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Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere. (Leipzig: Verlag von Duncker & Humboldt, 1883).http://davidmhart.com/liberty/Books/1883-Menger_Untersuchungen/Menger_Untersuchungen1883-ebook.html
,Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere. (Leipzig: Verlag von Duncker & Humboldt, 1883).
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Erstes Buch. Ueber die Nationalökonomie als theoretische Wissenschaft und ihr Verhältniss zu den historischen und praktischen Wissen schaften von der Volkswirthschaft.
Zweites Buch. Ueber den historischen Gesichtspunkt der Forschung in der Politischen Oekonomie.
Drittes Buch. Das organische Verständniss der Socialerscheinungen.
Viertes Buch. Ueber die Entwickelung der Idee einer historischen Behandlung der Politischen Oekonomie.
Vorrede. v-xxii
Erstes Buch. Ueber die Nationalökonomie als theoretische Wissenschaft und ihr Verhältniss zu den historischen und praktischen Wissen schaften von der Volkswirthschaft.
Erstes Capitel. Ueber die verschiedenen Gesichtspunkte der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft 3
Ueber den Gegensatz zwischen den historischen und den theoretischen Wissenschaften überhaupt und jenen von der Volkswirthschaft insbesondere. Wesen und Aufgaben der historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft. Wesen, Aufgaben und Bedeutung einer Theorie der Volkswirthschaft. Wesen und Aufgaben der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft; ihr Verhältniss zur theoretischen National ökonomie und zur Praxis der Volkswirthschaft.
Zweites Capitel. Ueber die Irrthümer, welche aus der Verkennung der formalen Natur der theoretischen Nationalökonomie entstehen. 11
Verwechselung der historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und der Theorie der letzteren. - Verwechselung des historischen und des theoretischen Verständnisses der volkswirthschaftlichen Erscheinungen. Irrthum, die Gesichtspunkte der historischen Jurisprudenz schlechthin auf die theoretische Nationalökonomie zu übertragen. Ungenügende Trennung dieser letzteren von den praktischen WirthschaftsWissenschaften. Erklärung dieses Irrthums aus der Geschichte der Politischen Oekonomie. — Uebelstände, welche aus demselben für die Systematik, die Methodik und den Fortschritt der Politischen Oekonomie überhaupt entstanden sind.
Drittes Capitel. Die besondere Natur der theoretischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der Volkswirthschaft hebt den Charakter der Nationalökonomie, als theoretischer Wissenschaft, nicht auf. 25
Die theoretischen Wissenschaften sind nicht von gleicher Strenge; dieser Umstand hat indess keinen Einfluss auf ihren Seite allgemeinen formalen Charakter. – Was immer der Grad der Strenge sein mag, welchen die Wahrheiten der theoretischen Nationalökonomie aufweisen, der Charakter der letzteren als einer theoretischen Wissenschaft, bleibt unberührt. – Sie vermag hierdurch weder zu einer historischen noch auch zu einer praktischen Wissenschaft zu werden. – Der Werth der theoretischen Wissenschaften für die Erkenntniss und das Verständniss der Erscheinungen wird durch die geringere Strenge ihrer Wahrheiten keineswegs aufgehoben.
Viertes Capitel. Ueber die zwei Grundrichtungen der theoretischen Forschung überhaupt und jener auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere . 31
Ueber die Meinung, dass es nur Eine Richtung der theoretischen Forschung gebe. – Ueber die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung und ihre Vorzüge. – Dass sie ungeeignet sei, zu strengen Gesetzen, zu sog. „Naturgesetzen“ der Erscheinungen zu führen. – Natur und Arten der theoretischen Erkenntnisse, zu welchen sie zu führen vermag. – Die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. – Ueber die exacte Richtung der theoretischen Forschung überhaupt. – Ziel und erkenntniss-theoretische Grundlage derselben. – Die exacte Richtung der theoretischen Forschung in den Socialwissenschaften im allgemeinen und in der Volkswirthschaftslehre insbesondere. – Eine exacte Theorie bietet uns ihrer Natur nach stets nur das Verständniss einer besonderen Seite der Erscheinungen. – Die exacte Nationalökonomie vermag uns nur das theoretische Verständniss der wirthschaftlichen Seite der Socialphänomene zu verschaffen. – Nur die Gesammtheit der exacten Socialwissenschaften vermöchte uns das exacte Verständniss der Socialphänomene, oder eines bestimmten Theiles derselben, in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit zu eröffnen.
Fünftes Capitel. Ueber das Verhältniss der exacten zu der realistisch-empirischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften. 49
Das Gemeinsame der beiden obigen Richtungen der Forschung und ihre Verschiedenheit. – Warum die Ergebnisse derselben in der wissenschaftlichen Darstellung gemeiniglich nicht getrennt behandelt werden? – Dass die beiden Richtungen der Forschung sich nicht auf verschiedene Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen beziehen, sondern jede derselben im Principe uns die ganze Volkswirthschaft unter den ihr eigenthümlichen Gesichtspunkten zum Verständnisse zu bringen sucht. – Warum die exacte Richtung vorwiegend das Verständniss der elementareren, die empirisch-realistische jenes der complicirteren Phänomene der Volkswirthschaft anzustreben pflegt? – Ueber eine diesbezügliche Meinung Auguste Comtes und J. St. Mill's. Verhältniss, in welchem die Bürgschaften für die Wahrheit der Ergebnisse beider Richtungen zu einander stehen. Irrthum, dass die Ergebnisse der exacten Richtung der theoretischen Forschung in den Ergebnissen der realistischempirischen Richtung ihren Prüfstein finden. — Beispiele, ch welche das Verhältniss zwischen der Natur und den Bürgschaften der Ergebnisse beider Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in ein helleres Licht gestellt wird.
Sechstes Capitel. Ueber die Theorie, dass die volkswirthschaftlichen Erscheinungen in untrennbarem Zu- sammenhange mit der gesammten socialen und staat- lichen Entwickelung der Völker zu behandeln seien. 60
Dass die obige Anschauungsweise der Gesellschaftserscheinunger. der Geschichtsforschung adäquat sei. — Dessgleichen der specifisch historischen Richtung der Jurisprudenz. Dass die mechanische Uebertragung des obigen Gesichtspunktes auf die theoretischen Socialwissenschaften überhaupt, und die theoretische Volkswirthschaftslehre insbesondere, dagegen einen fundamentalen Irrthum in sich schliesse. — Ueber den obigen Gesichtspunkt in Rücksicht auf die exacte Richtung der theoretischen Forschung. Dass derselbe der Idee exacter Theorien überhaupt, und jener einer exacten Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen insbesondere, widerstreite. Ueber den obigen Gesichtspunkt in Rücksicht auf die empirisch-realistische Richtung der theoretischen Forschung. Dass derselbe auch dieser letzteren nicht durchaus adäquat sei. Dass selbst die denkbar realistischeste Richtung der theoretischen Forschung gewisser Abstractionen von der vollen empirischen Wirklichkeit nicht entbehren könne. Dass die obige Ansicht in ihrer äussersten Consequenz zur Negation jeder Theorie der Volkswirthschaft und dazu führe, die Geschichtsschreibung als die einzig berechtigte Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft anzuerkennen.
Siebentes Capitel. Ueber das Dogma vom Eigennutze in der theoretischen Nationalökonomie und seine Stellung zu den erkenntniss-theoretischen Problemen dieser letzteren . 71
Was unter dem obigen „Dogma“ verstanden, und welche Bedeutung demselben für die Theorie der Volkswirthschaft zugeschrieben wird. Ueber die Meinung, dass strenge Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen nur unter der irrthümlichen Annahme möglich seien, dass die Menschen bei ihren wirthschaftlichen Handlungen in Wirklichkeit lediglich von ihrem wohlverstandenen Interesse geleitet würden. Argumentation, durch welche die obige Meinung widerlegt wird. Mangelhaftigkeit dieser Argumentation, indem ausser dem Gemeinsinne auch Irrthum, Unkenntniss, äusserer Zwang u. s. f. exacte Gesetze der Volkswirthschaft ausschliessen würden, falls die hier in Rede stehende Argumentation stichhaltig wäre. – Dass diese letztere auf einer Verkennung des Wesens der exacten Richtung der theoretischen Forschung überhaupt und jener auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere beruhe. – Dass die exacte Richtung der theoretischen Forschung keineswegs von der Voraussetzung ausgehe, die wirthschaftenden Menschen würden thatsächlich nur von ihren ökonomischen Interessen geleitet. – Welche Bewandtniss es in Wahrheit mit dem sog. Dogma vom Eigennutze in der theoretischen Nationalökonomie habe.
Achtes Capitel. Ueber den Vorwurf des „Atomismus“ in der theoretischen Nationalökonomie. 82
Wesen und Bedeutung des sog. „ Atomismus“ in der Theorie der Volkswirthschaft. – Ursprung der obigen Lehrmeinung in den Argumentationen der historischen Juristenschule. – Verschiedenheit der Folgerungen aus der obigen Lehrmeinung, zu welchen die historische Schule der deutschen Juristen und jene der deutschen Nationalökonomen gelangt sind. – Der Standpunkt der historischen Juristenschule. – Der Standpunkt der historischen Schule deutscher Nationalökonomen. – Dass der Vorwurf des „Atomismus“ in der Verkennung des wahren Wesens der exacten Richtung der theoretischen Forschung und in der Uebertragung der methodischen Gesichtspunkte der specifisch-historischen Forschung in die theoretische Nationalökonomie wurzle. – Der Gegensatz von Volkswirthschaft und Privatwirthschaft in den methodischen Ausführungen der historischen Schule deutscher Nationalökonomen und die Bedeutung des diesbezüglichen Irrthums für die erkenntniss-theoretischen Probleme unserer Wissenschaft.
Zweites Buch. Ueber den historischen Gesichtspunkt der Forschung in der Politischen Oekonomie.
Einleitung. 93
Ueber die formale Natur der Politischen Oekonomie und ihrer Theile. – Sie ist keine historische Wissenschaft. – Die „historische Methode“ derselben kann nicht in der Preisgebung der ihr, beziehungsweise ihren Theilen, eigenthümlichen formalen Natur, sondern nur in der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in den der Politischen Oekonomie adäquaten Richtungen der Forschung sein. – Wesen der „historischen Methode“ in der theoretischen Volkswirthschaftslehre einerseits, und in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft andererseits. – Dieselbe ist in beiden Fällen keineswegs die nämliche. – Eben so wenig in der exacten und realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der VolkswirthSchaft. – Uebertriebene Bedeutung, welche Seitens der historischen Schule deutscher Volkswirthe dem historischen Gesichtspunkte in der Politischen Oekonomie beigemessen wird. – Relative Wichtigkeit desselben für die Gegenwart.
Erstes Capitel. Ueber den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie. 100
§ 1. Ueber die Entwickelung der volkswirthschaftlichen Erscheinungen 100
Wesen der Entwickelung. – Die Entwickelung der individuellen Erscheinungen. – Die Entwickelung der Erscheinungsformen. – Die beiden Arten der Entwickelung volkswirthschaftlicher Erscheinungen müssen unterschieden werden. – Die Thatsache der Entwickelung der Erscheinungsformen hat für die Socialforschung eine höhere Bedeutung als (die Entwickelung der Arten!) für die Naturwissenschaften.
§ 2. Ueber den Einfluss, welchen die Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene auf die Natur und die Aufgaben der realistisch-empirischen Richtung der theoretischen Forschung äussert 103
Dass die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene nicht ohne Einfluss auf die theoretische Nationalökonomie überhaupt und die realistisch - empirische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere sein könne. – Doppelte Aufgabe dieser Richtung der Forschung. – Einfluss, welchen die obige Thatsache auf das Streben nach Feststellung der Realtypen und der empirischen Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen übt. – Wie das Problem der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in der realistisch-empirischen Richtung der theoretischen Forschung zu lösen sei? – Grenzen der Bedeutung des historischen Gesichtspunktes für die obige Richtung der Forschung.
§ 3. Dass durch die sog. historische Methode der Vorwurf zu weit gehender Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse von der Volkswirthschaft keineswegs völlig beseitigt werde 111
Nicht jeder Wandel der Erscheinungen bedeutet eine Entwickelung derselben. – Auch jene Veränderungen der Phänomene in der Zeit, welche sich uns nicht als Entwickelungen darstellen, sind von methodischer Wichtigkeit für die theoretische Forschung, und nur durch Berücksichtigung derselben könnte dem Vorwurfe des „Perpetualismus“ in der Theorie der Volkswirthschaft vollständig begegnet werden. – Ein Aehnliches gilt von denjenigen Verschiedenheiten gleichartiger Socialphänomene, welche nicht internationaler, bezw. interlocaler Natur sind, sondern am nämlichen Orte und zur nämlichen Zeit hervortreten. – Auch diese sind von methodischer Wichtigkeit für die Theorie der Volkswirthschaft. – Auch ihre Berücksichtigung wäre nöthig, sollte dem Vorwurfe zu grosser Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der Volkswirthschaft vollständig begegnet werden. – Der Vorwurf des „Perpetualismus“ und des „Kosmopolitismus“ im Sinne unserer historischen Nationalökonomen schliesst somit nur einen Theil der Bedenken gegen eine allzu grosse Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse von der Volkswirthschaft in sich. Die vollständige Beseitigung dieser Bedenken ist aus erkenntniss-theoretischen Gründen indess unerreichbar. Eine unter dem Gesichtspunkte des empirischen Realismus gewonnene Theorie leidet nothwendig an denjenigen Gebrechen, welche die historische Schule durch ihre Methode zu beseitigen meint.
§ 4. Ueber den Einfluss, welchen die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene auf die Natur und die Aufgaben der exacten Richtung der theoretischen Forschung äussert 115
Zurücktretende Bedeutung der obigen Thatsache für die exacte Richtung der theoretischen Forschung. Erklärung dieses Umstandes aus dem Wesen und den Aufgaben dieser Richtung der Forschung. Worin der historische Gesichtspunkt in der letzteren bestehen könne. Dass die exacte Richtung der theoretischen Forschung die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Erscheinungen weder leugne noch auch unbeachtet lasse.
Zweites Capitel. Ueber die pseudo-historischen Richtungen der Forschung in der theoretischen Nationalökonomie 118
Die historische Richtung in der theoretischen National. ökonomie besteht nicht in historischem Beiwerk, welches den Ergebnissen der theoretischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in äusserlicher Weise hinzugefügt wird. Ebenso wenig in literatur - geschichtlichen Studien überhaupt und dogmengeschichtlichem Beiwerke insbesondere. --- Dieselbe ist auch nicht darin zu suchen, dass nur die Geschichte als empirische Grundlage der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft anerkannt wird. – Irrthum des specifischen Historismus in der theoretischen Nationalökonomie. — Das Streben nach Feststellung der „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“ ist nur eine specielle Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. --- Die theoretische Volkswirthschaftslebre ist keine Wissenschaft von den „Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“. Eben so wenig eine „Philosophie der Geschichte“. -- Widerspruch zwischen den Definitionen der theoretischen Nationalökonomie und den Darstellungen dieser letzteren in der historischen Schule deutscher Volkswirthe.
Drittes Capitel. Ueber den historischen Gesichtspunkt in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft. 130
Die wirthschaftlichen Institutionen und Normativgesetze haben sich nach den besonderen Verhältnissen der Völker zu richten, welchen dieselben dienen.— Selbstverständlichkeit dieses Grund. satzes für alle praktischen Wissenschaften. Die Anerkennung des obigen Grundsatzes ist nicht eine besondere Methode der praktischen Wissenschaften. Dass die sogen. „historische Methode“ in den praktischen Socialwissenschaften wesentlich zur Verwirrung der Meinungen über die Relativität socialer Einrichtungen beigetragen hat.
Drittes Buch. Das organische Verständniss der Socialerscheinungen.
Erstes Capitel. Ueber die Analogie der Socialerscheinungen und der natürlichen Organismen, die Grenzen derselben und die für die Socialforschung hieraus sich ergebenden methodischen Gesichtspunkte. 139
§ 1. Die Theorie von der Analogie der Socialerscheinungen und der natürlichen Organismen 139
Die normale Function der Organismen ist durch jene ihrer Theile (der Organe), und diese letztere wiederum durch die Verbindung der Theile zu einem höheren Ganzen, bezw. durch die normale Function der übrigen Organe bedingt. Aehnliche Beobachtung an den Socialerscheinungen. Die Organismen weisen eine Zweckmässigkeit der Theile in Rücksicht auf die Function des Ganzen auf, eine Zweckmässigkeit, welche jedoch nicht das Ergebniss menschlicher Berechnung ist. Analoge Beobachtung an den Socialerscheinungen. Als methodische Consequenz dieser Analogien zwischen den Socialgebilden und den natürlichen Organismen ergiebt sich die Idee einer anatomisch - physiologischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Socialwissenschaften.
§ 2. Ueber die Grenzen der Berechtigung der Analogie zwischen den natürlichen Organismen und den Socialerscheinungen 142
Die Analogie der Socialerscheinungen und der natürlichen Organismen bezieht sich nur auf einen Theil der ersteren, auf jene nämlich, welche das unreflectirte Product geschichtlicher Entwickelung sind; der Rest derselben ist das Ergebniss menschlicher Berechnung und somit nicht den Organismen, sondern den Mechanismen vergleichbar. Die obige Analogie ist somit jedenfalls keine universelle. Dieselbe ist selbst dort, wo sie in Frage kommt, keine das ganze Wesen der bezüglichen Phänomene, sondern nur gewisse Seiten dieser letzteren umfassende; sie ist auch in dieser Rücksicht nur eine partielle. Sie ist überdies keiner klaren Erkenntniss des Wesens der natürlichen Organismen und der Socialgebilde, sondern einer dunkeln Empfindung entsprungen, zum Theil geradezu eine bloss äusserliche.
$ 3. Ueber die aus der Unvollständigkeit der Analogie zwischen den Socialerscheinungen und den natürlichen Organismen für die Socialforschung sich ergebenden methodischen Grundsätze 147
Neben der sogen. „organischen“ Interpretation der Socialerscheinungen ist die pragmatische unentbehrlich. - Auch dort, wo die erstere der Sachlage adäquat erscheint, vermag sie uns nur zum Verständniss gewisser Seiten der Socialphänomene, nicht dieser letzteren in ihrer Totalität zu führen. – Selbst rücksichtlich der ersteren kann das „organische“ Verständniss der Socialerscheinungen indess nicht das Ergebniss einer mechanischen Uebertragung der Methoden und Resultate der Forschung auf dem Gebiete der natürlichen Organismen in die Socialforschung, die sogen. „organische“ Interpretation der Socialerscheinungen vielmehr in Wahrheit nur eine specifisch socialwissenschaftliche sein. – Irrthümer, in welche eine Reihe von Socialphilosophen in Rücksicht auf die organische Auffassung der Socialerscheinungen verfallen ist. – Die Analogie der beiden obigen Gruppen von Phänomenen als Mittel der Darstellung.
Zweites Capitel. Ueber das theoretische Verständniss jener Socialerscheinungen, welche kein Product der Uebereinkunft, bezw. der positiven Gesetzgebung, sondern unreflectirte Ergebnisse geschichtlicher Entwickelung sind. 153
§ 1. Dass die Anerkennung der Socialerscheinungen als organische Gebilde das Streben nach dem exacten (dem atomistischen) Ver- ständniss derselben keineswegs ausschliesse 153
Auch das theoretische Verständniss der natürlichen Organismen kann ein doppeltes: ein exactes (ein atomistisches, ein chemisch-physikalisches) oder ein empirisch-realistisches (ein collectivistisches, ein specifisch anatomisch-physiologisches) sein. – Das exacte Verständniss der natürlichen Organismen wird in den Naturwissenschaften nicht nur angestrebt, sondern bedeutet gegenüber dem empirisch-realistischen einen Fortschritt. – Das exacte Verständniss der Socialerscheinungen oder eines Theiles derselben kann demnach nicht aus dem Grunde unstatthaft sein, weil die betreffenden Erscheinungen als „sociale Organismen“ aufgefasst werden. – Der Umstand, dass das exacte Verständniss der natürlichen Organismen und ihrer Functionen bisher nur zum Theil gelungen ist, beweist nicht die Unerreichbarkeit dieses Zieles in Rücksicht auf die sogen. socialen Organismen. – Die Theorie, dass die „Organismen“ untheilbare Ganze und ihre Functionen Lebensäusserungen dieser Gebilde in ihrer Totalität sind, begründet weder auf dem Gebiete der natürlichen, noch auf jenem der sogen. socialen Organismen einen Einwand gegen die exacte (die atomistische!) Richtung der theoretischen Forschung. – Die exacte Richtung der Socialforschung negirt nicht die reale Einheit der socialen Organismen, sie sucht vielmehr das Wesen und den Ursprung dieser letzteren in exacter Weise zu erklären. – Sie negirt eben so wenig die Berechtigung der empirisch-realistischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der obigen Erscheinungen.
§ 2. Ueber die verschiedenen Richtungen der theoretischen Forschung, welche sich aus der Auffassung der Socialerscheinungen als „organische“ Gebilde ergeben 161
Ein Theil der Socialgebilde ist pragmatischen Ursprungs und müssen dieselben somit in pragmatischer Weise interpretirt werden. – Ein anderer Theil derselben ist das unreflectirte Ergebniss gesellschaftlicher Entwickelung („organischen“ UrSprungs!) und die pragmatische Interpretation derselben unzulässig. – Das Hauptproblem der theoretischen Interpretation des Ursprungs der auf unreflectirtem (auf „organischem“) Wege entstandenen Socialgebilde. – Das obige Problem und die wichtigsten Probleme der theoretischen Nationalökonomie weisen eine nahe Verwandtschaft auf. – Ueber zwei andere aus der „organischen“ Auffassung der Socialerscheinungen sich ergebende Probleme der theoretischen Socialwissenschaften überhaupt und der theoretischen Nationalökonomie insbesondere: a) das Streben nach dem Verständniss der gegenseitigen Bedingtheit der Gesellschaftserscheinungen: b) das Streben nach dem Verständniss der socialen Phänomene als Functionen und Lebensäusserungen der Gesellschaft (bezw. der Volkswirthschaft u. s. f.) als organisches Ganze gedacht. – Das Streben nach der exacten (der atomistischen!) und nach der empirisch-realistischen (der collectivistischen, der anatomisch-physiologischen!) Lösung der obigen Probleme. – Plan der Darstellung.
§3. Ueber die bisherigen Versuche, die aus der organischen Auffassung der Socialerscheinungen sich ergebenden Probleme zu lösen 166
Der Pragmatismus als universeller Erklärungsmodus des Ursprungs und des Wandels der socialen Erscheinungen. – Widerspruch desselben mit den Lehren der Geschichte. – Die Interpretation des Ursprungs der auf unreflectirtem Wege entstandenen Socialgebilde durch die Kennzeichnung desselben als „organisch“, als „urwüchsig“. – Die Meinung des Aristoteles. – Das Streben nach dem organischen Verständnisse der Wandlungen der Socialphänomene. – Die Auffassung derselben als Functionen und Lebensäusserungen realer socialer Organismen (der Gesellschaft, der Volkswirthschaft u. s. f.) in ihrer Totalität. – Das Streben nach dem Verständnisse der gegenseitigen Bedingtheit der Gesellschaftserscheinungen. – Die physiologisch-anatomische Richtung der Socialforschüng.
§4. Ueber das exacte (das atomistische) Verständniss des Ursprungs jener Socialgebilde, welche das unreflectirte Ergebniss gesellschaftlicher Entwickelung sind 171
Einleitung. Gang der Darstellung. – a) Ueber den Ursprung des Geldes: Die Erscheinung des Geldes. – Eigenthümlichkeit derselben. – Die Theorie, dass das Geld durch Uebereinkunft oder Gesetz entstanden sei. – Platon, Aristoteles, der Jurist Paulus. – Unzulänglichkeit dieser Theorie. – Exacte Erklärung des Ursprungs des Geldes. – b) Ueber den Ursprung einer Reihe an der er socialer Institutionen: Die Entstehung der Ortschaften, der Staaten. – Die Entstehung der Arbeitstheilung, der Märkte. – Einfluss der Gesetzgebung. – Exacte Erklärung des Ursprungs der obigen Socialgebilde. — c) Schlussbemerkungen: Allgemeine Natur der social-pragmatischen und der sogen. „organischen“ Entstehung der Socialerscheinungen; ihr Gegensatz. Die Methoden für das exacte Verständniss des Ursprungs der auf „organischem“ Wege entstandenen Socialgebilde und jene für die Lösung der hauptsächlichen Probleme der exacten Volkswirthschaftslehre sind die nämlichen.
Viertes Buch. Ueber die Entwickelung der Idee einer historischen Behandlung der Politischen Oekonomie.
[v]
Die erkenntniss-theoretischen Untersuchungen auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie sind, zumal in Deutschland, bisher noch keineswegs zu einer eigentlichen Methodik dieser Wissenschaft vorgedrungen. Die erkenntniss-theoretischen Probleme, welche die deutschen Nationalökonomen, zum nicht geringen Theile auch die nichtdeutschen Fachgenossen beschäftigen, bewegen sich vielmehr hauptsächlich um das Wesen und den Begriff der Politischen Oekonomie und ihrer Theile, die Natur ihrer Wahrheiten, die den realen Verhältnissen adäquate Auffassung der volkswirthschaftlichen Probleme und um ähnliche Aufgaben mehr; nicht die Erkenntnisswege zu den Zielen der nationalökonomischen Forschung, diese letzteren selbst stehen noch in Frage.
Allerdings ist die obige Erscheinung ziemlich neuen Datums. Es liegt die Zeit noch nicht gar so weit hinter uns, wo das Wesen der Politischen Oekonomie und die formale Natur ihrer Wahrheiten festzustehen Schienen und die erkenntnisstheoretischen Untersuchungen auf dem Gebiete unserer Wissenschaft sich thatsächlich mit den eigentlichen methodischen Problemen dieser letzteren beschäftigten. Dass die Politische Oekonomie „die Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft“ sei, galt, seitdem die Auffassung derselben als blosse Kunstlehre überwunden war, für eben so ausgemacht, [vi] als ausreichend, und die wissenschaftliche Discussion konnte an die Untersuchung der Fragen schreiten, ob jene Gesetze auf Speculativem oder auf empirischem, auf inductivem oder auf deductivem Wege gewonnen werden müssten, welche beSondere Form diesen Methoden auf dem Gebiete der Socialerscheinungen überhaupt und jenem der Volkswirthschaft insbesondere adäquat sei, und an die Untersuchung ähnlicher Fragen der eigentlichen Methodik mehr.
All' dies musste freilich anders werden, sobald man sich mit den methodischen Problemen eingehender zu befassen begann. Es musste den Bearbeitern unserer Wissenschaft klar werden, dass die Politische Oekonomie in ihrem theoretischen und in ihrem praktischen Theile Erkenntnisse von durchaus verschiedener formaler Natur aufweise und demnach auch nicht von Einer, von der Methode der Politischen Oekonomie, sondern nur von den Methoden dieser letzteren die Rede sein könne. Die Erkenntnisswege, die Methoden der Forschung richten sich nach den Zielen dieser letzteren, nach der formalen Natur der Wahrheiten, deren Erkenntniss angestrebt wird. Die Methoden der theoretischen Nationalökonomie und der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft können nicht die gleichen sein. Aber selbst dort, wo man bei der Behandlung der methodischen Probleme die obige grundlegende Unterscheidung festhielt, oder zunächst nur an die theoretische Nationalökonomie dachte, musste bei näherer Untersuchung die Erkenntniss sich Bahn brechen, dass auch der Begriff von „Gesetzen der Erscheinungen“ ein vieldeutiger, Wahrheiten von sehr verschiedener formaler Natur umfassender, und demnach die Auffassung der Politischen Oekonomie, ja selbst jene der theoretischen Volkswirthschaftslehre als eine Wissenschaft von den „Gesetzen der Volkswirthschaft“ unzureichend sei.
[vii]
Hatten die Schriftsteller der nachclassischen Epoche mit dem Begriff der Volkswirthschaftslehre zumeist schlechthin die Idee einer Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft verbunden, von den Gesetzen der Coexistenz und der Aufeinanderfolge der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, etwa nach Art der Naturgesetze, ohne sich der verschiedenen Natur dieser Erkenntnisse und somit auch der Unbestimmtheit des obigen Begriffes bewusst geworden zu sein: so machte sich bald deutlicher, als bis dahin von einzelnen Bearbeitern unserer Wissenschaft angedeutet worden war, neben der Auffassung der Politischen Oekonomie als einer der Physik und Chemie analogen Wissenschaft, der anatomisch-physiologische Gesichtspunkt geltend. Die Auffassung der Volkswirthschaft als ein Organismus und ihrer Gesetze als jenen der Anatomie und Physiologie analog, trat der physikalischen Auffassung, der biologische Gesichtspunkt der Forschung dem atomistischen gegenüber.
Die wissenschaftliche Untersuchung blieb bei dieser Complication des methodischen Problems nicht stehen. Man wies darauf hin, dass die Socialphänomene überhaupt und die Erscheinungen der Volkswirthschaft insbesondere durch die Volksindividualität, die örtlichen Verhältnisse, vornämlich aber durch die Entwickelungsstufe der Gesellschaft einen besonderen Charakter gewännen, örtliche und zeitliche Verschiedenheiten aufwiesen, welche nicht ohne massgebenden Einfluss auf die Gesetze derselben sein könnten. Das Streben nach universellen und unwandelbaren, von räumlichen und zeitlichen Verhältnissen unabhängigen Gesetzen der Volkswirthschaft, und somit auch jenes nach einer Wissenschaft von solchen Gesetzen, erschien unter dem obigen Gesichtspunkte als ein unzulässiges, ja missverständliches, als eine Abstraction von der „vollen empirischen Wirklichkeit“ der Erscheinungen, [viii] die Berücksichtigung örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten der volkswirthschaftlichen Erscheinungen als ein unabweisliches Postulat der Forschung nicht nur auf dem Gebiete der „praktischen Volkswirthschaftslehre“, sondern auch auf jenem der theoretischen Nationalökonomie, der „Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft“.
Andere gingen noch um einen Schritt weiter, indem sie zwischen den Gesetzen der Natur und jenen der Volkswirthschaft überhaupt keine Analogie anerkennen zu müssen glaubten, die letzteren vielmehr als solche der geschichtlichen Entwickelung (als Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte), beziehungsweise als Gesetze der grossen Zahlen (als Parallelismen der Statistiken der Volkswirthschaft) kennzeichneten. Neben die atomistische und die organische Auffassung der Probleme unserer Wissenschaft und neben das Streben nach Festhaltung des nationalen und historischen Gesichtspunktes in der theoretischen Volkswirthschaftslehre, trat die geschichtsphilosophische und die statistisch-theoretische Richtung der Forschung.
Nicht genug daran, machte sich eine Richtung der Forschung geltend, welche den Charakter der Politischen Oekonomie als einer „Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft“ überhaupt in Frage stellte, die Politische Oekonomie vielmehr, analog der historischen Jurisprudenz und Sprachwissenschaft, als eine specifisch historische Wissenschaft, das historische Verständniss als das ausschliesslich berechtigte und erreichbare Ziel der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft kennzeichnete. Zu den mannigfachen Auffassungen von der Natur der volkswirthschaftlichen Gesetze, und demgemäss von der theoretischen Volkswirthschaftslehre, die ja als Inbegriff dieser letzteren gedacht wurde, trat die Auffassung der Politischen Oekonomie als specifisch historischer Wissenschaft.
[ix]
Der Widerstreit der Meinungen blieb nicht auf die formale Natur der Wahrheiten unserer Wissenschaft beschränkt. Während die einen die Nationalökonomie als die Wissenschaft von den Gesetzen der „ volkswirthschaftlichen ErSch ein ungen“ bezeichneten, erkannten die anderen in dieser Auffassung eine ungebührliche Isolirung einer besonderen Seite des Volkslebens; die Theorie, dass die Erscheinungen der Volkswirthschaft in untrennbarem Zusammenhange mit der gesammten socialen und staatlichen Entwickelung der Völker zu behandeln seien, gewann unter den Nationalökonomen zahlreiche Anhänger. Zu dem Widerstreit über die formale Natur der Wahrheiten unserer Wissenschaft und dieser letzteren selbst gesellte sich jener über Umfang und Grenzen des von ihr zu behandelnden Gebietes von Erscheinungen; ja es erschien vielen sogar zweifelhaft, ob die Politische Oekonomie überhaupt als eine selbständige WissenSchaft und nicht vielmehr als ein organischer Theil einer universellen Gesellschaftswissenschaft zu behandeln sei.
Um die Berechtigung all' dieser zum Theile einander widersprechenden, zum Theil in einander fliessenden und sich ergänzenden Richtungen der Forschung bewegt sich nunmehr seit nahezu einem halben Jahrhundert die Discussion, und dass diese Sachlage der Entwickelung der Methodik unserer Wissenschaft nichts weniger als förderlich sein konnte, bedarf wohl kaum der Bemerkung. Wie soll die Untersuchung über die Wege zu den Zielen der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie (über die eigentliche Methodik!) zu einem befriedigenden Abschlusse gelangen, ja auch nur das Interesse der Gelehrtenwelt den bezüglichen Problemen sich in ernstlicher Weise zuwenden, wenn die Ziele selbst noch so völlig in Frage stehen?
Die vorliegende Schrift, wie sie aus dem, was ich auf [x] dem Gebiete der Politischen Oekonomie als das nächste Bedürfniss der Gegenwart empfinde, hervorgegangen ist, soll nach meiner Absicht auch zunächst diesem letzteren dienen. Auch sie beschäftigt sich, entsprechend dem heutigen Standpunkte der erkenntniss-theoretischen Untersuchungen, vorwiegend mit der Feststellung des Wesens der Politischen Oekonomie, ihrer Theile, der Natur ihrer Wahrheiten, kurz mit den Zielen der Forschung auf dem Gebiete unserer Wissenschaft; die Methodik im engeren Verstande des Wortes soll der Hauptsache nach künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben, für welche das Interesse ja sofort erwachen muss, sobald über die hier behandelten grundlegenden Probleme auch nur einigermassen Uebereinstimmung erzielt sein wird.
Auch wird dann die Lösung des zweiten Theiles der oben gekennzeichneten Aufgabe sich vielleicht sogar als viel leichter darstellen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Weiss doch Jeder, der mit der bezüglichen Literatur auch nur einigermassen vertraut ist, in wie hohem Masse die philosophische Untersuchung sich seit jeher den eigentlichen methodischen Problemen der Erkenntnisstheorie zugewandt hat und wie sie gerade hier zu den werthvollsten Ergebnissen gelangt ist. Sind wir nur einmal über die Ziele der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zur vollen Klarheit gelangt, die Feststellung der Wege zu diesen Zielen wird uns dann hoffentlich nicht allzu schwer fallen, wenn nur alle jene, welche an der Begründung einer Methodik der Politischen Oekonomie mitzuwirken berufen sind, die Ergebnisse der allgemeinen erkenntniss- theoretischen Untersuchungen für die speciellen Aufgaben unserer Wissenschaft ernstlich, ernstlicher und verständiger, als dies vielleicht bis nunzu der Fall war, zu verwerthen bemüht sein werden.
