Glücksgefühl, das nicht der Sieg und die Rache, sondern der Kampf und die Gefahr auslösen, entspringt der lebendigen Empfindung, daß die Not den Menschen zur höchsten Kräftentfaltung zwingt, deren er fähig ist, [176] und daß sie alles, was in ihm steckt, wirksam werden läßt. [122] Ganz großen Naturen ist es eigen, aus imierem Antriebe zur höchsten Leistung fortzuschreiten; die anderen bedürfen des äußeres Anstoßes, um die eingewurzelte Trägheit zu überwinden mid ihr Selbst zu entwickeln. Das Glück, das der Schaffende in der Hingabe an sein Werk empfindet, wird dem einfachen Manne nie zu teil, wenn nicht außergewöhnliche Umstände auch ihn vor Aufgaben stellen, die den Einsatz des ganzen Menschen fordern und lohnen. Hier liegt die Quelle alles Heldentums. Nicht weil der einzelne Tod und Wunden als süß empfindet, sondern weil er im beseligenden Erlebnisse der Tat den Gedanken an sie ausschaltet, stürmt er gegen den Feind an. Tapferkeit ist Ausfluß von Gesundheit und Kraft, ist das Aufbäumen der Menschennatur gegen äußeres Ungemach. Angriff ist ursprünglichste Initiative. Mit dem Gefühl ist der Mann stets Imperialist. [123]

Doch die Vernunft verbietet, dem Gefühle freien Lauf zu lassen. Die Welt in Trümmer schlagen zu wollen, um eine romantische Sehnsucht austoben zu lassen, widerspricht so sehr der einfachsten Überlegung, daß man darüber kein Wort zu verlieren braucht.

Man hat der rationalen Politik, die man als die Ideen von 1789 zu bezeichnen pflegt, vorgeworfen, daß sie unpatriotisch, in Deutschland, daß sie undeutsch sei. Sie nehme keine Rücksicht auf die besonderen Interessen des Vaterlandes, sie vergesse über der Menschheit und dem Individuum die Nation. Dieser Vorwurf ist nur verständlich, wenn man sich der Anschauung anschließt, daß zwischen den Interessen der Volksgesamtheit auf der einen Seite, und jenen der einzelnen und der ganzen Menschheit auf der anderen Seite ein nicht zu überbrückender Gegensatz besteht. Geht man von der Harmonie der richtig verstandenen Interessen aus, dann kann man diesen Einwand überhaupt nicht begreifen. Der Individualist wird es nie fassen können, wie eine Nation auf Kosten ihrer Glieder groß und reich und mächtig werden könne, und wie das Wohl der Menschheit dem der einzelnen Völker hinderlich sein könne. In der Stunde von Deutschlands tiefster Erniedrigung darf man die Frage aufwerfen, [177] ob die deutsche Nation nicht durch Festhalten an der friedlichen Politik des viel geschmähten Liberalismus besser gefahren wäre als mit der Kriegspolitik der Hohenzollern ?

Man hat der utilitaristischen Politik ferner vorgeworfen, daß sie nur auf Befriedigung materieller Interessen ausgeht und die höheren Ziele menschlichen Strebens außer acht läßt. Der Utilitarier denke an Kaffee und Kattun und vergesse darob die wahren Werte des Lebens. Unter der Herrschaft einer solchen Politik müßten alle in hastigem Streben nach niederen irdischen Genüssen aufgehen, die Welt in krassem Materialismus versinken. Nichts ist törichter als diese Kritik. Wahr ist, daß Utilitarismus und Liberalismus die Erreichung der größtmöglichen Produktivität der wirtschaftlichen Arbeit als das erste und wichtigste Ziel der Politik hinstellen. Doch sie tun dies keineswegs in Verkennung der Tatsache, daß das menschliche Dasein sich nicht in materiellen Genüssen erschöpft. Sie streben nach Wohlstand und nach Reichtum, nicht weil sie darin den höchsten Wert erblicken, sondern weil sie wissen, daß alle höhere und innere Kultur äußeren Wohlstand voraussetzt. Wenn sie dem Staate den Beruf absprechen, die Verwirklichung der Lebenswerte zu befördern, tun sie es nicht aus Nichtachtung der echten Werte, sondern in der Erkenntnis, daß diese Werte als eigenster Ausdruck des inneren Lebens jeder Beeinflussung durch äußere Gewalten unerreichbar sind. Nicht aus Irreligiosität fordern sie Glaubensfreiheit, sondern aus tiefster Innigkeit religiösen Empfindens, die das innere Erleben von jeder rohen Einwirkung äußerer Macht frei machen will. Sie fordern Gedankenfreiheit, weil sie den Gedanken viel zu hoch stellen, um ihn der Beherrschung durch Magistrate und Konzile preiszugeben. Sie fordern Rede- und Preßfreiheit, weil sie den Sieg der Wahrheit nur vom Kampfe der widerstreitenden Meinungen erwarten. Sie verwerfen jegliche Autorität, weil sie an den Menschen glauben.

Wohl ist die utilitaristische Politik irdische Politik. Doch das ist im Wesen aller Politik begründet. Nicht der denkt vom Geiste niedrig, der ihn von jeder äußeren Regelung frei machen will, sondern der, der ihn durch Strafgesetze und Maschinengewehre zu lenken wünscht. Nicht den individualistischen Utilitarismus, sondern den kollektivistischen Imperialismus trifft der Vorwurf der materialistischen Denkungsart.

Mit dem Weltkrieg ist die Menschheit in eine Krise getreten, der nichts, was sich in der Geschichte bisher zugetragen hat, an die Seite gestellt werden kann. Es hat auch früher große Kriege gegeben; blühende Gemeinwesen wurden vernichtet, ganze Völker vertilgt. All das läßt sich in keiner Weise mit dem vergleichen, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt. In die Weltkrise, deren Anfang wir erleben, sind alle Völker der Welt verwickelt. Keines kann abseits stehen, keines kann sagen, daß nicht auch seine Sache mit [178] entschieden wird. Wenn in alten Zeiten der Vernichtungswille der Mächtigeren seine Schranken gefunden hat an der Unzulänglichkeit der Vernichtungsmittel und an der dem Besiegten gebotenen Möglichkeit, durch Ausweichen im Räume sich der Verfolgung zu entziehen, so machen die Fortschritte der Kriegs- und Verkehrstechnik es dem Besiegten heute unmöglich, der Vollstreckung des Vernichtungsspruches des Siegers zu entgehen.

Der Krieg ist fürchterlicher und zerstörender geworden, als er je vorher sein konnte, weil er heute mit allen Mitteln der hochentwickelten Technik geführt wird, die die freie Wirtschaft geschaffen hat. Die bürgerliche Kultur hat Eisenbahnen und elektrische Kraftanlagen gebaut, hat Sprengstoffe und Flugzeuge erfunden, um Reichtum hervorzubringen. Der Imperialismus hat die Werkzeuge des Friedens in den Dienst der Zerstörung gestellt. Mit den modernen Mitteln wäre es leicht, die Menschheit mit einem Schlag auszurotten. In grauenvollem Wahnsinne wünschte Caligula dem ganzen römischen Volk einen Kopf, um ihn abschlagen zu können. Die Kultur des 20. Jahrhunderts hat dem tollen Aberwitz der modernen Imperialisten die Verwirklichung ähnlicher Blutträume ermöglicht. Durch den Druck auf einen Taster vermag man Tausende dem Untergänge preiszugeben. Es war das Verhängnis der Kultur, daß sie die äußeren Mittel, die sie hervorgebracht hat, nicht den Händen jener zu entziehen vermochte, die ihrem Geiste fremd geblieben waren. Die modernen Tyrannen haben es viel leichter als ihre Vorgänger. Wer in der arbeitsteiligen Volkswirtschaft die Mittel des geistigen und des Güterverkehres beherrscht, hat seine Herrschaft fester gegründet als je vorher ein Imperator. Die Rotationspresse ist leicht in Fesseln zu schlagen, und wer sie beherrscht, braucht den Wettbewerb des nur gesprochenen oder geschriebenen Wortes nicht zu scheuen. Da hatte es die Inquisition viel schwerer. Kein Philipp II. konnte die Gedankenfreiheit stärker unterbinden als ein moderner Zensor. Um wieviel leistungsfähiger als die Guillotine Robespierres sind die Maschinengewehre Trotzkis ! Nie war das Individuum geknechteter als seit Ausbruch des Weltkrieges und gar erst der Weltrevolution. Der Polizei- und Verwaltungstechnik der Gegenwart kann man nicht entrinnen.