[xi]
Freilich über die Ziele der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie werden wir in den Schriften der Logiker vergeblich nach Aufklärung suchen. Die Einsicht in die Natur der Wahrheiten des obigen Wissensgebietes kann nur das Ergebniss umfassender und sachkundiger Betrachtung des von uns zu durchforschenden Gebietes von Erscheinungen und der besonderen Anforderungen des Lebens an unsere Wissenschaft sein. Kein Zweifel vermag darüber zu bestehen, dass in der obigen Rücksicht nicht wir von den Logikern, sondern diese letzteren von uns so ziemlich alles zu erwarten berechtigt sind und dass jenes unter den deutschen Nationalökonomen neuerdings vielfach hervortretende Streben, über die Ziele der Forschung auf dem Gebiete ihrer eigenen Wissenschaft in den Schriften hervorragender Logiker Aufklärung zu finden, lediglich als ein Symptom des in hohem Grade unbefriedigenden Zustandes dieses Theiles der Erkenntnisstheorie unserer Wissenschaft betrachtet werden muss. Wohl aber glaube ich, dass, sobald wir über die Natur der Wahrheiten der Politischen Oekonomie zu gesicherten Ergebnissen gelangt sein werden, bei Erforschung der formalen Bedingungen ihrer Feststellung, der Erkenntnisswege zu denselben, die allgemeinen erkenntniss-theoretischen Untersuchungen uns in hohem Grade förderlich sein werden.
Allerdings wird auch dann noch für unsere gegenüber anderen Disciplinen weit zurückgebliebene Wissenschaft nur ein verhältnissmässig Geringes geleistet sein. Ja ich möchte sogar die Bemerkung hier nicht unterdrücken, dass ich weit entfernt davon bin, die Bedeutung der Methodik für die Forschung überhaupt und speciell für jene auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie allzuhoch anzuschlagen. Die wichtigsten wissenschaftlichen Ergebnisse sind von Männern ausgegangen, welche methodischen Untersuchungen fern standen, während [xii] die grössten Methodiker sich nicht selten als höchst unfruchtbare Forscher auf dem Gebiete jener Wissenschaften erwiesen haben, deren Erkenntnisswege sie mit imponirender Klarheit zu weisen vermochten. Zwischen der Feststellung der Methodik und dem befriedigenden Ausbaue einer Wissenschaft liegt ein unermesslicher Abstand, welcher nur durch das Genie ihrer Bearbeiter überbrückt zu werden vermag. Das positive Forschertalent hat oft genug schon ohne ausgebildete Methodik, die Methodik ohne jenes niemals noch eine Wissenschaft geschaffen oder in Epoche machender Weise umgestaltet. Die Methodik, von unvergleichlicher Wichtigkeit für die secundären Leistungen auf dem Gebiete einer Wissenschaft, ist von zurücktretender Bedeutung für jene grossen Aufgaben, deren Lösung dem Genie vorbehalten ist.
Nur in einem Falle erscheinen mir methodische Untersuchungen allerdings als das wichtigste, das nächste und dringendste, was für die Entwickelung einer Wissenschaft geleistet zu werden vermag. Wenn auf einem Wissensgebiete aus irgend welchen Gründen die richtige Empfindung für die aus der Natur der Sache sich ergebenden Ziele der Forschung verloren gegangen ist, wenn nebensächlichen Aufgaben der Wissenschaft eine übertriebene oder gar die entscheidende Bedeutung beigelegt wird, wenn von mächtigen Schulen getragene irrthümliche methodische Grundsätze zur vorherrschenden Geltung gelangen und die Einseitigkeit über alle Bestrebungen auf einem Wissensgebiete zu Gerichte sitzt, wenn, mit einem Worte, der Fortschritt einer Wissenschaft in der Herrschaft irrthümlicher methodischer Grundsätze sein Hemmniss findet: dann allerdings ist die Klarstellung der methodischen Probleme die Bedingung jedes weiteren Fortschrittes und damit der Zeitpunkt gekommen, wo selbst jene in den Streit über die Methoden einzutreten verpflichtet sind, [xiii] welche ihre Kraft sonst lieber an die Lösung der eigentlichen Aufgaben ibrer Wissenschaft zu setzen geneigt wären.
Dies scheint mir nun aber thatsächlich der gegenwärtig vorherrschende Zustand der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie in Deutschland zu sein, ein Zustand, kaum verständlich für jene, welche der Entwickelung dieser Wissenschaft in den letzten Decennien nicht mit aufmerksamem Blicke gefolgt sind.
Der Widerstreit der Ansichten über die Natur unserer Wissenschaft, ihre Aufgaben und ihre Grenzen, das Streben insbesondere, der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie neue Ziele zu setzen, ist ursprünglich nicht aus dem Interesse der Nationalökonomen an erkenntniss-theoretischen Untersuchungen hervorgegangen. Es beginnt mit der immer deutlicher zu Tage tretenden Erkenntniss, dass die nationalökonomische Theorie, wie sie aus den Händen Adam Smith's und seiner Schüler hervorgegangen, der gesicherten Grundlagen entbehre, dass selbst die elementarsten Probleme derselben keine befriedigende Lösung gefunden, dass sie insbesondere eine ungenügende Grundlage der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und somit auch der Praxis auf dem Gebiete dieser letzteren sei. Schon vor dem Auftreten der historischen Schule deutscher Volkswirthe gewinnt die Ueberzeugung immer mehr an Verbreitung, dass der bis dahin vorherrschende Glaube an die Vollendung unserer Wissenschaft ein falscher sei, diese letztere vielmehr einer tiefgehenden Umgestaltung bedürfe.
Einer Reform unserer Wissenschaft standen, sobald diese Ueberzeugung gewonnen war, drei Wege offen. Entweder musste auf Grundlage der bisherigen Auffassungen vom Wesen und den Aufgaben der Politischen Oekonomie eine Reform dieser letzteren versucht, die von Adam Smith begründete [xiv] Lehre unter den Gesichtspunkten, aus welchen sie hervorgegangen, vervollkommnet, oder es mussten der Forschung neue Bahnen eröffnet werden. Die Reform konnte eine solche der bisherigen Praxis, oder aber der Theorie der Forschung sein.
Ausser diesen beiden ihrem Wesen und ihrer Tendenz nach verschiedenen Richtungen der Reformbestrebungen konnte endlich auch eine solche eingeschlagen werden, welche die beiden obigen Reformgedanken in einem gewissen höheren Sinne verband. Es konnte eine Reform der Politischen Oekonomie unter den bisherigen Gesichtspunkten angestrebt, zugleich aber neuen Richtungen die Bahn eröffnet werden. Keine einzelne Richtung der Forschung umfasst alle Aufgaben dieser letzteren; die fortschreitende Erkenntniss der realen Welt und ihrer Processe, die sich steigernden Ansprüche an die theoretische und praktische Erkenntniss fördern vielmehr ohne Unterlass neue Richtungen des Erkenntnissstrebens zu Tage; an sich berechtigt, erscheint die einzelne Richtung der Forschung doch als unzulänglich im Hinblicke auf die Gesammtheit der Aufgaben, welche die Wissenschaft zu lösen hat. Dies gilt insbesondere auch von der Theorie einer Wissenschaft; die Vollendung derselben vermag nur in dem befriedigenden Ausbaue aller berechtigten Richtungen der theoretischen Forschung und in der Anordnung ihrer Ergebnisse in Eine theoretische Wissenschaft oder in ein System von solchen gefunden zu werden; so in den theoretischen Naturwissenschaften, so in den theoretischen Socialwissenschaften überhaupt und der theoretischen Wissenschaft von der Volkswirthschaft insbesondere. Die Eröffnung neuer Zweige der theoretischen Forschung vermag mit der Reform der bisherigen Hand in Hand zu gehen.
Der erste der obigen Wege zur Reform der Volkswirthschaftslehre, obzwar der scheinbar einfachste und am nächsten [xv] liegende, bot doch in Wahrheit, aus mehr als einem Grunde, ganz aussergewöhnliche Schwierigkeiten dar. Was die ausgezeichnetsten Geister aller Nationen auf den bisherigen Bahnen der Forschung vergeblich erstrebt, das sollte nun doch erreicht, woran ihr Genie gescheitert, das sollte nun doch geleistet, es sollte nicht nur Kritik geübt oder irgend eine grosse Perspective eröffnet, es sollte Positives geschaffen werden. Die einzuschlagende Richtung stellte an ihre Vertreter die Forderung einer positiven Leistungen gewachsenen Originalität, und dies auf einem Wissensgebiete, welches, um seiner unvergleichlichen Schwierigkeiten willen, die höchsten Anforderungen an den Forschergeist stellt.
Die hier gekennzeichneten Bestrebungen boten auch aus anderen Gründen wenig verlockendes dar. Nie ist die Reform einer Wissenschaft auf den bisherigen Bahnen der Forschung Schwieriger und, zum mindesten zunächst, weniger lohnend, als wenn hervorragende Geister dieselbe bereits erfolglos unternommen haben, denn der Druck der Autorität dieser letzteren lähmt die Zuversicht der Nachstrebenden und zugleich die Anerkennung wirklich errungener Erfolge; er lähmt die Thatkraft der schöpferischen, und die Freiheit des Urtheils der recipirenden Geister.
Alle diese Umstände trafen zusammen, um eine Reform unserer Wissenschaft, im Sinne der älteren Auffassung dieser letzteren, eben so schwierig als wenig verlockend erscheinen zu lassen. Die nationalökonomische Theorie, wie sie der Hauptsache nach die sogenannte classische Schule englischer Nationalökonomen gestaltet, hat das Problem einer Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft in befriedigender Weise nicht zu lösen vermocht, aber die Autorität ihrer Lehre lastet auf uns allen und hindert den Fortschritt in jenen Bahnen, in welchen der Forschergeist seit [xvi] Jahrhunderten, lange schon vor dem Auftreten A. Smith's, die Lösung des grossen Problems der Begründung theoretischer Socialwissenschaften gesucht hat.
Viel einfacher und lohnender erschien der andere Weg zur Reform unserer Wissenschaft. Ihr unbefriedigender Zustand sollte nicht die Folge einer für die Lösung ihrer Probleme unzureichenden Forscherkraft, sondern einer irrthümlichen Richtung der Forschung, alles Heil von einer neuen Richtung derselben zu erwarten sein. Wer eine solche begründete, sollte für einen Reformator der Politischen Oekonomie gelten, auch wenn er sachlich nichts Nennenswerthes für die Vertiefung und Berichtigung derselben, nichts unmittelbar für die Lösung ihrer Probleme leistete, sich vielmehr mit der Eröffnung grosser Perspectiven, mit Forschungen auf an sich berechtigten, indess von der Politischen Oekonomie doch wesentlich verschiedenen Wissensgebieten, im Uebrigen jedoch mit einer jeder einheitlichen Auffassung entbehrenden Compilation der Ergebnisse der bisherigen, d. i. eben jener Richtungen der Forschung begnügte, welche als irrthümlich bezeichnet und auf das Nachdrücklichste verurtheilt wurden.
Mannigfache Umstände traten hinzu, die obigen Bestrebungen zu fördern. Auf dem Gebiete der Sprachforschung, der Staatslehre und der Jurisprudenz waren neue Richtungen der Forschung zur Geltung gelangt und hatten zu Ergebnissen geführt, welche von der Gelehrtenwelt und der öffentlichen Meinung, zumal in Deutschland, nicht nur nach Verdienst gewürdigt, sondern, zum mindesten vorübergehend, beträchtlich überschätzt worden waren. Wie nahe lag der Gedanke, diese Bestrebungen auch auf unser Wissensgebiet zu übertragen! Um den Ruhm eines Reformators der Politischen Oekonomie zu erlangen, bedurfte es kaum mehr, als eines lebhaften Sinnes für Analogien der Forschung. Die Reform der [xvii] Politischen Oekonomie in ihrer bisherigen Auffassung war eben so schwierig als ruhmlos, der Ruhm eines Bahnbrechers, eines Schöpfers neuer Richtungen der Forschung dagegen mit so überaus mässigem Aufwand an geistigen Mitteln erreichbar geworden. Was Wunder, dass unter den eigentlich gelehrten Nationalökonomen Deutschlands die Fortbildung der Theorie immer mehr in Abnahme kam und alle jene, welche nach raschem Erfolge strebten, in neue Bahnen drängten, zumal in solche, auf welchen jedes, auch das geringere, für die Erforschung der grossen Zusammenhänge der Volkswirthschaft und die exacte Analyse ihrer Erscheinungen unzureichende Talent in nützlicher Weise sich geltend zu machen vermochte?
Man übersah dabei freilich die tiefgehende Verschiedenheit zwischen der formalen Natur der Politischen Oekonomie und jener Wissenschaften, aus welchen in mehr oder minder mechanischer Weise Grundsätze, ja selbst Ergebnisse der Forschung entlehnt wurden, man verkannte insbesondere die eigentliche Tendenz jener wissenschaftlichen Bewegung, welche die Jurisprudenz auf historischer Grundlage umgestaltet hatte. Seltsame Missverständnisse haben, wie ich nachweise, eine entscheidende Rolle bei der Reform der Politischen Oekonomie durch ihre deutschen Reformatoren gespielt; die neuen Richtungen der Forschung waren zum nicht geringen Theile das Ergebniss missverständlicher Analogien und einer Verkennung der eigentlichen Aufgaben der Politischen Oekonomie.
Indess selbst dort, wo eine an sich berechtigte neue Richtung der Forschung zur Geltung gelangte, war sie nicht das Ergebniss einer umfassenden Einsicht in das System von Aufgaben, welche die Wissenschaft auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu lösen hat. Ueberall sehen wir die Erscheinung sich wiederholen, dass specielle Richtungen der Forschung, nicht [xviii] selten solche von mehr oder minder nebensächlicher Bedeutung, die Reform der Politischen Oekonomie ausschliesslich von ihren Erfolgen abhängig machen, die Berechtigung jeder anderen Richtung der Forschung aber negiren. Das Streben, den unbefriedigenden Zustand der Politischen Oekonomie durch die Eröffnung neuer Bahnen der Forschung zu beseitigen, hat in Deutschland zu einer Reihe zum Theile missverständlicher, zum Theile einseitiger Auffassungen vom Wesen unserer Wissenschaft und ihrer Aufgaben geführt, zu Auffassungen, welche die deutsche Nationalökonomie von der Literaturbewegung aller übrigen Völker trennten, ja die Bestrebungen derselben, um ihrer Einseitigkeit willen, den nicht deutschen Volkswirthen in einzelnen Fällen geradezu unverständlich erscheinen liessen.
Dass bei dieser Sachlage eine Reform der Politischen Oekonomie auf den von mir oben angedeuteten universellen Grundlagen dem Ideenkreise der deutschen Reformatoren dieser Wissenschaft fern lag, bedarf kaum der Bemerkung. Unter allen Vertretern der vorhin gekennzeichneten Richtungen hat sich auch nicht Ein Geist gefunden, welcher die Gesammtheit jener Aufgaben, welche eine Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft zu lösen hat, die einzelnen Richtungen der theoretischen Forschung als berechtigte Zweige des Ganzen einer theoretischen Wissenschaft von der Volkswirthschaft, oder gar die Beziehungen derselben zu den übrigen, den nicht theoretischen Zweigen der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu überblicken vermocht hätte; ja selbst das Streben nach einer solchen universellen Auffassung des methodischen Problems ist nirgends zu Tage getreten. Ueberall treten uns vielmehr theils missverständliche, theils an sich berechtigte, in Rücksicht auf das Ganze der Politischen Oekonomie indess mehr oder minder nebensächliche Richtungen [xix] der Forschung entgegen, von welchen jede einzelne sich doch mit der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft überhaupt identificirt.
Hierin liegt aber die eigentliche Verderblichkeit des gegenwärtigen Zustandes der Politischen Oekonomie in Deutschland. Nicht der Umstand, dass die mit so grosser Zuversicht hervorgetretenen Reformatoren unserer Wissenschaft in Wahrheit den mangelhaften Zustand dieser letzteren nicht beseitigt, nicht der Umstand, dass dieselben über der Verfolgung relativ nebensächlicher Aufgaben die Hauptziele der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie, ja zum Theil diese Wissenschaft selbst aus dem Auge verloren haben, bildet den eigentlichen Schwerpunkt des Uebels; derselbe liegt in der nur schlecht verhüllten Geringschätzung und grundsätzlichen Negirung aller übrigen, ja nicht selten eben jener Richtungen der Forschung, welche in Rücksicht auf das Ganze unserer Wissenschaft sich als die bedeutsamsten erweisen.
Damit ist aber allerdings der Zeitpunkt gekommen, wo methodische Untersuchungen auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie nothwendig in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses treten. Der Fortschritt unserer Wissenschaft findet gegenwärtig sein Hemmniss in der Herrschaft irrthümlicher methodischer Grundsätze; die Methodik hat somit das Wort und wird es behaupten, bis durch Klarstellung der Ziele der Forschung und in weiterer Folge durch Klarstellung der Erkenntnisswege zu denselben jene Hemmnisse beseitigt sein werden, welche durch irreleitende methodische Grundsätze den Fortschritten der Politischen Oekonomie in Deutschland entstanden sind.
Was die Ergebnisse betrifft, zu welchen ich gelangt bin, 80 glaube ich hierüber kaum etwas bemerken zu müssen. Ich habe sie in so einfachen und klaren Worten dargestellt, [xx] als mir dies mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der hier behandelten Fragen nur immer möglich war, auch dieselben nach Kräften gesichtet und geordnet. Mögen sie nun für sich selbst sprechen. Nur eine Bemerkung möchte ich hier nicht unterdrücken, denn sie betrifft meine Stellung zu den Fachgenossen in Deutschland.
Der zum nicht geringen Theile polemische Charakter dieser Schrift entsprang, dessen bin ich mir bewusst, auch nicht an einer Stelle einem Uebelwollen gegen verdienstvolle Vertreter unserer Wissenschaft, er lag vielmehr in der Natur der Aufgabe, die ich mir gestellt habe; er ging mit Nothwendigkeit hervor aus meiner Auffassung des gegenwärtigen Zustandes der Politischen Oekonomie in Deutschland. Die Polemik gegen die gegenwärtig herrschende Richtung der nationalökonomischen Forschung war für mich weder Selbstzweck noch auch eine bloss äusserliche Zuthat; sie war ein wesentlicher Theil meiner Aufgabe, ja sie musste eine eindringliche und durchgreifende sein, selbst auf die Gefahr hin, dass in einzelnen Fällen Empfindlichkeiten erregt würden.
Sollte hiedurch dem äussern Erfolge meiner Schrift, wenigstens zunächst, auch einiger Abbruch geschehen, so würde ich dies doch in keiner Weise beklagen. Die neuere nationalökonomische Literatur Deutschlands, von dem Auslande in Wahrheit nur wenig beachtet, ihren eigentlichen Tendenzen nach demselben kaum verständlich, war in ihrer Decennien andauernden Isolirung unbeeinflusst durch ernstliche Gegner und hat in unerschütterlichem Vertrauen auf ihre Methoden auch der strengern Selbstkritik vielfach entbehrt. Wer in Deutschland einer andern Richtung folgte, wurde mehr bei Seite gelassen, als widerlegt. So hat lang andauernde Uebung eine Zum Theile geradezu sinnlose Phraseologie über die Grundprobleme der Methodik unserer Wissenschaft [xxi] herausgebildet, eine Phraseologie, welche der Entwickelung der Politischen Oekonomie in Deutschland um so verderblicher wurde, als sie, unberührt von jeder ernstlichen Kritik, gedankenlos wiederholt wurde, ja mit dem Anspruche auftreten konnte, eine Epoche machende Umwälzung auf dem Gebiete unserer Wissenschaft zu bedeuten. Unter solchen Umständen bedurfte es vor allem einer unbefangenen Umschau und Prüfung, einer ernstlichen Kritik. Es war in dieser Richtung so viel von Andern Versäumtes nachzuholen.
Doch wird der unbefangene Leser sofort erkennen, wie wenig es mir hierbei um die Verkleinerung meiner deutschen Fachgenossen zu thun war. Ich habe es nirgends unterlassen, den Verdiensten Anderer nach bestem Wissen gerecht zu werden, und selbst dort, wo ich irrthümlichen Richtungen der Forschung oder Einseitigkeiten derselben entgegentreten musste, die Elemente der Wahrheit in den von mir bekämpften Lehren auf das sorgfältigste hervorzuheben mich bemüht. Auch habe ich nichts mit blossen allgemeinen Redensarten abgethan, sondern in jedem einzelnen Falle den Streitpunkten auf den Grund zu sehen versucht. Was mich leitete, war der Gedanke, der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie in Deutschland ihre eigentlichen Aufgaben Wieder zum Bewusstsein zu bringen, sie von den für die EntWickelung unserer Wissenschaft verderblichen Einseitigkeiten, aus ihrer Isolirung von der allgemeinen Literaturbewegung zu befreien und solcherart die Reform der Politischen Oekonomie, deren diese Wissenschaft, mit Rücksicht auf ihren unbefriedigenden Zustand, so dringend bedarf, auf deutschem Boden vorzubereiten.
Alle grossen Culturvölker haben ihre eigenartige Mission beim Ausbaue der Wissenschaften, und jede Verirrung der Gelehrtenwelt eines Volkes oder eines namhaften Theiles [xxii] derselben lässt deshalb eine Lücke in der Entwickelung wissenschaftlicher Erkenntniss zurück. Auch die Politische Oekonomie kann der zielbewussten Mitwirkung des deutschen Geistes nicht entbehren; dazu beizutragen, ihn auf die richtigen Bahnen zurück zu führen, war die ohne Nebenrücksichten verfolgte Aufgabe dieses Werkes.
Wien, im December 1882.
Der Verfasser.
[1]
[3]
Ueber den Gegensatz zwischen den historischen und den theoretischen Wissenschaften überhaupt und jenen von der Volkswirthschaft insbesondere. Wesen und Aufgaben der historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft. Wesen, Aufgaben und Bedeutung einer Theorie der Volkswirthschaft. Wesen und Aufgaben der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft; ihr Verhältniss zur theoretischen National ökonomie und zur Praxis der Volkswirthschaft.
Die Welt der Erscheinungen kann unter zwei wesentlich verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Entweder sind es die concreten Phänomene in ihrer Stellung in Raum und Zeit und in ihren concreten Beziehungen zu einander, oder aber die im Wechsel dieser letzteren wiederkehrenden Erscheinungsformen, deren Erkenntniss den Gegenstand unseres wissenschaftlichen Interesses bildet. Die erstere Richtung der Forschung ist auf die Erkenntniss des Concreten, richtiger des Individuellen, die letztere auf jene des Generellen der Erscheinungen gerichtet, und es treten uns demnach, entsprechend , diesen beiden Hauptrichtungen des Strebens nach Erkenntniss, zwei grosse Classen wissenschaftlicher Erkenntnisse entgegen, von welchen wir die ersteren kurz die individuellen, die letzeren die generellen nennen werden. [1]
[4]
Das Interesse, welches der menschliche Geist an der Erkenntniss der concreten Erscheinungen (des Individuellen) nimmt und die Bedeutung desselben für das praktische Leben ist von selbst ersichtlich; desgleichen die formale Natur der Ergebnisse des auf das Individuelle gerichteten Erkenntnissstrebens. Nicht eben so nahe liegend dem allgemeinen Verständnisse sind das Wesen und die Bedeutung der generellen Erkenntnisse, und mögen desshalb uin der Wichtigkeit dieses Gegenstandes für das Verständniss des Wesens der theoretischen Wissenschaften und ihres Gegensatzes zu den historischen einige diesbezügliche Bemerkungen hier ihre Stelle finden.
Trotz der grossen Mannigfaltigkeit der concreten Erscheinungen, vermögen wir, selbst bei flüchtiger Beobachtung, wahrzunehmen, dass nicht jedes einzelne Phänomen eine besondere, von jener aller übrigen verschiedene Erscheinungsform aufweist. Die Erfahrung lehrt uns vielmehr, dass b2stimmte Erscheinungen, bald mit grösserer, bald mit geringerer Genauigkeit sich wiederholen und in dem Wechsel der Dinge wiederkehren. Wir nennen diese Erscheinungsformen Typen. Ein gleiches gilt von den Beziehungen zwischen den concreten Erscheinungen. Auch diese weisen nicht in jedem einzelnen Falle eine durchgängige Besonderheit auf; wir vermögen vielmehr unschwer gewisse, bald mehr, bald minder regelmässig wiederkehrende Relationen zwischen denselben zu beobachten (z. B. Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge, in der Entwickelung, in der Coexistenz derselben), Relationen, welche wir typische nennen. Die Erscheinungen des Kaufes, des Geldes, des Angebotes und der Nachfrage, des Preises, des Capitals, des Zinsfusses sind beispielsweise typische Erscheinungsformen der Volkswirthschaft, während das regelnässige Sinken des Preises einer Waare in Folge der Vermehrung des Angebotes, das Steigen der Waarenpreise in Folge einer Vermehrung der Umlaufsmittel, das Sinken des Zinsfusses in Folge beträchtlicher [5] Capitalanhäufung u. s. f. sich uns als typische Relationen zwischen den volkswirthschaftlichen Erscheinungen darstellen. Der Gegensatz zwischen dem, was wir generelle und individuelle Erscheinungen, beziehungsweise generelle und individuelle Erkenntnisse der Erscheinungen nennen, ist nach dem Gesagten wohl vollkommen klar.
Die Erforschung der Typen und typischen Relationen der Erscheinungen ist von geradezu unermesslicher Bedeutung für das Menschenleben, von nicht geringerer als die Erkenntniss der concreten Erscheinungen selbst. Ohne die Kenntniss der Erscheinungsformen vermöchten wir die uns umgebenden Myriaden von concreten Erscheinungen weder zu erfassen, noch auch in unserem Geiste zu ordnen; sie ist die Voraussetzung jeder umfassenderen Erkenntniss der realen Welt. Ohne die Erkenntniss der typischen Relationen würden wir aber nicht nur, wie wir weiter unten darstellen werden, des tieferen Verständnisses der realen Welt, sondern, wie leicht ersichtlich ist, auch jeder über die unmittelbare Beobachtung hinausreichenden Erkenntniss, d. i. jeder Voraussicht und Beherrschung der Dinge entbehren. Alle menschliche Voraussicht und mittelbar alle willkürliche Gestaltung der Dinge ist durch jene Erkenntnisse bedingt, welche wir oben die generellen genannt haben.
Das hier Gesagte gilt von allen Gebieten der Erscheinungswelt und somit auch von der menschlichen WirthSchaft überhaupt und der socialen Form derselben, der „Volkswirthschaft“, [2]insbesondere. Auch die Erscheinungen dieser letzteren vermögen wir unter den beiden obigen so durchaus verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten, und auch auf dem Gebiete der Volkswirthschaft werden wir demnach zwischen individuellen (concreten) Phänomenen und ihren individuellen (concreten) Beziehungen in Raum und Zeit einerseits, und den Typen (den Erscheinungsformen) und typischen Relationen derselben (den Gesetzen im weitesten Verstande des [6] Wortes) andererseits, zu unterscheiden haben; auch auf dem Gebiete der Volkswirthschaft treten uns individuelle und generelle Erkenntnisse und, dem entsprechend, Wissenschaften vom Individuellen und solche vom Generellen der Erscheinungen entgegen. Zu den ersteren gehören die Geschichte und die Statistik der Volkswirthschaft, zu den letzteren die theoretische Volkswirthschaftslehre (die theoretische Nationalökonomie); denn die beiden ersteren haben die Aufgabe, die individuellen [3]volkswirthschaftlichen Phänomene, wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten der Betrachtung, die letztere die Erscheinungsformen und Gesetze (das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen[4]zu erforschen.
[7]
Der obige Gegensatz wird nicht selten, wenngleich auch in einem etwas verschiedenen Sinne, durch die Trennung der Wissenschaften in historische und theoretische bezeichnet. Die Geschichte und die Statistik der Volkswirthschaft sind in dem obigen Sinne historische Wissenschaften, die Nationalökonomie eine theoretische Wissenschaft. [5]
Ausser den beiden obigen grossen Gruppen von Wissenschaften müssen wir hier noch einer dritten gedenken, deren Natur von jener der beiden vorgenannten wesentlich verschieden ist: wir meinen die sogenannten praktischen Wissenschaften, oder Kunstlehren.
Die Wissenschaften dieser Art bringen uns die Erscheinungen, weder unter dem historischen, noch auch unter dem theoretischen Gesichtspunkte der Betrachtung zum Bewusstsein; sie lehren uns überhaupt nicht das, was ist. Ihre Aufgabe ist vielmehr, die Grundsätze festzustellen, nach welchen Bestrebungen bestimmter Art, je nach der Verschiedenheit der Verhältnisse, am zweckmässigsten verfolgt werden können. Sie lehren uns das, was, nach Massgabe der Verhältnisse, sein soll, damit bestimmte menschliche Zwecke erreicht werden. [8] Kunstlehren dieser Art auf dem Gebiete der Volkswirthschaft sind die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft.
Wir werden somit auf dem Gebiete der Volkswirthschaft für unsere speciellen Zwecke drei Gruppen von Wissenschaften zu unterscheiden haben: erstens die historischen Wissenschaften (die Geschichte[6] ) und die Statistik [7]der [9] Volkswirthschaft, welche das individuelle Wesen und den individuellen Zusammenhang, zweitens die theoretische Nationalökonomie, welche das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang (die Gesetze) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, endlich drittens die praktischen Wissenschaften [8]von der Volkswirthschaft, welche die Grundsätze zum zweckmässigen (der Verschiedenheit der Verhältnisse angemessenen) Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu erforschen und darzustellen haben die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft).
[10]
Unter der politischen Oekonomie [9]werden wir aber jene Gesammtheit theoretisch-praktischer Wissenschaften von der Volkswirthschaft (die theoretische Nationalökonomie, die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft) verstehen, welche gegenwärtig gemeiniglich unter der obigen Bezeichnung zusammengefasst werden. [10]
[11]
Verwechselung der historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und der Theorie der letzteren. – Verwechselung des historischen und des theoretischen Verständnisses der volkswirthschaftlichen Erscheinungen. – Irrthum, die Gesichtspunkte der historischen Jurisprudenz schlechthin auf die theoretische Nationalökonomie zu übertragen. – Ungenügende Trenuung dieser letzteren von den praktischen WirthschaftsWissenschaften. – Erklärung dieses Irrthums aus der Geschichte der Politischen Oekonomie. – Uebelstände, welche aus demselben für die Systematik, die Methodik und den Fortschritt der Politischen Oekonomie überhaupt entstanden sind.
Das Wesen und die Bedeutung des sogenannten historischen Gesichtspunktes in der politischen Oekonomie wird im zweiten Buche in eingehender Weise dargelegt, und auf die Irrthümer hingewiesen werden, welche sich aus der Verkennung desselben – aus dem, was man den unhistorischen Gesichtspunkt in der politischen Oekonomie nennen könnte – für unsere Wissenschaft ergeben. Bevor wir aber an die Lösung dieser Aufgabe schreiten, möchten wir zunächst jener Irrthümer gedenken, welche aus der Verkennung der formalen Natur der Politischen Oekonomie und der Stellung dieser letztern im Kreise der Wissenschaften überhaupt entstanden sind. Es geschieht dies aber desshalb, weil dieselben nicht nur ganz vorzugsweise unter den deutschen Volkswirthen [12] zu Tage getreten sind, sondern auch, wie sich herausstellen wird, zum nicht geringen Theile geradezu in dem an sich berechtigten, aber bisher unklaren und irregeleiteten Bestreben wurzeln, den historischen Gesichtspunkt in unserer Wissenschaft zur Geltung zu bringen. Wir werden aber hier zunächst von der Verwechslung der historischen und der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, und hierauf von jener der theoretischen und praktischen Wirthschaftswissenschaften sprechen.
Es wurde oben hervorgehoben, dass die Erscheinungen unter einem doppelten Gesichtspunkte, unter dem individuellen (dem historischen im weitesten Verstande dieses Wortes) und unter dem generellen (dem theoretischen) erforscht zu werden vermögen. Die Aufgabe der ersten Richtung der Forschung ist die Erkenntniss der concreten Erscheinungen in ihrem individuellen Wesen und ihrem individuellen Zusammenhange, die Aufgabe der letztern: die Erkenntniss der Erscheinungsformen (der Typen) und der typischen Relationen (der Gesetze der Erscheinungen). Es sind concrete Thaten, Schicksale, Institutionen bestimmter Völker und Staaten, es sind concrete Culturentwickelungen und Zustände, deren Erforschung die Aufgabe der Geschichte und der Statistik bildet, während die theoretischen Socialwissenschaften uns die Erscheinungsformen der socialen Phänomene und die Gesetze ihrer Aufeinanderfolge, ihrer Coexistenz u. s. f. darzulegen haben.
Der Gegensatz zwischen den historischen und theoretischen Wissenschaften tritt noch deutlicher zu Tage, wenn wir uns denselben auf einem bestimmten Gebiete der Erscheinungen zum Bewusstsein bringen. Wählen wir zu diesem Zwecke die Erscheinungen der Volkswirthschaft, so stellt sich uns als die Aufgabe der theoretischen Forschung die Feststellung der Erscheinungsformen und der Gesetze, der Typen und typischen Relationen der volkswirthschaftlichen Phänomene dar. Wir arbeiten an dem Ausbaue der theoretischen Nationalökonomie, indem wir die im Wechsel der volkswirthschaftlichen Phänomene sich wiederholenden Erscheinungsformen, beispielsweise [13] das generelle Wesen des Tausches, des Preises, der Bodenrente, des Angebotes, der Nachfrage, beziehungsweise die typischen Relationen zwischen den obigen Erscheinungen, z. B. die Wirkung der Steigerung oder des Sinkens von Angebot und Nachfrage auf die Preise, die Wirkung der Bevölkerungsvermehrung auf die Bodenrente u. s. f. festzustellen suchen. Die historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft dagegen lehren uns das Wesen und die Entwickelung individuell bestimmter volkswirthschaftlicher Phänomene, also z. B. den Zustand oder die Entwickelung der Wirthschaft eines bestimmten Volkes, oder einer bestimmten Völkergruppe, den Zustand oder die Entwickelung einer bestimmten wirthschaftlichen Institution, die Entwickelung der Preise, der Bodenrente in einem bestimmten Wirthschaftsgebiete u. s. f.
Die theoretischen und die historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft weisen demnach in der That eine fundamentale Verschiedenheit auf und nur die völlige Verkennung der wahren Natur dieser Wissenschaften vermöchte dieselben miteinander zu verwechseln oder der Meinung Raum zu geben, dass dieselben sich gegenseitig zu ersetzen vermögen. Es ist vielmehr klar, dass, gleichwie die theoretische Volkswirthschaftslehre für unser Erkenntnissstreben niemals die Geschichte oder die Statistik der Volkswirthschaft zu vertreten vermag, so umgekehrt auch selbst die umfassendsten Studien auf dem Gebiete der beiden letztgenannten Wissenschaften nicht an die Stelle der theoretischen Volkswirthschaftslehre gesetzt zu werden vermöchten, ohne eine Lücke in dem Systeme der Wirthschaftswissenschaften zurück zu lassen. [11]
[14]
Wenn nichts destoweniger eine Reihe volkswirthschaftlicher Schriftsteller sich mit der Nationalökonomik zu befassen wähnt, während sich dieselbe doch in Wahrheit mit historischen Studien auf dem Gebiete der Volkswirthschaft beschäftigt, so lohnt es wahrlich die Mühe, nach dem Erklärungsgrunde eines in so hohem Grade auffälligen Irrthumes zu fragen. Die nachfolgenden Untersuchungen sollen auf die obige, in Rücksicht auf die historische Schule der deutschen Nationalökonomie in hohem Masse praktische Frage die Antwort bringen.
Das Ziel der wissenschaftlichen Forschung ist nicht nur die Erkenntniss, sondern auch das Verständniss der Erscheinungen. Wir haben eine Erscheinung erkannt, wenn das geistige Abbild derselben zu unserem Bewusstsein gelangt ist, wir verstehen dieselbe, wenn wir den Grund ihrer Existenz und ihrer eigenthümlichen Beschaffenheit (den Grund ihres Seins und ihres So-Seins) erkannt haben.
Nun vermögen wir aber zum Verständnisse der Socialerscheinungen in doppelter Weise zu gelangen.
Wir verstehen eine concrete Erscheinung in specifisch historischer Weise durch ihre Geschichte), indem wir ihren individuellen Werdeprozess erforschen d. i. indem wir uns die concreten Verhältnisse zum Bewusstsein bringen, unter welchen sie geworden, und zwar so, wie sie ist, in ihrer besondern Eigenart, geworden.
In wie hohem Masse das Verständniss einer Reihe bedeutungsvoller Socialphänomene durch Erforschung der Geschichte derselben d. i. auf specifisch historischem Wege [15] gefördert worden ist, und in wie rühmlicher Weise die deutsche Wissenschaft an diesem Werke theilgenommen, ist bekannt. Ich erinnere nur an das Recht und an die Sprache. Das Recht eines bestimmten Landes, die Sprache eines bestimmten Volkes sind concrete Erscheinungen, die uns dadurch, dass wir uns ihren Werdeprozess zum Bewusstsein bringen, also erforschen, wie dies bestimmte Recht, diese bestimmte Sprache allmählig entstanden, welche Einflüsse hier gewirkt u. s. f., in viel höherem Grade verständlich werden, als wenn wir ausschliesslich auf der Grundlage eines, wenn auch noch so eingehenden und sich vertiefenden Studiums der Gegenwart zu ihrem Verständnisse gelangen wollten. „Der Stoff des Rechtes sagt Savigny - ist durch die gesammte Vergangenheit der Nationen gegeben, ... aus dem innersten Wesen der Nation und ihrer Geschichte hervorgegangen!" [12]Die Geschichte -- fährt Savigny fort sei nicht bloss eine Beispielsammlung, sondern der einzige (!) Weg zur wahren Erkenntniss unserer eigenen Zustände. Und an einer anderen Stelle: „Die geschichtliche Ansicht der Rechtswissenschaft legt darauf das höchste Gewicht, dass der lebendige Zusammenhang erkannt werde, welcher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft und ohne deren Kenntniss wir von dem Rechtszustande der Gegenwart nur die äussere Erscheinung wahrnehmen, nicht das innere Wesen begreifen. [13]
Es bedarf nun wohl kaum der Bemerkung, dass die obige, an sich durchaus berechtigte Richtung der Forschung auch auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen eine analoge Anwendung zu finden vermag. Auch das Verständniss bestimmter Institutionen, Bestrebungen und Ergebnisse der Volkswirthschaft, des Zustandes der volkswirthschaftlichen Gesetzgebung in einem bestimmten Lande u. s. f., vermag durch die Erforschung ihres Werdeprozesses d. i. auf spezifisch historischem Wege in ähnlicher Weise gefördert zu [16] werden, wie auf dem Gebiete des Rechtes. Das specifisch historische Verständniss concreter Erscheinungen ist auch dem Gebiete der Volkswirthschaft durchaus adäquat.
Das historische Verständniss der concreten Socialerscheinungen ist indess keineswegs das einzige, zu welchem wir auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung zu gelangen vermögen. [14] Demselben steht vielmehr das theoretische Verständniss der Socialphänomene als durchweg gleichwerthig und gleich- [17] bedeutend gegenüber. Wir verstehen eine concrete Erscheinung in theoretischer Weise auf der Grundlage der entsprechenden theoretischen Wissenschaften), indem wir dieselbe als einen speziellen Fall einer gewissen Regelmässigkeit (Gesetzmässigkeit) in der Aufeinanderfolge, oder in der Coexistenz der Erscheinungen erkennen, oder mit andern Worten: wir gelangen zum Bewusstsein des Grundes der Existenz und der Besonderheit des Wesens einer concreten Erscheinung, indem wir in ihr lediglich die Exemplification einer Gesetzmässigkeit der Erscheinungen überhaupt erkennen lernen. Wir verstehen somit z. B. im concreten Falle das Steigen der Grundrente, das Sinken des Capitalzinses u. dergl. m. in theoretischer Weise, indem die bezüglichen Phänomene sich uns auf der Grundlage unserer theoretischen Erkenntnisse) lediglich als besondere Exemplificationen der Gesetze der Grundrente, des Capitalzinses u. s. f. darstellen. Sowohl die Geschichte, als auch die Theorie der Socialerscheinungen überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere verschaffen uns somit ein gewisses Verständniss der Socialbezw. der volkswirthschaftlichen Phänomene. Dasselbe ist jedoch in jedem Falle ein eigenartiges, ein wesentlich verschiedenes, so verschieden eben, wie Theorie und Geschichte selbst.
Dass unsere historischen Nationalökonomen die beiden obigen, ihrer Natur und ihren Grundlagen nach so verschiedenen Arten des Verständnisses der volkswirthschaftlichen Phänomene nicht stets strenge genug auseinanderhalten, und in Folge dieses Umstandes die Meinung entstehen konnte, es vermöchte, in Rücksicht auf das Verständniss der Phänomene der Volkswirthschaft, die Theorie die Geschichte und umgekehrt die Geschichte die Theorie der Volkswirthschaft zu ersetzen: scheint mir der erste Grund jener Verwechslung von Geschichte und Theorie der Volkswirthschaft zu sein, von welcher die obige Schule von Volkswirthen uns ein so seltsames Beispiel giebt, indem sie in dem Streben nach dem historischen Verständnisse der volkswirthschaftlichen Erscheinungen die Bethätigung der [18] historischen Richtung in der theoretischen Nationalökonomie erkennt.
Hierzu tritt ein anderer Umstand, welcher in noch höherem Masse, als der vorhin gekennzeichnete, zu der obigen Unklarheit über die formale Natur der theoretischen Nationalökonomie und ihre Stellung im Kreise der Wirthschafts-Wissenschaften geführt hat.
Das Verständniss concreter Thatsachen, Institutionen, Verhältnisse u. s. f., kurz das Verständniss concreter Erscheinungen, welcher Art dasselbe auch immer gedacht werden mag, ist streng zu unterscheiden von der wissenschaftlichen Grundlage dieses Verständnisses d. i. von der Theorie, beziehungsweise von der Geschichte der bezüglichen Erscheinungen, und das theoretische Verständniss concreter volkswirthschaftlicher Phänomene insbesondere von der Theorie der Volkswirthschaft. Die auf Feststellung und Darstellung der volkswirthschaftlichen Theorie gerichtete wissenschaftliche Thätigkeit darf mit jener, welche das Verständniss .concreter volkswirthschaftlicher Erscheinungen auf Grundlage der Theorie bezweckt, selbstverständlich nicht verwechselt werden. Wer nämlich noch so sorgfältig und in noch so umfassender Weise das theoretische Verständniss concreter Erscheinungen der Volkswirthschaft – etwa auf Grund der herrschenden Theorien! anstrebt, ist um dessent willen doch noch kein Theoretiker der Volkswirthschaft. Nur wer den Ausbau und die Darstellung der Theorie selbst sich zur Aufgabe setzt, ist als solcher zu betrachten. Das Verständniss der concreten Erscheinungen der Volkswirthschaft durch die Theorie, die Anwendung der theoretischen Nationalökonomie als Mittel für das Verständniss, die Nutzbarmachung der nationalökonomischen Theorie für die Geschichte der Volkswirthschaft, all dies sind vielmehr Aufgaben des Historikers, für welchen die theoretischen Socialwissenschaften in der obigen Rücksicht Hilfswissenschaften sind.
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Fassen wir das Gesagte zusammen, so beantwortet sich leicht die Frage nach dem eigentlichen Wesen jener Irrthümer, in welche die historische Schule deutscher Nationalökonomen rücksichtlich der Auffassung der theoretischen Nationalökonomie als einer historischen Wissenschaft verfallen ist. Sie unterscheidet nicht das specifisch historische vom theoretischen Verständnisse der Volkswirthschaft und sie verwechselt beide, d. i. das Streben nach dem Verständnisse concreter volkswirthschaftlicher Erscheinungen durch die Geschichte, bezw. durch die Theorie der Volkswirthschaft, mit der Erforschung dieser Wissenschaften selbst und ganz insbesondere mit der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie. Sie glaubt an der Theorie der Volkswirthschaft zu bauen und diese darzustellen, indem Sie durch Heranziehung der Geschichte, beziehungsweise der Theorie der Volkswirthschaft zum Verständnisse concreter Thatsachen und Entwickelungen der Volkswirthschaft zu gelangen und dieses Verständniss zu vertiefen unternimmt.
In einem ebenso grossen Irrthume über die Natur der theoretischen Nationalökonomie und ihre Stellung im Kreise der Wirthschaftswissenschaften befinden sich jene, welche dieselbe mit der Volkswirthschaftspolitik, die Wissenschaft vom generellen Wesen und Zusammenhange der volkswirthschaftlichen Erscheinungen mit der Wissenschaft von den Maximen zur zweckmässigen Leitung und Förderung der Volkswirthschaft verwechseln. Der Irrthum ist kein geringerer, als ob die Chemie mit der chemischen Technologie, die Physiologie und Anatomie mit der Therapie und Chirurgie u. s. f. verwechselt werden würden, und in der Wissenschaftslehre bereits so klargestellt, dass denselben eines Weiteren zu erörtern wir füglich Anstand nehmen. Wenn der obige Irrthum übrigens nicht nur in den Anfängen unserer Wissenschaft, sondern seltsamer Weise selbst heute noch vereinzelt in der volkswirthschaftlichen Literatur [15]zu Tage [20] tritt und trotz aller principiellen Zugeständnisse die Methodik und Systematik unserer Wirthschaft immer noch in hohem Masse beeinflusst, so kann der Grund hiervon füglich nur in der eigenthümlichen geschichtlichen Entwickelung der theoretischen Erkenntniss überhaupt und jener auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere gesucht werden.
Die theoretische Erkenntniss hat sich überall nur allmählich aus den praktischen Einsichten und mit dem erwachenden Bedürfnisse nach einer tieferen wissenschaftlichen Begründung der Praxis entwickelt. Auch die theoretische Erkenntniss auf dem Gebiete der Volkswirthschaft hat diesen Gang der Entwickelung genommen; auch sie hatte ursprünglich nur den Charakter einer gelegentlichen Motivirung praktischer Maximen und es haften ihr naturgemäss noch die Spuren dieses ihres Ursprunges und ihrer einstigen Unterordnung unter die Volkswirthschaftspolitik an./ Wie wichtig indess bei dem heutigen Stande volkswirthschaftlicher Einsicht die strenge Trennung von theoretischen und praktischen Erkenntnissen auf dem Gebiete unserer Wissenschaft ist und zu welchen verwirrenden Consequenzen die Verwechslung der beiden obigen Wissenschaften führt, wird insbesondere bei allen Fragen der Systematik und Methodik unserer Wissenschaft klar.
Die zusammenfassende Darstellung theoretischer und praktischer Erkenntnisse hat nothwendig zur Folge, dass die praktischen Erkenntnisse entweder in das System der theoretischen, oder umgekehrt diese letzteren in jenes der praktischen Erkenntnisse eingeordnet werden müssen, ein Vorgang, welcher selbstverständlich jede strengere, der Natur der betreffenden Wissensgebiete adäquate Systematik der Darstellung, zum mindesten rücksichtlich der einen der beiden Wissenschaften, völlig aufhebt, rücksichtlich der anderen aber unablässig durchbricht.
Dazu tritt der Umstand, dass die Verbindung der beiden obigen Gruppen wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Darstellung auch die Vollständigkeit der letzteren nahezu ausschliesst. Zum mindesten in jener Form, in welcher sie sich neuerer Zeit in unserer Wissenschaft geltend macht, bietet [21] sie wohl zumeist die Theorie der Volkswirthschaft in, mehr oder minder, genügender Weise, die Volkswirthschaftspolitik dagegen nur in gelegentlichen, höchst lückenhaften Ausführungen. Die obigen Darstellungen der politischen Oekonomie machen besondere Schriften über Volkswirthschaftspolitik keineswegs entbehrlich, und es ist somit, zum mindesten, wo das Bedürfniss nach umfassenden Darstellungen der Volkswirthschaftspolitik bereits zu Tage getreten ist, nicht abzusehen, welchen Nutzen die obige Verbindung theoretischer und praktischer Erkenntnisse in den Darstellungen der politischen Oekonomie eigentlich schaffen soll.
In ganz besonders ungünstiger Weise hat die obige Verquickung des theoretischen und praktischen Gesichtspunktes die erkenntnisstheoretischen Untersuchungen auf dem Gebiete unserer Wissenschaft beeinflusst. Welchen Werth können nämlich, wenn die theoretische und die praktische Nationalökonomie nicht strenge auseinander gehalten werden, Untersuchungen über die Methode der Nationalökonomie aufweisen, also über die Methode zweier Wissenschaften (einer theoretischen und einer praktischen Wissenschaft), welche so durchaus verschiedener Natur sind – welchen Werth gar Untersuchungen über die Methode der politischen Oekonomie im Sinne einer die theoretische Volkswirthschaftslehre, die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft umfassenden theoretisch-praktischen Wissenschaft?
Es lässt sich nicht läugnen, dass die deutsche Nationalökonomie den hier in Rede stehenden Irrthum, und damit zum Theile wenigstens auch seine Consequenzen für die Systematik und Methodik unserer Wissenschaft, strenger als irgend eine andere Literatur dieses Wissensgebietes zu vermeiden verstanden hat. Das lebhafte Bedürfniss der deutschen Cameralisten nach umfassenden Darstellungen der volkswirthschaftlichen Verwaltung hat offenbar zu diesem Erfolge wesentlich beigetragen.
Dagegen hat allerdings jener Irrthum, dessen wir vorhin gedachten: die Verwechslung des historischen und des theoretischen Gesichtspunktes in der wissenschaftlichen [22] Erforschung der Volkswirthschaft, gerade in der deutschen Literatur zu den verwirrendsten Consequenzen geführt. Entsprungen dem an sich durchaus berechtigten Streben nach Erweiterung und Vertiefung des historischen Verständnisses concreter volkswirthschaftlicher Erscheinungen, hat der obige Irrthum doch sowohl die Systematik als die Methodik unserer Wissenschaft auf das ungünstigste beeinflusst; die Systematik, indem, die Darstellung der Theorie durch zahllose historische Excurse zu durchbrechen, für zweckmässig, ja für die Bethätigung der historischen Methode“ in unserer Wissenschaft erachtet wurde; die Methodik, indem man Gesichtspunkte und Postulate der historischen Forschung missverständlicher Weise in die Methodik der theoretischen Nationalökonomie übertrug
Aber auch auf dem eigentlichen Gebiete der theoretischen Forschung hat der obige Irrthum den Fortschritt unserer Wissenschaft in der verderblichsten Weise beeinträchtigt. Nicht nur etwa ein geringfügiger Theil, sondern geradezu die Mehrzahl der Anhänger der hier in Rede stehenden Gelehrtenschule, vermag von dem Vorwurfe nicht freigesprochen zu werden, sich mit der Geschichte der Volkswirthschaft, heziehungsweise mit der Vertiefung ihres Verständnisses zu befassen, während dieselben ausdrücklich, oder doch stillschweigend von der Voraussetzung ausgehen, die Theorie der Volkswirthschaft unter dein historischen Gesichtspunkte darzustellen und auszubauen. Das an sich berechtigte Streben der obigen Forscher, die unhistorische Richtuug in der theoretischen Nationalökonomie zu beseitigen, hat solcherart, in Folge des hier in Rede stehenden methodischen Irrthums, zu einer Preisgebung des theoretischen Charakters der obigen Wissenschaft und dazu geführt, an die Stelle der theoretischen Forschung überhaupt und der theoretischen Forschung unter Festhaltung des historischen Gesichtspunktes insbesondere, die historische Forschung, die Geschichtsschreibung zu setzen.
Dass hauptsächlich in Folge dieses Missverständnisses die Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie [23] in Deutschland nahezu brach liegt, bedarf wohl kaum einer Bemerkung. Das historische Verständniss einzelner Gebiete der Volkswirthschaft ist in den letzten Decennien durch den Forscherfleiss deutscher Volkswirthe erschlossen und vertieft worden, die Theorie der Volkswirthschaft, und zwar nicht nur jene, welche den historischen Gesichtspunkt in der Volkswirthschaft verkennt, sondern die Theorie der Volkswirthschaft überhaupt, ist dagegen leider sichtbar zurückgeblieben.
Das Verdienst, den historischen Gesichtspunkt in der politischen Oekonomie überhaupt und in der theoretischen Volkswirthschaftslehre insbesondere im Principe betont zu haben, möchten wir der historischen Schule der deutschen Volkswirthe in keiner Weise verkümmern, wenngleich auch die Form, in welcher der obige Gedanke bisher zum Ausdrucke gelangte, wie wir in der Folge sehen werden, eben so sehr der Klarheit, als der Consequenz entbehrt. Sicherlich vermag aber kein Unbefangener, wofern er die Bedeutung des historischen Gesichtspunktes in unserer Wissenschaft auch noch so hoch anschlägt, in Abrede zu stellen, dass selbst die vollständige Verkennung dieses letzteren, was die Tragweite des Irrthums anbelangt, sich auch nicht im entferntesten in eine Parallele mit jenem Irrthume stellen lässt, durch welchen die theoretische Nationalökonomie mit der Geschichte der Volkswirthschaft verwechselt wird. Indem ein grosser Theil der deutschen Volkswirthe solcherart die formale Natur der theoretischen Nationalökonomie und ihre Stellung im Kreise der Wissenschaften verkannt hat, ist derselbe in einen schwereren Irrthum, als die Nationalökonomen irgend einer unhistorischen Richtung, verfallen, in den fundamentalsten Irrthum nämlich, dessen Opfer eine Gelehrtenschule überhaupt zu werden vermag, denn er hat die Wissenschaft verfehlt, welche er zu erforschen vermeinte.
Wäre die theoretische Nationalökonomie nun eine hoch entwickelte, oder zum mindesten in ihren Grundzügen vollendete Wissenschaft, so könnte allenfalls die Kritik über das 0bige, den eigentlichen historischen Studien auf dem Gebiete [24] der Volkswirthschaft zu Gute kommende Missverständniss still. schweigend hinweggehen. Wie vermag sie dies aber gegenüber einer Gelehrtenschule, welche einem solchen Missverständnisse in einer Wissenschaft zum Opfer wurde, deren Grundlagen noch nicht gewonnen sind, in einer Wissenschaft, in welcher bisher nahezu Alles noch in Frage steht?
Wie trefflich passt auf die obigen Forscher, welche meist tüchtige Historiker, aber schwache Theoretiker sind, eine gelegentliche Bemerkung des grossen Begründers unserer Wissenschaft über gewisse wissenschaftliche Systeme: „ Systems, which have universally owed their origin to the lucubrations of those, who were acquainted with the one art, but ignorant of the other, who therefore explained to themselves the phenomena, in that (art), which was strange to them, by those (phenomena in that (art) which was familiar to them.“ [16]
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Die theoretischen Wissenschaften sind nicht von gleicher Strenge; dieser Umstand hat indess keinen Einfluss auf ihren allgemeinen formalen Charakter. – Was immer der Grad der Strenge sein mag, welchen die Wahrheiten der theoretischen Nationalökonomie aufweisen, der Charakter der letzteren als einer theoretischen Wissenschaft, bleibt unberührt. mag hierdurch weder zu einer historischen noch auch zu einer praktischen Wissenschaft zu werden. Der Werth der theoretischen Wissenschaften für die Erkenntniss und das Verständniss der Erscheinungen wird durch die geringere Strenge ihrer Wahrheiten keineswegs aufgehoben.
Die Typen und typischen Relationen (die Gesetze) der Erscheinungswelt sind nicht durchweg von gleicher Strenge. Ein Blick auf die theoretischen Wissenschaften lehrt uns vielmehr, dass die Regelmässigkeiten in der Coexistenz und in der Aufeinanderfolge der Phänomene zum Theil ausnahmslose, ja solche sind, rücksichtlich welcher selbst die Möglichkeit einer Ausnahme geradezu ausgeschlossen erscheint, zum Theil aber solche, welche allerdings Ausnahmen aufweisen, oder rücksichtlich welcher Ausnahmen doch möglich erscheinen. Man nennt die ersteren gemeiniglich Naturgesetze, die letzteren empirische Gesetze.
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Nun ist unter den Methodikern keine Ansicht verbreiteter, als dass auf gewissen Gebieten der Erscheinungswelt, ganz vorzugsweise aber auf jenem der Natur, strenge Typen und typische Relationen, auf anderen, und insbesondere auf jenem der Socialphänomene, dagegen nur solche von minderer Strenge, oder mit anderen Worten: nur auf dem ersteren Gebiete „Naturgesetze“, auf dem letzteren dagegen nur „empirische Gesetze“ beobachtet werden können. Diese in der allgemeinen Wissenschaftslehre vielfach verbreitete Meinung wird sich in der Folge als ein Irrthum erweisen, welchen wir an dieser Stelle vorläufig in Kürze nur dahin charakterisiren wollen, dass dasjenige, was sich bei genauer Untersuchung als das Ergebniss verschiedener Richtungen der theoretischen Forschung auf den einzelnen Gebieten der Erscheinungswelt darstellt, als die Folge der verschiedenen Natur der Erscheinungen aufgefasst wird. Doch davon gedenken wir erst in der Folge zu sprechen. Was wir jedoch bereits hier auf das nachdrücklichste betonen möchten, ist der Umstand, dass, was immer auch der Grad der Strenge der dem Gebiete der Socialerscheinungen eigenthümlichen Gesetze sein mag und zu welchen Ergebnissen auch immer uns die Untersuchungen über die besondere Natur und die verschiedenen Arten dieser Gesetze führen werden, der Charakter der Nationalökonomie als einer theoretischen Wissenschaft hierdurch keineswegs tangirt wird. Die Typen und typischen Relationen der Volkswirthschaft mögen von grösserer, oder geringerer Strenge und überhaupt, welcher Natur immer, sein: das Wesen der theoretischen Nationalökonomie kann unter allen Umständen in nichts anderem, als in der Darlegung eben dieser Typen und typischen Relationen, oder, mit anderen Worten, des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der Gesetze der volkswirthschaftlichen Phänomene, keineswegs aber etwa in der Darstellung des Wesens und des Zusammenhanges individueller Erscheinungen der Volkswirthschaft d. i. in historischen Darstellungen, oder aber in praktischen Regeln für das wirthschaftliche Handeln der Menschen bestehen. Die Theorie der Volkswirthschaft darf in keinem Falle mit den [37] historischen, oder mit den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft verwechselt werden. Nur wer über die formale Natur und die Aufgaben der theoretischen Nationalökonomie durchaus im Unklaren ist, vermöchte in ihr desshalb, weil die generellen (theoretischen) Erkenntnisse, die sie umfasst, angeblich, oder in Wahrheit, eine geringere Strenge, als in den Naturwissenschaften, aufweisen, oder aber etwa aus dem ferneren Grunde, weil die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene, wie wir sehen werden, nicht ohne Einfluss auf die Art und Weise ist, in welcher die Nationalökonomie ihre theoretische Aufgabe zu lösen vermag – eine historische Wissenschaft; nur wer das Wesen der theoretischen und praktischen Wissenschaften nicht auseinander zu halten vermag, in ihr – etwa aus dem Grunde, weil sie gleich anderen Theorien die Grundlage praktischer Wissenschaften bildet, – eine praktische Wissenschaft zu erkennen.
Eben so irrig ist die vielfach hervortretende Meinung, dass, in Folge der oben hervorgehobenen Umstände, der Werth der Nationalökonomie als theoretischer Wissenschaft aufgehoben werde. Selbst wenn von vornherein und ohne nähere Untersuchung zugestanden werden würde, dass die theoretischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen durchweg nicht von ausnahmsloser Strenge seien, und insbesondere die Thatsache der Entwickelung der hier in Rede stehenden Phänomene Naturgesetze derselben ausschliesse, selbst dann, sagen wir, könnte die obige Consequenz keineswegs gezogen werden. Auch die Zahl der NaturwissenSchaften, welche durchweg strenge Naturgesetze umfassen, ist eine geringe und der Werth jener, welche nur empirische Gesetze aufweisen, nichts desto weniger ausser Frage. Keinem Naturforscher fällt es z. B. bei, einer Reihe von WissenSchaften, welche die Gesetze des organischen Lebens darstellen, den Charakter als theoretische Wissenschaften deshalb abzusprechen, weil dieselben empirische Gesetze umfassen. Eben so thöricht wäre es, wollten wir das mächtige Hilfsmittel, welches selbst minder strenge Theorien für das [28] Verständniss, für die Voraussicht und die Beherrschung der Phänomene gewähren, auf dem Gebiete der Volkswirthschaft verschmähen und deshalb, weil eine strenge Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen nicht erreichbar wäre, uns auf die Erforschung der Geschichte und der Statistik der Volkswirthschaft, oder aber auf jene der praktischen Wissenschaften von dieser letzteren beschränken. Ein solcher Vorgang würde eine Lücke in dem Systeme der Wissenschaften von der Volkswirthschaft zurücklassen, eine Lücke genau von der nämlichen Art, als ob die historischen oder die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft unerforscht blieben.
Ob die Gesetze der Coexistenz und der Erscheinungsfolge von grösserer oder geringerer Strenge sind, ist allerdings nicht ohne jede Bedeutung, sowohl für das Verständniss, als auch für die Voraussicht und die Beherrschung der Phänomene. Je grösser die Strenge der Gesetze, um so grösser auch der Grad von Sicherheit, mit welcher auf Grundlage dieser Gesetze über die unmittelbare Erfahrung hinaus auf den Eintritt künftiger, oder auf die Coexistenz gleichzeitiger, nicht unmittelbar beobachteter Phänomene geschlossen werden kann. Dass Gesetze der Erscheinungsfolge und der Coexistenz keine strengen sind, mindert demnach ohne Zweifel die Sicherheit der auf sie begründeten Schlüsse und damit auch jene der Voraussicht und der Beherrschung der Phänomene. Alle diese Unterschiede sind jedoch in Rücksicht auf die Voraussicht und die Beherrschung der Erscheinungen nur gradueller, nicht principieller Natur. Auch theoretische Wissenschaften, welche nur empirische Gesetze aufweisen, haben demnach eine grosse praktische Bedeutung für das Menschenleben, wenngleich an die Stelle der vollen Sicherheit der durch dieselben vermittelten Erkenntniss nur eine bald grössere bald geringere Wahrscheinlichkeit tritt. Historische Erkenntnisse und das historische Verständniss der Erscheinungen an sich bieten uns dagegen diese Voraussicht u. s. f. überhaupt nicht, und sie vermögen demnach auch die theoretischen Erkenntnisse nie zu ersetzen. Historische [29] Erkenntnisse können vielmehr stets nur das Material sein, auf Grund dessen wir Gesetze der Erscheinungen (z. B. Entwickelungsgesetze der Volkswirthschaft) festzustellen vermögen. Auch der Praktiker auf dem Gebiete der Politik muss aus der Geschichte zunächst generellere Erkenntnisse (Regeln) gewinnen, ehe er rücksichtlich der Gestaltung künftiger Ereignisse seine Schlüsse zu ziehen vermag.
Der Umstand, dass auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen von einzelnen Schulen Ergebnisse der theoretischen Forschung von ausnahmsloser Strenge als unerreichbar angesehen werden, der Umstand, dass die theoretische Forschung auf dem obigen Gebiete der Erscheinungswelt in der That Schwierigkeiten begegnet, welche der Naturforschung in einzelnen Zweigen derselben fremd sind, der Umstand endlich, dass der theoretischen Nationalökonomie nicht durchweg Aufgaben genau von der nämlichen Art, wie den theoretischen Naturwissenschaften vorliegen, all dies vermag der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen wohl einen besonderen Charakter zu verleihen, gewisse Eigenthümlichkeiten derselben zu begründen, niemals jedoch - zu bewirken, dass auf dem obigen Gebiete der Erscheinungswelt die historische oder die praktische Richtung der Forschung an die Stelle der theoretischen treten und diese ersetzen könne. Die theoretische Nationalökonomie kann nie als eine historische, oder, wie manche wollen, als eine praktische Wissenschaft aufgefasst werden.
Wir müssen uns vor einem doppelten Fehler in der Forschung auf dem Gebiete der politischen Oekonomie zu bewahren suchen. Es wäre ein schwer wiegender Irrthum, die Eigenthümlichkeiten jenes Gebietes von Erscheinungen, welches wir die Volkswirthschaft nennen, und demgemäss auch die Besonderheit der Aufgabe zu verkennen, welche uns die theoretische Forschung auf dem obigen Gebiete der Erscheinungswelt darbietet; es wäre indess ein noch grösserer Irrthum, würden wir in dem Bestreben, den obigen [30]Eigenthümlichkeiten der Forschung gerecht zu werden, die theoretische Forschung auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen überhaupt, sei es nun ausdrücklich, oder stillschweigend, preisgeben und, um die Theorie der Volkswirthschaft unter einem besonderen, etwa dem historischen Gesichtspunkte zu erfassen, die Theorie der Volkswirthschaft selbst aus dem Auge verlieren.
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Ueber die Meinung, dass nur Eine Richtung der theoretischen Forschung gebe. -- Ueber die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung und ihre Vorzüge. Dass sie ungeeignet sei, zu strengen Gesetzen, zu sog. „Naturgesetzen“ der Erscheinungen zu führen. Natur und Arten der theoretischen Erkenntnisse, zu welchen sie zu führen vermag. -- Die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Ueber die exacte Richtung der theoretischen Forschung überhaupt. Ziel und erkenntniss-theoretische Grundlage derselben. Die exacte Richtung der theoretischen Forschung in den Socialwissenschaften im allgemeinen und in der Volkswirthschaftslehre insbesondere. Eine exacte Theorie bietet uns ihrer Natur nach stets nur das Verständniss einer besonderen Seite der Erscheinungen. Die exacte Nationalökonomie vermag uns nur das theoretische Verständniss der wirthschaftlichen Seite der Socialphänomene zu verschaffen. Nur die Gesammtheit der exacten Socialwissenschaften vermöchte uns das exacte Verständniss der Socialphänomene, oder eines bestimmten Theiles derselben, in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit, zu eröffnen.
In dem zweiten Buche soll das Wesen des „historischen Gesichtspunktes“ in der Politischen Oekonomie oder, richtiger gesagt, der Einfluss geschildert werden, welchen die Thatsache, dass die volkswirthschaftlichen Phänomene Entwickelungen aufweisen, auf die theoretischen und praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und die Natur ihrer Wahrheiten übt. Ehe wir jedoch an die Lösung dieser Aufgabe [32] schreiten, müssen wir noch eines Irrthums gedenken, welcher in nicht geringerem Masse, als die in den beiden vorangehenden Capiteln gekennzeichneten, zu der Verwirrung der methodischen Lehrmeinungen der historischen Schule deutscher Nationalökonomen beigetragen hat und dessen Erörterung an dieser Stelle desshalb nicht umgangen werden kann.
Wir möchten aber die Aufmerksamkeit unserer Leser ganz insbesondere auf die nachfolgenden Untersuchungen lenken, nicht nur weil dieselben einen grundlegenden methodischen Irrthum der historischen Schule blosslegen, ohne dessen Erkenntniss die Stellung der letzteren zu den hier behandelten Fragen nicht vollständig erfasst zu werden vermag, sondern weil dieselben zugleich in mehr als einer Rücksicht ein helles Licht auf die erkenntniss - theoretischen Probleme unserer Wisssenschaft werfen.
Wir haben oben zwei Hauptrichtungen der Forschung überhaupt, und jener auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen insbesondere unterschieden: die individuelle (die historische) und die generelle (die theoretische). Die erstere strebt nach der Erkenntniss des individuellen Wesens und des individuellen Zusammenhanges, die letztere nach jener des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der Erscheinungen. Nun wäre es aber eine grobe Einseitigkeit, zu glauben, dass die generelle Richtung der Forschung auf den verschiedenen Gebieten der Erscheinungswelt, und selbst jene auf irgend einem speciellen Gebiete derselben, z. B. auf dem der Volkswirthschaft, nothwendig eine unterschiedslose sei. Gleichwie die individuelle Richtung der Forschung in verschiedene speciellere Richtungen (die geschichtliche im engeren Verstande, die statistische u. s. f.) zerfällt, welche insgesammt zwar den Charakter der individuellen Richtung der Forschung an sich tragen, aber zugleich, im Verhältnisse zu einander, gewisse Besonderheiten aufweisen, so zerfällt auch die theoretische Forschung in mehrere Zweige, denen jeder einzeln zwar den Grundcharakter der generellen Richtung der Forschung an [33]sich trägt, d. i. die Feststellung der Typen beziehungsweise typischen Relationen der Erscheinungen zum Gegenstande hat, indess die obige Aufgabe nicht nothwendig unter dem gleichen Gesichtspunkte löst. Die Feststellung der für unsere Wissenschaft wichtigsten Richtungen der theoretischen Forschung und somit die Bekämpfung der von den Methodikern fast ausnahmslos festgehaltenen Meinung, dass es nur Eine Richtung der theoretischen Forschung gebe, oder aber doch nur Eine Richtung dieser letzteren (z. B. die empirische, oder die exacte, oder aber gar die geschichtlich-philosophische, die theoretisch - statistische u. S. f.) bestimmten Gebieten der Erscheinungswelt überhaupt und jenen der Volkswirthschaft insbesondere adäquat sei, ist der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen.
Der Zweck der theoretischen Wissenschaften ist das Verständniss, die über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntniss und die Beherrschung der realen Welt. Wir verstehen die Erscheinungen durch Theorien, indem dieselben in jedem concreten Falle lediglich als Exemplificationen einer allgemeinen Regelmässigkeit vor unser Bewusstsein treten, wir erlangen eine über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntniss der Erscheinungen, indem wir im concreten Falle, auf Grundlage der Gesetze der Coexistenz und der Erscheinungsfolge, aus gewissen beobachteten Thatsachen auf andere, unmittelbar nicht wahrgenommene schliessen; wir beherrschen die reale Welt, indem wir, auf der Grundlage unserer theoretischen Erkenntnisse, die in unserer Gewalt befindlichen Bedingungen einer Erscheinung setzen und solcherart diese letztere selbst herbeizuführen vermögen.
Das Streben nach Erkenntnissen von so grossem wissenschaftlichen und praktischen Interesse, das Streben nach Erkenntniss der Typen und typischen Relationen der Erscheinungen, ist denn auch so alt, wie die Civilisation, und nur der Grad der Ausbildung dieses Erkenntnissstrebens hat sich im Laufe der Culturentwickelung überhaupt, und der Entwickelung der Wissenschaften insbesondere, gesteigert.