Nur eine äußere Grenze ist diesem Treiben der Zerstörungswut gesetzt. Indem der Imperialismus die freie Kooperation der Menschen vernichtet, entzieht er seiner Macht die materielle Grundlage. Die Wirtschaftskultur hat ihm die Waffen geschmiedet. Indem er die Waffen gebraucht, um die Schmiede zu sprengen mid den Schmied zu töten, macht er sich für die Zukunft wehrlos. Der Apparat der arbeitsteiligen Wirtschaft kann nicht reproduziert, geschweige denn erweitert werden, wenn Freiheit und Eigentum geschwunden sind. Er wird absterben, und die Wirtschaft wird in primitive Formen zurücksinken. Dann erst wird die Menschheit freier aufatmen dürfen. [179] Imperialismus und Bolschewismus werden, wenn nicht der Geist der Besinnung früher zurückkehrt, spätestens überwunden sein, wenn die Machtmittel, die sie dem Liberalismus entwunden haben, verbraucht sein werden.

Der unglückliche Ausgang des Krieges bringt Hunderttausende, ja Millionen Deutscher unter Fremdherrschaft und legt dem übrigen Deutschland Tributzahlungen von unerhörter Höhe auf. In der Welt wird eine Rechtsordnung aufgerichtet, die das deutsche Volk von dem Besitze jener Teile der Erde, die die günstigeren Produktionsbedingungen aufweisen, dauernd ausschließt. Kein Deutscher wird in Hinkunft Besitz an Bodenschätzen und Produktionsmitteln des Auslandes erwerben dürfen, und Millionen Deutscher werden sich, eng zusammengedrängt, auf dem kärglichen Boden Deutschlands schlecht ernähren müssen, während jenseits der Meere Millionen Quadratkilometer besten Landes brach liegen. Not und Elend wird aus diesem Frieden für das deutsche Volk erwachsen. Die Volkszahl wird zurückgehen, und das deutsche Volk, das vor dem Kriege zu den zahlreichsten Völkern der Welt gehört hat, wird in Hinkunft der Zahl nach weniger zu bedeuten haben als einst.

Alles Sinnen und Trachten des deutschen Volkes wird darauf gerichtet sein müssen, aus dieser Lage herauszukommen. Auf zwei Wegen kann dieses Ziel erreicht werden. Der eine ist der imperialistischer Politik. Militärisch zu erstarken und, sobald sich eine Gelegenheit zum Losschlagen bietet, den Krieg wieder aufzunehmen, das ist das Mittel, woran heute allein gedacht wird. Ob dieser Weg überhaupt gangbar sein wird, ist fraglich. Der Völker, die heute Deutschland beraubt und geknechtet haben, sind sehr viele. Das Maß der Gewalt, die sie verübt haben, ist so groß, daß sie ängstlich darüber wachen werden, jedes Wiedererstarken Deutschlands zu verhindern. Ein neuer Krieg, den Deutschland führen würde, könnte leicht ein dritter Punischer Krieg werden und mit der völligen Vernichtung des deutschen Volkes enden. Aber selbst wenn er zum Siege führen sollte, würde er so viel wirtschaftliches Elend über Deutschland bringen, daß der Erfolg nicht den Einsatz lohnte, und überdies wäre die Gefahr vorhanden, daß das deutsche Volk im Rausche des Sieges wieder in jenen grenzen- und uferlosen Siegeswahn verfällt, der ihm schon wiederholt zum Unglück geworden ist, weil er schließlich wieder nur zu einem großen Zusammenbruche führen kann.

Der zweite Weg, den das deutsche Volk einschlagen kann, ist der der vollen Abkehr vom Imperialismus. Den Wiederaufbau nur durch wirtschaftliche Arbeit anstreben, durch volle Freiheit im Innern die Entfaltung aller Kräfte der Einzelnen und des Volksganzen ermöglichen, das ist der Weg, der zum Leben zurückführt. Den Vergewaltigungs- und Entnationalisierungsbestrebungen der imperialistischen Nachbarstaaten nichts anderes entgegensetzen als wirtschaftliche [180] Arbeit, die reich und damit frei macht, ist ein Weg, der schneller und sicherer zum Ziele führt als die Politik des Kampfes und des Krieges. Die Deutschen, die dem tschechoslowakischen, dem polnischen, dem dänischen, dem französischen, dem belgischen, dem italienischen, dem rumänischen und dem südslawischen Staat unterworfen wurden, werden ihr Volkstum besser bewahren, wenn sie Demokratie und Selbstverwaltung anstreben, die schließlich doch zur vollen nationalen Selbständigkeit führen, als. wenn sie ihre Hoffnungen auf einen Sieg der Waffen setzen.

Die Politik, die die Größe der deutschen Nation durch äußere Machtmittel angestrebt hat, ist zusammengebrochen. Sie hat nicht nur das deutsche Volk als Ganzes klein gemacht, sondern auch den einzelnen Deutschen in Elend und Not gebracht. Nie war das deutsche Volk so tief gesunken wie heute. Wenn es sich jetzt wieder aufrichten will, dann wird es nicht mehr danach streben dürfen, das Ganze groß zu machen auf Kosten der Einzelnen, sondern eine dauerhafte Begründung des Wohles der Gesamtheit auf Grundlage des Wohlergehens der Einzelnen anstreben müssen. Aus der kollektivistischen Politik, die es bisher getrieben hat, wird es zur individualistischen übergehen müssen.

Ob solche Politik überhaupt in Zukunft angesichts des Imperialismus, der jetzt überall auf der Welt sein Haupt erhebt, möglich sein wird, das ist eine andere Frage. Aber wenn dies nicht der Fall sein sollte, dann geht eben die ganze moderne Kultur ihrem Untergang entgegen.

„Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt." Der Imperialismus drückt allen, die nicht unterjocht werden wollen, die Waffen in die Hand. Um den Imperialismus zu bekämpfen, müssen die Friedlichen alle seine Mittel anwenden. Haben sie dann im Kampf obsiegt, so kann es sein, daß sie zwar den Gegner niedergeworfen haben, daß sie aber von seinen Methoden und von seiner Denkungsart selbst besiegt wurden. Sie legen dann die Waffen nicht wieder aus der Hand, sie bleiben selbst Imperialisten.

Engländer, Franzosen und Amerikaner hatten sich im 19. Jahrhundert bereits weit von allen Eroberungsgelüsten entfernt und den Liberalismus zu ihrem ersten Grundsatz gemacht. Gewiß war auch in ihrer liberalen Zeit ihre Politik nicht ganz frei von imperialistischen Anwandlungen, und man kann nicht ohneweiters jeden Erfolg, den der imperialistische Gedanke bei ihnen davon getragen hat, auf Rechnung der Abwehr setzen. Aber zweifellos ha.t ihr Imperialismus aus der Notwendigkeit, den deutschen und russischen Imperialismus abzuwehren, die stärksten Kräfte gesogen. Nun stehen sie als Sieger da und sind nicht gewillt, sich damit zu begnügen, was sie vor dem Sieg als ihr Kriegsziel bezeichnet haben. Sie haben die schönen [181] Programme, mit denen sie in den Krieg gezogen sind, längst vergessen. Nun haben sie die Macht und sind nicht gewillt, sie fahren zu lassen. Vielleicht meinen sie, daß sie die Macht zum allgemeinen Besten ausüben werden, aber das haben alle Mächtigen geglaubt. Die Macht ist böse an sich, gleichviel, wer sie ausübe. [124]

Doch wenn sie nun jene Politik aufnehmen wollen, mit der wir Schiffbruch gelitten haben, um so schlimmer für sie; für uns aber kann das noch kein Grund sein, das zu unterlassen, was uns frommt. Wir fordern ja die Politik der ruhigen, friedlichen Entwicklung nicht um jener willen, sondern um unserer selbst willen. Es war der größte Irrtum der deutschen Imperialisten, daß sie die, die zur Politik der Mäßigung geraten haben, des unpatriotischen Mitleides mit den Fremden geziehen haben; der Gang der Geschichte hat gezeigt, wie sehr sie sich darin getäuscht haben. Wir wissen heute am besten, was am Ende des Imperialismus steht.

Es wäre das entsetzlichste Unglück für Deutschland und für die ganze Menschheit, wenn der Revanchegedanken die deutsche Politik der Zukunft beherrschen würde. Frei zu werden von den Fesseln, die der deutschen Entwicklung durch den Frieden von Versailles aufgezwungen wurden, die Volksgenossen von Knechtschaft and Not zu befreien, das allein darf das Ziel der neuen deutschen Politik sein. Vergeltung zu üben für erlittene Unbill, Rache zu nehmen und zu strafen, befriedigt zwar niedere Instinkte; doch in der Politik schadet der Rächer sich selbst nicht minder als dem Feinde. Die Weltarbeitsgemeinschaft ist auf dem wechselseitigen Nutzen aller Teilnehmer aufgebaut. Wer sie erhalten und ausbauen will, muß von vornherein auf jedes Ressentiment verzichten. Was hätte er davon, daß er den Rachedurst auf Kosten seiner eigenen Wohlfahrt stillt?

Im Völkerbunde von Versailles triumphieren in Wahrheit die Ideen von 1914 über die von 1789; daß nicht wir ihnen zum Siege verholfen haben, sondern unsere Feinde, und daß die Unterdrückung sich gegen uns kehrt, ist für uns wichtig, vom weltgeschichtlichen Standpunkte jedoch weniger entscheidend. Die Hauptsache bleibt, daß Völker „gestraft" werden, und daß die Verwirkungstheorie wieder auflebt. Wenn man vom Selbstbestimmungsrechte der Völker Ausnahmen zuungunsten der „bösen" Völker zuläßt, hat man den ersten Grundsatz der freien Völkergemeinschaft umgestoßen. Daß die Engländer, Nordamerikaner, Franzosen und Belgier, diese Hauptvertreter des Kapitalexportes, dabei dem Grundsatze zur Anerkennung verhelfen, daß die Verfügung über Kapitalbesitz im Ausland eine Herrschaftsform darstelle, und daß seine Enteignung die naturgemäße Folge politischer Veränderungen sei, zeigt, wie heute bei ihnen blinde Wut und der Wunsch nach augenblicklicher Bereicherung vernünftige [182] Erwägungen zurückdrängt. Eine kühle Überlegung müßte gerade diese Völker zu ganz anderem Verhalten in den Fragen des internationalen Kapitalverkehres veranlassen.

Der Weg, der uns und die ganze Menschheit aus der Gefahr, die der Weltimperialismus für die Zukunft der Arbeits- und Kulturgemeinschaft der Völker und damit für das Schicksal der Gesittung bedeutet, hinausführt, ist die Abkehr von der Gefühls- und Instinktpolitik und die Rückkehr zum politischen Rationalismus. Wenn wir uns dem Bolschewismus in die Arme werfen wollten, bloß zu dem Zwecke, um unsere Feinde, die Räuber unserer Freiheit und unseres Gutes, zu ärgern oder um auch ihr Haus in Brand zu stecken, wäre uns nicht im geringsten geholfen. Nicht das darf das Ziel unserer Politik sein, unsere Feinde in unseren Untergang mit hineinzuziehen. Wir sollen trachten, selbst nicht unterzugehen und wieder emporzutauchen aus Knechtschaft und Elend. Das aber können wir weder durch kriegerische Aktionen noch durch Rache und Verzweiflungspolitik erreichen. Es gibt für uns und für die Menschheit nur eine Rettung : die Rückkehr zum rationalistischen Liberalismus der Ideen von 1789.

Es mag sein, daß der Sozialismus eine bessere Form der Organisation der menschlichen Arbeit darstellt. Wer dies behauptet, der möge es vernunftgemäß zu erweisen suchen. Wenn der Nachweis gelingen sollte, dann wird die durch den Liberalismus demokratisch geeinte Welt nicht zögern, die kommunistische Gemeinschaft zu verwirklichen. Wer könnte sich in einem demokratischen Staatswesen einer Reform widersetzen, die der weitaus überwiegenden Mehrzahl den größten Gewinn bringen müßte? Der politische Rationalismus lehnt den Sozialismus nicht grundsätzlich ab. Doch er verwirft von vornherein den Sozialismus, der sich nicht an den kühlen Verstand wendet, sondern an unklare Gefühle, der nicht mit der Logik, sondern mit dem Mystizismus einer Heilsverkündung arbeitet, den Sozialismus, der nicht aus dem freien Willen der Volksmehrheit hervorgehen will, sondern aus dem Terrorismus wilder Fanatiker.

 


 

Von demselben Verfasser erschien im Verlag Duncker & Humblot, München und Leipzig: Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel. — 1912. Oktav. X, 480 Seiten. Preis M 10. — (zuzüglich des üblichen Teuerungszuschlages).

 


 

Fußnoten

[1] Vgl darüber Preuß, Das deutsche Volk und die Politik. Jena 1915. S. 97ff.

[2] Damit soll nicht etwa behauptet werden, daß das Verhalten des radikalen Flügels der sozialdemokratischen Partei im Oktober und November 1918 nicht die fürchterlichsten Folgen für das deutsche Volk nach sich gezogen hat. Ohne den völligen Zusammenbruch, den die Revolten im Hinterlande und in der Etappe herbeigeführt haben, wären die Waffenstillstandsbedingungen und der Frieden wohl ganz anders ausgefallen. Aber die Behauptung, daß wir gesiegt hätten, wenn wir nur noch kurze Zeit aus gehalten hätten, ist ganz unbegründet.

[3] In meisterhafter Weise überprüft diese Lehre Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 23, S. 205 — 271). — Die etatistische Schule der deutschen Nationalökonomie hat ihren Höhepunkt wohl in der staatlichen Geldtheorie Georg Friedrich Knapps erreicht. Nicht das ist an ihr das Bemerkenswerte, daß sie aufgestellt wurde; denn das, was sie lehrte, hatten ja schon seit Jahrhunderten Kanonisten, Juristen, Romantiker und manche Sozialisten vertreten. Bemerkenswert war vielmehr der Erfolg des Buches. In Deutschland und Österreich fand es zahlreiche begeisterte Anhänger und grundsätzliche Zustimmung selbst bei jenen, die sich zurückhaltender zeigten; im Auslande wurde es nahezu einmütig abgelehnt oder überhaupt nicht beachtet. Ein vor kurzem in den Vereinigten Staaten veröffentlichtes Werk sagt über die „Staatliche Theorie des Geldes": "This book has had wide influence on German thinking on money. It is typical of the tendency in German thought to make the State the centre of everything." (Anderson, The Value of Money. New York 1917. S. 433.)

[4] In Deutschland ist die Meinung sehr verbreitet, daß das Ausland unter Militarismus die Tatsache starker militärischer Rüstungen verstehe; daher wird darauf hingewiesen, daß England und Frankreich, die zu Wasser und zu Lande gewaltige Flotten und Heere unterhalten haben, mindestens ebenso militaristisch gewesen seien wie Deutschland und Österreich-Ungarn. Das beruht auf einem Irrtum. Unter Militarismus sind nicht die Rüstungen und die Kriegsbereitschaft zu verstehen, sondern ein bestimmter Gesellschaftstypus, eben jener, der von alldeutschen, konservativen und sozialimperialistischen Autoren als der des „deutschen Staates" und der „deutschen Freiheit" bezeichnet wurde und den andere als die „Ideen von 1914" gepriesen haben. Als Gegensatz dazu erscheint der industrielle Gesellschaftstypus, d. i. jener, den man im Kriege in Deutschland von gewisser Seite als Ideal der „Händler", als Verwirklichung der „Ideen von 1789" gescholten hat. Vgl. Herbert Spencer, Die Prinzipien der Soziologie. Deutsch von Vetter. Stuttgart 1889. Bd. III, S. 668—754. — In der Herausarbeitung und Gegenüberstellung der beiden Typen besteht zwischen Deutschen und Angelsachsen ziemliche Übereinstimmung, doch nicht in der Terminologie. Die Bewertung der beiden Typen ist natürlich keine einheitliche. Es gab schon vor und in dem Krieg in Deutschland neben Militaristen auch Antimilitaristen und in England und Amerika neben Antimilitaristen auch Militaristen.

[5] Vgl. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. 3. Aufl. München 1915. S 22ff.; Kjellén, Der Staat als Lebensform. Leipzig 1917. S. 102 ff.

[6] Vgl. Kjellén, a.a.O. S. lO5ff. und die dort angeführten Schriften.

[7] Vgl. Manouvrier, L'indice céphalique et la pseudo-sociologie. (Revue mensuelle de l'École d' Anthropologie de Paris. Neuvième Année. 1899.) S. 283.