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Der nächst liegende Gedanke, das obige (das theoretische) Problem zu lösen, ist, die Typen und typischen Relationen der Phänomene, wie diese letzteren sich uns in ihrer „vollen empirischen Wirklichkeit“, also in der Totalität und der ganzen Complication ihres Wesens darstellen, zu erforschen, oder mit anderen Worten, die Gesammtheit der realen Erscheinungen in bestimmte Erscheinungsformen zu ordnen und die Regelmässigkeiten in der Coexistenz und Aufeinanderfolge dieser letzteren auf empirischem Wege zu ermitteln.
Dieser Gedanke hat denn auch auf allen Gebieten der Erscheinungswelt zu der entsprechenden, der realistischempirischen Richtung der theoretischen Forschung geführt, und zwar nicht nur aus dem Grunde, weil derselbe, wie gesagt, sich uns als der nächst liegende darstellt, sondern weil durch die obige Richtung der Forschung die Zwecke, welchen die theoretische Forschung dient, zugleich in der einfachsten und vollkommensten Weise erreicht zu werden scheinen.
Die theoretischen Wissenschaften sollen uns, wie wir sahen, die Typen (die Erscheinungsformen) und die typischen Relationen (die Gesetze) der Phänomene lehren und uns dadurch das theoretische Verständniss, eine über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntniss und, wo immer wir die Bedingungen einer Erscheinung in unserer Gewalt haben, die Gewalt über diese letztere verschaffen. Wie vermöchten wir nun aber das obige Problem in einfacherer, zweckmässigerer und doch zugleich vollkommener Weise zu lösen, als indem wir die Erscheinungen der realen Welt, wie sie sich in ihrer empirischen Wirklichkeit uns darstellen, in strenge Typen ordnen und streng typische Relationen – „Naturgesetze“ – derselben gewinnen würden?
Die nähere Untersuchung lehrt indess, dass der obige Gedanke in seiner vollen Strenge undurchführbar ist. Die Phänomene in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit wiederholen sich erfahrungsgemäss in gewissen Erscheinungsformen, jedoch keineswegs mit vollkommener Strenge, indem kaum jemals zwei concrete Phänomene, geschweige denn eine grössere [35]Gruppe von solchen eine durchgängige Uebereinstimmung aufweisen. Es giebt in der „empirischen Wirklichkeit“, d. i. wenn die Erscheinungen in der Totalität und der ganzen Complication ihres Wesens in Betracht gezogen werden, keine strengen Typen, es wäre denn, dass jede einzelne concrete Erscheinung als ein besonderer Typus aufgestellt würde, wodurch Zweck und Nutzen der theoretischen Forschung völlig aufgehoben würden. Das Streben: „alle empirischen Wirklichkeiten“ (ihrem vollen Inhalte nach ) umfassende strenge Kategorien von Erscheinungsformen festzustellen, ist desshalb ein unerreichbares Ziel der theoretischen Forschung.
Nicht anders verhält es sich in Rücksicht auf die zweite Aufgabe der theoretischen Forschung: die Feststellung der typischen Relationen, der Gesetze der Erscheinungen. Wird die Welt der Erscheinungen in streng realistischer Weise betrachtet, so bedeuten Gesetze dieser letzteren lediglich die auf dem Wege der Beobachtung constatirten thatsächlichen Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und in der Coexistenz der realen Phänomene, welche gewissen Erscheinungsformen angehören. Ein unter dem obigen Gesichtspunkte gewonnenes „Gesetz“ vermag in Wahrheit nur zu besagen, dass auf die den Erscheinungsformen A und B angehörigen concreten Phänomene in der Wirklichkeit, regelmässig oder ausnahmslos, der Erscheinungsform C angehörige Phänomene gefolgt seien, oder mit denselben coexistent beobachtet wurden. Der Schluss, dass auf die Erscheinungen A und B überhaupt (also in allen, auch den nicht beobachteten Fällen!) die Erscheinung C folge, oder dass die hier in Rede stehenden Phänomene überhaupt coexistent seien, geht über die Erfahrung, über den Gesichtspunkt des strengen Empirismus hinaus; er ist vom Standpunkte der obigen Betrachtungsweise nicht streng verbürgt. Aristoteles hat dies richtig erkannt, indem er den streng wissenschaftlichen Charakter der Induction läugnete; aber selbst die von Bacon wesentlich vervollkommnete inductive Methode vermochte die Bürgschaften der Ausnahmslosigkeit der auf dem obigen Wege (der empirischen Induction!) gewonnenen Gesetze nur zu steigern, niemals aber die volle [36] Bürgschaft derselben zu bieten. Strenge (exacte) Gesetze der Erscheinungen vermögen niemals das Ergebniss der realistischen Richtung der theoretischen Forschung, und wäre sie die denkbar vollkommenste, die ihr zu Grunde liegende Beobachtung die umfassendste und kritischste, zu sein.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, zu welchen die obige, die empirisch- realistische Richtung der theoretischen Forschung zu führen vermag, können schon in Rücksicht auf die methodischen Voraussetzungen dieser letzteren nur doppelter Art sein :
a) Realtypen, Grundformen der realen Erscheinungen, innerhalb deren typischem Bilde indess ein mehr oder minder weiter Spielraum für Besonderheiten (auch für die Entwickelung der Phänomene!) gegeben ist, und
b) empirische Gesetze, theoretische Erkenntnisse, welche uns die factischen (indess keineswegs verbürgt ausnahmslosen Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und in der Coexistenz der realen Phänomene zum Bewusstsein bringen.
Ziehen wir aus dem Gesagten die Nutzanwendung für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, so gelangen wir zu dem Ergebnisse, dass, wofern diese letzteren in ihrer „vollen empirischen Wirklichkeit“ in Betracht gezogen werden, lediglich „Realtypen“ und „empirische Gesetze“ derselben erreichbar sind, von strengen (exacten) theoretischen Erkenntnissen überhaupt und von strengen Gesetzen (von sog. „Naturgesetzen“) derselben insbesondere aber unter der obigen Voraussetzung füglich nicht die Rede sein kann.
Was aber nicht minder hervorgehoben zu werden verdient, ist der Umstand, dass unter der nämlichen Voraussetzung das Gleiche auch von den Ergebnissen der theoretischen Forschung auf allen übrigen Gebieten der Erscheinungswelt gilt. [17]Auch die Naturerscheinungen bieten uns nämlich in ihrer [37] „ empirischen Wirklichkeit“ weder strenge Typen noch auch streng typische Relationen dar. Das reale Gold, der reale Sauerstoff und Wasserstoff, das reale Wasser -- von den complicirten Phänomenen der anorganischen oder gar der organischen Welt ganz zu schweigen – sind in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit weder streng typischer Natur noch auch vermögen bei der obigen Betrachtungsweise in Rücksicht auf dieselben exacte Gesetze beobachtet zu werden.
Nicht nur auf dem Gebiete der ethischen Welt, beziehungsweise der Volkswirthschaft, sondern auch auf jenem der Naturerscheinungen vermag die realistische Richtung der theoretischen Forschung nur zu „ Realtypen“ und „empirischen Gesetzen“ zu führen, und besteht in der obigen Rücksicht jedenfalls kein essentieller, sondern höchstens ein gradu eller Unterschied zwischen den ethischen und den Naturwissenschaften; die realistische Richtung der theoretischen Forschung schliesst vielmehr die Möglichkeit, zu strengen (exacten) theoretischen Erkenntnissen zu gelangen, auf allen Gebieten der Erscheinungswelt in principieller Weise aus.
Gäbe es nun nur die eine, die eben gekennzeichnete Richtung der theoretischen Forschung, oder wäre dieselbe, wie die Volkswirthe der „historischen Richtung“ in der That zu glauben scheinen, die einzig berechtigte, so wäre damit die Möglichkeit beziehungsweise die Berechtigung jeder auf exacte Theorien der Erscheinungen hinzielenden Forschung von vornherein ausgeschlossen. Nicht nur auf dem Gebiete der ethischen Erscheinungen überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere, sondern auch auf allen anderen Gebieten der Erscheinungswelt wäre dem obigen Streben von vorn herein .jeder Erfolg abgesprochen,
Dass die obige Voraussetzung auf dem Gebiete der Naturerscheinungen hinfällig ist, bedarf kaum der Bemerkung; [38] dass auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen überhauptund der Volkswirthschaft insbesondere das Gleiche der Fall ist und die Meinung unserer historischen Nationalökonomen, die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschungsei auf dem Gebiete der Volkswirthschaft die allein berechtigte, mit allen ihren Consequenzen demnach eine Einseitigkeit in sich schliesst, dies darzulegen wird die Aufgabe der nachfolgenden Untersuchungen sein.
Die realistisch - empirische Richtung der theoretischen Forschung bietet uns, wie wir sahen, auf allen Gebieten der Erscheinungswelt Ergebnisse dar, welche, so wichtig und werthvoll für die menschliche Erkenntniss und das praktische Leben sie auch immer sein mögen, formal unvollkommen sind, Theorien, welche uns ein nur mangelhaftes Verständniss, eine nur ungewisse Voraussicht und eine nicht durchwegs gesicherte Beherrschung der Phänomene gewähren. Seit jeher hat denn auch der Menschengeist neben der obigen Richtung der theoretischen Forschung eine andere verfolgt, verschieden von der ersteren sowohl in ihren Zielen, als auch in ihren Erkenntnisswegen.
Das Ziel dieser Richtung, welche wir in Zukunft die exacte nennen werden, ein Ziel, welches die Forschung gleicher Weise auf allen Gebieten der Erscheinungswelt verfolgt, ist die Feststellung von strengen Gesetzen der Erscheinungen, von Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge der Phänomene, welche sich uns nicht nur als ausnahmslos darstellen, sondern mit Rücksicht auf die Erkenntnisswege, auf welchen wir zu denselben gelangen, geradezu die Bürgschaft der Ausnahmslosigkeit in sich tragen, von Gesetzen der Erscheinungen, welche gemeiniglich „Naturgesetze“ genannt werden, viel richtiger indess mit dem Ausdrucke: „ exacte Gesetze“ bezeichnet werden würden. [18]
Die Natur der auf das obige Ziel gerichteten Forscherthätigkeit [39] überhaupt und jener auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere wird sofort aus den nachfolgenden Untersuchungen klar werden.
Die einzige Erkenntnissregel für die Erforschung [40] theoretischer Wahrheiten, welche nicht nur, soweit dies überhaupt erreichbar ist, durch die Erfahrung, sondern geradezu durch unsere Denkgesetze in unzweifelhafter Weise beglaubigt wird und für die exacte Richtung der theoretischen Forschung demnach die fundamentalste Bedeutung aufweist, ist der Satz, dass, was immer auch nur in Einem Falle beobachtet wurde, unter genau den nämlichen thatsächlichen Bedingungen stets wieder zur zur Erscheinung gelangen müsse, oder, was dem Wesen nach das Nämliche ist, dass auf streng typische Erscheinungen bestimmter Art unter den nämlichen Umständen stets, und zwar in Rücksicht auf unsere Denkgesetze geradezu nothwendig, streng typische Erscheinungen eben so bestimmter anderer Art folgen müssen. Auf die Erscheinungen A und B muss unter gleichen Verhältnissen stets das streng typische Phänomen C folgen, wofern A und B streng typisch gedacht sind und die hier in Rede stehende Erscheinungsfolge auch nur in einem einzigen Falle beobachtet wurde. Diese Regel gilt nicht nur vom Wesen, sondern auch vom Masse der Erscheinungen, und die Erfahrung bietet uns von derselben nicht nur keine Ausnahme dar, eine solche erscheint dem kritischen Verstande vielmehr geradezu undenkbar.
Eine weitere für die exacte Richtung der theoretischen Forschung gleichfalls in hohem Masse bedeutungsvolle Erkenntnissregel, der Satz, dass ein Umstand, welcher auch pur in einem Falle in Rücksicht auf eine Erscheinungsfolge als irrelevant erkannt wurde, unter genau den nämlichen thatsächlichen Bedingungen, in Rücksicht auf den nämlichen Erfolg, stets und nothwendig sich als irrelevant erweisen werde, ist nur ein Correlat des obigen Satzes.
Wenn demnach exacte Gesetze überhaupt erreichbar sind, so ist es klar, dass dieselben nicht unter dem Gesichtspunkte des empirischen Realismus, sondern nur in der Weise gewonnen werden können, dass die theoretische Forschung den Voraussetzungen der obigen Erkenntnissregel Genüge leiste.
Der Weg, auf welchem die theoretische Forschung zu dem obigen Ziele gelangt, ein Weg, wesentlich verschieden [41] von Bacon's empirisch - realistischer Induction, ist aber der folgende: Sie sucht die einfachsten Elemente alles Realen zu ergründen, Elemente, welche, eben weil sie die einfachsten sind, streng typisch gedacht werden müssen. Sie strebt nach der Feststellung dieser Elemente auf dem Wege einer nur zum Theile empirisch - realistischen Analyse, d. i. ohne Rücksicht darauf, ob dieselben in der Wirklichkeit als selbständige Erscheinungen vorhanden, ja selbst ohne Rücksicht darauf. ob sie in ihrer vollen Reinheit überhaupt selbständig darstellbar sind. Auf diese Weise gelangt die theoretische Forschung zu qualitativ streng typischen Erscheinungsformen, zu Ergebnissen der theoretischen Forschung, welche allerdings nicht an der vollen empirischen Wirklichkeit geprüft werden dürfen (denn die hier in Rede stehenden Erscheinungsformen z. B. absolut-reiner Sauerstoff, eben solcher Alkohol, eben solches Gold, ein absolut nur wirthschaftliche Zwecke verfolgender Mensch u. s. f. bestehen zum Theile nur in unserer Idee), indess der specifischen Aufgabe der exacten Richtung der theoretischen Forschung entsprechen, die nothwendige Grundlage und Voraussetzung für die Gewinnung exacter Gesetze sind.
In ähnlicher Weise löst die exacte Forschung die zweite Aufgabe der theoretischen Wissenschaften: die Feststellung der typischen Relationen, der Gesetze der Erscheinungen. Das specifische Ziel dieser Richtung der theoretischen Forschung ist die Feststellung von Regelmässigkeiten in den Relationen der Erscheinungen, welche ausnahmslos und als solche vollständig verbürgt sind. Dass Gesetze dieser Art in Rücksicht auf die volle empirische Wirklichkeit der Erscheinungen, und zwar wegen des nicht streng typischen Wesens der realen Phänomene, nicht erreichbar sind, haben wir bereits dargelegt. Die exacte Wissenschaft untersucht demnach auch nicht die Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge u. s. f. der realen Phänomene, sie untersucht vielmehr, wie aus den vorhin erwähnten, den einfachsten, zum Theile geradezu unempirischen Elementen der realen Welt in ihrer (gleichfalls unempirischen Isolirung von allen sonstigen Einflüssen [42] sich complicirtere Phänomene entwickeln, mit steter Berücksichtigung des exacten (gleichfalls idealen!) Masses. Sie thut dies ohne Rücksicht darauf, ob jene einfachsten Elemente, beziehungsweise die betreffenden Complicationen derselben, in der von menschlicher Kunst unbeeinflussten Wirklichkeit thatsächlich zu beobachten, ja ob dieselben in ihrer vollen Reinheit überhaupt darstellbar sind; sie ist sich hiebei auch bewusst, dass ein vollkommen exactes Mass in der Wirklichkeit nicht möglich ist. Sie geht indess von diesen Annahmen aus, da sie in anderer Weise das Ziel der exacten Forschung, die Feststellung strenger Gesetze, niemals zu erreichen vermöchte, während sie bei der Annahme streng typischer Elemente, eines exacten Masses derselben und ihrer vollständigen Isolirung von allen sonstigen verursachenden Factoren, allerdings und zwar auf der Grundlage der von uns oben gekennzeichneten Erkenntnissregeln zu Gesetzen der Erscheinungen gelangt, welche nicht nur ausnahmslos sind, sondern nach unseren Denkgesetzen schlechthin gar nicht anders als ausnahmslos gedacht werden können – d. i. zu exacten Gesetzen, zu sogenannten „Naturgesetzen“ der Erscheinungen.
Der Umstand, dass gewisse Differenzen der Phänomene (Abweichungen von ihrem streng typischen Charakter) in Rücksicht auf bestimmte Erfolge als irrelevant erscheinen (z. B. die verschiedene Farbe, der verschiedene Geschmack der Körper in Rücksicht auf ihre Schwere, die nämlichen und zahlreiche andere Differenzen auf ihre Zahlenverhältnisse u. s. f.), gestattet eine unvergleichliche Ausdehnung der exacten Forschung über zahlreiche Gebiete der Erscheinungswelt.
So gelangen wir zu einer Reihe von Wissenschaften, welche uns strenge Typen und typische Relationen (exacte Gesetze) der Erscheinungen und zwar nicht nur rücksichtlich ihres Wesens, sondern auch ihres Mass es lehren, zu Wissenschaften - von welchen keine einzelne uns die volle empirische Wirklichkeit, sondern nur besondere Seiten derselben verstehen lehrt und desshalb auch vernünftigerweise nicht unter dem Gesichtspunkte des einseitigen empirischen [43] Realismus beurtheilt werden darf, deren Gesammtheit uns indess ein ebenso eigenartiges als tiefes Verständniss der realen Welt vermittelt. [19]
Auch auf dem Gebiete der ethischen Welt hat die obige Richtung der theoretischen Forschung seit jeher hervorragende Vertreter gefunden, welche, wenn auch ohne volle Klarheit über die bezüglichen erkenntnisstheoretischen Probleme, die hier in Rede stehende Richtung des Erkenntnissstrebens eifrig verfolgt, ja ihr bereits die der eigenthümlichen Natur der ethischen Erscheinungen entsprechende Form gegeben haben.
Das Wesen dieser, der exacten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der ethischen Erscheinungen besteht aber darin, dass wir die Menschheitsphänomene auf ihre ursprünglichsten und einfachsten constitutiven Factoren zurückführen, an diese letzteren das ihrer Natur entsprechende Mass legen und endlich die Gesetze zu erforschen suchen, nach welchen sich aus jenen einfachsten Elementen, in ihrer Isolirung gedacht, complicirtere Menschheitsphänomene gestalten.
Ob die einzelnen constitutiven Factoren der Menschheitserscheinungen, in ihrer Isolirung gedacht, real, ob dieselben in der Wirklichkeit exact messbar sind, ob jene Complicationen, hei welchen (entsprechend der Natur der exacten Forschung) von der Einwirkung mannigfacher Factoren des realen Menschenlebens abstrahirt werden muss, thatsächlich zur Erscheinung gelangen: all dies ist für die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen nicht minder irrelevant, als auf jenem der Natur, und nur der völlige Mangel an Verständniss für die exacte Richtung der theoretischen Forschung überhaupt [44] vermag an die Ergebnisse der letzteren den Massstab der Postulate der empirisch - realistischen Richtung der theoretischen Forschung zu legen.
Indem wir diese Richtung der Forschung verfolgen, gelangen wir zu einer Reihe von Socialtheorien, deren jede einzelne uns allerdings nur das Verständniss einer besonderen Seite der Erscheinungen menschlicher Thätigkeit eröffnet (von der vollen empirischen Wirklichkeit abstrahirt), deren Gesammtheit uns indess, wenn die der obigen Richtung der Forschung entsprechenden Theorien dereinst erkannt sein werden, die Menschheitserscheinungen in ähnlicher Weise verstehen lehren wird, wie jene theoretischen Wissenschaften, welche das Ergebniss einer analogen Betrachtung der Naturerscheinungen sind, uns das Verständniss dieser letzteren eröffnet haben. Nicht eine einzelne Theorie der Menschheitserscheinungen, nur die Gesammtheit derselben wird uns, wenn sie dereinst erforscht sein werden, in Verbindung mit den Ergebnissen der realistischen Richtung der theoretischen Forschung, das tiefste dem Menschengeist erreichbare theoretische Verständniss der Socialerscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit eröffnen, und so ferne auch, mit Rücksicht auf den zurückgebliebenen Zustand der theoretischen Socialwissenschaften, die Verwirklichung des obigen Gedankens sein mag – es giebt keinen anderen Weg zur Erreichung des grossen Zieles.
Was speciell die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Wirthschaftsphänomene betrifft, so ist ihre allgemeine Natur durch die Postulate der exacten Forschung, ihre besondere Natur durch die Besonderheit des Gebietes von Erscheinungen gegeben, welches zu bearbeiten ihre Aufgabe ist. Unter Wirth schaft verstehen wir die auf die Deckung ihres Güterbedarfes gerichtete vorsorgliche Thätigkeit der Menschen, unter Volkswirth schaft die gesellschaftliche Form derselben. [20] Die Aufgabe der obigen Richtung der Forschung kann somit keine andere sein, als [45] die Erforschung der ursprünglichsten, der elementarsten Factoren der menschlichen Wirthschaft, die Feststellung des Masses der bezüglichen Phänomene und die Erforschung der Gesetze, nach welchen complicirtere Erscheinungsformen der menschlichen Wirthschaft sich aus jenen einfachsten Elementen entwickeln. [21]
Die ursprünglichsten Factoren der menschlichen Wirthschaft sind die Bedürfnisse, die den Menschen unmittelbar von der Natur dargebotenen Güter (sowohl die bezüglichen Genussals Productionsmittel) und das Streben nach möglichst vollständiger Befriedigung der Bedürfnisse (nach möglichst vollständiger Deckung des Güterbedarfes). Alle diese Factoren sind in letzter Linie unabhängig von der menschlichen Willkür, durch die jeweilige Sachlage gegeben: der Ausgangspunkt und der Zielpunkt aller Wirthschaft (Bedarf und verfügbare Güterquantität einerseits und die erreichbare Vollständigkeit der Deckung des Güterbedarfs andererseits) sind in letzter Linie den wirthschaftenden Menschen gegeben, rücksichtlich ihres Wesens und ihres Masses streng determinirt. [22]Die exacte Richtung der theoretischen Forschung soll uns nun die Gesetze lehren, nach welchen auf Grund dieser so gegebenen Sachlage sich aus den obigen, den elementarsten Factoren der menschlichen Wirthschaft, in ihrer Isolirung von anderen auf die realen Menschheitserscheinungen Einfluss nehmenden Factoren, nicht das reale Leben in seiner Totalität, sondern die complicirteren Phänomene der menschlichen Wirthschaft entwickeln; sie soll uns dies lehren nicht nur rücksichtlich des Wesens, sondern auch rücksichtlich des Masses der obigen Phänomene, und uns solcherart ein Verständniss der letzteren eröffnen, dessen Bedeutung jenem analog ist, welches die exacten Naturwissenschaften uns rücksichtlich der Naturerscheinungen bieten.
[46]
Indem wir hier auf die Natur und die Bedeutung der exacten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen überhaupt und auf jenem der Volkswirthschaft insbesondere hinweisen und damit dem einseitigen Realismus in den Socialwissenschaften entgegentreten, sind wir allerdings weit davon entfernt, Nutzen und Bedeutung der realistischen Richtung zu läugnen oder auch nur gering zu schätzen und solcherart in die entgegengesetzte Einseitigkeit zu verfallen. Der Vorwurf dieser letzteren trifft aber alle jene, welche, in einseitiger Verfolgung der exacten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, die Feststellung empirischer Gesetze der letzteren für werthlos, oder das Streben nach solchen aus irgend welchen methodischen Gründen für unstatthaft halten. Mag man nämlich noch so rückhaltslos zugestehen, dass die Menschen in wirthschaftlichen Dingen weder ausschliesslich von einer einzelnen bestimmten Tendenz, in unserem Falle von ihrem Egoismus geleitet, noch auch von Irrthum, Unkenntniss und äusserem Zwang unbeeinflusst sind, und dass demnach die Ergebnisse der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft keine volle Strenge aufzuweisen vermögen: so folgt daraus doch keineswegs, dass auf dem hier in Rede stehenden Gebiete der Erscheinungswelt unter dem realistischen Gesichtspunkte überhaupt nicht Regelmässigkeiten in dem Wesen und Zusammenhange der Erscheinungen beobachtet werden können, oder die Feststellung derselben nicht von hoher Be* deutung für das Verständniss der Volkswirthschaft, die Voraussicht und die Beherrschung ihrer Phänomene sei. Im Gegentheile, wohin immer wir auch unsere Blicke wenden, das wirthschaftliche Leben bietet uns Regelmässigkeiten in den Erscheinungsformen sowohl, als in der Coëxistenz und in der Aufeinanderfolge der Phänomene dar, eine Thatsache, welche wohl auf den Umstand zurückgeführt werden muss, dass die Menschen in ihren wirthschaftlichen Bestrebungen, wenn auch nicht ausschliesslich und ausnahmslos, so doch vorwiegend und regelmässig von ihren individuellen Interessen geleitet werden [47] und diese letzteren, wenn auch nicht in allen Fällen und durchaus, so doch der Hauptsache nach und regelmässig richtig erkennen. Die realen Erscheinungen der Volkswirthschaft bieten uns thatsächlich Typen und typische Relationen dar, reale Regelmässigkeiten in der Wiederkehr bestimmter Erscheinungsformen, reale Regelmässigkeiten in der Coexistenz und Aufeinanderfolge, welche zwar keineswegs von ausnahmsloser Strenge sind, welche festzustellen jedoch unter allen Umständen die Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie und speciell der realistischen Richtung derselben ist.
Sowohl die exacte als auch die realistische Richtung der theoretischen Forschung sind demnach berechtigt; beide sind Mittel zum Verständnisse, zur Voraussicht und zur Beherrschung der Phänomene der Volkswirthschaft, zu welchen Zwecken jede derselben in ihrer Weise beiträgt; wer aber Berechtigung und Nutzen der einen oder der anderen negirt, ist einem Naturforscher vergleichbar, welcher in einseitiger Werthschätzung der Physiologie, etwa unter dem Vorgeben, dass die Chemie und Physik sich auf Abstractionen stützen, die Berechtigung dieser letzteren, beziehungsweise ihre Bedeutung als Vittel für das Verständniss der organischen Gebilde läugnen würde, oder aber umgekehrt einem Physiker oder Chemiker, welcher der Physiologie, weil ihre Gesetze zumeist nur , empirische“ sind, den Charakter einer Wissenschaft absprechen wollte. Wenn analoge Lehrmeinungen auf dem Gebiete der theoretischen Socialwissenschaften aber nicht nur möglich sind, sondern von einflussreichen Gelehrtenschulen als grundlegende, ja geradezu als epochemachende Wahrheiten verkündet werden, so liegt hierin wohl der beste Beleg für den unvollkommenen Zustand der obigen Wissenschaften und eine Mahnung an ihre Bearbeiter, über die erkenntniss-theoretischen Grundlagen ihrer wissenschaftlichen Bestrebungen ernstlich mit sich zu Rathe zu gehen.
Dass das Wesen und die Bedeutung der exacten Richtung der Forschung in der neueren nationalökonomischen Literatur vollständig verkannt wird, bedarf kaum der Bemerkung. [48] Noch gilt in der deutschen Nationalökonomie, zum mindesten in der historischen Schule, die Kunst abstracten Denkens, und wäre das letztere auch in noch so hohem Masse durch Tiefe und Originalität ausgezeichnet und stützte es sich noch so sehr auf eine breite empirische Grundlage – kurz alles, was in den anderen theoretischen Wissenschaften den höchsten Ruhm der Forscher begründet, neben den Producten compilatorischen Fleisses, für etwas Nebensächliches, fast für ein Stigma. Die Macht der Wahrheit wird sich indess schliesslich auch an jenen erproben, welche, im Gefühle ihrer Unfähigkeit zur Lösung der höchsten Aufgaben der Socialwissenschaften, ihre eigene Unzulänglichkeit zum Massstabe für den Werth wissenschaftlicher Leistungen überhaupt erheben möchten.
[49]
Das Gemeinsame der beiden obigen Richtungen der Forschung und ihre Verschiedenheit. – Warum die Ergebnisse derselben in der wissenschaftlichen Darstellung gemeiniglich nicht getrennt behandelt werden? – Dass die beiden Richtungen der Forschung sich nicht auf verschiedene Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen beziehen, sondern jede derselben im Principe uns die ganze Volkswirthschaft unter den ihr eigenthümlichen Gesichtspunkten zum Verständnisse zu bringen sucht. – Warum die exacte Richtung vorwiegend das Verständniss der elementareren, die empirisch-realistische jenes der complicirteren Phänomene der Volkswirthschaft anzustreben pflegt? – Ueber eine diesbezügliche Meinung Auguste Comte's und J. St. Mill's. – Verhältniss, in welchem die Bürgschaften für die Wahrheit der Ergebnisse beider Richtungen zu einander stehen. – Irrthum, dass die Ergebnisse der exacten Richtung der theoretischen Forschung in den Ergebnissen der realistisch-empirischen Richtung ihren Prüfstein finden. – Beispiele, durch welche das Verhältniss zwischen der Natur und den Bürgschaften der Ergebnisse beider Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in ein helleres Licht gestellt wird.
Wir möchten unsere Untersuchungen über das Wesen der beiden obigen Grundrichtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der ethischen Erscheinungen nicht schliessen, 0hne mit einigen Worten noch des Verhältnisses zu gedenken, in welchem dieselben, beziehungsweise ihre Ergebnisse, zu einander stehen. Es geschieht dies aber nicht nur um des [50] Interesses willen, welches die hier einschlägigen Fragen an sich für die Methodik unserer Wissenschaft haben, sondern auch aus dem Grunde, um einigen nahe liegenden Missverständnissen der im vorigen Abschnitt vorgetragenen Lehren von vornherein vorzubeugen.
Die Ergebnisse der exacten und jene der realistischen Richtung der theoretischen Forschung haben gemeinsam, dass sie uns das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der Erscheinungen lehren; im übrigen weisen dieselben jedoch, was ihre formale Natur betrifft, wie wir sahen, auch nicht unwesentliche Verschiedenheiten auf. In der wissenschaftlichen Darstellung werden indess die exacten und realistischen Erkenntnisse nur selten getrennt behandelt.
Der Grund hiervon ist ein wesentlich praktischer. Die theoretischen Wissenschaften sollen uns das Verständniss, eine über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntniss und eine gewisse Voraussicht der Phänomene verschaffen, lauter Aufgaben, deren Lösung, wenn auch in verschiedenem Sinne, sowohl durch die Ergebnisse der exacten, als auch durch jene der realistischen Richtung der theoretischen Forschung gefördert wird. Bei dieser Sachlage entspricht es dem praktischen Bedürfnisse, die sämmtlichen auf ein Gebiet der Erscheinungswelt (z. B. auf die Volkswirthschaft) und, innerhalb eines solchen, alle auf eine bestimmte Materie (z. B. den Werth, den Güterpreis, das Geld u. s. f) bezüglichen theoretischen Erkenntnisse, die realistischen sowohl als die exacten, in der Darstellung zusammen zu fassen, und so bieten uns denn die theoretischen Wissenschaften zumeist in der That das Bild einer, Erkenntnisse von theilweise verschiedener formaler Natur, combinirenden Darstellung. Die Physik und die Chemie z. B., ihren Grundlagen nach exacte Wissenschaften, schliessen doch die Aufnahme einzelner nur in empirischer Weise gewonnener Erkenntnisse keineswegs aus, während die Physiologie, ihrer Grundanlage nach ein Ergebniss realistischer Forschung, ihrerseits wiederum nicht nur realistische, sondern auch zahlreiche exacte Erkenntnisse in den Kreis ihrer DarStellung zieht. Aehnlich verhält es sich mit der theoretischen [51] Nationalökonomie. Auch diese umfasst sowohl die exacten, als die realistischen Ergebnisse der theoretischen Forschung, und steht auch, wie selbstverständlich, kein principielles Hinderniss einer getrennten Darstellung der beiden obigen Gruppen von theoretischen Erkenntnissen entgegen, lässt sich vielmehr eine solche rücksichtlich der exacten Ergebnisse der Forschung (eine exacte Nationalökonomie), eine andere rücksichtlich der bezüglichen realistischen Erkenntnisse überhaupt und der Gesetze der geschichtlichen Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene, der Gesetze der grossen Zahlen u. s. f. insbesondere denken: so spricht doch das oben hervorgehobene praktische Interesse so sehr für eine zusammenfassende Darstellung aller auf bestimmte Materien der Volkswirthschaft bezüglichen theoretischen Wahrheiten, dass eine Solche in universellen Darstellungen der theoretischen NationalÖkonomie denn auch thatsächlich überall mehr oder minder in Aufnahme gekommen ist. Beispielsweise werden in der Lehre vom Preise nicht nur die Ergebnisse der exacten, auf die obige Materie bezüglichen Forschung, sondern zumeist auch die hier einschlägigen empirischen Gesetze überhaupt und die bezüglichen Entwickelungsgesetze, die bezüglichen Gesetze der grossen Zahlen u. s. f. insbesondere in zusammenfassender Darstellung behandelt.
Indem die Erkenntnisse der exacten und der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in der Darstellung zusammengefasst werden, folgen die nationalökonomischen Schriftsteller indess, wie gesagt, nur praktischen Rücksichten, ohne dass, wie selbstverständlich, die eigenthümliche formale Natur der bezüglichen Erkenntnisse hierdurch aufgehoben würde.
Dies alles berührt nur das äussere Verhältniss zwischen den exacten und den realistischen Ergebnissen der theoretischen Socialforschung. Es könnte indess auch die Frage nach dem inneren Verhältniss der exacten und der realistischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der Socialerscheinungen überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere entstehen, und hier ist es ganz vorzugsweise, dass wir einigen verbreiteten [52] Irrthümern über die Natur dieses Verhältnisses entgegentreten möchten.
In der theoretischen Nationalökonomie, wie in den theoretischen Wissenschaften überhaupt, sind die exacten und die realistischen Erkenntnisse das Ergebniss einer in gewissen Rücksichten verschiedenen Richtung der theoretischen Forschung, und weisen demnach in formaler Beziehung mancherlei Verschiedenheiten auf. Das Gebiet der Forschung ist indess beiden Richtungen gemeinsam und umfasst in jedem Falle die gesammte Volkswirthschaft. Sowohl die exacte, als auch die realistische Richtung der theoretischen Forschung, haben die Tendenz, uns alle Phänomene der Volkswirthschaft in ihrer Weise zum theoretischen Verständniss zu bringen.
Die beiden obigen Richtungen der Forschung ergänzen sich demnach keineswegs etwa in der Art, dass sie uns das Verständniss verschiedener Gebiete der Volkswirthschaft eröffnen; die Funktion jeder derselben besteht vielmehr darin, uns das gesammte Gebiet der volkswirthschaftlichen Erscheinungen in der ihr eigenthümlichen Weise zum Verständniss zu bringen. Nur wo die eine oder die andere Richtung, sei es nun wegen der mangelhaften objectiven Voraussetzungen oder aus Gründen, welche in der Technik der Forschung liegen, zu keinerlei Ergebnissen gelangt, nur dort, und in so lange, als dies Verhältniss besteht, herrscht auf bestimmten Gebieten der Volkswirthschaft die eine oder die andere Richtung der Forschung vor.