[8] Vgl. Scherer, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874. S. 45ff. : daß das Kriterium der Nation in der Sprache liege, war die Anschauung von Arndt und Jaboh Grimm. Für Grimm ist ein Volk „der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden". (Kleinere Schriften. VII. Bd. Berlin 1884. S. 557.) Einen Überblick über die Dogmengeschichte des Begriffes der Nation geben Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1907. S. Iff.; Spann, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre. Berlin 1914. S. 195 ff.

[9] Es sei übrigens ausdrücklich vermerkt, daß bei jeder anderen Erklärung des Wesens der Nation in noch viel höherem Maße Schwierigkeiten auftauchen, ohne daß man sie dort zu beheben vermöchte.

[10] Daß der Begriff der nationalen Gemeinschaft ein Gradbegriff ist, wird auch von Spann (a.a.O. S. 207) anerkannt; daß er nur die Gebildeten einschließt, führt Bauer (a.a.O. S. 70ff.) aus.

[11] Vgl. Anton Menger, Neue Staatslehre. 2. Aufl. Jena 1904. S. 213.

[12] Es kam früher vor, daß Kinder deutscher Eltern, deren Erziehung auf Gemeindekosten erfolgen mußte (sogenannte Kostkinder), von der Gemeinde Wien aufs Land in die Obhut tschechischer Pflegeeltern gegeben wurden; diese Kinder wuchsen dann als Tschechen auf. Anderseits wurden wieder Kinder nichtdeutscher Eltern durch deutsche Zieheltern germanisiert. Eine polnische Aristokratin pflegte der Stadt Wien die Sorge um Kinder polnischer Eltern abzunehmen, um die Kinder als Polen aufwachsen zu lassen. Niemand kann bezweifeln, daß alle diese Kinder gute Tschechen. Deutsche oder Polen wurden, ohne Rücksicht darauf, welcher Nation ihre Eltern angehört hatten.

[13] Ibsen verspottet die Bestrebungen der Anhänger der besonderen „norwegischen" Sprache in der Person des Huhu im „Peer Gynt" (4. Aufzug, Irrenhausszene).

[14] Man muß zwischen Schriftsprache und Kultursprache unterscheiden. Seit die Mundarten über eine schriftlich niedergelegte Dichtung verfügen, geht es nicht mehr an, ihnen die Bezeichnung Schriftsprache zu verweigern. Als Kultursprachen wären dann alle jene Sprachen zu bezeichnen, die den Anspruch erheben, alle menschlichen Gedanken mündlich und schriftlich zum Ausdruck zu bringen, also auch eine wissenschaftliche und technische Sprache zu sein. Die Grenzen zwischen beiden sind natürlich nicht immer scharf zu ziehen.

[15] Es ließen sich noch mehr Beispiele anführen; hierher gehört zum Beispiel auch die slowenische Sprache. — Besonderes Interesse bieten jene Fälle, in denen ähnliches in kleinerem Maßstabe versucht wurde. So hat — nach Mitteilungen, die ich dem Wiener Slawisten Dr. Norbert Jokl verdanke — die ungarische Regierung im Komitate Ung den Versuch gemacht, die dortigen slowakischen und ruthenischen Lokaldialekte selbständig zumachen; sie ließ Zeitungen in diesen Mundarten erscheinen, wobei für den ruthenischen Dialekt die lateinischen Lettern und eine magyarisierende Orthographie zur Anwendung kamen. Im Komitate Zala wieder wurde versucht, einen slowenischen Dialekt zu verselbständigen, was durch den Umstand, daß die Bevölkerung im Gegensatz zu den österreichischen Slowenen protestantisch war, erleichtert wurde. Es wurden in dieser Sprache Schulbücher aufgelegt. In Papa bestand ein besonderes Kollegium zur Heranbildung von Lehrern dieser Sprache.

[16] Vgl. Otto Bauer, Die Bedingungen der nationalen Assimilation. (Der Kampf. Bd.V.) S. 246 ff.

[17] Vgl. Socin, Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Heilbronn 1888. S. 501.

[18] Vgl. Sorel, Nouveaux essais d'histoire et de critique. Paris 1898. S. 99 ff.

[19] Vgl. Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus. (Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 36.) S. 38 ff., 402 f.; Pressensé, L'idée de Patrie. (Revue mensuelle de l'Ecole d' Anthropologie de Paris. Neuvième Année. 1899.) S. 91 ff.

[20] Vgl. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien. (Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 34) S. 57.

[21] Vgl. Seipel, Nation und Staat. Wien 1916. S. 11f. Anm.; Meinecke, a.a.0. S. 19f.

[22] Vgl. Michels, Patriotismus, a.a.O. S. 403.

[23] Vgl. Schultze-Gaevernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. Leipzig 1899. S. 173ff.; Bauer, Nationalitätenfrage, a.a.O. 138ff.

[24] Man denke an Schleswig-Holstein, an das linke Rheinufer usf.

[25] Vgl. Kautsky, Nationalität und Internationalität. Stuttgart 1908. S. 19; ferner Rohrbach, Der deutsche Gedanke in der Welt. 108. bis 112. Tausend. S. 13.

[26] Man könnte einwenden, daß es auch dann, wenn die Lebensbedingungen überall die gleichen wären, zu Wanderungen kommen müßte, wenn das eine Volk sich stärker vermehren würde als die anderen, da dann aus den dichter besiedelten Gebieten Abwanderungen in die dünner besiedelten platzgreifen müßten. Das Malthussche Gesetz berechtigt uns aber anzunehmen, daß auch die Bevölkerungsvermehrung von den natürlichen Lebensbedingungen abhängig ist, so daß also aus der Annahme gleicher äußerer Lebensbedingungen auch schon die Gleichmäßigkeit der Bevölkerungsvermehrung folgt.

[27] Vgl. Bernatzik, Die Ausgestaltung des Nationalgefühls im 19. Jahrhundert. Hannover 1912. S. 24.

[28] Vgl. Bucharin. Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki). Wien 1919. S. 23 ff.

[29] Daher denn auch die antidemokratischen und kirchlichen Schriftsteller die Rückkehr zum Absolutismus der Fürsten und des Papstes als Mittel zur Behebung der nationalen Kämpfe empfehlen.

[30] Häufig freilich kann aus politischer Ohnmacht auch bürgerliche Rechtlosigkeit entstehen.

[31] Darüber, daß das Majoritätsprinzip nur dort anwendbar erscheint, wo es sich um die Austragung von Gegensätzen innerhalb einer homogenen Masse handelt, vgl. Simmel, Soziologie. Leipzig 1908. S. 192ff.

[32] Vgl. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in seiner Anwendung auf Österreich. Wien 1918, und zahlreiche ältere Schriften desselben Verfassers.

[33] Vgl. Bauer, Nationalitätenfrage, a.a.O. S. 324 ff.

[34] Von der Vergewaltigung des geschlossenen Siedlungsgebietes der Deutschen in Böhmen wird hier abgesehen; dort ist die nationale Frage lösbar, man will sie nur nicht lösen.

[35] Vgl. Kjellén, a.a.O. S. 131.

[36] Vgl. Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzipes. Jena 1913. Bd. I. S. 50.

[37] Die Assimilation wird dadurch gefördert, daß die Einwanderer nicht auf einmal, sondern nach und nach kommen, so daß der Assimilationsprozeß bei den früher Eingewanderten bereits abgeschlossen oder doch schon im Gange ist, wenn die neuen Zuzügler kommen.

[38] Vgl. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation. (The Works of D. Ricardo. Edited by McCulloch. II. Edition. London 1852.) S. 76 f.

[39] Vgl. den Erlaß des preußischen Ministers des Innern v. Rochow vom 15. Januar 1838. abgedruckt in Prince-Smiths gesammelten Schriften. Berlin 1880. Bd. III. S. 230.

[40] Um jedes Mißverständnis auszuschließen, sei ausdrücklich bemerkt, daß hier keine Stellungnahme zu der in Deutschland vielbesprochenen Frage, ob die „westliche" oder die „östliche" Orientierung für die deutsche Politik vorzuziehen gewesen wäre, beabsichtigt ist. Beide Orientierungen waren imperialistisch gedacht, d. h. die Frage lautete, ob Deutschland Rußland oder England hätte angreifen sollen. Deutschland hätte sich mit England verbünden sollen, um ihm in einem Verteidigungskrieg gegen Rußland beizustehen. Es ist aber kein Zweifel, daß es dann niemals zu diesem Kriege gekommen wäre.