Je complicirter ein Gebiet von Erscheinungen ist, um so schwieriger und umfassender die Aufgabe, die bezüglichen Phänomene auf ihre einfachsten Elemente zurück zu führen und den Process zu erforschen, durch welchen die ersteren sich aus den letzteren gesetzmässig aufbauen, um so schwieriger ein volles und befriedigendes Ergebniss exacter Forschung. So wird denn auch der Umstand erklärlich, dass, gleichwie in den Naturwissenschaften, so auch auf dem Gebiete der Socialforschung uns rücksichtlich der complicirten Erscheinungen Zumeist nur empirische Gesetze vorliegen, während rücksichtlich der minder complicirten Phänomene der Natur und des [53] Menschenlebens das exacte Verständniss eine vorwiegende Bedeutung erlangt. Daher auch die wohlbekannte Thatsache, dass, wo es sich um theoretische Erkenntnisse handelt, welche sich auf complicirtere Phänomene eines Erscheinungsgebietes beziehen, die realistische, rücksichtlich minder complicirter Phänomene dagegen die exacte Richtung der Forschung Vorherrschend zu sein pflegt. Im Princip jedoch sind beide Richtungen der Forschung nicht nur allen Gebieten der Erscheinungswelt, sondern auch allen Stufen der Complication der Phänomene adäquat. Wenn ein so ausgezeichneter Denker, wie Aug. Comte, die Forderung aufstellt, dass die Socialwissenschaften ihre Gesetze auf empirischem Wege finden, und hierauf aus den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur beglaubigen mögen, und wenn J. St. Mill dieser Methode, welche er die umgekehrt deductive nennt, eine geradezu entscheidende Bedeutung für die Socialforschung beimisst, so liegt diesen Anschauungen in letzter Linie offenbar die unklare Empfindung der oben dargelegten Thatsache zu Grunde.
Noch eine andere Frage vermag an dieser Stelle unser Interesse in Anspruch zu nehmen, die Frage nach dem Verhältniss, in welchem die Bürgschaften für die Wahrheit der exacten und realistischen Ergebnisse der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu einander stehen; dieselbe ist aber desswegen von Wichtigkeit, weil die namentlich unter den deutschen Volkswirthen vielfach zu Tage tretende Unterschätzung der „exacten Nationalökonomie“ vornehmlich auf der Verkennung der wahren Natur des obigen Verhältnisses beruht.
Es ist unter den Volkswirthen vielfach die Meinung verbreitet, dass die empirischen Gesetze, „weil auf der Erfahrung beruhend“, höhere Bürgschaften der Wahrheit bieten, als die, wie angenommen wird, doch nur auf dem Wege der Deduction aus apriorischen Axiomen gewonnenen Ergebnisse der exacten Forschung, und demnach im Falle eines Widerspruches zwischen beiden Gruppen wissenschaftlicher Erkenntnisse die letzteren durch die ersteren modificirt und berichtigt werden müssten. Die exacte Forschung erscheint solcherart als methodisch [54] untergeordneter, der Realismus dagegen als der höher verbürgte Erkenntnissweg, eine Auffassung, welche, wie kaum bemerkt zu werden braucht, die Stellung der exacten Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie in empfindlichster Weise tangirt, ja geradezu die Negation des selbständigen Werthes derselben in sich schliesst.
Der Irrthum, welcher der obigen Anschauung zu Grunde liegt, beruht in der Verkennung des Wesens der exacten Richtung der theoretischen Forschung, ihres Verhältnisses zu der realistischen, und in der Uebertragung der Gesichtspunkte der letzteren in die erstere.
Nichts ist so sicher, als dass die Ergebnisse der exacten Richtung der theoretischen Forschung, mit dem Massstabe des Realismus gemessen, gleichwie auf allen übrigen Gebieten der Erscheinungswelt, so auch auf jenem der Volkswirthschaft als unzureichend und unempirisch erscheinen. Dies ist indess selbstverständlich, indem die Ergebnisse der exacten Forschung, und zwar auf allen Gebieten der Erscheinungswelt, nur unter bestimmten Voraussetzungen wahr sind, unter Voraussetzungen, welche in der Wirklichkeit nicht immer zutreffen. Die Prüfung der exacten Theorie der Volkswirthschaft an der vollen Empirie ist eben ein methodischer Widersinn, eine Verkennung der Grundlagen und Voraussetzungen der exacten Forschung, zugleich aber auch eine solche der besondern Zwecke, welchen die exacten Wissenschaften dienen. Die reine Theorie der Volkswirthschaft an der Erfahrung in ihrer vollen Wirklichkeit erproben zu wollen, ist ein Vorgang, analog jenem eines Mathematikers, welcher die Grundsätze der Geometrie durch Messungen realer Objecte berichtigen wollte, ohne zu bedenken, dass diese letzteren ja mit den Grössen, welche die reine Geometrie supponirt, nicht identisch sind, auch jede Messung nothwendig Elemente der Ungenauigkeit in sich schliesst. Der Realismus in der theoretischen Forschung ist gegenüber der exacten Richtung der letztern nicht etwas höheres, sondern etwas verschiedenes.
In einem wesentlich andern Verhältnisse zur Empirie, als die Ergebnisse der exacten Forschung, stehen jene der realistischen [55] Richtung. Diese letzteren beruhen allerdings auf der Beobachtung der Erscheinungen in ihrer „empirischen Wirklichkeit“ und Complication und der Prüfstein ihrer Wahrheit ist demnach allerdings die Empirie. Ein empirisches Gesetz entbehrt von vornherein, d. i. schon seinen methodischen Voraussetzungen nach, der Bürgschaften ausnahmsloser Geltung, es constatirt gewisse, keineswegs nothwendiger Weise ausnahmslose Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und Coexistenz der Erscheinungen. Aber dies festgehalten, muss es mit der vollen empirischen Wirklichkeit, aus deren Betrachtung es gewonnen wurde, übereinstimmen, sonst ist es unwahr und werthlos. Diesen Grundsatz auf die Ergebnisse der exacten Forschung übertragen zu wollen, ist aber ein Widersinn, eine Verkennung jenes wichtigen Unterschiedes zwischen exacter und realistischer Forschung, die zu bekämpfen die Hauptaufgabe der vorangehenden Untersuchungen ist.
Indem wir dies constatiren, sind wir fern davon, zu leugnen, dass es höchst wünschenswerth wäre, wenn wir exacte Erkenntnisse zu gewinnen vermöchten, welche zugleich mit der vollen empirischen Wirklichkeit, im hier entscheidenden Sinne, übereinstimmen, oder, was dem Wesen nach das nämliche ist, empirische Erkenntnisse, welche zugleich die Vorzüge exacter Erkenntnisse aufweisen würden. Die menschliche Erkenntniss, die Voraussicht und die Beherrschung der Phänomene würden hierdurch wesentlich gefördert und vereinfacht werden. Was wir hier klar zu machen suchen, ist indess, dass dies unter den factischen Verhältnissen, welche die Welt realer Erscheinungen regelmässig darbietet, unerreichbar ist.
Da es sich hier um einen unter den deutschen Nationalökonomen tief eingewurzelten Irrthum und zugleich um einen Gegenstand handelt, über welchen auch in den erkenntnisstheoretischen Untersuchungen der besten fremdländischen Schriftsteller vielfach Unklarheit besteht, so soll das Verhältmiss zwischen den Ergebnissen exacter und realistischer Forschung auf dem Gebiete unserer Wissenschaft durch ein BeiSpiel beleuchtet werden, und zwar durch ein solches, welches [56] zugleich die Ursachen der Verwirrung, welche in obiger Rücksicht herrscht, erklären wird.
Die exacte Forschung auf dem Gebiete der Preiserscheinungen lehrt uns z. B., dass die in einem bestimmten Verkehrsgebiete hervortretende Steigerung des Bedarfes nach einer Waare (sei es nun, dass dieselbe die Folge einer Bevölkerungsvermehrung, oder der grösseren Intensität ist, in welcher das Bedürfniss nach der bezüglichen Waare bei den einzelnen wirthschaftenden Subjecten auftritt) unter gewissen Voraussetzungen zu einer dem Masse nach genau bestimmbaren Steigerung der Preise führe. [23]Diese Voraussetzungen, welche sich aus jeder geordneten Darstellung der theoretischen Nationalökonomie von selbst ergeben, sind: 1) dass alle hier in Betracht kommenden wirthschaftenden Subjecte ihr ökonomisches Interesse vollständig wahrzunehmen bestrebt sind, 2) dass dieselben im Preiskampfe, sowohl über das bei demselben ökonomisch zu verfolgende Ziel, als auch über die hier einschlägigen Mittel zur Erreichung desselben sich nicht im Irrthume befinden, 3) dass ihnen die ökonomische Sachlage, soweit sie auf die Preisbildung von Einfluss ist, nicht unbekannt sei, 4) dass kein die ökonomische Freiheit derselben (die Verfolgung ihrer ökonomischen Interessen) beeinträchtigender äusserer Zwang auf sie geübt wird.
Dass die obigen Voraussetzungen in der realen Wirthschaft nur in seltenen Fällen insgesammt zusammentreffen, und die realen Preise von den ökonomischen (den der ökonomischen Sachlage entsprechenden) demnach der Regel nach mehr oder minder abweichen, bedarf kaum der Bemerkung. Die Menschen sind in der Praxis der Wirthschaft nur . selten thatsächlich bestrebt, ihre ökonomischen Interessen vollständig wahr zu nehmen; Rücksichten mancherlei Art, vor allem Gleichgiltigkeit gegen ökonomische Interessen von geringerer Bedeutung, Wohlwollen gegen andere u. s. f. veranlassen sie, bei ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit ihr ökonomisches Interesse bisweilen überhaupt nicht, bisweilen nicht [57] vollständig wahrzunehmen. Dieselben befinden sich ferner über die ökonomischen Mittel zur Erreichung ihrer wirthschaftlichen Zwecke, ja nicht selten über diese letzteren selbst in Unklarheit und im Irrthume; auch ist die ökonomische Sachlage, auf deren Grundlage sie ihre wirthschaftliche Thätigkeit entwickeln, denselben oft genug nicht, oder doch nur unvollständig bekannt; endlich ist ihre ökonomische Freiheit nicht selten durch Verhältnisse verschiedener Art beeinträchtigt. Eine bestimmte ökonomische Sachlage fördert nur in den seltensten Fällen genau die ökonomischen Preise der Güter zu Tage; die realen Preise sind vielmehr von den ökonomischen mehr oder minder verschieden.
Ist dies aber richtig, so ist zugleich auch klar, dass in dem obigen typischen Falle die reale Steigerung des Bedarfes an einer Waare nicht nothwendig eine der so geänderten ökonomischen Sachlage genau entsprechende reale Steigerung, ja unter Umständen überhaupt keine Steigerung der Preise zur Folge haben wird. Das Gesetz, dass der erhöhte Bedarf an einer Waare eine Steigerung der Preise, und zwar dass ein bestimmtes Mass der Steigerung des Bedarfes auch eine ihrem Masse nach bestimmte Steigerung der Preise zur Folge habe, ist demnach, an der Wirklichkeit in ihrer vollen Complication geprüft, unwahr - unempirisch. Was beweist dies aber anders, als dass Ergebnisse der exacten Forschung an der Erfahrung im obigen Sinne eben nicht ihren Prüfstein finden? Das obige Gesetz ist trotz alledem wahr, durchaus wahr, und von der höchsten Bedeutung für das theoretische Verständniss der Preiserscheinungen, sobald man es nur anter dem der exacten Forschung adäquaten Gesichtspunkte betrachtet. Zieht man dasselbe unter dem Gesichtspunkte der realistischen Forschung in Betracht, dann gelangt man allerdings zu Widersprüchen; der Irrthum liegt indess in diesem Falle nicht in dem obigen Gesetze, sondern in der falschen Betrachtungsweise desselben.
Suchen wir nun das analoge Gesetz der Preiserscheinungen unter dem realistischen Gesichtspunkte der Betrachtung zu gewinnen, so bedarf es wohl für keinen in wirthschaftlichen [58] Dingen Erfahrenen der besondern Bemerkung, dass dasselbe jenem, welches das Ergebniss der exacten Forschung ist, scheinbar sehr ähnlich ist. Es ist eine allbekannte Beobachtung, dass die Erhöhung der Nachfrage nach einer Waare regelmässig (wenn auch nicht immer) eine Steigerung des Preises derselben zur Folge hat. Dieses „empirische“ Gesetz weist indess, trotz seiner äussern Aehnlichkeit, eine fundamentale Verschiedenheit von dem vorhin dargestellten auf, eine Verschiedenheit, die um so belehrender ist, als die äussere Aehnlichkeit der beiden hier in Rede stehenden Gesetze dieselbe bei flüchtiger Beobachtung nur allzu leicht übersehen lässt. Das exacte Gesetz besagt, dass, unter bestimmten Voraussetzungen, einer dem Masse nach bestimmten Steigerung des Bedarfes eine dem Masse nach genau bestimmte Steigerung der Preise folgen müsse; das empirische Gesetz: dass auf eine Steigerung des Bedarfes der Regel nach eine solche der realen Preise thatsächlich folge und zwar eine Steigerung, welche der Regel nach in einem gewissen, wenn auch keineswegs exact bestimmbaren Verhältnisse zur Steigerung des Bedarfes steht. Das erstere Gesetz gilt für alle Zeiten und Völker, welche einen Güterverkehr aufweisen; das letztere lässt selbst bei einem bestimmten Volke Ausnahmen zu und ist, was das Mass der Einwirkungen der Nachfrage auf die Preise anbetrifft, für jeden Markt leicht ein anderes, erst durch Beobachtung zu ermittelndes.
Wir haben oben nicht ohne Absicht ein Beispiel gewählt, in welchem ein exactes und ein empirisches Gesetz der Volkswirthschaft eine äussere Aehnlichkeit aufweisen, um eben an einem solchen den tief liegenden Unterschied zwischen den beiden hier in Rede stehenden Kategorien theoretischer Erkenntnisse darzulegen. Es wäre indess leicht zu zeigen, dass in zahllosen anderen Fällen die exacten und die analogen empirischen Gesetze auch schon in der äusseren Form Verschiedenheiten aufweisen, und es ist somit klar, dass dieselben mit einander keineswegs verwechselt, noch viel weniger aber unter den gleichen Gesichtspunkten geprüft werden dürfen.
Diejenigen, welche an die Ergebnisse der exacten Richtung [59] der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft den Masstab des empirischen Realismus und der theoretischen Ergebnisse dieses letzteren legen, übersehen den geradezu entscheidenden Umstand, dass die exacte Nationalökonomie, ihrer Natur nach, uns die Gesetze der Wirthschaftlichkeit, die empirisch-realistische Volkswirthschaftslehre dagegen die Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und Coexistenz der realen Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft (die in ihrer „vollen empirischen Wirklichkeit“ ja auch zahlreiche Elemente der Unwirthschaftlichkeit enthalten!) zum Bewusstsein zu bringen hat.
Den Prüfstein für die Bürgschaften der exacten Gesetze der Volkswirthschaft in ihrer Congruenz mit den empirischen Gesetzen der letzteren suchen zu wollen, bedeutet die Verkennung der elementarsten Grundsätze wissenschaftlicher Methodik. Ein solcher Vorgang wäre jenem eines Naturforschers vergleichbar, welcher an den empirischen Gesetzen der Naturerscheinungen die Gesetze der Physik, der Chemie und der Mechanik, oder etwa gar an den in ihrer Art jedenfalls höchst nützlichen Bauernregeln, wie man sie - in den für das Landvolk bestimmten Schriften findet, – desshalb, weil sie zumeist auf sehr alter Erfahrung begründet sind, – die Ergebnisse der eXacten Forschung eines Newton, Lavoisier oder Helmholtz prüfen und berichtigen wollte!
[60]
Dass die obige Anschauungsweise der Gesellschaftserscheinungen der Geschichtsforschung adäquat sei. – Dessgleichen der specifisch historischen Richtung der Jurisprudenz. – Dass die mechanische Uebertragung des obigen Gesichtspunktes auf die theoretischen Socialwissenschaften überhaupt, und die theoretische Volkswirthschaftslehre insbesondere, dagegen einen fundamentalen Irrthum in sich schliesse. – Ueber den obigen Gesichtspunkt in Rücksicht auf die exacte Richtung der theoretischen Forschung. – Dass derselbe der Idee exacter Theorien überhaupt, und jener einer exacten Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen insbesondere, widerstreite. – Ueber den obigen Gesichtspunkt in Rücksicht auf die empirisch-realistische Richtung der theoretischen Forschung. – Dass derselbe auch dieser letzteren nicht durchaus adäquat sei. – Dass selbst die denkbar realistischeste Richtung der theoretischen Forschung gewisser Abstractionen von der vollen empirischen Wirklichkeit nicht entbehren könne. – Dass die obige Ansicht in ihrer äussersten Consequenz zur Negation jeder Theorie der Volkswirthschaft und dazu führe, die Geschichtsschreibung als die einzig berechtigte Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft anzuerkennen.
Im engen Zusammenhange mit den in den vorangehenden Abschnitten dargelegten Irrthümern: der Verwechselung des historischen und des theoretischen Verständnisses der Socialerscheinungen einerseits, und der einseitigen Auffassung des theoretischen Problems der Socialwissenschaften als eines [61] ausschliesslich realistischen andererseits, steht eine Lehrmeinung, die mehr als irgend eine andere in der neueren deutschen Nationalökonomie zur herrschenden Geltung gelangt ist und nicht nur in den Schriften fast aller hervorragenderen zeitgenössischen Nationalökonomen der historischen Schule wiederkehrt, sondern eingestandenermassen geradezu den Charakter und die Richtung ihrer Forschung bestimmt.
Ich spreche hier von der Meinung jener, welche „die Erscheinungen der Volkswirthschaft nur in unzertrennbarem Zusammenhange mit der socialen und staatlichen Entwickelung der Völker verstanden“ wissen wollen [24]und „die Verselbstständigung des wirthschaftlichen Elementes, die Loslösung desselben aus dem Gesammtcomplexe des Volks- und Staatslebens dem Leben gegenüber als ungeschichtlich und unwirklich und darum als die Ursache irrthümlicher Resultate“ bezeichnen, sobald von jenem Standpunkte aus die volle Wahrheit des wirklichen Lebens durch die Wissenschaft reproducirt werden solle“. [25]
Die obige Ansicht [26]ist auf dem Gebiete der Geschichtsforschung bekanntermassen keine neue. Die concreten [63] Erscheinungen des Völkerlebens sind das Ergebniss zahlloser zusammenwirkender Factoren, und es giebt wohl kaum eine Erscheinung dieses letzteren, welche nicht den Einfluss aller, die Gestaltung der Menschheitserscheinungen bestimmenden Factoren erfahren würde. Der Geschichtsforscher, welcher eine complicirte Erscheinung des Völkerlebens oder gar eine ganze Gruppe von solchen lediglich aus einer einzelnen Tendenz menschlicher Bestrebungen oder ausschliesslich aus einem einzelnen Factor historischer Gestaltung erklären und uns zum Verständnisse bringen wollte, ein Historiker, welcher beispielsweise die Thatsachen der auswärtigen Politik der Staaten lediglich aus dem Charakter und den Tendenzen der leitenden Diplomaten, die Entwickelung der Kunst eines Zeitalters lediglich aus der Individualität der in demselben zur Geltung gelangten Künstler, Schlachtenerfolge lediglich aus dem Talente der Feldherren und in allen obigen Fällen nicht zugleich aus den politischen, culturellen und wirthschaftlichen Zuständen der Völker, soweit sie auf jene historischen Thatsachen eingewirkt haben, interpretiren wollte, würde jedenfalls dem Vorwurfe der grössten Einseitigkeit bei allen sachkundigen Geschichtsforschern nicht entgehen.
Das Gesagte gilt selbstverständlich auch von den geschichtlichen Thatsachen des Rechtes und der Volkswirthschaft. Als Savigny daran ging, die Bedeutung historischer Rechtsstudien für das Verständniss des Rechtes den deutschen Juristen zum klareren Bewusstsein zu bringen, als dies bis dahin der Fall war, konnte er keinen Moment darüber in Zweifel sein, dass das Recht, „dessen organischer Zusammenhang [63] mit dem Wesen und Charakter des Volkes“ [27]ihm klar war, kein Dasein für sich habe, sein Wesen vielmehr, gleich wie jenes der Sprache, das Leben des Menschen selbst sei, von einer besonderen Seite angesehen. [28]Das Recht in Seinen concreten Gestaltungen aus irgend einer bestimmten Tendenz oder überhaupt aus irgend einem einseitigen Gesichtspunkte historisch zu interpretiren und dabei den Einfluss aller übrigen culturellen Faktoren und aller übrigen auf dasselbe einwirkenden historischen Thatsachen zu verkennen, lag ihm so ferne, als beispielsweise einem Geschichtsschreiber der Volkswirthschaft die Idee, die historischen Entwickelungen der letzteren ausschliesslich aus irgend einer bestimmten Tendenz, z. B. aus dem ökonomischen Eigennutze der Völker, beziehungsweise der Volksglieder einseitig erklären zu wollen. Recht und Volkswirthschaft in ihrer Concreten Gestalt sind Theile des Gesammtlebens eines Volkes und können nur im Zusammenhange mit der ganzen Volksgeschichte historisch verstanden werden. Kein vernünftiger Zweifel ist möglich, dass Thatsachen der Volkswirthschaft von dem Geschichtsschreiber auf die Gesammtheit der physischen und culturellen Faktoren zurückgeführt werden müssen, welche bei Gestaltung derselben mitwirkten, kein vernünftiger Zweifel, dass das historische Verständniss der Volkswirthschaft und ihrer Phänomene „nur im Zusammenhange derselben mit der socialen und staatlichen Entwickelung der Völker“ erreicht zu werden vermag und die Loslösung des wirthschaftlichen Elementes aus dem Gesammtcomplexe des Volks- und Staatslebens, die Loslösung desselben in dem oben charakterisirten Sinne unhistorisch und dem realen Leben inadäquat wäre. Ueber all diese Dinge kann, wir wiederholen es, kein vernünftiger Zweifel obwalten, und sie sind auch – wenn wir von einigen Geschichtsphilosophen absehen, welche die geschichtlichen Thatsachen aus einseitigen Tendenzen zu [64] construiren unternahmen, soweit es sich um das historische Verständniss der volkswirthschaftlichen Erscheinungen handelt, thatsächlich von Historikern nie in Zweifel gezogen worden.
Nur die vollständige Verkennung des Wesens der theoretischen Wissenschaften und der wahren Natur des durch dieselben vermittelten, des theoretischen Verständnisses der Erscheinungen überhaupt und jenes Verständnisses insbesondere, welches die theoretische Nationalökonomie uns auf dem Gebiete der volkswirthschaftlichen Erscheinungen zu vermitteln die Aufgabe hat, konnte indess eine Reihe von nationalökonomischen Schriftstellern verleiten, die obigen auf die Geschichte und das historische Verständniss bezüglichen Gesichtspunkte schlechthin, d. i. in durchaus mechanischer Weise auf die Theorie und das theoretische Verständniss der volkswirthschaftlichen Erscheinungen übertragen.
Wir werden hier aber von dem obigen Postulate der Forschung zunächst in Rücksicht auf die exacte, und hierauf in Rücksicht auf die realistische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft sprechen.
Es giebt im Kreise der exacten Theorien auch nicht Eine, welche uns an sich das universelle theoretische Verständniss der Erscheinungswelt oder irgend eines bestimmten Gebietes der letzteren, ja aucheines einzelnen complicirteren Phänomens der realen Welt, in seiner Totalität gedacht, zu verschaffen vermöchte; ein solches vermögen uns vielmehr stets nur die exacten Wissenschaften in ihrer Gesammtheit darzubieten, da jede derselben uns ja nur das Verständniss einer besonderen Seite der realen Welt eröffnet.
Wer die Erscheinungen der Natur, wie sie die Erfahrung uns darbietet, wer eine einzelne Gruppe derselben, ja, wer auch nur ein einzelnes Naturphänomen in exacter Weise d. i. als eine Exemplification der strengen Gesetzmässigkeit in allen natürlichen Dingen verstehen will, wird dies [65] Verständniss nicht etwa lediglich in den Gesetzen der Chemie, der Mechanik, oder ausschliesslich in jenen der Physik u. s. f. suchen dürfen, sondern nur durch die Gesammtheit oder doch eine Mehrheit der exacten Wissenschaften zu erreichen vermögen. Nur auf diesem Wege wird er nämlich zum exacten Verständnisse auch solcher Phasen und Seiten der realen Phänomene gelangen, welche unter den Gesichtspunkten einer einzelnen exacten Wissenschaft ihm vielleicht als Unregelmässigkeiten, als Ausnahmen von der strengen Gesetzmässigkeit der Erscheinungswelt sich darstellen würden. Keine einzelne exacte Wissenschaft schliesst eben das universelle theoretische Verständniss auch nur des geringsten Theiles der realen Welt in sich – stets lehrt sie uns, wie gesagt, nur eine besondere Seite dieser Gesetzmässigkeit erkennen.
Wird man desshalb etwa die Chemie, die Physik, die Mechanik u. s. f. als einseitige Wissenschaften bezeichnen? Wird es desshalb einem Naturforscher beifallen, jede einzelne der obigen Wissenschaften zu einer Theorie der Naturerscheinungen überhaupt erweitern zu wollen? Oder wird ein in erkenntniss-theoretischen Fragen auch nur einigermassen Unterrichteter die hier in Rede stehenden Disciplinen als „abstracte“ gering achten, weil jede einzelne derselben, für sich genommen, zur Erklärung auch nicht irgend eines complicirteren Natürphänomens in seiner vollen empirischen Wirklichkeit ausreicht?
Dass die einzelnen exacten Wissenschaften uns nur das. theoretische Verständniss einzelner Seiten der realen Welt eröffnen, ist ein Fundamentalsatz aller Methodik, und wer, statt dahin zu streben, durch die Gesammtheit derselben zum universellen Verständnisse der concreten Erscheinungen zu gelangen, dies Ziel in der Weise erreichen will, dass er die einzelnen exacten Wissenschaften zu universellen Theorien bestimmter Gebiete der realen Erscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit erweitern möchte, verkennt so sehr die elementarsten Grundsätze der Wissenschaftslehre, dass seine Berechtigung, über das hier behandelte schwierige [66] Problem mitzusprechen, geradezu in Frage gestellt werden müsste. [29]
Was anderes wollen nun aber die Vertreter der vorhin charakterisirten Lehrmeinung, als die theoretische Nationalökonomie, welche als exacte Wissenschaft doch nur eine Theorie der wirthschaftlichen Seite des Volkslebens ist sein kann! zu dem Phantom einer Universaltheorie der socialen Erscheinungen erweitern ?
Sollte je die Menschheit zu einem universellen exacten Verständnisse der Socialphänomene überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit gedacht) gelangen, so könnte dies sicherlich nur auf dem Wege einer Mehrheit von exacten Socialwissenschaften geschehen, deren Gesammtheit uns das allseitige exacte Verständniss der Socialerscheinungen zu eröffnen hätte. Dann würde es uns allerdings möglich sein, in denjenigen realen Phänomenen, welche wir vorzugsweise die Erscheinungen der Volkswirthschaft nennen, die nicht ökonomischen Einflüsse und Wirkungen nicht durch die teine Nationalökonomie, sondern durch andere Socialwissenschaften, in deren Bereich die bezüglichen Einflüsse fallen, in exacter Weise, d. i. nicht als Ausnahmen von der Gesetzmässigkeit der ökonomischen Erscheinungen, sondern als Exemplificationen socialer Gesetze, wenn auch, wie selbstverständlich, nicht als solche der Volkswirthschaft, verstehen zu lernen. Den [67] Ausbau dieser Wissenschaften mögen die Nationalökonomen mit ihren besten Wünschen begleiten und nach Kräften fördern. Bis dahin werden wir aber, entsprechend der besonderen wissenschaftlichen Aufgabe, die uns zugefallen ist, uns zu bemühen haben, die exacte Nationalökonomie von ihren Irrthümern zu reinigen und ihre Lücken auszubauen, um das, was unser nächster und, bei dem geradezu kläglichen Zustande der nationalökonomischen Theorie, unser dringendster wissenschaftlicher Beruf ist, die wirthschaftlich e-Seite der Socialerscheinungen zu immer klarerem exactem Verständnisse zu bringen.
Diejenigen aber, welche hierin eine Einseitigkeit erblicken und die reine Nationalökonomie zu einer Theorie der Socialerscheinungen in ihrer Totalität verflüchtigen wollen. verwechseln auch hier die Gesichtspunkte historischen und theoretischen Verständnisses mit einander und übersehen, dass die Geschichte uns allerdings alle Seiten bestimmter Erscheinungen, die exacten Theorien dagegen stets nur bestimmte Seiten aller Erscheinungen in ihrer Weise zum Verständniss zu bringen die Aufgabe haben, und eine Wissenschaft nie einseitig genannt werden kann, wenn sie ihrer Aufgabe voll genügt.
Die Ansicht, dass die volkswirthschaftlichen Erscheinungen in unzertrennbarem Zusammenhange mit der gesammten socialen und staatlichen Entwickelung der Völker zu behandeln seien, ist demnach, zum mindesten als Postulat für die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, ein methodischer Widersinn.
Aber auch in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der menschlichen Wirthschaft kann von einer Behandlung dieser letzteren im untrennbaren Zusammenhange mit der gesammten socialen und staatlichen Entwickelung der Völker füglich nicht die Rede sein. Auch die „Realtypen“ und „empirischen Gesetze“ der Volkswirthschaft sind nämlich keineswegs das Ergebniss einer alle Seiten des Volkslebens umfassenden Betrachtung der Socialerscheinungen, sondern, so realistisch die theoretische [68] Forschung auch immer gedacht werden mag, in mehr als einer Rücksicht, gleichfalls das Ergebniss einer Abstraction von einzelnen Seiten dieser letzteren.
Gesetze der Erscheinungen besagen, selbst in der denkbar realistischesten Auffassung der theoretischen Probleme, doch stets nichts anderes, als dass Phänomene einer gewissen Erscheinungsform auf solche anderer Erscheinungsformen regelmässig folgen oder aber mit denselben coexistent sind. Hierin, also schon in der Idee von „Gesetzen“, und zwar selbst von empirischen Gesetzen, liegt nun aber bereits nach mehr als einer Richtung hin eine in die Augen springende Abstraction von der vollen empirischen Wirklichkeit. Eine solche liegt schon in dem Umstande, dass in „Gesetzen“, welcher Art dieselben auch immer gedacht werden mögen, nicht (wie in der Geschichte!) die Aufeinanderfolge oder Coexistenz von concreten Phänomenen, sondern von Erscheinungsformen in Frage kommt, somit schon aus diesem Grunde eine Abstraction von gewissen Merkmalen der Erscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit unausweichlich ist; ferner liegt aber auch in dem Umstande eine Abstraction, dass „Gesetze“, indem sie die Aufeinanderfolge oder Coexistenz von bestimmten Erscheinungsformen constatiren, ohne, wie selbstverständlich, alle erdenklichen sonstigen Erscheinungsformen der Formel einzuverleiben, die ersteren nothwendig isoliren, von allen übrigen Erscheinungen abstrahiren. Mit der Idee von „Gesetzen der Erscheinungen“ ist somit schlechterdings eine gewisse Abstraction von der vollen empirischen Wirklichkeit der concreten Erscheinungen gegeben; dieselbe ist nichts Zufälliges, nicht etwa ein zu vermeidender Mangel einer bestimmten Richtung der theoretischen Forschung, sondern so unausweichlich bei Feststellung von „Gesetzen der Erscheinungen“ irgend welcher Art, dass der Versuch, der obigen Abstraction völlig auszuweichen, die Möglichkeit der Feststellung von Gesetzen der Erscheinungen geradezu aufheben würde?. [30]
[69]
Selbst die denkbar realistischeste Richtung der theoretischen Forschung muss demnach mit Abstractionen operiren, und das Streben nach Typen und typischen Relationen von realen Erscheinungen, welche sich in jedem Falle auf die „ volle empirische Wirklichkeit“ der letzteren beziehen, ist demnach ein solches, welches dem Wesen der theoretischen Forschung, wie sich dieselbe uns auf dem Boden der Wirklichkeit darstellt, schlechterdings widerspricht.
Wenn indess von der obigen, aus der Natur der theo retischen Forschung sich nothwendig ergebenden Abstraction abgesehen wird, so ist schwer zu erkennen, welcher Reform die realistische Richtung der theoretischen Forschung, im Sinne einer Berücksichtigung der vollen empirischen Wirklichkeit, dann noch bedarf? Werden die Gesetze der VolksWirthschaft, wie dies der obigen Richtung der theoretischen Forschung entspricht, auf rein empirischem Wege, durch Be0bachtung der realen Erscheinungsfolgen und Coexistenzen von Erscheinungen gewonnen, so liegt ja in diesem Vorgehen an sich schon eine – von den oben hervorgehobenen UmStänden abgesehen – vollständige Berücksichtigung der empirischen Wirklichkeit. Die realen Preise der Güter, die realen Grundrenten, die realen Capitalzinse u. s. f. sind in jedem Falle nicht nur das Ergebniss specifisch ökonomischer, sondern auch ethischer Tendenzen; indem wir die Regelmässigkeiten der Erscheinungsfolge und der Coexistenz dieser Phänomene auf empirischem Wege feststellen, berücksichtigen wir somit, soweit dies überhaupt denkbar ist, den Einfluss von Recht, Sitte u. s. f. auf die typischen Relationen der Volkswirthschaft, und es ist nicht abzusehen, wie dieser [70] Einfluss noch weiter berücksichtigt werden sollte, insbesondere da es ja von selbst einleuchtend ist, dass empirische Gesetze der Erscheinungen nur für jene örtlichen und zeitlichen Verhältnisse ihre Geltung behaupten, aus deren Betrachtung sie gewonnen wurden.
Das Streben nach Berücksichtigung der nicht ökonomischen Faktoren der Volkswirthschaft in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung ist somit ein überflüssiges, weil durch die Natur dieser Richtung des Erkenntmissstrebens nothwendig gegebenes; es bedarf hiezu keiner besonderen Methode, noch weniger einer besonderen Gelehrtenschule; im Gegentheil, es bedürfte ganz eigenthümlich gearteter Geister, um „ empirische Gesetze“ der volkswirthschaftlichen Erscheinungen zu erforschen, in welchen die nichtökonomischen Faktoren der menschlichen Wirthschaft in der Weise eliminirt werden würden, wie unsere historischen Volkswirthe sich dies vorstellen.
Das obige Postulat ist sowohl in Rücksicht auf die exacte als auch auf die empirische Richtung der theoretischen Forschung ein seltsames Missverständniss.
In Wahrheit wurzelt die Forderung, „dass die volkswirthschaftlichen Erscheinungen im Zusammenhange mit der ganzen socialen und staatlichen Entwickelung der Völker zu behandeln seien“, in dem dunkeln Streben, die specifischen Gesichtspunkte der Geschichtsforschung in die theoretische Wissenschaft von der Volkswirthschaft zu übertragen, in einem Streben, das im Widerspruche mit der Natur dieser Richtung des Erkenntnissstrebens liegt. Unsere historischen Nationalökonomen beweisen auch hier ihre geringe methodische Erfahrung, indem sie an eine Richtung der Forschung höhere Ansprüche stellen, als dieselbe ihrer Natur nach zu befriedigen vermag, und aus Furcht, einseitig zu erscheinen, von ihrem eigentlichsten Wissensgebiete, von der politischen Oekonomie, auf das Gebiet der Geschichtsforschung abirren, eine Form der Vielseitigkeit, welche der deutschen Wissenschaft jedenfalls besser erspart geblieben wäre.