[41] Es sei aber darauf hingewiesen, daß England bis zum Ausbruch des Weltkrieges immer wieder den Versuch machte, sich mit Deutschland friedlich auseinanderzusetzen, und bereit war. den Frieden auch um den Preis von Landabtretungen zu erkaufen.

[42] Wenn Lensch (Drei Jahre Weltrevolution. Berlin 1918. S. 28ff.) die handelspolitische Wendung von 1879 als einen der tiefsten Gründe der heutigen Weltrevolution bezeichnet, dann ist ihm freilich aus ganz anderen Gründen als aus denen, die er anführt, zuzustimmen. Seine weiteren Ausführungen zu widerlegen lohnt angesichts der mittlerweile eingetretenen Ereignisse nicht mehr.

[43] Schüller (Schutzzoll und Freihandel. Wien 1905) gibt eine Theorie der Erstellung von Zollsätzen; über seine Argumente für den Schutzzoll vgl. Mises, Vom Ziel der Handelspolitik (Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 42, S. 562) und Philippovich, Grundriß der politischen Ökonomie. Bd. II, 1. Teil (7. Aufl., Tübingen 1914) S. 359f.

[44] Vgl. aus der großen Literatur Wagner, Agrar- und Industriestaat. 2. Aufl. Jena 1902. S. 156ff.; Hildebrand, Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus. Jena 1910. S. 216ff.

[45] Daß auch Japan und China gegen uns waren, ist der unglückseligen Kiautschau-Politik zuzuschreiben.

[46] Vgl. Wagner, a.a.O. S. 81.

[47] Vgl. Sprengel, Das Staatsbewußtsein in der deutschen Dichtung seit Heinrich von Kleist. Leipzig 1918. S. 8 ff.

[48] Wir haben gesehen, wie das Streben nach dem nationalen Einheitsstaat aus dem Wunsch der Völker entspringt. Der Imperialismus faßt die Sache anders auf. Ihm ist der Gedanke des Einheitsstaates ein Rechtstitel für Annexionen. So wollten die Alldeutschen die deutschen Kantone der Schweiz und selbst die Niederlande wider ihren Willen annektieren.

[49] Die Antwort, die das Nationalitätsprinzip auf die Theorie der natürlichen geographischen Grenzen weiß, hat Arndt gegeben, als er erklärte, „die einzige gültigste Naturgrenze macht die Sprache" (Der Rhein. Deutschlands Strom aber nicht Deutschlands Grenze. 1813. S.7), hat dann J. Grimm treffend formuliert, wenn er von dem „natürlichen Gesetz" spricht, „daß nicht Flüsse, nicht Berge Völkerscheide bilden, sondern daß einem Volk, das über Berge und Ströme gedrungen ist, seine eigene Sprache allein die Grenze setzen kann." (a. a. 0. S. 557.) — Wie man es fertig bringen kann, aus dem Nationalitätsprinzip heraus zur Forderung nach Annexion der Gebiete „der kleinen, lebensunfähigen und namentlich zu eigenem Staatstum unfähigen Völker" zu gelangen, ersieht man bei Hasse, Deutsche Politik. Bd. I, 3. Teil. München 1906. S. 12 f.

[50] Nur in der Behinderung der Einwanderung tritt von angelsächsischer Seite auch den Weißen gegenüber der Imperialismus zutage.

[51] Vgl. Naumann, Mitteleuropa. Berlin 1915. S. 164ff.; Mitscherlich, Nationalstaat und Nationalwirtschaft und ihre Zukunft. Leipzig 1916. S. 26 ff.; über andere Schriftsteller derselben Richtung vgl. Zurlinden, Der Weltkrieg. Vorläufige Orientierung von einem schweizerischen Standpunkt aus. Bd. I. Zürich 1917. S. 393 ff.

[52] Vgl. Renner, Österreichs Erneuerung. Bd. III. Wien 1916. S. 65.

[53] ebendort. S. 66.

[54] Vgl. auch die Rede Bismarcks in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 11. Dezember 1867 über den Akzessionsvertrag Preußens mit dem Fürstentum Waldeck-Pyrmont. (Fürst Bismarcks Reden. Ausgabe von Stein. Bd. III. S. 235ff. )

[55] Vgl. Bentham, Grundsätze für ein zukünftiges Völkerrecht und für einen dauernden Frieden. Übersetzt von Klatscher. Halle 1915. S. 100 ff.

[56] Man hat es heute zuwege gebracht, für den Ausbruch des Weltkrieges den Liberalismus verantwortlich zu machen. Vgl. dagegen Bernstein (Sozialdemokratische Völkerpolitik. Leipzig 1917. S. 170ff.), wo auf die enge Verbindung des Freihandel« mit der Friedensbewegung hingewiesen wird. Spann, ein Gegner des Pazifismus, hebt ausdrücklich die „Kriegsunlust und Kriegsscheu, die heute den kapitalistischen Gemeinwesen eigen ist", hervor, (a. a. 0. S. 137.)

[57] Vgl. Hegel, Werke. 3. Aufl. Bd. IX. Berlin 1848. S. 540.

[58] Man könnte die Frage auf werfen, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen Pazifismus und Militarismus gelegen sei, da doch auch der Pazifist grundsätzlich nicht für die Aufrechterhaltung des Friedens um jeden Preis ist, vielmehr unter gewissen Bedingungen den Krieg einem unerträglichen Friedenszustand vorzieht, und umgekehrt auch der Militarist nicht ewig Krieg führen will, sondern nur zur Herstellung eines bestimmten Zustandes, den er als den wünschenswerten ansieht. Es stünden also beide in einem prinzipiellen Gegensatz zur absoluten lebenverneinenden Passivität, die das Evangelium verkündet und manche christliche Sekten üben; zwischen ihnen selbst bestehe aber nur ein gradueller unterschied. In der Tat ist jedoch der konträre Unterschied so groß, daß er in einen grundsätzlichen umschlägt. Er liegt einerseits in der Beurteilung der Größe und Schwierigkeit des Hindernisses, das uns vom Frieden trennt, und anderseits in der Beurteilung der Nachteile, die mit dem Kampfe verknüpft sind. Der Pazifismus glaubt, daß uns von dem ewigen Frieden nur eine dünne Scheidewand trennt, deren Beseitigung gleich den Friedenszustand herbeifahren muß, während der Militarismus sich so weitgesteckte Ziele setzt, daß ihre Erreichung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, daher noch eine lange Kriegsära bevorsteht. Der Liberalismus glaubte, daß der ewige Friede schon durch die Beseitigung des fürstlichen Absolutismus dauernd begründet werden könne. Der deutsche Militarismus hingegen war sich darüber klar, daß die Herstellung und Erhaltung der angestrebten deutschen Suprematie noch auf lange Zeit hinaus beständig Kriege mit sich bringen werde. Weiters hat der Pazifismus stets ein offenes Auge für die Schäden und Nachteile des Krieges, während der Militarismus sie gering achtet. Daraus ergibt sich dann beim Pazifismus die ausgesprochene Vorliebe für den Friedenszustand, beim Militarismus die stete Verherrlichung des Krieges und, in seiner sozialistischen Form, der Revolution. Eine weitere prinzipielle Scheidung von Pazifismus und Militarismus ist möglich nach dem Gesichtspunkte der Stellung zur Machttheorie. Der Militarismus erblickt in der materiellen Macht die Grundlage der Herrschaft (Lassalle, Lasson), der Liberalismus in der Macht des Geistes (Hume).

[59] Vgl. Bauer, a.a.O. S. 515.

[60] Vgl. Rodbertus, Schriften, herausgegeben von Wirth. Neue Ausgabe. Bd. IV. Berlin 1899. S. 282.

[61] Vgl. Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle. Bd. m. Stuttgart 1902. S. 255 f.

[62] Vgl. W. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (Ausgabe der „Deutschen Bibliothek" in Berlin.) S. 66.

[63] Eine vernichtende Kritik an diesen Theorien übte Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. München 1918.

[64] Vgl. Hintze im Sammelwerk „Deutschland und der Weltkrieg". Leipzig 1915. S. 6. Eine eingehende Kritik dieser Ansichten, die sich auf einen Satz des englischen Historikers Seeley stützen, bei Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke Jena 1916. S. 7ff.

[65] Die Kritik, die Mehring (Die Lessing-Legende. S.Aufl. Stuttgart 1909. S.12ff.) übt, schwächt nicht die Beweiskraft dieser Stelle für die Anschauungen des alten Goethe.

[66] Vgl. Oppenheim, Benedikt Franz Leo Waldeck. Berlin 1880. S. 41ff.

[67] Vgl. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1898. Bd. I. S. 56.

[68] Vgl. Hume. Of the first Principles of Government. (Essays. Ausg. Frowde.) S. 29 ff.

[69] Eine Zusammenstellung der verschiedenen Aufgaben, die man Österreich zuweisen wollte, gibt Seipel, a.a.O. S. 18ff.

[70] Vgl. oben S. 64; ferner die Kritik bei Justus, Sozialismus und Geographie (Der Kampf. Jahrg. XL) S. 469 ff. — Heute verwenden die Tschechen diese Theorie, um Deutschböhmens Annexion zu rechtfertigen.

[71] Vgl. Kenner, Österreichs Erneuerung, a.a.O.; Marxismus, Krieg und Internationale. Stuttgart 1917: dagegen Mi s es, Vom Ziel der Handelspolitik, a.a.O. S. 579ff. (mir lag bei Abfassung dieses Aufsatzes nur der erste Band von Österreichs Erneuerung vor), ferner Justus, a.a.O.; Lederer, Zeitgemäße Wandlungen der sozialistischen Idee und Theorie. (Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 45.) S. 261 ff.

[72] Über die Ursachen der schnelleren Bevölkerungsvermehrung der Slawen, der es zuzuschreiben ist, daß der Zug in die Stadt in Österreich vorwiegend slawischen Charakter trug, vgl. Hainisch, Die Zukunft der Deutschösterreicher. Wien 1892. S.68ff.

[73] „Die lang gedient, sie weiden endlich herrschen" (Libussa. 5. Aufzug).

[74] Man beachte, daß auch Marx und Engels in den gleichen Irrtum verfallen waren; auch sie sahen, ganz wie die österreichischen Deutschliberalen, in den nationalen Bewegungen der geschichtslosen Nationen reaktionäre Mache und waren überzeugt, daß mit dem unausbleiblichen Siege der Demokratie das Deutschtum über diese dahinsterbenden Nationalitäten triumphieren werde. Vgl. Marx, Revolution und Kontrerevolution in Deutschland. Deutsch von Kautsky. 3. Aufl. Stuttgart 1913. S. 61 ff.; Engels (Mehring a.a.O.) S. 246 ff. Vgl. dazu Bauer, Nationalitätenfrage. a.a.O. S. 271 f.

[75] Vgl. oben S. 142 ff.

[76] Die gleichen Ursachen, die das deutsche Volk von der Demokratie fernhielten, haben auch in Rußland, in Polen und in Ungarn gewirkt. Man wird sie zur Erklärung heranziehen müssen, wenn man die Entwicklung der russischen Kadetten oder des Polenklubs im österreichischen Reichsrat oder der ungarischen 48 er Partei verstehen will.

[77] Vgl. Neurath , Aufgabe, Methode und Leistungsfähigkeit der Kriegswirtschaftslehre. (Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 44.) S. 765; vgl. dagegen die Ausführungen von Eulenburg, Die wissenschaftliche Behandlung der Kriegswirtschaft (ebendort S. 775—785.

[78] Besonders bezeichnend für diese Richtung sind die von Schmoller, Sering und Wagner im Auftrage der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge" unter dem Titel Handels- und Machtpolitik herausgegebenen Reden und Aufsätze. (Stuttgart 1900. 2 Bde.)

[79] Vgl. Helfferich, Handelspolitik. Leipzig 1901. S. 197; ähnlich Dietzel, Weltwirtschaft und Volkswirtschaft. (Jahrbuch der Gehe-Stiftung. Bd. V.) Dresden 1900. S. 46f.; Riesser, Finanzielle Kriegsbereitschaft und Kriegführung. Jena 1909. S. 73 f. Von der Notwendigkeit, Maßregeln zu ergreifen, um bei einem deutsch-englischen Krieg die Wege zu bahnen, „auf denen wir die notwendigste Zufuhr an Lebensmitteln und Rohstoffen erhalten und zugleich den Überschuß unserer Industrieerzeugnisse wenigstens teilweise ausführen können", spricht Bernhardi (Deutschland und der nächste Krieg Stuttgart 1912. S. 179 f.) und beantragt, Vorsorgen für „eine Art kommerzieller Mobilmachung" zu treffen. Welchen Täuschungen er sich dabei über die politische Lage hingab, ersieht man am besten daraus, daß er meinte, wir würden in einem Kampfe gegen England (und das mit ihm verbündete Frankreich) „geistig nicht allein stehen, sondern alles, was auf dem weiten Erdball freiheitlich und selbstbewußt denkt und fühlt, wird mit uns einig sein." (ebendort, S. 187.)

[80] Die moderne Kriegstheorie ging von der Ansicht aus. daß der Angriff die überlegene Art der Kriegführung sei. Es entspricht dem Geiste des eroberungslüsternen Militarismus, wenn Bernhardi dies damit begründet: ..Nur der Angriff erzielt positive Ergebnisse; bloße Abwehr liefert immer nur negative." (Vgl. Bernhardi, Vom heutigen Krieg. Berlin 1912. Bd. II. S. 223.) Die Begründung der Angriffstheorie war jedoch nicht bloß politisch, sondern auch kriegswissenschaftlich. Der Angriff' erscheint als die überlegene Form des Kampfes, weil der Angreifer die freie Wahl der Richtung. des Zieles und des Ortes der Operationen hat, weil er als Handelnder die Bedingungen bestimmt, unter denen sich der Kampf vollzieht, kurz weil er dem Angegriffenen das Gesetz des Handelns diktiert. Da jedoch die Verteidigung in der Front taktisch stärker ist als der Angriff, muß der Angreifer darnach streben, die Flanke des Verteidigers zu umfassen. Das war alte Kriegstheorie, neu bewährt durch die Siege Friedrichs 11.. Napoleons I. und Moltkes und durch die Niederlagen Macks, Gyulais und Benedeks. Sie bestimmte das Verhalten der Franzosen bei Beginn des Krieges (Mühlhausen). Sie war es, die die deutsche Heeresverwaltung antrieb, den Marsch durch das neutrale Belgien einzuschlagen, um die Franzosen, die in der Front unangreifbar waren, in der Flanke zu fassen. Die Erinnerung an die vielen österreichischen Feldherren, denen die Defensive zum Mißgeschick geworden war, trieb Conrad dazu, 1914 den Feldzug mit ziel- und zwecklosen Offensiven zu eröffnen, bei denen die Blüte des österreichischen Heeres nutzlos geopfert wurde. Doch die Zeit der Schlachten alten Stils, die eine Umgehung der gegnerischen Flanke zuließen, war auf den großen europäischen Kriegsschauplätzen vorbei, seit die Massenhaftigkeit der Heere und die durch die modernen Waffen und Verbindungsmittel umgestaltete Taktik die Möglichkeit boten, die Armeen so aufzustellen, daß ein Flankenangriff nicht mehr möglich war. Flanken, die sich auf das Meer oder auf neutrales Gebiet stützen, können nicht umfaßt werden. Es bleibt nur mehr der Frontalangriff übrig, der gegenüber einem gleich gut bewaffneten Gegner versagt. Die großen Durchbruchsoffensiven in diesem Kriege gelangen nur gegen schlecht bewaffnete Gegner, wie es besonders die Russen 1915, in mancher Hinsicht auch die Deutschen 1918 waren. Gegen minderwertige Truppen konnte freilich auch bei gleich guter, ja sogar überlegener Bewaffnung und Ausrüstung des Verteidigers ein Frontalangriff gelingen (12. Isonzoschlacht). Im übrigen konnte die alte Taktik nur in den Schlachten des Bewegungskrieges (Tannenberg und Masurische Seen 1914. einzelne Schlachten in Galizien) noch zur Anwendung gelangen. Dies verkannt zu haben, ist das tragische Geschick des deutschen Militarismus gewesen. Die ganze deutsche Politik war auf dem Theorem von der militärischen Überlegenheit des Augriffes aufgebaut; sie ist mit ihm im Stellungskriege zusammengebrochen.

[81] Es war eine unbegreifliche Verblendung, von der Möglichkeit eines Siegfriedens zu sprechen, da doch der deutsche Mißerfolg schon seit der Marneschlacht feststand. Doch die Junkerpartei wollte lieber das deutsche Volk ganz verderben lassen, als ihre Herrschaft auch nur um einen Tag früher aufgeben.