[71]
Was unter dem obigen „Dogma“ verstanden, und welche Bedeutung demselben für die Theorie der Volkswirthschaft zugeschrieben wird. – Ueber die Meinung, dass strenge Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen nur unter der irrthümlichen Annahme möglich seien, dass die Menschen bei ihren wirthschaftlichen Handlungen in Wirklichkeit lediglich von ihrem wohlverstandenen Interesse geleitet würden. – Argumentation, durch welche die obige Meinung widerlegt wird. – Mangelhaftigkeit dieser Argumentation, indem ausser dem Gemeinsinne auch Irrthum, Unkenntniss, äusserer Zwang u. s. f. exacte Gesetze der Volkswirthschaft ausschliessen würden, falls die hier in Rede stehende Argumentation stichhaltig wäre. – Dass diese letztere auf einer Verkennung des Wesens der exacten Richtung der theoretischen Forschung überhaupt und jener auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere beruhe. – Dass die exacte Richtung der theoretischen Forschung keineswegs von der Voraussetzung ausgehe, die wirthschaftenden Menschen würden thatsächlich nur von ihren ökonomischen Interessen geleitet. – Welche Bewandtniss es in Wahrheit mit dem sog. Dogma vom Eigennutze in der theoretischen Nationalökonomie habe.
„Der Privategoismus, der Eigennutz, spielt in der Theorie der Nationalökonomie eine so bedeutende Rolle, er ist in eine so unmittelbare und tief eingreifende Verbindung zu der Methode, Gesetze der Volkswirthschaft zu gewinnen, gebracht worden, er hat eine so bedingende Einwirkung auf die ganze Stellung unserer Wissenschaft geübt“, dass wir das [72] Verhältniss desselben zu den erkenntnisstheoretischen Problemen unserer Wissenschaft hier um so weniger übergehen können, als auch nach unserem Dafürhalten die historische Methode der politischen Oekonomie in ganz besonderem Verhältniss zu dem Dogma von dem unwandelbaren Eigennutz steht. [31]
Unter dem „Dogma vom Eigennutze“ wird von einzelnen Volkswirthen der Grundsatz verstanden, dass die durch wirthschaftspolitische Regierungsmassregeln unbeeinflusste Verfolgung des Privatinteresses Seitens der einzelnen wirthschaftenden Individuen auch den höchsten Grad des Gemeinwohles im Gefolge haben müsse, welcher einer Gesellschaft mit Rücksicht auf örtliche und zeitliche Verhältnisse erreichbar ist. Von dieser, in ihrer Allgemeinheit jedenfalls irrthümlichen, Meinung denken wir indess hier nicht zu handeln, denn sie steht in keinem unmittelbaren Zusammenhange mit jenen methodischen Fragen, welche uns in diesem Abschnitte beschäftigen werden.
Was unser Interesse an dieser Stelle in Anspruch nimmt, ist vielmehr der unter der obigen Bezeichnung bekannte Satz, dass die Menschen bei ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit in Wahrheit ausschliesslich von der Rücksichtnahme auf ihre individuellen Interessen geleitet werden, ein Satz, welcher, zum mindesten, wie die Vertreter der historischen Schule deutscher Volkswirthe annehmen, von den Anhängern der „unhistorischen“ Schulen unserer Wissenschaft gleich einem grundlegenden Axiome an die Spitze ihrer Systeme der politischen Oekonomie gestellt wird. Die Bedeutung desselben für die von uns hier behandelten erkenntnisstheoretischen Probleme mag indes schon aus dem Umstande hervorgehen, dass Seitens der historischen Schule von seiner Richtigkeit die Möglichkeit strenger Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen und somit auch einer Wissenschaft von denselben abhängig gedacht, beziehungsweise, unter dem Hinweise auf die [73] Irrthümlichkeit des obigen „Dogmas“, die Möglichkeit einer • Wissenschaft von den „Gesetzen“ der Volkswirthschaft geradezu geleugnet und eine besondere, die historische Methode der Behandlung unserer Wissenschaft, gefordert wird.
Die Argumentation unserer historischen Nationalökonomen ist hierbei nun aber die folgende:
Der Wille des Menschen werde von zahllosen, zum Theil geradezu im Widerspruche mit einander stehenden Motiven geleitet; dadurch sei jedoch eine strenge Gesetzmässigkeit der menschlichen Handlungen überhaupt und jener der Wirthschaft insbesondere von vorn herein ausgeschlossen. Nur wenn wir uns den Menschen bei seinen wirthschaftlichen Handlungen stets von demselben Motive, z. B. dem Eigennutze, geleitet denken, erscheine das Moment der Willkür ausgeschlossen, jede Handlung streng determinirt. Nur unter der obigen Voraussetzung seien demnach Gesetze der Volkswirthschaft und somit auch eine Nationalökonomie im Sinne einer exacten Wissenschaft denkbar.
Nun würden aber die Menschen bei ihren Handlungen erfahrungsgemäss, weder überhaupt, noch aber auch insbesondere bei ihren wirthschaftlichen Handlungen, ausschliesslich von einem bestimmten Motive geleitet, indem neben dem Eigennutze, welcher höchstens als hauptsächliche Triebfeder der menschlichen Wirthschaft anerkannt zu werden vermöge, auch der Gemeinsinn, die Nächstenliebe, die Sitte, das Rechtsgefühl und andere ähnliche Momente die wirthschaftlichen Handlungen der Menschen bestimmen, und die Voraussetzung, von welcher die (nichthistorischen) Nationalökonomen der Smith'schen Schule ausgehen, sei somit eine falsche. Mit der obigen Voraussetzung falle aber auch die Grundlage von strengen, von zeitlichen und örtlichen Verhältnissen unabhängigen Gesetzen der Volkswirthschaft und damit einer Wissenschaft von solchen, einer theoretischen Nationalökonomie im vorhin gedachten Sinne des Wortes. Die ganze hier charakterisirte Richtung der Forschung sei demnach eine unempirische, eine solche, welche der Wahrheit entbehre, und nur eine von den obigen irrthümlichen [74] Voraussetzungen gereinigte Forschung vermöchte auf dem Gebiete unserer Wissenschaft zu Resultaten zu gelangen, welche den realen Erscheinungen der Volkswirthschaft entsprechen.
Dies ist ungefähr die Argumentation der historischen Nationalökonomen Deutschlands bei Bekämpfung des „Dogmas vom menschlichen Eigennutze“. [32]
Wir möchten hier vor allem auf eine jedem mit psychologischen Untersuchungen einigermassen Vertrauten in die Augen springende Lücke der obigen Argumentation hinweisen. Nicht nur der Umstand, dass die Menschen bei ihren wirthschaftlichen Handlungen nicht ausschliesslich vom Eigennutze geleitet werden, sondern auch ein anderes ebenso wichtiges Moment schliesst, im obigen Sinne, die strenge Gesetzmässigkeit der menschlichen Handlungen überhaupt, und jener der Wirthschaft insbesondere, und somit auch die Möglichkeit einer strengen Theorie der Volkswirthschaft aus. Ich meine den Irrthum, ein Moment, welches von dem menschlichen Handeln sicherlich noch viel weniger getrennt gedacht werden kann, als Sitte, Gemeinsinn, Rechtsgefühl und Menschenliebe von der Wirthschaft. Selbst wenn die wirthschaftenden Menschen sich stets und allerorten ausschliesslich von ihrem Eigennutze leiten lassen würden, die erfahrungsgemäss gegebene Thatsache, dass sie in zahllosen Fällen über ihr wirthschaftliches Interesse im Irrthum, oder über die ökonomische Sachlage in Unkenntniss sich befinden, müsste nichtsdestoweniger die strenge Gesetzmässigkeit der wirthschaftlichen Erscheinungen ausschliessen. Unsere Historiker sind zu nachsichtig gegen ihre wissenschaftlichen Gegner. Die Voraussetzung einer strengen Gesetzmässigkeit der wirthschaftlichen Erscheinungen, und somit einer theoretischen Nationalökonomie im mehrgedachten Verstande des Wortes, ist nicht nur das Dogma von dem stets gleichbleibenden Eigennutze, sondern ein solches von der „Unfehlbarkeit“ und „ Allwissenheit“ der Menschen in wirthschaftlichen Dingen.
[75]
Wir sind weit entfernt davon, zu behaupten, dass mit den obigen Dogmen die ganze Summe der Voraussetzungen einer strengen Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, in dem Sinne, in welchem unsere Historiker sich eine solche denken, bereits erschöpft sei. Es ist vielmehr für jeden in methodischen Untersuchungen nicht ganz Unerfahrenen klar, dass zu denselben noch eine Reihe anderer ähnlicher Dogmen (auf dem Gebiete der wirthschaftlichen Erscheinungen insbesondere auch noch das Dogma der vollen Freiheit von äusserem Zwange u. s. f.!) treten müsste, Dogmen, welche, wie wir nicht zweifeln, den Vertretern der historischen Schule ein ebenso dankbares als müheloses Feld geistreicher Kritik zu bieten vermöchten. Aber schon das Gesagte dürfte genügen, um auf das evidenteste nachzuweisen, welchen erstaunlichen Widersinn die grössten Geister aller Nationen seit Jahrtausenden zu Tage gefördert haben, indem sie nach strengen Theorien der Socialerscheinungen strebten, und in welchen beklagenswerthen Irrthümern die Menschheit auch heute noch sich befände, wenn die historische Schule der deutschen Nationalökonomen ihr nicht die Augen geöffnet hätte.
Einigermassen befremdend muss, gegenüber einer so epochemachenden Umwälzung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften, allerdings der Umstand erscheinen, dass jene Irrthümer, welche den Forschern auf wirthschaftlichem Gebiete zum Vorwurf gemacht werden, in durchaus analoger Weise auch auf allen übrigen Gebieten der theoretischen Forschung, insbesondere aber auch auf dem Gebiete der Naturforschung zu beobachten sind und dass demnach eine ganze Reihe theoretischer Wissenschaften bei näherer Untersuchung hinfällig und werthlos wird, ohne dass bisher auch nur eine Ahnung hiervon in den Geistern unserer Naturforscher sich geregt hätte.
Auch die wichtigsten und grundlegendsten unter den theoretischen Naturwissenschaften leiden nämlich an denselben Gebrechen, welche unsere historischen Nationalökonomen den bisherigen socialwissenschaftlichen Theorien zum Vorwurf [76] machen; auch die Chemie, die Physik, nicht minder aber äuch eine Reihe anderer exacter Wissenschaften, wie die Mechanik, die Mathematik u. s. f., erscheinen, mit dem Massstabe der Kritik unserer Historiker gemessen, als der Wirklichkeit widerstreitend, unempirisch und daher einer gleichen Reform bedürftig, wie die theoretische Nationalökonomie.
Die Chemie lehrt uns nicht die „Realbegriffe“ bestimmter Gruppen concreter Erscheinungen; ihre Elemente und Verbindungen sind in ihrer vollen Reinheit vielmehr unempirisch, in der von menschlicher Kunst unbeeinflussten Natur nicht zu beobachten, ja zum Theil sogar künstlich nicht darstellbar. Reines Gold, reiner Wasserstoff und Sauerstoff, und die reinen Verbindungen derselben sind, weder an sich, noch auch in jenem ideal strengen Masse, welches die Gesetze der Chemie voraussetzen, empirisch gegeben. Die Chemie operirt mit Faktoren, welche qualitativ, in gewisser Beziehung auch quantitativ unempirisch sind. Sie erfasst ferner die Körper nicht in der Totalität ihrer Erscheinung; sie bringt uns das Wesen und die Gesetze derselben nicht rücksichtlich aller, sondern nur rücksichtlich einer bestimmten Seite ihres Seins zum Bewusstsein. Die Chemie geht, um mit unseren historischen Volkswirthen zu sprechen, von dem Dogma aus, dass die chemischen Grundstoffe und ihre Combinationen in ihrer vollen Reinheit empirisch vorhanden, dass sie ideal genau messbar, dass das Gold und der Sauerstoff in ihren realen Erscheinungen an allen Orten und zu allen Zeiten genau identisch sind; sie beschäftigt sich überdies nur mit einer einzelnen Seite der realen Welt und ihre Gesetze sind somit, der Totalität der Erscheinungswelt gegenüber, auf willkürlichen Annahmen beruhend und unempirisch.
Das Gleiche gilt, wie wir wohl nicht weiter auszuführen brauchen, von der Physik, insbesondere aber auch von der Mechanik und der Mathematik.
Die reine Mechanik geht bei ihren wichtigsten Gesetzen von der willkürlichen und unempirischen Annahme aus, dass die Körper sich im luftleeren Raume bewegen, dass ihr Gewicht und ihre Bahnen genau gemessen, dass ihr Schwerpunkt [77] genau bestimmt, dass die Kräfte, von welchen die Körper bewegt werden, genau bekannt und constant sind, dass keine störenden Faktoren ihre Wirksamkeit entfalten, und so – um mit unseren Historikern zu sprechen – von tausend andern willkürlichen unempirischen Dogmen. Und auch sie, gleich wie die Mathematik, deren unempirische Voraussetzungen (man denke an den mathematischen Punkt, die mathematische Linie, die mathematische Fläche u. s. f.!) wohl keines besonderen Hinweises bedürfen, erfassen die Welt der realen Erscheinungen nicht in ihrer Totalität, sondern nur eine einzelne Seite derselben, und auch in dieser Rücksicht sind sie somit gegenüber der „vollen empirischen Wirklichkeit“ willkürlich und unempirisch, beklagenswerthe Verirrungen des Menschengeistes!
Und all' diese falschen Dogmen hat bisher kein Mensch geahnt, bis endlich die historische Schule deutscher Nationalökonomen uns die Augen geöffnet hat, zum Theil mit vollem Bewusstsein, zum Theil mit dem Instincte des Genies, ohne sich der geradezu epochemachenden Umwälzung auf dem Gebiete der exacten Forschung in ihrer ganzen Tragweite auch nur bewusst zu werden. Wahrhaftig, unsere historischen Nationalökonomen können sich auf diese ihre Errungenschaft etwas zu gute thun!
Doch nun zurück zum Ernste der Sache! Die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen – und nur in Rücksicht auf diese kann füglich von dem Dogma des Eigennutzes die Rede sein – hat, wie wir bereits oben eines weiteren ausgeführt haben, die Aufgabe, „die Menschheitserscheinungen auf die Aeusserungen der ursprünglichsten und allgemeinsten Kräfte und Triebe der Menschennatur zurück zu führen und hierauf zu untersuchen, Zu welchen Gestaltungen das freie und durch andere Faktoren (insbesondere auch durch Irrthum, durch Unkenntniss der Sachlage und durch äusseren Zwang) unbeeinflusste Spiel jeder einzelnen Grundtendenz der Menschennatur führt“. Indem wir diese Richtung der Forschung verfolgen, gelangen Wir zu einer Reihe von Socialtheorien, deren jede einzelne uns [78] allerdings nur das Verständniss einer besonderen Seite der Erscheinungen menschlicher Thätigkeit eröffnet und demnach von der vollen empirischen Wirklichkeit abstrahirt, deren Gesammtheit indess uns die ethische Welt in ähnlicher Weise verstehen lehrt, wie jene theoretischen Wissenschaften, welche das Ergebniss einer analogen Betrachtung der Natur sind. [33]
Unter den Bestrebungen der Menschen sind nun jene, welche auf die vorsorgliche Deckung ihres Güterbedarfs gerichtet sind (die wirthschaftlichen), die weitaus allgemeinsten und wichtigsten, gleich wie unter den Trieben der Menschen jener, welcher jedes Individuum seine Wohlfahrt anzustreben heisst, weitaus der allgemeinste und mächtigste ist – und eine Theorie, welche uns lehren würde, zu welchen Gestaltungen menschlicher Thätigkeit, zu welchen Formen der Menschheitserscheinungen die auf die Deckung ihres Güterbedarfes gerichtete Thätigkeit beim freien, durch andere Bestrebungen und durch andere Rücksichten (insbesondere aber auch durch Irrthum und Unkenntniss) unbeeinflussten Spiel jenes mächtigen Faktors der menschlichen Wirthschaft führt, eine Theorie insbesondere, welche uns lehren würde, welches Mass der Wirkungen durch ein bestimmtes Mass der hier in Rede stehenden Einflüsse bewirkt werden würde: müsste uns demnach das Verständniss – nicht der Menschheitserscheinungen in ihrer Totalität, auch nicht eines bestimmten Theiles derselben, wohl aber einer der wich tigsten Seiten des Menschenlebens verschaffen. Eine solche Theorie, eine Theorie, welche uns die Aeusserungen des menschlichen Eigennutzes in den auf die Deckung ihres Güterbedarfes hinzielenden Bestrebungen der wirthschaftenden Menschen in exacter Weise verfolgen und verstehen lehrt, ist nun die „exacte Nationalökonomik“, eine Theorie somit, welche nicht die Aufgabe hat, uns die socialen Erscheinungen oder gar die Menschheitserscheinungen, ja nicht einmal jene SocialPhänomene, welche man gemeiniglich „die volkswirthschaftlichen“ nennt, überhaupt und in ihrer Totalität verstehen zu [79] lehren, sondern uns nur das Verständniss einer besonderen, allerdings der wichtigsten, der wirthschaftlichen Seite des Menschenlebens zu verschaffen, während das Verständniss der übrigen Seiten desselben nur durch andere Theorien erreicht werden könnte, welche uns die Gestaltungen des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkte der übrigen Tendenzen desselben zum Bewusstsein bringen würden (z. B. unter dem Gesichtspunkte des Gemeinsinnes, des strengen Waltens der Rechtsidee u. s. f.).
Von diesen methodischen Gesichtspunkten sind die grossen Theoretiker auf dem Gebiete der ethischen Erscheinungen seit jeher ausgegangen; von diesem Gesichtspunkte aus sind schon Platon und Aristoteles an die Aufgabe geschritten, Theorien der Socialerscheinungen aufzubauen; von diesem Gesichtspunkte aus hat endlich auch der grosse Begründer unserer Wissenschaft sein Werk über den Reichthum der Völker geschrieben, neben demselben aber eine Theorie der moralischen Empfindungen, in welcher er den Gemeinsinn ebenso zum Angelpunkte seiner Untersuchungen machte, als das Eigeninteresse in seinem für die politische Oekonomie so epochemachenden Werke.
Wenn wir nunmehr zu dem sogenannten „Dogma“ vom menschlichen Eigennutze zurückkehren, welches nach der Auffassung der historischen Schule deutscher Nationalökonomen einen so störenden Gegensatz zu der „vollen empirischen Wirklichkeit“ bilden soll, so bedarf es wohl kaum mehr einer weitern Ausführung, um diese Auffassung als ein Missverständniss der berechtigten methodischen Gesichtspunkte erkennen zu lassen, von welchem die grossen Begründer der ethischen Wissenschaften in ihrer Forscherthätigkeit geleitet wurden. So wenig die reine Mechanik die Existenz mit Luft erfüllter Räume, der Reibung u. s. f., so wenig die reine Mathematik die Existenz realer Körper, Flächen und Linien leugnet, welche von den mathematischen abweichen, so wenig die reine Chemie den Einfluss physikalischer und die reine Physik den Einfluss chemischer Faktoren bei Gestaltung der realen Erscheinungen negirt, [80] ob zwar jede dieser Wissenschaften nur eine Seite der realen Welt berücksichtigt und von allen andern abstrahirt: so wenig behauptet ein Nationalökonom, dass die Menschen faktisch nur vom Eigennutze geleitet oder aber unfehlbar und allwissend seien, weil er die Gestaltungen des Socialen Lebens unter dem Gesichtspunkte des freien, durch Nebenrücksichten, durch Irrthum und Unkenntniss unbeeinflussten Spieles des menschlichen « Eigeninteresses zum Gegenstand seiner Forschung macht. Das Dogma vom menschlichen Eigennutze in der Auffassung unserer historischen Nationalökonomen ist ein Missverständniss.
Aristoteles und Hugo Grotius waren sicherlich darüber nicht im Unklaren, dass ausser dem Triebe nach Vergesellschaftlichung, bez. nach Gemeinschaft noch andere Faktoren zur Staatenbildung beitragen; Hobbes war es sicherlich nicht unbekannt, dass der Interessengegensatz der einzelnen Individuen, Spinoza, dass der Trieb nach Selbsterhaltung nicht die einzigen Motoren socialer Gestaltungen seien, und Helvetius, Mandeville und A. Smith wussten ebenso gut als irgend ein Anhänger der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, dass der Eigennutz nicht ausschliesslich die Erscheinungen des Menschenlebens beeinflusse. Hat der letztere doch eine eigene Theorie des Gemeinsinnes geschrieben! Was ihn und seine Schule von unsern Historikern unterscheidet, ist, dass er weder die Geschichte der Volkswirthschaft mit der Theorie derselben verwechselt, noch auch einseitig jener Richtung der Forschung folgt, welche ich oben mit dem Ausdrucke der empirisch-realistischen bezeichnete, noch auch endlich dem Missverständnisse zum Opfer fiel, in theoretischen Untersuchungen unter dem Gesichtspunkte des freien und von sonstigen Potenzen unbeeinflussten Spieles des menschlichen Eigeninteresses, die Anerkennung des „Dogmas“ vom menschlichen Eigennutze als der einzigen faktischen Triebfeder menschlicher Handlungen zu erkennen, und ich zweifle nicht, dass auch die deutsche Nationalökonomie, sobald das Missverständniss, von dem ich hier handle, den Vertretern derselben zum vollen Bewusstsein gelangt sein wird, die hier [81] in Rede stehende durchaus berechtigte und für das Verständniss der volkswirthschaftlichen Erscheinungen unentbehrliche, wenngleich auch von ihr seit langem arg vernachlässigte Richtung der Forschung wieder einschlagen und auch ihrerseits zu dem Ausbau derselben ihren Theil beitragen wird. Der im hohen Grade unbefriedigende Zustand der exacten Forschung auf dem Gebiete volkswirthschaftlicher Erscheinungen ist eine mächtige Aufforderung auch für die deutschen Nationalökonomen, den sie vereinsamenden Irrweg der Forschung zu verlassen und, neben dem Streben nach Feststellung realistischer Erkenntnisse auf dem Gebiete der Volkswirthschaft und insbesondere neben dem Streben nach der historischen Interpretation der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, dem grossen Probleme des Aufbaues einer exacten Theorie der Nationalökonomie wieder ihre Kraft zuzuwenden.
[82]
Wesen und Bedeutung des sog. „Atomismus“ in der Theorie der Volkswirthschaft. – Ursprung der obigen Lehrmeinung in den Argumentationen der historischen Juristenschule. – Verschiedenheit der Folgerungen aus der obigen Lehrmeinung, zu welchen die historische Schule der deutschen Juristen und jene der deutschen Nationalökonomen gelangt sind. – Der Standpunkt der historischen Juristenschule. – Der Standpunkt der historischen Schule deutscher Nationalökonomen. – Dass der Vorwurf des „Atomismus“ in der Verkennung des wahren Wesens der exacten Richtung der theoretischen Forschung und in der Uebertragung der methodischen Gesichtspunkte der specifisch-historischen Forschung in die theoretische Nationalökonomie wurzle. – Der Gegensatz von Volkswirthschaft und Privatwirthschaft in den methodischen Ausführungen der historischen Schule deutscher Nationalökonomen und die Bedeutung des diesbezüglichen Irrthums für die erkenntniss-theoretischen Probleme unserer Wissenschaft.
Wir möchten noch einer insbesondere unter den deutschen Volkswirthen weit verbreiteten Meinung gedenken, welche in letzter Linie, gleichwie die vorhin besprochene, in der mechanischen Uebertragung gewisser Gesichtspunkte der historischen Forschung in die theoretische Volkswirthschaftslehre und in der einseitigen Auffassung der Aufgaben dieser letztern wurzelt und desshalb an dieser Stelle ihre Erledigung finden mag. Wir meinen den Vorwurf des Atomismus, welcher in der neuern nationalökonomischen Literatur: Deutschlands in frivolster Weise, ja geradezu gegen Jedermann erhoben [83] wird, welcher sich mit den eigentlichen Aufgaben der theoretischen Nationalökonomie befasst, und darin begründet sein Soll, dass die Erscheinungen der Volkswirthschaft in der Theorie in letzter Linie auf individuelle wirthschaftliche Bestrebungen, beziehungsweise auf ihre einfachsten constitutiven Elemente zurückgeführt und solcherart erklärt werden.
Auch die hier in Rede stehende Lehrmeinung verdankt ihren Ursprung zunächst der historischen Juristenschule, aus deren methodischen Erörterungen sie, gleich manchem andern Theile der Methodik unserer historischen Schule von Nationalökonomen, in mechanischer Weise entlehnt wurde. „Es giebt – sagt Savigny – kein vollkommen einzelnes und abgeSondertes menschliches Dasein: vielmehr, was als einzeln angesehen werden kann, ist, von einer anderen Seite betrachtet, Glied eines höhern Ganzen. So ist jeder einzelne Mensch n0thwendig zugleich zu denken als Glied einer Familie, eines Volkes, als die Fortsetzung und Entwickelung aller vergangenen Zeiten.“ Savigny spricht hierauf von der höhern Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen, von welchem „höhern Volke“ ja auch das gegenwärtige Zeitalter nur ein Glied sei u. s. f. [34]
Niemand, der die bezüglichen Auslassungen der historiSchen Nationalökonomen Deutschlands mit den obigen vergleicht, wird die Verwandtschaft derselben verkennen, wenn auch die Consequenzen, zu welchen die beiden hier in Rede stehenden Gelehrtenschulen aus dem obigen Grundgedanken gelangten, wesentlich verschieden sind.
Die historische Juristenschule verwerthet den obigen Gedanken, um zu dem Satz zu gelangen, dass das Recht etwas über der Willkür der Einzelnen Stehendes, ja selbst von der Willkür der jeweiligen Generation eines Volkes Unabhängiges, ein „organisches“ Gebilde sei, das, weder von einzelnen Individuen, noch auch von einzelnen Generationen willkürlich gestaltet werden könne und dürfe, das vielmehr der Willkür [84] der Einzelnen und ganzer Zeitalter, ja der Menschenweisheit überhaupt als ein Höheres gegenüber stehe. Aus diesem Satze zog die obige Schule nun weiter ihre zum Theile höchst praktischen Consequenzen. Sie folgerte, dass das durch die französische Revolution in ganz Europa erwachte Streben nach Reform der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse eigentlich eine Verkennung des Wesens von Recht, Staat und Gesellschaft und ihres „organischen Ursprungs“ bedeute, dass die „unbewusste Weisheit“, welche in den in organischer Weise entstandenen staatlichen Einrichtungen sich manifestire, hoch über der vorwitzigen Menschenweisheit stehe, dass die Vorkämpfer der Reformideen somit weniger ihrer eigenen Einsicht und Energie vertrauen, als vielmehr dem „historischen Entwickelungsprocesse“ die Umgestaltuug der Gesellschaft überlassen möchten und dergleichen conservative, den herrschenden Interessen höchst nützliche Grundsätze mehr.
Der Gedanke einer analogen conservativen Richtung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft lag ziemlich nahe, und eine der historischen Juristenschule analoge historische Schule von Nationalökonomen, welche die bestehenden wirthschaftlichen Institutionen und Interessen gegen die Uebertreibungen des Reformgedankens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, insbesondere aber auch gegen den Socialismus vertreten hätte, würde selbst in Deutschland eine gewisse Mission erfüllt und manchem späteren Rückschlag vorgebeugt haben.
Der historischen Schule der Nationalökonomen in Deutschland lag indess nichts ferner, als der Gedanke einer analogen conservativen Richtung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft; dazu war die historische Richtung der deutschen Volkswirthe etwas viel zu Aeusserliches, jeder tiefern Grundlage Entbehrendes. Im Gegentheile, ihre Vertreter standen in praktischer Beziehung, noch vor kurzem, fast durchweg in einer Reihe mit den liberalen Fortschrittspolitikern auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, bis ein nicht geringer Theil derselben in jüngster Zeit sogar das seltsame Schauspiel einer historischen Schule von Volkswirthen mit so cialistischen Bestrebungen bot: ein wissenschaftliches Curiosum, dessen [85] weitere Entwickelung mehr durch äussere Ereignisse als durch wissenschaftliche Einsichten aufgehalten wurde. Kurz, die organische Auffassung der Volkswirthschaft blieb für unsere nationalökonomischen Historiker in der obigen Rücksicht etwas durchaus Aeusserliches, eine theoretische Anschauung, aus welcher die praktischen Consequenzen, etwa im Sinne der historischen Juristenschule, zu ziehen, denselben auch nicht im entferntesten beifiel. Nicht einmal die für die Volkswirthschaft wirklich berechtigten praktischen Consequenzen des obigen Gedankens sind von unsern historischen Volkswirthen gezogen worden.
Die Folgerungen, welche unsere historischen Volkswirthe aus der obigen Grundanschauung vom Wesen der Volkswirthschaft (als eines organischen einheitlichen Ganzen) ableiteten, bezogen sich vielmehr ausschliesslich auf Fragen der wissenschaftlichen Technik und charakterisiren so recht deutlich den Gesichtskreis dieser Gelehrtenschule.
Wurde die Volkswirthschaft als ein besonderes, von den Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft verschiedenes Ganze betrachtet, so lag die Consequenz nahe, die Erscheinungen derselben als das ausschliessliche Object der wissenschaftlichen Behandlung in der theoretischen Volkswirthschaftslehre zu betrachten, die Singularphänomene der menschlichen Wirthschaft, dagegen von dieser letztern auszuschliessen. Nicht das generelle Wesen der Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft, nicht der generelle Zusammenhang derselben überhaupt, sollten fürderhin der Gegenstand der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen VolkswirthSchaftslehre sein: nur die Erforschung der volkswirthschaftlichen Phänomene erschien unter dem obigen Gesichtspunkte der Betrachtung als Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie, während die Erforschung des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft aus dem Bereiche unserer Wissenschaft verbannt, als Verwechslung privat wirthschaftlicher und volkswirthschaftlicher Betrachtungsweise, ja selbst das Streben nach Zurückführung der volkswirthschaftlichen [86] Phänomene auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft als „Atomismus“ gekennzeichnet wurde.
Die Irrthümlichkeit dieser Lehrmeinung, deren nächste Veranlassung wohl in der Verwechslung der Gesichtspunkte historischer und theoretischer Forschung, [35]deren tiefere Ursachen jedoch in der Verkennung des wahren Wesens der „Volkswirthschaft“ in ihrem Verhältnisse zu den Singularwirthschaften zu suchen sind, aus welchen die erstere sich zusammensetzt, liegt auf der Hand.
Das Volk, als solches, ist kein grosses bedürfendes, arbeitendes, wirthschaftendes und concurrirendes Subject, und was man eine „ Volkswirthschaft“ nennt ist somit auch nicht die Wirthschaft eines Volkes im eigentlichen Verstande des Wortes. Die „Volkswirthschaft“ ist keine den Singularwirthschaften im Volke, zu welchen auch die Finanzwirthschaft gehört, analoge Erscheinung, keine grosse Singularwirthschaft, eben so wenig aber auch ein den Singularwirthschaften im Volke Entgegengesetztes oder neben denselben Bestehendes. [87] Sie ist in ihrer allgemeinsten Erscheinungsform eine eigenthümliche, an anderer Stelle von uns näher charakterisirte Complication von Singularwirthschaften. [36]
Die Phänomene der „Volkswirthschaft“ sind somit auch keineswegs unmittelbare Lebensäusserungen eines Volkes als solchen, unmittelbare Ergebnisse eines „wirthschaftenden Volkes“, sondern die Resultante all der unzähligen einzelnwirthschaftlichen Bestrebungen im Volke, und sie vermögen demnach auch nicht unter dem Gesichtspunkte der obigen Fiktion uns zum theoretischen Verständnisse gebracht zu werden. Die Phänomene der „Volkswirthschaft“ müssen vielmehr, gleichwie sie sich uns in der Wirklichkeit als Resultante einzelnwirthschaftlicher Bestrebungen darstellen, auch unter diesem Gesichtspunkte theoretisch interpretirt werden.
„Scire est per causas scire“. Wer die Erscheinungen der „Volkswirthschaft“, jene complicirten Menschheitsphänomene, welche wir mit dem obigen Ausdrucke zu bezeichnen gewöhnt sind, theoretisch verstehen will, muss desshalb auf ihre wahren Elemente, auf die Singular wirthschaften im Volke zurückgehen und die Gesetze zu erforschen suchen, nach welchen die erstern aus den letztern sich aufbauen. Wer aber den entgegengesetzten Weg einschlägt, verkennt das Wesen der „Volkswirthschaft“, er bewegt sich auf der Grundlage einer Fiktion, er verkennt aber zugleich auch die wichtigste Aufgabe der exacten Richtung der theoretischen Forschung, die Aufgabe, die complicirten Phänomene auf ihre Elemente zurückzuführen.
Der einseitige Collectivismus in der Betrachtung der Wirthschaftsphänomene ist der exacten Richtung der theoretischen Forschung schlechthin inadäquat und der Vorwurf des Atomismus in dem vorhin erwähnten Verstande des Wortes demnach in Rücksicht auf die exa cte Nationalökonomie ein Missverständniss. Es trifft der obige Vorwurf [88] diese letztere mit allen übrigen exacten Wissenschaften, und zwar als exacte Wissenschaft.
Aber auch in Rücksicht auf die realistische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft ist er unberechtigt. Eine jede Theorie, welcher Art dieselbe auch sein mag und welchen Grad der Strenge der Erkenntnisse sie awuch immer anstrebt, hat inerster Reihe die Aufgabe, uns die concreten Erscheinungen der realen Welt als Exemplificationen einer gewissen Regelmässigkeit in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen d. i. genetisch verstehen zu lehren. Eine jede Theorie strebt demnach vor allem darnach, uns die complicirten Erscheinungen des ihr eigenthümlichen Forschungsgebietes als Ergebniss des Zusammenwirkens der Faktoren ihrer Entstehung verständlich zu machen. Dies genetische Element ist untrennbar von der Idee theoretischer Wissenschaften.
Die realistische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft mag deshalb immerhin darnach streben, die empirischen Gesetze der complicirten Phänomene der menschlichen Wirthschaft festzustellen; der Aufgabe, diese letztern, so weit und in jener Form, welche mit der Idee der realistischen Forschung vereinbar ist, auf ihre Faktoren, auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft zurückzuführen, kann sie sich jedoch keineswegs entschlagen. Einen Theoretiker deshalb zu tadeln, weil er das genetische Moment in der Theorie festhält, ist aber geradezu ein Widersinn.
Was endlich den Vorwurf betrifft, dass durch die obige, die genetische Richtung in der Theorie unserer Wissenschaft, die „Volkswirthschaft“ mit der „Privatwirthschaft“ verwechselt werde, so wäre er doch nur dann begründet, wenn dieselbe jene Complicationen der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft, welche wir die Erscheinungen der „Volkswirthschaft“ nennen, nicht anerkennen und die Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft uns nicht lediglich als Elemente der „Volkswirthschaft“ betrachten lehren würde. So lange sie indess diese Aufgabe zu lösen sucht, [89] kann von einer Verwechslung der Privatwirthschaft mit der Volkswirthschaft vernünftiger Weise nicht die Rede sein.
Alles dies ist übrigens so selbstverständlich, dass selbst jene Schriftsteller, welche in ihren methodischen Erörterungen die obige, das Wesen der theoretischen Wissenschaften verkennende Ansicht vortragen, in der systematischen Darstellung der nationalökonomischen Theorie doch die Zurückführung der complicirteren volkswirthschaftlichen Phänomene auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft nicht gänzlich zu umgehen vermögen und somit auch in der obigen Rücksicht jener Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis der Forschung hervortritt, welcher für die historische Schule deutscher Nationalökonomen geradezu charakteristisch ist.