[82] Ein Krieg, in dem die Aushungerung des Gegners als strategisches Mittel zur Anwendung kam, war der Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika 1904; in gewissem Sinne kann man hieher auch den nordamerikanischen Sezessionskrieg und den letzten Burenkrieg rechnen.

[83] Vgl. Dietzel, Die Nationalisierung der Kriegsmilliarden. Tübingen 1919. S.31 ff.

[84] Nicht nur Nationalökonomen haben sich in dieser Richtung betätigt; mehr noch haben Techniker, das meiste aber Ärzte geleistet. Biologen, die vor dem Kriege die Ernährung des deutschen Industriearbeiters als unzureichend erklärten, haben im Kriege plötzlich gefunden, daß eiweißarme Kost besonders bekömmlich sei, daß Fettgenuß, der über das von den Behörden zugebilligte Maß hinausgehe, der Gesundheit schade und daß eine Einschränkung des Verbrauches von Kohlenhydraten nur wenig zu bedeuten habe.

[85] Vgl. Levy, Vorratswirschaft und Volkswirtschaft. Berlin 1915. S. 9ff. ; Naumann, Mitteleuropa, a. a. 0. S. 149ff.; Diehl, Deutschland als geschlossener Handelsstaat im Weltkriege. Stuttgart 1916. S. 28 f.

[86] Die Mehrzahl der Autoren hat sich, der Geistesrichtung des Etatismus entsprWienerechend, nicht mit der Erklärung der Ursachen des guten Geschäftsganges befaßt, sondern die Frage diskutiert, ob der Krieg „eine Konjunktur sein darf. Unter jenen, die eine Erklärung des wirtschaftlichen Aufschwunges im Kriege zu geben suchten, ist vor allem Neurath (Die Kriegswirtschaft. S. A. aus dem V. (16.) Jahresbericht der Neuen Handelsakademie. 1910. S. 10 ff.) hervorzuheben, da er — in den Bahnen von Carey, List und Henry George wandelnd — schon vor dem Kriege in diesen wie in anderen „kriegswirtschaftlichen" Fragen jenen Standpunkt eingenommen hat, der während des Krieges in Deutschland weite Verbreitung gefunden hat. Der naivste Vertreter dieser Anschauung, daß der Krieg Reichtum schafft, ist Steinmann-Bucher, Deutschlands Volksvermögen im Krieg. 2. Aufl. Stuttgart 1916. S. 40, 85 ff.

[87] Es ist eine Manie der Etatisten, in allem, was ihnen nicht gefällt, Mache von „Interessenten" zu wittern. So wurde Italiens Eintritt in den Krieg auf die Arbeit der von England und Frankreich bezahlten Propaganda zurückgeführt. Annunzio sei bestochen gewesen u. dgl. m. Will man etwa behaupten, daß auch Leopardi und Giusti. Silvio Pellico und Garibaldi, Mazzini und Cavour sich verkauft hätten? Und doch hat ihr Geist Italiens Haltung in diesem Kriege stärker beeinflußt als die Tätigkeit irgend eines Zeitgenossen. Die Mißerfolge der deutschen Auslandspolitik sind zum guten Teil auf diese Denkungsart. die es unmöglich macht, die Realitäten der Welt zu erfassen, zurückzuführen.

[88] Vgl. Auspitz und Lieben, Untersuchungen über die Theorie des Preises. Leipzig 1889. S. 64 f.

[89] Vgl. Mises, Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel. München 1912. S.222ff. Eine anschauliche Darstellung der Verhältnisse in Österreich während der napoleonischen Kriege findet sich bei Grünberg. Studien zur österreichischen Agrargeschichte. Leipzig 1901. S. 121ff. Vgl. auch Broda, Zur Frage der Konjunktur im und nach dem Kriege. (Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 45.) S. 40ö'.: ferner Rosenberg, Valutafragen. Wien 1917. S. 14 ff.

[90] Vgl. darüber Mises, Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, a.a.O. S. 237 ff.

[91] Die Nominalisten und Chartalisten unter den Geldtheoretikern pflichten natürlich dieser Auffassung der Laien, daß der beim Verkaufe von ausländischen Effekten wegen des Rückganges der Valuta erzielte nominelle Mehrbetrag einen Gewinn darstelle, bei: vgl. Bendixen, Währungspolitik und Geldtheorie im Lichte des Weltkrieges. München 1916. S. 37. Das ist wohl der tiefste Stand, auf den die Geldtheorie sinken konnte.

[92] Es wäre natürlich nicht möglich gewesen, diese Veränderungen in der offiziellen Zwecken dienenden Buchführung zu berücksichtigen; diese Buchführung mußte in der gesetzlichen Währung geführt werden. Wohl aber wäre es möglich gewesen, den Wirtschaftskalkül auf Grundlage einer Umrechnung der Bilanzen und der Gewinn- und Verlustrechnung auf Goldvaluta aufzubauen.

[93] Und dabei wurden die Truppen, die die fürchterlichen Kämpfe in den Karpathen und in den Sümpfen der sarmatischen Ebene, im Hochgebirge der Alpen und im Karst durchzufechten hatten, schlecht verpflegt und unzulänglich bekleidet und ausgerüstet!

[94] Vom politischen Gesichtspunkte war es ein schwerer Fehler, in der Entlohnung des Offiziers und des Mannes ein durchaus verschiedenes Prinzip zu befolgen und den Frontsoldaten schlechter zu bezahlen als den Arbeiter im Hinterlande. Man hat damit die Zersetzung des Geistes der Armee sehr befördert.

[95] Vgl. Dietzel, Kriegssteuer oder Kriegsanleihe? Tübingen 1912. S. 14ff., 39ff.

[96] Vgl. vor allem Goldscheid, Staatssozialismus oder Staatskapitalismus. 5. Aufl. Wien 1917; derselbe, Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankerott. Wien 1919.

[97] Max Adler, (Zwei Jahre . . . ! Weltkriegsbetrachtungen eines Sozialisten. Nürnberg 1916. S. 64.) bestreitet, daß der Kriegssozialismus echter Sozialismus sei: „Der Sozialismus strebt die Organisation der Volkswirtschaft für die ausreichende und gleichmäßige Bedürfnisbefriedigung aller an, er ist die Organisation des Auskömmlichen, ja des Überflusses; der ,Kriegssozialismus' hingegen ist die Organisation des Mangels und der Bedürftigkeit." Hier wird das Mittel mit dem Zweck verwechselt. Der Sozialismus soll nach Auffassung der sozialistischen Theoretiker Mittel zur Erzielung der höchsten unter den gegebenen Verhältnissen erreichbaren Produktivität der Volkswirtschaft sein. Ob dann Überfluß oder Mangel herrscht, ist nicht wesentlich. Das Kriterium des Sozialismus ist ja nicht das, daß er allgemeinen Wohlstand anstrebt, vielmehr das, daß er das Wohlergehen auf dem Wege einer auf der Vergesellschaftung der Produktionsmittel beruhenden Produktion anstrebt. Der Sozialismus unterscheidet sich vom Liberalismus nur durch die Methode, die er wählt: das Ziel, das sie anstreben, ist beiden gemeinsam. Vgl. weiter unten S. 149 ff.

[98] Sozialismus und Kommunismus sind, wirtschaftspolitisch betrachtet, identisch; beide streben die Vergesellschaftung der Produktionsmittel an im Gegensatz zum Liberalismus, der auch an den Produktionsmitteln grundsätzlich Privateigentum bestehen lassen will. Die heute neuerdings in Gebrauch gekommene Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus ist wirtschaftspolitisch irrelevant, es sei denn, daß man den Kommunisten auch den Plan unterschiebt, das Privateigentum an den Genußgütern aufheben zu wollen. Über zentralistiscben und syndikalistischen Sozialismus (eigentlich ist nur der zentralistische Sozialismus echter Sozialismus) siehe weiter unten S. 160 ff.