[93]
Ueber die formale Natur der Politischen Oekonomie und ihrer Theile. – Sie ist keine historische Wissenschaft. – Die „historische Methode“ derselben kann nicht in der Preisgebung der ihr, beziehungsweise ihren Theilen eigenthümlichen formalen Natur, sondern nur in der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in den der Politischen Oekonomie adäquaten Richtungen der Forschung sein. – Wesen der „historischen Methode“ in der theoretischen Volkswirthschaftslehre einerseits, und in den praktiSchen Wissenschaften von der Volkswirthschaft andererseits. – Dieselbe ist in beiden Fällen keineswegs die nämliche. – Eben so wenig in der exacten und realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. – Uebertriebene Bedeutung, welche Seitens der historischen Schule deutscher Volkswirthe dem historischen Gesichtspunkte in der Politischen Oekonomie beigemessen wird. – Relative Wichtigkeit desselben für die Gegenwart.
Wir haben in dem vorigen Buche den wesentlichen UnterSchied zwischen den historischen, den theoretischen und den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft dargelegt und insbesondere auf die Irrthümer jener hingewiesen, welche in der Politischen Oekonomie eine „historische“ Wissenschaft erkennen. Die Politische Oekonomie (in ihrem die theoretische Nationalökonomie, die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft umfassenden Sinne) ist eine theoretisch-praktische Wissenschaft und die Behandlung derselben als eine historische Disciplin demnach so verfehlt, als wollte man die Geschichte oder die Statistik der Volkswirthschaft den methodischen Gesichtspunkten der theoretischen oder praktischen Wissenschaften unterordnen.
[94]
Soll von einer historischen Richtung in der Politischen Oekonomie überhaupt die Rede sein, so kann unter derselben somit nicht die Umgestaltung der Politischen Oekonomie in eine „historische“ Wissenschaft verstanden werden; sie vermag vielmehr nur eine solche Richtung der Forschung zu bezeichnen, welche die Thatsache der Entwickelung der Socialphänomene in der theoretischen, beziehungsweise in der praktischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft festhält, ohne indess den Charakter der Politischen Oekonomie, als einer theoretisch-praktischen Wissenschaft preiszugeben.
Bevor wir indess an die Lösung der hier einschlägigen Probleme schreiten, ist es nöthig, dass wir eine stillschweigende Voraussetzung jener, welche sich mit diesen letztern bisher beschäftigt haben, zurückweisen, einen principiellen Irrthum, ohne dessen Klarstellung das Wesen des historischen Gesichtspunktes in unserer Wissenschaft niemals völlig begriffen werden kann: wir meinen den Irrthum, dass der historische Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie und in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft identisch sei und dass, was von der historischen Richtung der Forschung in der erstern gelte, desshalb auch schlechthin auf die Behandlung der letztern unter dem historischen Gesichtspunkte übertragen werden könne.
Die hier in Rede stehenden Wissenschaften beschäftigen sich zwar mit dem nämlichen Gebiete des Menschenlebens, sie sind insgesammt Wissenschaften von der Volkswirthschaft; ihre Ziele sind indess, wie wir im vorigen Buche sahen, so durchaus verschieden, dass von einer Identität der ErkenntnisSwege zur Erreichung derselben füglich nicht die Rede sein kann. Die Methode der Wirthschaftspolitik darf ebenso wenig mit jener der theoretischen Nationalökonomie verwechselt werden, als etwa die Methode dieser letztern mit jener der Geschichte oder der Statistik.
Steht dies aber fest, so ist zugleich klar, dass die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene, wie wir dieselbe weiter unten darstellen werden, keineswegs [95] nothwendig von dem nämlichen Einflusse auf die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, wie auf die theoretische Nationalökonomie ist, und die Postulate des historischen Gesichtspunktes in der letztern demnach auch nicht schlechthin auf die erstern, und so umgekehrt, übertragen werden dürfen. Es bedarf vielmehr kaum besonders hervorgehoben zu werden, dass der Einfluss der obigen Thatsache auf die theoretische Volkswirthschaftslehre einerseits, und auf die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft andererseits, nur auf dem Wege einer gesonderten, die Aufgaben der obigen Wissenschaften unter dem historischen Gesichtspunkte in Betracht ziehenden Untersuchung festgestellt werden kann.
In der theoretischen Volkswirthschaftslehre wird der historische Gesichtspunkt zur Geltung gebracht, indem die Thatsache der Entwickelung der Volkswirthschaftsphänomene in ihrem Einflusse auf die Feststellung der Erscheinungsformen und der Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen beachtet wird; in der Volkswirthschaftspolitik gelangt der nämliche Gesichtspunkt zur Anerkennung, indem die verschiedenen Entwickelungsstufen der Volkswirthschaft in ihrem Einflusse auf die zur Förderung der letztern berechneten Institutionen und Massregeln der öffentlichen Gewalt dargestellt werden. Der nationalökonomische Theoretiker bringt den historischen Gesichtspunkt zur Geltung, indem er bei Erforschung des generellen Wesens und der Gesetze der Volkswirthschaft, der Volkswirthschaftspolitiker, indem er bei Erforschung der Massregeln zur Förderung der Volkswirthschaft die Thatsache der Entwickelung der wirthschaftlichen Phänomene im Auge behält. Der Unterschied zwischen den beiden obigen Problemen ist so augenfällig, dass eine Verwechslung derselben eigentlich ganz undenkbar erscheinen sollte. Wenn derselbe nichts desto weniger so häufig verkannt wurde, so liegt die Ursache hievon zum Theile in der irrthümlichen Auffassung der Politischen Oekonomie als einer formal einheitlichen Wissenschaft und in dem hieraus resultirenden Bestreben, die Methode der [96] obigen Wissenschaft und nicht vielmehr die Methoden der formal durchaus verschiedenen Theile, aus welchen sie besteht, festzustellen, nicht zum geringsten indess auch in einem Missverständnisse, auf welches hier in Kürze hingewiesen werden soll.
Das Gemeinsame der beiden obigen methodischen Probleme liegt in dem Umstande, dass sowohl die praktische als auch die theoretische Volkswirthschaftslehre sich mit der Frage beschäftigt, ob volkswirthaftliche Gesetze, welche einer bestimmten Entwickelungsstufe der Volkswirthschaft entsprechen, auch hievon verschiedenen Entwickelungsphasen der letztern adäquat seien. Was hiebei nicht selten übersehen wird, ist indess der entscheidende Umstand, dass es sich in dem einen Falle um Normativgesetze (um vom Staate oder durch die Gewohnheit festgestellte Regeln für das Handeln der Menschen), in dem andern Falle jedoch um Gesetze der Erscheinungen (um Regelmässigkeiten in der Coexistenz und in der Aufeinanderfolge von Erscheinungen der Volkswirthschaft); also um zwei durchaus verschiedene Dinge und Begriffe handelt, welche nur zufällig durch den nämlichen Ausdruck (Gesetz!) bezeichnet werden.
Man kann somit immerhin der Meinung sein, dass verschiedenen Stadien der Entwickelung von Staat und Gesellschaft überhaupt, und der Volkswirthschaft insbesondere, verschiedene Normativgesetze und Institutionen der Volkswirthschaft entsprechen, ohne deshalb nothwendiger Weise der Meinung sein zu müssen, ja ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, dass die staatlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen überhaupt, und die Erscheinungen der Volkswirthschaft insbesondere, sich im Laufe der Zeit entwickeln und dieser Umstand die Gesetze der Aufeinanderfolge und der Coexistenz dieser Erscheinungen tangirt. Es handelt sich hier in der That um zwei verschiedene wissenschaftliche Fragen, die beide ihre volle Berechtigung haben, von denen jedoch nur die letztere sich auf die theoretische Nationalökonomie und das Problem der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in derselben bezieht, während die [97] erstere eine solche der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in der Volkswirthschaftspolitik bedeutet.
Dass eine lange Reihe von nationalökonomischen Schriftstellern die Politische Oekonomie bald als eine formal einheitliche Wissenschaft auffasst und in Folge dieses Umstandes nach der Methode dieser Wissenschaft strebt, bald wiederum die methodischen Gesichtspunkte und Postulate der theoretischen Nationalökonomie in die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, und umgekehrt jene der letztern in die erstere überträgt und insbesondere die Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in den beiden obigen Wissenschaften als ein identisches methodisches Problem auffasst: all' dies ist für die erkenntnisstheoretischen Untersuchungen in unserer Wissenschaft nicht minder verderblich geworden, als die Verwechslung der Geschichte und der Theorie der Volkswirthschaft, deren Consequenzen für die Methodik der Politischen Oekonomie wir im vorigen Buche dargelegt haben.
Unsere Aufgabe kann demnach vor allem nicht darin bestehen, das Wesen des historischen Gesichtspunktes in jener Gesammtheit von theoretischen und praktischen Wissenschaften, welche wir die politische Oekonomie nennen, überhaupt festzustellen; wir werden vielmehr die obigen durchaus verschiedenen methodischen Probleme: die Feststellung des historischen Gesichtspunktes in der theoretischen Nationalökonomie einerseits, und in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft andererseits, getrennt zu behandeln haben.
Aber noch einen zweiten nicht minder wichtigen Gesichtspunkt werden wir bei Behandlung der hier einschlägigen erkenntnisstheoretischen Probleme festzuhalten haben. Auch die theoretische Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft ist keine streng einheitliche; auch sie zerfällt vielmehr, wie wir oben gesehen haben, in zwei besondere Richtungen, welche trotz des Umstandes, dass beide das theoretische Problem der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu lösen suchen, doch sowohl in Rücksicht auf ihre Ziele. als auch auf ihre Erkenntnisswege wesentliche Verschiedenheiten [98] aufweisen; wir sprechen hier von der realistischen und der exact en Richtung der theoretischen Forschung, und es ist somit klar, dass auch die Feststellung des historischen Gesichtspunktes in jeder einzelnen der beiden obigen Richtungen zu verschiedenen erkenntnisstheoretischen Problemen führen muss. Wir werden einerseits den historischen Gesichtspunkt in der exacten, und andererseits in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung, zu unterscheiden haben.
Allerdings könnte die Frage entstehen, ob das Problem der Festhaltung des „historischen Gesichtspunktes“ in der Politischen Oekonomie von solcher Bedeutung für unsere Wissenschaft sei, um so complicirten und schwierigen methodischen Untersuchungen, wie die oben angedeuteten, ein genügendes Interesse der Gelehrtenwelt zu sichern? Insbesondere aber muss sich uns die obige Frage in einer Schrift aufdrängen, welche manche Illusionen der historischen Schule der Nationalökonomie zu zerstören und zum mindesten die relative Bedeutung derselben auf ein bescheideneres Niveau herabzudrücken geeignet sein dürfte. Indess, sollte aus den nachfolgenden Untersuchungen auch hervorgehen, dass der historische Gesichtspunkt für unsere theoretisch-praktische Wissenschaft weitaus nicht jene Bedeutung aufweist, welche ihm von einer Reihe gelehrter Nationalökonomen zugeschrieben wird, so darf doch nicht übersehen werden, dass in dieser die Reform des gegenwärtigen Zustandes der Politischen Oekonomie in Deutschland bezweckenden Schrift die Dinge, wie selbstverständlich, nicht ausschliesslich nach ihrem wahren Werthe, sondern zugleich auch nach der Bedeutung geschätzt werden müssen, welche dieselben im Urtheile der Zeitgenossen erlangt haben. Und welcher Gedanke hätte in diesem Sinne eine grössere Wichtigkeit gewonnen, als jener einer historischen Richtung unserer Wissenschaft?
Nicht auf uns fällt somit die Schuld, indem wir das keineswegs Bedeutungslose, aber doch minder Wichtige hier gleich dem Wichtigsten behandeln, sondern auf jene, welche wissenschaftliche Probleme von secundärer Bedeutung [99] als den Angelpunkt der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft hingestellt und die Theilnahme an ihren Einseitigkeiten zum alleinigen Prüfsteine des Werthes oder Unwerthes wissenschaftlicher Leistungen erhoben haben. Indem wir auf die Einseitigkeiten, die Uebertreibungen und Irrthümer der historischen Schule deutscher Nationalökonomen hinweisen, glauben wir, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Politischen Oekonomie in Deutschland, uns allerdings mit der wichtigsten Angelegenheit unserer Wissenschaft zu befassen.
[100]
Wesen der Entwickelung. – Die Entwickelung der individuellen Erscheinungen. – Die Entwickelung der Erscheinungsformen. – Die beiden Arten der Entwickelung volkswirthschaftlicher Erscheinungen müssen unterschieden werden. – Die Thatsache der Entwickelung der Erscheinungsformen hat für die Socialforschung eine höhere Bedeutung als (die Entwickelung der Arten!) für die Naturwissenschaften.
Es gehört zum Wesen zahlreicher Phänomene, in einer gewissen unausgebildeten Form in die Wirklichkeit zu treten, sich allmählich zu entwickeln, nachdem sie einen gewissen Höhepunkt erreicht haben, eine absteigende Linie zu verfolgen und schliesslich ihren eigenthümlichen Charakter einzubüssen, in diesem Sinne unterzugehen. Zu den Erscheinungen, von deren Wesen der obige Process geradezu unzertrennlich ist, gehören vor allem die natürlichen Organismen, aber auch bei zahlreichen Phänomenen des Socialen Lebens überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere vermögen wir eine ähnliche Beobachtung zu machen. Jeder einzelne Arbeiter als solcher, jede concrete wirthschaftliche Unternehmung, jede auf die Hebung der Volkswirthschaft berechnete Massregel, jede gesellige Verbindung wirthschaftender Menschen ist eine Erscheinung dieser Art, ein Phänomen, das, [101] an sich oder in seinen Wirkungen, sich allmählich entwickelt und somit einem fortwährenden Wechsel unterworfen ist.
Neben den obigen Veränderungen der concreten Phänomene in der Zeit lehrt uns die Erfahrung noch eine andere Art von Entwicklungen kennen, welche sich, wie wir sofort sehen werden, für die theoretischen Wissenschaften überhaupt und die Politische Oekonomie insbesondere von nicht geringerer Wichtigkeit erweist, als die eben dargelegte: ich meine jene Entwickelungen, welche nicht an den einzelnen concreten Erscheinungen, sondern an den Erscheinungsformen zu Tage treten. Wir vermögen nämlich an zahlreichen Gruppen von Erscheinungen, welche typisch wiederkehren, zu beobachten, dass die Erscheinungsformen derselben eine allmählige Bewegung wahrnehmen lassen, so zwar, dass die in der Zeitfolge später auftretenden concreten Erscheinungen einer bestimmten Art, gegenüber den früheren Phänomenen derselben Art, eine Verschiedenheit, eine Entwickelung aufweisen, welche wir zum Unterschiede, von der vorhin erwähnten, der individuellen, die generelle, die Entwickelung der Erscheinungsformen (in den Naturwissenschaften: die Entwickelung der Arten!) nennen werden.
Jede einzelne wirthschaftliche Unternehmung, jede einzelne wirthschaftliche Institution u. s. f. weist beispielsweise eine individuelle Entwickelung auf, welche durch die Beobachtung derselben von ihrem Ursprunge bis zu ihrem Verfalle leicht constatirt werden kann. Zugleich vermögen wir aber auch, wahrzunehmen, dass die obigen Phänomene in ihrer Wiederkehr nicht immer die nämlichen sind, sondern man denke z. B. an das Geld – im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Erscheinungsformen angenommen haben.
Die Entwickelung der Erscheinungsformen, zumal jene auf dem Gebiete des organischen Lebens und die Bedeutung dieser Thatsache für die Naturwissenschaften ist von der modernen Naturforschung auf das nachdrücklichste betont worden. Von ungleich grösserer Bedeutung ist dieselbe indess auf dem Gebiete der Socialerscheinungen und der Volkswirthschaft insbesondere. Die natürlichen Organismen weisen [102] in nicht zu verkennender Weise die Erscheinung der individuellen Entwickelung auf; die Entwickelung ihrer „Erscheinungsformen geht dagegen nur sehr allmählig, kaum merklich vor sich. In der ethischen Welt ist aber auch in letzterer Beziehung eine deutlich in die Augen springende Bewegung wahrnehmbar. Jene Veränderungen in den Erscheinungsformen der organischen Welt, welche wohlbegründeten Hypothesen zu Folge sich allmählig im Laufe von Jahrtausenden, zumeist in vorhistorischer Zeit, auf dem Wege der Entwickelung vollzogen haben sollen, vollziehen sich thatsächlich in intensivster Weise, und zwar in historischer Zeit, ja gleichsam vor unseren Augen auf dem Gebiete der Socialphänomene überhaupt und jenem der Volkswirthschaft insbesondere. Die Erscheinungen des Eigenthums, des Tausches, des Geldes, des Credites sind Phänomene der menschlichen Wirthschaft, welche im Flusse der Menschheitsentwickelung zum Theile bereits seit Jahrtausenden wieder und immer wieder zu Tage treten; sie sind typische Er„scheinungen; wie verschieden ist indess ihre heutige Erscheinungsform von jener früherer Epochen historischer Erkenntniss? Wenn in den Anfängen der Cultur der Ausgleich zwischen Mangel und Ueberfluss auf dem Wege mehr oder minder freiwilliger Geschenke desjenigen, der eben Ueberfluss hat, an jene, die eben Mangel leiden, erfolgt, im Verlaufe der Culturentwickelung dann zunächst die rohen Formen des Naturaltausches Platz greifen, bei höherer Cultur der obige Ausgleich vorwiegend durch Kauf und Verkauf, also durch Vermittelung des Geldes erfolgt, und selbst innerhalb der obigen Entwickelungsphasen zahlreiche Abstufungen von mehr oder minder entwickelten Formen des Güterverkehrs zu beobachten sind: so liegt uns sicherlich ein markantes Beispiel der oben gekennzeichneten Entwickelung vor Augen. Wenn wir wahrnehmen, wie bei einigen der wichtigsten Culturvölker das Geld Anfangs in der Form von Hausthieren, Später von gemeinen und von edeln Metallen in ungemünztem und endlich in gemünztem Zustande zur Erscheinung gelangt, um schliesslich in noch entwickeltere Formen (Combinirung [103] von Geld und Geldzeichen!) überzugehen, so wäre es auch hier schwer, die in die Augen springende Entwickelung der Erscheinungsform des Geldes zu verkennen. Es ist in beiden Fällen das nämliche wirthschaftliche Phänomen, welches im Laufe der Culturentwicklung so verschiedene Formen annimmt, in ersterem Falle: die Ausgleichung von Ueberfluss und Mangel, im zweiten Falle: das Tauschmittel; aber welche Verschiedenheit der Erscheinungsformen, die wir hier doch nur in ihren hervorstechendsten Phasen gekennzeichnet haben! Und solchen Entwickelungen der Erscheinungsformen begegnen wir auf dem Gebiete der Socialphänomene nicht etwa nur ausnahmsweise, sie bilden vielmehr die Regel.
Die Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft sind somit auch in der Zeit keineswegs streng typischer Natur, sie weisen vielmehr (abgesehen von den qualitativen Verschiedenheiten in ihrem gleichzeitigen Auftreten!) zugleich das Schauspiel einer doppelten Entwickelung, einer individuellen und einer solchen der Erscheinungsformen auf. Concrete Erscheinungen der Volkswirthschaft gleichen nicht andern gleichzeitigen Erscheinungen derselben Art, die nämliche concrete Erscheinung der Volkswirthschaft ist nicht selten eine verschiedene in den einzelnen Phasen ihrer individuellen Existenz; volkswirthschaftliche Phänomene der gleichen Art sind aber selbst in der Totalität ihrer Erscheinung verschieden in Folge der Entwickelung der Erscheinungsformen.
Dass die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen PhänoImene nicht ohne Einfluss auf die theoretische Nationalökonomie überhaupt und die realistisch - empirische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft insbesondere sein könne. – Doppelte Aufgabe dieser Richtung der Forschung. – Einfluss, welchen die obige Thatsache auf das Streben nach Feststellung der Realtypen und der empirischen Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen [104] übt. – Wie das Problem der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in der realistisch-empirischen Richtung der theoretischen Forschung zu lösen sei? – Grenzen der Bedeutung des historischen Gesichtspunktes für die obige Richtung der Forschung.
Wer immer auch nur einiges Verständniss für das Wesen und die Aufgaben der theoretischen Forschung überhaupt und der realistischen Richtung dieser letztern insbesondere hat, dem muss sofort klar sein, dass die oben gekennzeichnete Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene nicht ohne Einfluss auf eine Theorie derselben [37]überhaupt und auf die Ergebnisse der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der obigen Erscheinungen insbesondere bleiben könne.
Die realistische Richtung der theoretischen Forschung hat die doppelte Aufgabe, die Typen und die typischen Relationen (das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang) der realen Erscheinungen zu erforschen. Sie soll uns die Erscheinungsformen (die Typen) und die sich wiederholenden Relationen (die empirischen Gesetze) der realen Erscheinungen zum Bewusstsein bringen. Wie vermöchte sie bei der Lösung dieser Aufgabe unbeeinflusst zu bleiben durch die Thatsache, dass jene Phänomene, deren generelles Wesen und deren generellen Zusammenhang sie festzustellen hat, selbst wandelbar sind?
Eine theoretische Wissenschaft, deren Forschungsgebiet Phänomene umfassen würde, welche in allen Phasen ihrer Existenz keine Veränderung aufweisen, könnte ihre Aufgaben [105] erfüllen, indem sie uns das generelle Wesen und die generellen Relationen derselben schlechthin d. i. in irgend einem Zeitpunkte darlegen würde; denn wer das Wesen und die Gesetze solcher Erscheinungen in einem bestimmten Momente erkannt haben würde, hätte dieselben überhaupt erkannt, und eine Theorie, welche uns diese letztern in Rücksicht auf einen bestimmten Zeitpunkt darlegen würde, hätte ihre diesbezügliche Aufgabe überhaupt gelöst.
Nicht unwesentlich verschieden ist die Sachlage und dementsprechend auch die Aufgabe der realistischen Richtung der theoretischen Forschung mit Rücksicht auf die Thatsache, welche wir oben hervorgehoben haben. Eine theoretische Wissenschaft, welche uns das generelle Wesen der realen Erscheinungen der Volkswirthschaft nur in Rücksicht auf einen bestimmten Zeitpunkt oder, was hier das nämliche ist, nur in Rücksicht auf ein bestimmtes Stadium ihrer Existenz darlegen würde, würde den ersten Theil der obigen Aufgabe nur sehr unvollkommen lösen; denn wer das Wesen dieser Phänomene nur in einer bestimmten Phase ihrer Existenz kennt, hat dasselbe nicht überhaupt erkannt.
Das generelle Wesen jenes Wirthschafts-Phänomens, welches wir eine „Handelskrise“ nennen, ist beispielsweise nicht dadurch erschöpft, dass wir uns die Natur desselben in einem bestimmten Stadium, sondern erst dadurch, dass wir uns den ganzen Verlauf desselben zum Bewusstsein bringen. Wenn wir den Realbegriff des „Arbeiters“ gewinnen wollen, so haben wir denselben nicht lediglich auf der Höhe seiner Entwickelung, sondern auch in seiner Ausbildungsperiode und in der Periode des Verfalls seiner Kräfte in Betracht zu ziehen; der Realbegriff eines „Unternehmens“ umfasst die Periode seiner Begründung, seiner Entwickelung und seines Verfalles; ja selbst das generelle Wesen eines scheinbar so wenig veränderlichen wirthschaftlichen Phänomens, wie die Münze, weist vom Momente, wo sie die Prägestätte verlässt, bis zu jenem, wo sie durch den Gebrauch abgenützt oder, von den Fortschritten der Technik überholt, aus dem Verkehr gezogen wird, eine Entwickelung auf; auch ihr generelles Wesen ist kein ruhendes.
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Wir haben bisher nur Fälle der individuellen Entwickelung der Wirthschaftsphänomene ins Auge gefasst und die Einwirkung der hier in Rede stehenden Thatsache auf die Feststellung des generellen Wesens der betreffenden Erscheinungen betont. Eine analoge Beobachtung vermögen wir indess auch rücksichtlich jener Entwickelung der Wirthschaftsphänomene anzustellen, welche wir als solche der Erscheinungsformen bezeichnet haben. Die Formen, in welchen die menschlichen Bedürfnisse, der Vermögensbesitz, das Eigenthum, der Tausch, das Geld, der Credit, die Steuern und so tausend andere Institutionen der menschlichen Wirthschaft zur realen Erscheinung gelangen, sind, von den allfälligen individuellen Entwickelungen dieser Erscheinungen abgesehen, auch in Rücksicht auf die Totalität derselben, wie wir oben gesehen haben, keineswegs in allen Epochen der Geschichte durchaus unverändert geblieben. Ihr generelles Wesen würde somit nur in unvollständiger Weise erfasst werden, wollten wir die obige bedeutungsvolle Thatsache übersehen und das Wesen der hier in Rede stehenden Erscheinungen in der Gegenwart oder in irgend einer bestimmten Periode ihrer Entwickelung mit ihrem generellen Wesen überhaupt, den Realbegriff desselben in Rücksicht auf die Gegenwart mit ihrem Realbegriff überhaupt verwechseln; es ist vielmehr klar, dass dieser letztere kein ruhender ist, sondern uns das begriffliche Abbild der obigen Phänomene in der Totalität ihrer Entwickelung zu bieten hat.
Als zweite Aufgabe der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft haben wir die Feststellung der realen typischen Relationen, der empirischen Gesetze der Wirthschaftserscheinungen kennen gelernt. Weisen nun diese letztern in den beiden vorhin erwähnten Beziehungen Entwickelungen auf, so ist von selbst klar, dass die in Rücksicht auf ein bestimmtes Stadium ihrer Entwickelung festgestellten empirischen Gesetze nicht nothwendig für alle übrigen Stadien der Entwickelung derselben ihre Geltung behaupten. Die typischen Relationen, welche zwischen Phänomenen beobachtet werden würden, die keine [107] Veränderung aufweisen, wären unabhängig von zeitlichen Verhältnissen. Anders dort, wo es sich um Erscheinungen handelt, welche in den Fluss der Zeit gestellt sind. Hier ist es klar, dass Nempirische Gesetze, welche für bestimmte Stadien der Existenz der bezüglichen Phänomene festgestellt wurden, nicht nothwendig für alle Phasen der Entwickelung der letzteren ihre Geltung behaupten. Um in die Augen springende Beispiele anzuführen, gelten die physiologischen Gesetze der ausgebildeten Organismen nicht nothwendigerweise von denselben Organismen im embryonischen oder im absteigenden Stadium der Entwickelung, die empirischen Gesetze der Coexistenz und der Aufeinanderfolge der Erscheinungen des antiken Staates nicht nothwendig von jenen des Feudalstaates oder eines modernen Staatswesens u. S. f. Die empirischen Gesetze des Arbeitslohnes, welche für den Arbeiter auf der Höhe seiner Entwickelung Geltung haben, gelten nicht nothwendig für den Anfänger oder den Arbeiter, dessen Kräfte bereits verfallen sind, die Gesetze des Geldumlaufes, wie wir dieselben in einer hochentwickelten Volkswirthschaft beobachten, nicht nothwendig für die Perioden der Culturanfänge, die Gesetze, nach welchen sich die Erscheinungen des Credits in unsern Tagen regeln, nicht nothwendig von den Creditphänomenen der Zukunft.
Fassen wir das hier Gesagte zusammen, so gelangen wir zu dem folgenden Ergebnisse: die realen Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft weisen eine Entwickelung auf, welche sich uns einerseits als eine solche der individuellen Erscheinungen, andrerseits als eine solche der Erscheinungsformen darstellt. Dieser Umstand hat einen unleugbaren Einfluss auf die Ergebnisse der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem hier in Rede stehenden Gebiete der Erscheinungswelt. Dieser Einfluss macht sich sowohl bei Feststellung des generellen Wesens (der Realbegriffe), als auch bei jenem des generellen Zusammenhanges (der empirischen Gesetze) der wirthschaftlichen Erscheinungen geltend; in ersterer Beziehung, indem die Realbegriffe, die Typen der wirthschaftlichen Erscheinungen erst dann in Wahrheit den [108] Verhältnissen adäquat sind, wenn wir das Wesen der bezüglichen Erscheinungen nicht lediglich in einem bestimmten Momente, sondern in der Totalität ihrer individuellen Entwickelung, beziehungsweise der Entwickelung ihrer Erscheinungsformen uns zum Bewusstsein bringen; in letzterer Beziehung, indem die empirischen Gesetze der hier in Rede stehenden Erscheinungen, wofern sie nur einem bestimmten Stadium der Entwickelung derselben entsprechen, nicht nothwendig für andere Stufen der Entwickelung der obigen Phänomene ihre Geltung behaupten.
Die oben näher gekennzeichnete Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene ist somit allerdings von einer nicht zu übersehenden Bedeutung für die realistische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft.
Was uns an dieser Stelle nunmehr noch zu thun erübrigt, ist, in Kürze den Weg zu kennzeichnen, auf welchem der obige, der „historische Gedanke“, in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft am zweckmässsigsten verwirklicht zu werden vermag.
Die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene und die Nothwendigkeit, dieser Thatsache in der realistischen Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen Rechnung zu tragen, steht ausser allem Zweifel. Kein mit erkenntnisstheoretischen Untersuchungen auch nur einigermassen Vertrauter wird indess behaupten wollen, dass die Lösung des obigen Problems etwa in der Weise anzustreben sei, dass wir eben so viele nationalökonomische Theorien schaffen, als Entwickelungsstufen der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, ja als verschiedene örtliche Verhältnisse auf gleicher Entwickelungsstufe befindlicher Völker vorhanden sind. Ein solches Bestreben wäre schon aus Gründen der Darstellung und der wissenschaftlichen Technik überhaupt unausführbar. Der Weg, welchen die Theoretiker auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zur Lösung der obigen Aufgabe einzuschlagen haben, kann vielmehr füglich nur ein solcher sein, welcher im Hinblick auf die gebräuchliche Technik wissenschaftlicher [109] Darstellung und das Bedürfniss der Gegenwart, das ja auch in der Wissenschaft sein Recht behauptet, zulässig ist, insbesondere wenn derselbe auf andern Gebieten der Forschung, welche eine analoge Aufgabe zu lösen haben, bereits mit befriedigendem Erfolge eingeschlagen wurde. Er kann nur darin bestehen, dass wir einen bestimmten, mit Rücksicht auf Ort und Zeit besonders bedeutsamen Zustand der Volkswirthschaft als Grundlage unserer Darstellung annehmen [38]und lediglich auf die Modificationen hinweisen, welche für die realistische Theorie aus verschieden gearteten Entwickelungsstufen der volkswirthschaftlichen Phänomene und aus verschiedenen örtlichen Verhältnissen sich ergeben, – etwa wie ein deutscher oder französischer Anatom oder Physiolog die ausgebildeten Körper der Indogermanen zur Grundlage seiner Darstellung nimmt, indess die für die Anatomie und Physiologie bedeutungsvollen Entwickelungsphasen des menschlichen Körpers und die Rassenverschiedenheiten, etwa jene der Neger, der Malayen u. s. f., mit berücksichtigt. Eine realistische Theorie der Volkswirthschaft in diesem Sinne ist kein Phantom, sondern ein mit den gewöhnlichen Mitteln der Wissenschaft erreichbares Ziel der Forschung, zugleich aber eine solche, welche dem Momente der Entwickelung in der Volkswirthschaft und jenem der Verschiedenheit örtlicher Verhältnisse die gebührende Rechnung trägt, ohne um dessentwillen den theoretischen Charakter [110] dieser Wissenschaft aufzuheben. Es wäre dies in Wahrheit eine realistische Theorie der Volkswirthschaft mit Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Entwickelung oder, wenn man an einem gebräuchlicheren, wenngleich nicht ganz treffenden Ausdrucke festhalten will, des geschichtlichen Gesichtspunktes.
Je rückhaltsloser wir dies anerkennen und mit je grösserem Rechte wir wohl den Anspruch erheben können, den Einfluss der obigen Thatsache auf die Theorie der Volkswirthschaft in eingehenderer und umfassenderer Weise, als irgend einer unserer Vorgänger, dargelegt zu haben, um so mehr halten wir uns indess für verpflichtet, zu betonen, dass in der Anerkennung der mehrerwähnten Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene, in der Erkenntniss der oben dargestellten Consequenzen derselben für die Lösung der specifisch theoretischen Aufgaben unserer Wissenschaft, und in dem Streben nach Verwirklichung der obigen methodischen Gedanken die Summe all' dessen liegt, was man, im Gegensatze zu der unhistorischen Richtung der Forschung, als den „historischen Gesichtspunkt“ oder richtiger, „die Berücksichtigung der Thatsache der Entwickelung der Wirthschaftsphänomene“ in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu bezeichnen berechtigt ist, jedes darüber hinausgehende Postulat aber, insbesondere das Streben der historischen Schule deutscher Nationalökonomen, die Politische Oekonomie in eine historische Wissenschaft, bez. in eine Philosophie der Wirthschaftsgeschichte u. dgl. m. umzugestalten, auf einer Verkennung der elementarsten Grundlagen der Wissenschaftslehre, auf einer Verwechslung von Theorie und Geschichte, beziehungsweise von Theorie der Volkswirthschaft und einzelnen speciellen Richtungen des theoretischen Erkenntnissstrebens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft beruht.
[111]
Nicht jeder Wandel der Erscheinungen bedeutet eine Entwickelung derselben. – Auch jene Veränderungen der Phänomene in der Zeit, welche sich uns nicht als Entwickelungen darstellen, sind von methodischer Wichtigkeit für die theoretische Forschung und nur durch Berücksichtigung derselben könnte dem Vorwurfe des „Perpetualismus“ in der Theorie der Volkswirthschaft vollständig begegnet werden. – Ein Aehnliches gilt von denjenigen Verschiedenheiten gleichartiger Socialphänomene, welche nicht internationaler, bezw. interlocaler Natur sind, sondern am nämlichen Orte und zur nämlichen Zeit hervortreten. – Auch diese sind von methodischer Wichtigkeit für die Theorie der Volkswirthschaft. – Auch ihre Berücksichtigung wäre nöthig, sollte dem Vorwurfe zu grosser Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse auf dem Gebiete der Volkswirthschaft vollständig begegnet werden. – Der Vorwurf des „Perpetualismus und des „Kosmopolitismus“ im Sinne unserer historischen Nationalökonomen schliesst somit nur einen Theil der Bedenken gegen eine allzu grosse Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse von der Volkswirthschaft in sich. – Die vollständige Beseitigung dieser Bedenken ist aus erkenntnisstheoretischen Gründen indess unerreichbar. – Eine unter dem Gesichtspunkte des empirischen Realismus gewonnene Theorie leidet nothwendig an denjenigen Gebrechen, welche die historische Schule durch ihre Methode zu beseitigen meint.
Es giebt kein Phänomen der realen Welt, welches uns nicht das Schauspiel steten Wandels darbieten würde. Alle realen Dinge sind in den Fluss der Zeit gestellt, die Erscheinungen des socialen Lebens eben sowohl, als jene der organischen Natur, und die Erscheinungen der anorganischen Welt nicht minder, als die beiden vorhin genannten Gruppen von Phänomenen. Der historische Gesichtspunkt in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung – der Grundsatz, dass die Thatsache der Entwickelung der Phänomene in der obigen Richtung der theoretischen Forschung nicht unberücksichtigt bleiben dürfe – muss demnach entweder allen Gebieten der Erscheinungswelt angemessen sein, oder aber unter der Thatsache der „Entwickelung der Phänomene“ [112] etwas von der blossen Thatsache dieses Wandels in der Zeit verschiedenes verstanden werden.