[99] Über die innere Verwandtschaft von Militarismus und Sozialismus vgl. Herbert Spencer, a.a.O. Bd. III. S. 712. — Die imperialistischen Tendenzen des Sozialismus behandelt Seillière, Die Philosophie des Imperialismus. (II. Aufl. der deutschen Ausgabe.) Berlin 1911. Bd. II. S. 171 ff., Bd. III. S. 59ff. — Mitunter verleugnet der Sozialismus auch äußerlich nicht seine innere Verwandtschaft mit dem Militarismus. Das tritt besonders deutlich bei jenen sozialistischen Programmen zutage, welche den Zukunftsstaat nach dem Vorbild des Heeres einrichten wollen. So, wenn man die soziale Frage durch die Aufstellung einer „Nährarmee" oder eines „Arbeiterheeres" (vgl. Popper-Lynkeus, Die allgemeine Nährpflicht. Dresden 1912. S. 373ff.; ferner Ballod, Der Zukunftsstaat. 2. Aufl. Stuttgart 1919. S. 32 ff.) lösen will. — Schon das kommunistische Manifest verlangt die „Errichtung industrieller Armeen". — Man beachte, daß Imperialismus und Sozialismus in Literatur und Politik Hand in Hand gehen. Schon früher (S. 77 ff.) wurde auf Engels und Rodbertus hingewiesen; man könnte noch viele andere nennen, z.B. Carlyle. (vgl. Kemper, Carlyle als Imperialist. Zeitschrift für Politik. Bd. XI. S. 115 ff.) Australien, das sich als einziges unter den angelsächsischen Staatswesen vom Liberalismus abgewendet und dem Sozialismus stärker angenähert hat als irgend ein Land, ist durch seine Einwanderungsgesetzgebung auch das imperialistische Staatswesen par excellence.

[100] Dieser der theoretischen Untersuchung abträgliche Geist hat sich auch auf die deutschen Sozialdemokraten übertragen. Es ist charakteristisch, daß, ebenso wie die theoretische Nationalökonomie auf deutschem Boden nur in Österreich gedeihen konnte auch die besten Vertreter des deutschen Marxismus, Kautsky, Otto Bauer, Hilferding und Max Adler, aus Österreich stammen.

[101] Es ist natürlich hier nicht beabsichtigt, eine kritische Prüfung des Marxismus vorzunehmen. Die Ausführungen dieses Abschnittes sollen nur der Erläuterung der imperialistischen Tendenzen des Sozialismus dienen. Dem, der sich für diese Probleme interessiert, stehen auch sonst genug Schriften zur Verfügung. (z.B. Simkhowitsch, Marxismus versus Sozialismus. Übersetzt von Jappe. Jena 1913.)

[102] Vgl. Bentham, Defence of Usury. Second Edition. London 1790. S. 108 f.

[103] Vgl. Hilferding. Das Finanzkapital. Wien 1910. S. X.

[104] Vgl. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Herausgegeben von Kautskv. Stuttgart 1897. S. XI.

[105] Vgl. Marx, Das Kapital. Bd. III. 1. Teil. (3. Aufl. Hamburg 1911.) S. 242ff.

[106] Vgl. Kautsky, Die soziale Revolution. III. Aufl. Berlin 1911. II. S. 21 ff.

[107] ebendort S. 26.

[108] Man hat in den letzten Jahren oft genug von erfrorenen Kartoffeln, verfaultem Obst, verdorbenem Gemüse gehört. Ist dergleichen früher nicht vorgekommen? Gewiß, aber in viel kleinerem Umfange. Der Händler, dessen Obst verdarb, erlitt Vermögensverluste, die ihn für die Zukunft vorsichtiger machten, und wenn er nicht besser achtgab, dann mußte dies schließlich zu seinem wirtschaftlichen Untergange führen. Er schied aus der Leitung der Produktion aus und wurde auf einen Posten im wirtschaftlichen Leben versetzt, in dem er nicht mehr zu schaden vermochte. Anders im Verkehr mit staatlich bewirtschafteten Artikeln. Hier steht hinter der Ware kein Eigeninteresse; hier wirtschaften Beamte, deren Verantwortung so geteilt ist, daß keiner sich über ein kleines Mißgeschick sonderlich aufregt.

[109] Während die Sozialisten die beiden ersterwähnten Argumente kaum einer Entgegnung gewürdigt haben, haben sie sich mit dem Malthusschen Gesetz eingehender befaßt, ohne freilich, nach Ansicht der Liberalen, die Schlußfolgerungen widerlegt zu haben, die sich daraus ergeben.

[110] Vgl. Schäffle, Die Quintessenz des Sozialismus. 18. Aufl. Gotha 1919. S. 30.

[111] Vgl. Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. 4. Aufl. Stuttgart 1910. S. 105 ff.

[112] In einem andern Sinn freilich, als es gewöhnlich geschieht, kann man zwischen wissenschaftlichem und philantropischem Sozialismus unterscheiden. Jene Sozialisten, die in ihren Programmen bestrebt sind, von nationalökonomischen Gedankengängen ausgehend, Rücksicht auf die Notwendigkeit der Produktion zu nehmen, kann man als wissenschaftliche Sozialisten bezeichnen, im Gegensatz zu jenen, die nur ethische und moralische Ausführungen vorzubringen wissen und nur ein Programm für die Verteilung, nicht auch für die Produktion aufstellen. Marx hat die Mängel des bloß philantropischen Sozialismus deutlich gespürt, als er nach seiner Übersiedlung nach London daran ging, die nationalökonomischen Theoretiker zu studieren. Das Ergebnis dieses Studiums war die im „Kapital" vorgetragene Lehre. Die späteren Marxisten haben aber diese Seite des Marxismus arg vernachlässigt. Sie sind viel mehr Politiker und Philosophen als Nationalökonomen. — Einer der Hauptmängel der nationalökonomischen Seite des Marxistischen Systems ist seine Verknüpfung mit der klassischen Nationalökonomie, was dem damaligen Stande der nationalökonomischen Wissenschaft entsprach. Heute müßte der Sozialismus eine wissenschaftliche Anlehnung bei der modernen Nationalökonomie, bei der Grenznutzenlehre, suchen. Vgl. Schumpeter, Das Grundprinzip der Verteilangslehre. (Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 42.) S. 88.

[113] Wie leicht sich die Marxisten über dieses Argument hinwegsetzen, kann man bei Kautsky ersehen. „Ist der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dann wäre, wenn er in Konflikt mit der Menschennatur käme, diese es, die den Kürzeren ziehen würde, und nicht der Sozialismus." (Vorrede zu Atlanticus [Ballod], Produktion und Konsum im Sozialstaat. Stuttgart 1898. S. XIV.)

[114] Vgl. Bericht der Sozialisierungskommission über die Sozialisierung der Kohle. (Frankfurter Zeitung vom 12. März 1919.)

[115] Vgl. Kautsky, Die Soziale Revolution. a.a.O. I. S. 13ff.

[116] Vgl. Kautsky, Die Diktatur des Proletariats. 2, Aufl. Wien 1918. S. 40.

[117] Nach Engels (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. 7. Aufl. Stuttgart 1910. S. 299 Anm.) bedeutet „in dem Falle, daß die Produktionsoder Verkehrsmittel der Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar geworden" ist, die Verstaatlichung „auch wenn der heutige Staat sie vollzieht, einen ökonomischen Fortschritt, die Erreichung einer neuen Vorstufe zur Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft selbst."

[118] Das gilt besonders von Deutschösterreich. Im Reiche liegen die Verhältnisse vorläufig doch noch anders.

[119] Auch wir haben ja nie wirklich „freie Konkurrenz" gehabt.

[120] Zahlreiche Belege in den spätrömischen Rechtsquellen. Vgl. z. B. 1. un. C. Si curialis relicta civitate rus babitare maluerit. X. 37.

[121] Man beachte, wie mangelhaft die Begründung; der These, daß der Sozialismus nur als Weltsozialismus möglich ist, in der marxistischen Literatur vor 1918 ist.

[122]

.... der Krieg läßt die Kraft erscheinen,
Alles erhebt er zum Ungemeinen,
Selber dem Feigen erzeugt er den Mut. (Die Braut von Messina.)

[123] Damit ist nicht die Verherrlichung des Krieges durch willenskranke Ästheten gemeint, die im kriegerischen Tun jene Kraft bewundern, die ihnen fehlt. Doch diesem Schreibtisch- und Kaffeehaus-Imperialismus kommt keine Bedeutung zu. Er läuft mit seinen papierenen Ergüssen nur nebenher mit. — Einen Versuch, den natürlichen, gefühlsmäßigen Imperialismus abzureagieren, stellen Spiel und Sport dar. Es ist kein Zufall, daß England, die Heimat des modernen Utilitarismus, auch das Vaterland des modernen Sports ist, und daß gerade die Deutschen — und unter ihnen wieder die der utilitaristischen Philosophie am meisten abgeneigten Schichten, die Universitätsjugend — sich am längsten dem Eindringen der sportlichen Betätigung verschlossen haben.

[124] Vgl. J. Burckhardt. Weltgeschichtliche Betrachtungen. Berlin 1905. S. 96.