Nun bilden die sogenannten „Entwickelungen“ der Dinge in der That nur einen geringen Theil ihrer Wandlungen in der Zeit, indem unter dem obigen Ausdrucke regelmässig nur solche Veränderungen verstanden werden, welche aus der eigenthümlichen Natur der Dinge hervorgehen und bei welchen somit, trotz des Wandels in der Zeit, die besondere Individualität der letztern erhalten bleibt. Wir sprechen demgemäss nicht von „Entwickelungen“ solcher Dinge, welche keine eigenthümliche Individualität aufweisen, dessgleichen auch nicht in jenen Fällen, wo ein Ding, welcher Art dasselbe auch immer gedacht werden mag, lediglich durch äussere oder zufällige Umstände eine Veränderung erfährt.
Aus dem eben Gesagten ergeben sich für die Methodik unserer Wissenschaft die nachstehenden Consequenzen. Es ist vor allem ein Irrthum, wenn angenommen wird, dass durch die Berücksichtigung der Thatsache der Entwickelung der Socialphänomene in den Socialwissenschaften überhaupt und in der Politischen Oekonomie insbesondere alle wie immer gearteten, aus dem Wandel der Socialphänomene in der Zeit für die theoretische Forschung entstehenden Schwierigkeiten beseitigt würden, und eine Theorie, welche die obige Thatsache berücksichtige, schon dadurch den Fehler des „Perpetualismus“ vollständig vermeide. Im Gegentheile ist es klar, dass nur dadurch, dass bei der theoretischen Forschung auch jene Veränderungen der Erscheinungen Berücksichtigung fänden, welche nicht unter den Begriff der „Entwickelung“ fallen, der Vorwurf des Perpetualismus in der Theorie vollständig vermieden werden könnte.
Ein Aehnliches gilt von dem Vorwurfe des „Kosmopolitismus“. Gleichzeitige, der nämlichen Erscheinungsform angehörige Socialerscheinungen weisen nicht nur internationale, bez. interlocale Verschiedenheiten, sondern auch Solche am nämlichen Orte und zur nämlichen Zeit auf, ein Umstand, welcher, wie kaum bemerkt zu werden braucht, gleichfalls nicht ohne Einfluss auf die mehr oder minder [113] universelle Geltung der theoretischen Erkenntnisse zu bleiben vermag. Wer um dessentwillen, weil die volkswirthschaftlichen Erscheinungen inter locale Verschiedenheiten aufweisen, allgemeine Gesetze der Volkswirthschaft für unstatthaft erklärt, eine Modification derselben je nach den örtlichen Verhältnissen für nöthig erachtet, muss mit Rücksicht auf die localen Differenzen gleichartiger volkswirthschaftlicher Phänomene jedenfalls zu einem ähnlichen Ergebnisse gelangen. Auch mit dem blossen Streben, den Vorwurf des „Kosmopolitismus“ der nationalökonomischen Theorie zu vermeiden, ist der Fehler zu grosser Verallgemeinerung der nationalökonomischen Theorie keineswegs beseitigt.
Die Auffassung, welche der sogen. „Perpetualismus“ und „Kosmopolitismus“ in der historischen Schule der deutschen Nationalökonomen gefunden haben, ist somit eine unzureichende; denn der Forscher, welcher die beiden, durch die obigen Ausdrücke gekennzeichneten Irrthümer noch so sorgfältig vermiede, würde nichtsdestoweniger dem fundamentalen Gebrechen einer zu weit gehenden, d. i. den realen Verhältnissen nicht adäquaten Verallgemeinerung der theoretischen Erkenntnisse nicht entgehen, und nur die Berücksichtigung sämmtlicher von uns hier hervorgehobenen Verschiedenheiten der Erscheinungsformen des wirthschaftlichen Lebens würde einer realistischen Theorie der Volkswirthschaft jene Strenge verleihen, welche die obige Schule schon durch die Beseitigung des „Kosmopolitismus“ und „Perpetualismus“ in der Theorie der Volkswirthschaft zu erreichen wähnt.
Nun haben wir aber bereits dargelegt, dass die Verwirklichung der obigen wissenschaftlichen Postulate, so weit sie sich auf die aus den örtlichen Verschiedenheiten der Socialphänomene und die aus ihrer Entwickelung in der Zeit hervorgehenden Schwierigkeiten beziehen, in ihrer vollen Strenge unerreichbar ist. In der realistischen Richtung der theoretischen Forschung wird das Erkenntnissstreben sich stets mit einer bloss annäherungsweisen Berücksichtigung der hier berührten Thatsachen und mit jener Form derselben begnügen müssen, deren Grundlinien wir vorhin festgestellt haben, und, [114] wie weit auch immer der Menschengeist in der Vervollkommnung einer realistischen Theorie der Socialerscheinungen vorzudringen berufen ist, an den hier gekennzeichneten Problemen wird er scheitern. Die Durchführung der obigen Postulate der Forschung in ihrer vollen Strenge wird schon aus erkenntnisstheoretischen Gründen sich stets als ein Phantom erweisen und eine annäherungsweise Berücksichtigung derselben stets das allein erreichbare Ziel der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialphänomene, die Form der Verwirklichung der hier dargelegten Gedanken aber analog jener sein, welche wir weiter oben gekennzeichnet haben.
Die historische Schule deutscher Nationalökonomen ist in Rücksicht auf die hier behandelten erkenntnisstheoretischen Probleme in einen doppelten Irrthum verfallen. Sie hat dieselben einerseits viel zu enge aufgefasst: sie hat übersehen, dass noch andere, von ihr nicht beachtete Divergenzen der Socialphänomene die gleiche Bedeutung für die Methodik unserer Wissenschaft beanspruchen, wie jene, welchen sie ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich zugewandt hat; ihre Vertreter haben sich aber andererseits dem irrthümlichen Glauben hingegeben, dass die aus der Entwickelung der Socialphänomene und aus den interlocalen Divergenzen derselben entstehenden Schwierigkeiten für die Theorie der Volkswirthschaft durch die historische Methode vollständig beseitigt werden können.
Die „historische Methode“ verspricht weniger, als sie mit Rücksicht auf die von ihr gestellten Ziele versprechen sollte, , aber selbst dasjenige, was sie verspricht, ist in seiner vollen Strenge unerreichbar. Eine jede realistische Theorie der Volkswirthschaft leidet vielmehr in gewissem Grade nothwendig an jenen Gebrechen, welche die historische Schule durch ihre „Methode“ vollständig zu beseitigen meint.
[115]
Zurücktretende Bedeutung der obigen Thatsache für die exacte Richtung der theoretischen Forschung. Erklärung dieses Umstandes aus dem Wesen und den Aufgaben dieser Richtung der Forschung. Worin der historische Gesichtspunkt in der letzteren bestehen könne. Dass die exacte Richtung der theoretischen Forschung die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Erscheinungen weder leugne noch auch unbeachtet lasse.
Wir haben bisher nur von dem Einflusse gehandelt, welchen die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Erscheinungen auf die realistische Richtung der theoretischen Forschung und auf die Natur ihrer Ergebnisse äussert; es erübrigt uns nun noch, den Einfluss der obigen Thatsache auf die exacte Forschung zu untersuchen; wir werden uns hier aber um so kürzer fassen können, als der Einfluss der hier in Rede stehenden Thatsache auf diese letztere in der That von zurücktretender Bedeutung ist.
Es wurde von uns bereits an einer anderen Stelle hervor'gehoben, dass die aus dem untypischen Charakter der Phänomene für die realistische Richtung der theoretischen Forschung sich ergebenden Schwierigkeiten für die exacte Richtung derselben, in Folge der eigenthümlichen Auffassung des theoretischen Problems in dieser letzteren, nicht bestehen. Die exacte Forschung führt die realen Erscheinungen auf ihre einfachsten, streng typisch gedachten. Elemente zurück und sucht die streng typischen Relationen, die „Naturgesetze dieser letzteren festzustellen.' Die Erscheinungsformen, mit welchen sie operirt, sind indess nicht nur in Rücksicht auf räumliche, sondern auch auf zeitliche Verhältnisse streng typisch gedacht, und die Thatsache der Entwickelung der realen Phänomene übt demnach auch keinen Einfluss auf die Art und Weise aus, in welcher die exacte Forschung das theoretische Problem zu lösen unternimmt. Nur die grössere oder geringere Strenge der realistischen, nicht auch der [116] exacten Ergebnisse der theoretischen Forschung wird durch die Thatsache des Wandels der Phänomene und ihre interlocalen Divergenzen beeinflusst; nur der realistischen, nicht auch der exacten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft fällt demnach die Aufgabe zu, den Einfluss zu prüfen, welchen die hier in Rede stehende Thatsache auf die Natur ihrer Ergebnisse äussert, und nach den Mitteln und Wegen zu suchen, der obigen Schwierigkeit zu begegnen. Die weitläufigen Untersuchungen unserer historischen Nationalökonomen über die Fragen des „Kosmopolitismus“ und des „Perpetualismus“ der nationalökonomischen Theorie betreffen in jener Form, in welcher sie bisher hervorgetreten sind, in Wahrheit nur die realistischen, nicht auch die exacten Ergebnisse der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft.
Damit ist freilich keineswegs gesagt, dass die exacte Richtung der theoretischen Forschung die Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene überhaupt nicht berücksichtige, oder wohl gar läugne. Die exacten Theorien sollen uns die einfachsten, streng typisch gedachten (der exacten Auffassung zugänglichen) constitutiven Factoren der Erscheinungen und die Gesetze lehren, nach welchen sich complicirte Phänomene aus den ersteren aufbauen. Diese Aufgabe erfüllen sie indess nur dadurch vollständig, dass sie uns das obige Verständniss rücksichtlich jeder Phase in der Entwickelung der Phänomene verschaffen oder, mit anderen Worten, uns lehren, wie die Phänomene auf jeder Stufe ihrer Entwickelung sich als Ergebniss eines gesetzmässigen Entstehungsprocesses darstellen. Die exacten Wissenschaften ignoriren demnach eben so wenig die Thatsache der Entwickelung der Phänomene, als das Postulat einer jeden Theorie, dem Wechsel der Erscheinungen, welche sie uns zum Verständnisse bringen soll, in allen Phasen zu folgen. Jede neue Erscheinungsform, welche das Leben hervorbringt, jede neue Entwickelungsphase der Phänomene bietet ein neues Problem der exacten Richtung der theoretischen Forschung. Sie berücksichtigt somit in der That den Wandel der [117] Erscheinungen . – nur in wesentlich verschiedener Weise als dies in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung der Fall ist. Die Thatsache der Entwickelung der Phänomene beeinflusst die Natur, die grössere oder geringere Strenge der Ergebnisse der realistischen Forschung; die nämliche ThatSache lässt den formalen Charakter der Ergebnisse der exacten Forschung unberührt, sie modificirt und erweitert indess den Kreis der Objecte, deren Verständniss uns die exacten Wissenschaften eröffnen sollen – sie modificirt die Ziele der Forschung.
Was speciell die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft betrifft, so bedarf es für jeden, welcher mit den Ergebnissen derselben und mit ihrer Geschichte auch nur einigermassen vertraut ist, wohl kaum der Bemerkung, dass auch ihre Vertreter stets bemüht waren, der Entwickelung der Volkswirthschaft zu folgen und jede neue Erscheinungsform auf dem Gebiete derselben, ja jede neue Phase in der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Erscheinungen in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen; die exacte Forschung auf dem Gebiete unserer Wissenschaft hat die Thatsache der Entwickelung der Socialphänomene niemals negirt, niemals auch in principieller Weise Vernachlässigt. Sie hat indess, wie selbstverständlich, dieselbe in einer ihrer Natur und ihren Aufgaben adäquaten Weise berücksichtigt.
[118]
Die historische Richtung in der theoretischen Nationalökonomie besteht nicht in historischem Beiwerk, welches den Ergebnissen der theoretischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in äusserlicher Weise hinzugefügt wird. – Ebenso wenig in literaturgeschichtlichen Studien überhaupt und dogmengeschichtlichem Beiwerke insbesondere. – Dieselbe ist auch nicht darin zu suchen, dass nur die Geschichte als empirische Grundlage der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft anerkannt wird. – Irrthum des specifischen Historismus in der theoretischen Nationalökonomie. – Das Streben nach Feststellung der „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“ ist nur eine specielle Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. – Die theoretische Volkswirthschaftslehre ist keine Wissenschaft von den „Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“. – Eben so wenig eine „Philosophie der Geschichte“. – Widerspruch zwischen den Definitionen der theoretischen Nationalökonomie und den Darstellungen dieser letzteren in der historischen Schule deutscher Volkswirthe.
Dass diejenigen, welche die Bedeutung des historischen Gesichtspunktes für die Theorie der Volkswirthschaft am lärmendsten betonen, das wahre Wesen desselben nicht selten am gründlichsten verkennen, haben wir bereits oben gesehen, wo wir auf die methodischen Irrthümer jener hingewiesen haben, welche den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Volkswirthschaftslehre festzuhalten vermeinen, während sie sich doch in Wahrheit mit dieser letzteren überhaupt nicht beschäftigen, sondern die Erscheinungen der [119] Volkswirthschaft unter – specifisch historischem Gesichtspunkte der Forschung, oder unter jenem der praktischen Volkswirthschaftslehre betrachten. Nun, wo wir das Wesen des historischen Gesichtspunktes oder vielmehr die Bedeutung jener Thatsache, welche wir die Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene nennen, für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft dargestellt haben, erübrigt uns noch, der methodischen Missgriffe jener zu gedenken, welche den Begriff der theoretischen Nationalökonomie zwar festhalten, indess das Wesen des „historischen“ Gesichtspunktes in derselben in Postulaten der Forschung erkennen, welche von den oben dargelegten wesentlich abweichen, ja für die theoretische Nationalökonomie zumeist durchaus äusserlich und irrelevant sind.
Es giebt solche, welche den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie festzuhalten glauben, indem sie die alten, unter dem sogenannten „unhistorischen“ Gesichtspunkte gewonnenen Theorien mit allerhand historischem Beiwerk verbrämen. Wenn man Darstellungen der theoretischen Nationalökonomie dieser Art mit solchen einer früheren, der sogenannten „unhistorischen“ Epoche, vergleicht, so ist unschwer zu erkennen, dass die theoretischen Erkenntnisse, welche die ersteren umfassen, sich in nichts Wesentlichem von jenen der letzteren unterscheiden. Der Unterschied besteht oft genug nur darin, dass die systematische Darstellung der wohlbekannten Theorien der alten „unhistorischen“ Schulen von historischen Excursen durchbrochen oder ganz äusserlich mit historischen Beigaben verbrämt wird und solcher Art eine Composition entsteht, welche weder Theorie noch Geschichtsschreibung, am wenigsten aber eine theoretische Volkswirthschaftslehre unter dem Gesichtspunkte historischer Betrach tung ist.
In einen ähnlichen Irrthum über das Wesen des historischen Gesichtspunktes in der Theorie der Volkswirthschaft verfallen auch jene, welche denselben in literaturgeschichtlichen Studien auf dem Gebiete unserer Wissenschaft, [120] oder aber in einer speciellen Richtung derselben erkennen.
„Im Gegensatze zu dem Absolutismus der Theorie“ – sagt Knies [39]– „beruht die historische Auffassung der politischen Oekonomie auf dem Grundsatze, dass, wie die wirthschaftlichen Lebenszustände, so auch die Theorie der politischen Oekonomie ein Ergebniss der geschichtlichen Entwickelung ist; dass sie in lebendiger Verbindung mit dem Gesammtorganismus einer menschlichen und völkergeschichtlichen Periode mit und aus den Bedingungen der Zeit, des Raumes, der Nationalität erwächst, mit ihnen besteht und zu fortschreitender Entwickelung sich fortbildet; dass sie in dem geschichtlichen Leben der Völker ihre Argumentation hat, ihren Resultaten den Charakter geschichtlicher Lösungen beilegen muss: dass sie auch die allgemeinen „Gesetze“ in dem allgemeinen Theile der Nationalökonomie nicht anders denn als geschichtliche Explication und fortschreitende Manifestation der Wahrheit darstellen, auf jeder Stufe nur als die Verallgemeinerung der bis zu diesem bestimmten Punkte der Entwickelung erkannten Wahrheiten dastehen und weder der Summe noch der Formulirung nach für absolut abgeschlossen erklärt werden könne, und dass der Absolutismus der Theorie, wo er sich auf einer Stufe der geschichtlichen Entwickelung Geltung verschafft hat, selbst nur als ein Kind dieser Zeit dasteht und eine bestimmte Stufe in der geschichtlichen Entwickelung der politischen Oekonomie bezeichnet.“
Der Irrthum, welcher der obigen Auffassung vom Wesen der historischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie zu Grunde liegt, ist klar. Die einzelnen Entwickelungsphasen unserer Wissenschaft können allerdings nur im Zusammenhange mit den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen, unter welchen sie hervorgetreten sind, historisch verstanden werden, oder mit anderen Worten: Eine ihre (historische!) Aufgabe richtig erfassende Literaturgeschichte [121] unserer Wissenschaft darf den Zusammenhang zwischen den einzelnen Entwickelungsphasen dieser letzteren und den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen nicht übersehen. Dies ist indess ein Postulat jeder Literaturgeschichte. auch einer solchen der exacten Naturwissenschaften, der Chemie und Physik, ja jeder Geschichtsschreibung überhaupt, steht indess in gar keiner unmittelbaren Beziehung zu jenen Postulaten der Forschung, welche wir den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie (die Festhaltung der Thatsache der Entwickelung der volkswirthschaftlichen Phänomene bei Erforschung des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der Gesetze der Volkswirthschaft) genannt haben.
In einen durchaus analogen Irrthum verfallen jene, welche den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie festzuhalten vermeinen, indem sie den Ergebnissen einer im Uebrigen nicht selten durchaus „unhistorischen“ theoretischen Forschung Dogmengeschichten der nationalökonomischen Lehren beifügen. Dogmengeschichtliche Darstellungen dieser Art sind Literaturgeschichte, und zwar Geschichte einzelner Lehren der Politischen Oekonomie, nicht aber Ergebnisse der theoretischen Forschung unter dem „historischen“ Gesichtspunkte. Sie sind dies weder an sich, noch vermögen sie eine „unhistorische“ Theorie zu einer „historischen“ zu gestalten. So nützlich dieselben auch für das Studium der theoretischen Nationalökonomie sein mögen, den historischen Gesichtspunkt in dieser Wissenschaft bedeuten sie so wenig, als literaturgeschichtliche Studien irgend einer anderen Art.
Nicht minder irren jene, welche den historischen Gesichtspunkt in der theoretischen Nationalökonomie in der Weise zur Geltung zu bringen suchen, dass sie die Theorie der Volkswirthschaft nicht auf die Erfahrung überhaupt, sondern ausschliesslich auf die Geschichte der Volkswirthschaft zu begründen suchen, d. i. in dieser letzteren die ausschliesslich berechtigte empirische Grundlage der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der menschlichen Wirthschaft [122] erkennen. Die Irrthümlichkeit der obigen, unter den deutschen Volkswirthen geradezu herrschend gewordenen Meinung (des einseitigen Historismus in der theoretischen NationalÖkonomie!) liegt indess für jeden in methodischen Dingen nicht ganz Unerfahrenen auf der Hand. Die Geschichte hat im Gegensatze zu den theoretischen Wissenschaften, welche uns das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der Erscheinungen zum Bewusstsein zu bringen haben, die Aufgabe, das individuelle Wesen und den individuellen Zusammenhang der Erscheinungen überhaupt und der Menschheitserscheinungen insbesondere zu erforschen und darzustellen. Diese ihre umfassende Aufgabe vermag dieselbe nicht in der Weise zu lösen, dass sie die unabsehbare Menge von Singula rerscheinungen des Menschenlebens erforscht und verzeichnet; sie vermag derselben vielmehr nur in der Art gerecht zu werden, dass sie das Individuelle der realen Welt unter dem Gesichtspunkte von Collectivphänomenen zusammenfasst und uns das Wesen und den Zusammenhang der obigen Erscheinungen an jenen grossen Collectiv phänomenen zum Bewusstsein bringt, welche wir Volk, Staat, Gesellschaft nennen. Nicht die Schicksale der einzelnen Individuen, nicht die Thaten derselben an sich, nur die Schicksale und Thaten der Völker sind Gegenstand der Geschichte, die ersteren aber nur insofern, als sie zugleich bedeutungsvoll für die Entwickelung des Ganzen d. i. der Collectiverscheinungen als solcher sind.
Das Nämliche gilt, wie selbstverständlich, auch von der Geschichte der menschlichen Wirthschaft. Auch hier sind es nicht die Singularerscheinungen dieser letzteren, nicht all die zahllosen, auf die Deckung ihres Güterbedarfes gerichteten Bestrebungen und Erfolge der einzelnen Individuen, nicht die unübersehbaren Myriaden von einzelnen Acten der Production, des Austausches und der ökonomischen Verwendung der Güter, welche den Gegenstand der Geschichtsdarstellung bilden. Was uns diese letztere zum Bewusstsein bringt, ist vielmehr das concrete Wesen und die Entwickelung jener grossen Collectivphänomene, welche wir die Volkswirthschaft nennen. Nur [123] derjenige, welcher die Natur der historischen Wissenschaften vollständig verkennt, vermag sich demnach der Täuschung hinzugeben, aus dem Studium der Geschichte überhaupt und jener der Volkswirthschaft insbesondere einen Einblick in das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft überhaupt gewinnen zu können. [40]
Diejenigen, welche in der Geschichte der Volkswirthschaft die allein berechtigte empirische Grundlage für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der menschlichen Wirthschaft erkennen, befinden sich dempach in einem fundamentalen Irrthum, indem neben der obigen, allerdings höchst werthvollen empirischen Grundlage der theoretischen Forschung auch die gemeine Lebenserfahrung oder, was das Nämliche ist, die Beobachtung der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft, ja, wie hier hinzugefügt werden muss, eine möglichst umfassende Beobachtung derselben unentbehrlich ist, so unentbehrlich, dass wir uns ohne das Studium der Geschichte der Volkswirthschaft zwar keine hochentwickelte Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, ohne die Beobachtung der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft aber überhaupt keine Theorie der letzteren zu denken vermögen. Der Irrthum jener, welche ausschliesslich die Geschichte der Volkswirthschaft als empirische Grundlage der theoretischen Nationalökonomie anerkennen, erscheint uns nicht geringer, als jener eines Physikers oder Chemikers, welcher auf der Grundlage von universellen Naturschilderungen, und wären sie selbst so vortrefflich wie jene A. v. Humboldts, die Gesetze der Physik oder der Chemie, oder eines Physiologen, welcher ausschliesslich auf der Grundlage von ethnographischen Darstellungen eine Physiologie des menschlichen Körpers aufbauen wollte. [41]
[124]
Endlich irren auch jene, welche in der Erforschung der Parallelismen der historischen Entwickelung verschiedener Völker, in dem, was vielleicht nicht ganz passend bisweilen „die Philosophie der Geschichte“ genannt wurde, [125] das Wesen der historischen Richtung der theoretischen Staatsund Gesellschaftswissenschaften überhaupt, und in der Erforschung dieser Parallelismen in der Wirthschaftsgeschichte der Völker das Wesen der historischen Richtung der theoretischen Nationalökonomie insbesondere erkennen, ja die Ergebnisse der obigen Richtung der Forschung geradezu mit der theoretischen Nationalökonomie identificiren.
Dass die Anhänger dieser Auffassung vom Wesen der theoretischen Nationalökonomie gleichfalls in den vorhin charakterisirten Irrthum des einseitigen Historismus verfallen, ist von selbst ersichtlich. Indess liegt der obigen Auffassung ein noch viel gröberer Irrthum zu Grunde.
Dass die Parallelismen im Volks- und Staatsleben überhaupt und in der Entwickelung der Volkswirthschaft insbesondere ausnahmslose Regelmässigkeiten seien oder, mit anderen Worten, die Entwickelung der hier in Rede stehenden Phänomene eine strenge Gesetzmässigkeit aufweise, vermöchte nur die extremste wissenschaftliche Einseitigkeit zu behaupten. [42]Kann aber auch von Naturgesetzen der Entwickelung der ethischen Erscheinungen überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere vernünftiger Weise nicht die Rede sein, so [126] besteht doch für jeden, dem die Geschichte nicht fremd ist, darüber kein Zweifel, dass Regelmässigkeiten in der Entwickelung der obigen Phänomene, wenn auch nicht solche von der präsumirten Strenge, thatsächlich zu beobachten sind und die Feststellung derselben – mag man sie nun Entwickelungsgesetze oder blosse Parallelismen, blosse Regelmässigkeiten der Entwickelung nennen – eine keineswegs unberechtigte Aufgabe der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen überhaupt und jenem der Volkswirthschaft insbesondere ist.
Nur die geringe Klarheit, welche bei einem Theile der deutschen Forscher auf dem Gebiete der Nationalökonomie über allgemeine methodische Fragen und speciell über die Aufgaben der theoretischen Wissenschaften herrscht, konnte dieselben indess zu der Meinung verleiten, dass die hier in Rede stehenden Parallelismen in der geschichtlichen Entwickelung der Volkswirthschaft den ausschliesslichen, ja auch nur den hauptsächlichen Inhalt der theoretischen Nationalökonomie bilden, oder mit andern Worten: dass die letztgenannte Wissenschaft „die-Lehre von dem Entwickelungsgesetze der Volkswirthschaft“ in dem obigen Verstande des Wortes sei. Die theoretische Nationalökonomie ist die Wissenschaft vom generellen Wesen (den Erscheinungsformen) und dem generellen Zusammenhang (den Gesetzen) der Volkswirthschaft, und dieser umfassenden und bedeutungsvollen Aufgabe unserer Wissenschaft gegenüber muss die Feststellung der „Entwickelungsgesetze“ der Volkswirthschaft in dem obigen Verstande des Wortes als eine an sich keineswegs unberechtigte, aber doch nur durchaus nebensächliche, als eine solche erscheinen, welche in der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft keineswegs vernachlässigt werden darf, deren Ergebniss indess, wie schon ein einziger Blick auf den Inhalt aller einigermassen in Aufnahme gekommenen Darstellungen der theoretischen Nationalökonomie lehrt, nur den geringsten Theil des Inhalts der letztern bildet. Die Parallelismen, wie wir dieselben in der Entwickelung der Preise, der Grundrente, des Capitalzinses bei [127] verschiedenen Völkern zu beobachten vermögen, sind unzweifelhaft ein ebenso berechtigter als interessanter Gegenstand der theoretischen Forschung. Welcher methodische Irrthum indess, dieselben mit den Gesetzen zu verwechseln, welche uns lehren, wie Angebot und Nachfrage oder die Quantität der Umlaufsmittel den Preis der Güter, wie die Entfernung der Grundstücke vom Markte und ihre verschiedene Fruchtbarkeit die Grundrente, wie die grössere oder geringere Sparsamkeit oder der mehr oder minder rege Geschäftsgeist der Bewohner eines Landes den Zinsfuss in dem letzter'n beeinflussen = Gesetze, welche insgesammt vernünftigerweise doch nicht als Parallelismen der geschichtlichen Entwickelung der Volkswirthschaft bezeichnet werden können!
Der hier in Rede stehende Irrthum ist kein geringerer, als ob eine Schule von Naturforschern das Streben nach Feststellung der Entwickelungsgesetze der organischen Welt oder gar speciell die Darwin'sche Theorie mit der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der organischen Welt (der Physiologie u. s. f.), ja mit der Naturforschung überhaupt verwechseln und jedes ausserhalb der obigen Richtung liegende Forscherstreben als gunmethodisch“ und „unfruchtbar bezeichnen, bez. die Ergebnisse aller übrigen Richtungen der Naturforschung an dem Massstabe der obigen Einseitigkeit messen wollte. [43]
Dass in der wissenschaftlichen Praxis das obige Missverständniss selbst bei den eifrigsten Vertretern der „geschichtsphilosophischen“ Richtung nicht zur vollen Geltung [128] gelangt, ist selbstverständlich. Die obige Auffassung der Aufgabe der theoretischen Socialwissenschaften ist eine zu einseitige, als dass sie in der Praxis der Forschung oder in jener der Darstellung der obigen Wissenschaften je zur consequenten Durchführung hätte gelangen können. In methodischen Schriften und an der Spitze der Darstellungen theoretischer Socialwissenschaften mag sie immerhin eine Stelle finden; von einer Verwirklichung des obigen Gedankens in der Theorie der Socialwissenschaften kann selbstverständlich nicht die Rede sein. Entlehnen doch selbst diejenigen, welche an der Spitze ihrer Darstellungen der Nationalökonomie diese letztere als die „Philosophie der Wirthschaftsgeschichte“ oder als die Wissenschaft von den ,Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte bezeichnen, einen grossen Theil des Inhaltes ihrer Werke den Ergebnissen der exacten Forschung, und bringen dieselben doch in Wahrheit nicht ausschliesslich Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte, sondern auch, und zwar sogar der Hauptsache nach, Ergebnisse der exacten Forschung und solche Ergebnisse der empirischen Forschung zur Darstellung, welche keine „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“ sind. Die Praxis der Forschung berichtigt in diesem Falle die Theorie derselben.
Der Irrthum und die Einseitigkeit der hier gekennzeichneten Auffassung des Wesens der Politischen Oekonomie ist durch die obigen Bemerkungen indess keineswegs erschöpft. Wer mit den Bestrebungen auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie auch nur einigermassen vertraut ist, weiss, dass die oben angedeutete Richtung der Forschung nur eine der zahlreichen Formen geschichtsphilosophischer Untersuchung bedeutet, [44]die Feststellung von „Parallelismen der [129] Wirthschaftsgeschichte“, oder von sogenannten Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“, somit nicht einmal mit der geschichtsphilosophischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft identisch ist.
Die Auffassung der theoretischen Nationalökonomie oder gar der Politischen Oekonomie, als einer Wissenschaft von den „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte", von den Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“ u. dgl. m. ist somit eine geradezu ungeheuerliche, eine Einseitigkeit, welche sich nur durch den Umstand erklären lässt, dass die historische Schule deutscher Nationalökonomen sich bisher ohne ernstlichen Contact mit den übrigen Richtungen der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie entwickelt hat. Sie ist ein sprechender Beweis für die Verirrungen, deren eine Gelehrtenschule fähig ist, welcher nicht das Glück zu Theil wird, ernstliche Gegner zu finden.
[130]
Die wirthschaftlichen Institutionen und Normativgesetze haben sien nach den besonderen Verhältnissen der Völker zu richten, welchen dieselben dienen. – Selbstverständlichkeit dieses Grundsatzes für alle praktischen Wissenschaften. – Die Anerkennung des obigen Grundsatzes ist nicht eine besondere Methode der praktischen Wissenschaften. – Dass die sogen. „ historische Methode“ in den praktischen Socialwissenschaften wesentlich zur Verwirrung der Meinungen über die Relativität socialer Einrichtungen beigetragen hat.
Wir haben oben darauf hingewiesen, dass der historische Gesichtspunkt in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft mit jenem in der theoretischen Volkswirthschaftslehre nicht verwechselt werden dürfe. Nunmehr, nachdem wir das Wesen des letztern dargestellt haben, wollen wir noch über die Natur und die Bedeutung des historischen Gesichtspunktes in den praktischen Wirthschaftswissenschaften handeln. Wir werden uns aber um so kürzer zu fassen vermögen, als gerade über die hier in Rede stehende Frage die Meinungsverschiedenheiten unter den deutschen Nationalökonomen relativ gering sind. Die Frage, um welche es sich hier handelt, ist aber jene nach der Relativität der s»eialen Einrichtungen und der Normativgesetze.
Nun hat, wenn irgend ein Gedanke, so ohne Zweifel jener Volle Berechtigung, dass bestimmte politische Massregeln, [131] Gesetze, Institutionen, Gewohnheiten u. s. f. nicht schlechthin für alle Zeiten und Völker, kurz für verschiedenartige Verhältnisse die gleiche Berechtigung haben. Dass eine staatliche oder sociale Einrichtung in der Vergangenheit eine zweckmässige und desshalb berechtigte gewesen sein kann, auch wenn sie heute dieser Berechtigung entbehrt, und umgekehrt eine solche Institution in der Gegenwart berechtigt sein kann, welche in der Vergangenheit mit Recht als eine verderbliche bezeichnet worden wäre und in Zukunft vielleicht mit Recht als solche bezeichnet werden wird, dass ein ähnliches in Rücksicht auf den nämlichen Zeitpunkt für zwei Länder, die verschiedene staatliche oder sociale Verhältnisse aufweisen, gilt; dass überhaupt verschiedenen staatlichen und socialen Verhältnissen der Regel nach verschiedene Institutionen, Massregeln, Gesetze u. s. f. adäquat sind: all dies ist so selbstverständlich, so unzählige Male von Schriftstellern über „Politik" wiederholt und, wie wir im vierten Buche sehen werden, seit Jahrtausenden immer wieder wiederholt worden, dass nur die Verkennung der obigen Sätze durch einige dem Leben durchaus entfremdete Gelehrte die besondere Betonung derselben erklärlich erscheinen lässt. [45]
Eine praktische Wissenschaft, eine Kunstlehre, welcher [132] Art dieselbe auch immer gedacht werden mag, ist schon der allgemeinen Natur der Erkenntnisse nach, die sie uns vermitteln soll, keine solche, welche für alle Zeiten und Völker oder überhaupt ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Verhältnisse, die gleiche Geltung beanspruchen könnte. Eine solche Wissenschaft ist für jeden, welcher über das Wesen der Kunstlehren auch nur einigermassen zur Klarheit gelangt ist, vielmehr geradezu ein Unding, da es doch vernünftigerweise keine Grundsätze für das Handeln der Menschen ohne Rücksicht auf die Besonderheit der Verhältnisse geben kann.
Von diesem allgemeinen Charakter der praktischen Wissenschaften macht auch die Volkswirthschaftspolitik keine Ausnahme. Sie ist die Wissenschaft von den Grundsätzen, nach welchen die Volkswirthschaft gefördert zu werden vermag, indess selbstverständlich ebenso wenig, als irgend eine andere Kunstlehre, eine Wissenschaft von Universalmitteln und speciell von solchen zur Förderung der Volkswirthschaft. Ein Wirthschaftspolitiker, welcher auf die Verhältnisse, unter welchen bestimmte wirthschaftspolitische Zwecke erreicht werden sollen, keine Rücksicht nimmt und gewisse Massregeln schlechthin anräth oder verwirft, gewisse Institutionen, Gewohnheiten u. s. f. unter allen Umständen für berechtigt hält oder verurtheilt, ist einem Technologen vergleichbar, welcher bestimmte mechanische Operationen ohne Rücksicht auf das zu bearbeitende Material, einem Therapeuten, welcher bestimmte Heilmethoden ohne Rücksicht auf die pathologische Beschaffenheit des Kranken, einem Feldherrn, welcher bestimmte strategische und taktische Massregeln als schlechthin zweckmässig hinstellen würde. Man könnte demnach die Volkswirthschaftspolitik mit vollem Rechte auch als jene Wissenschaft bezeichnen, welche uns die Maximen lehrt, nach welchen die den besonderen Verhältnissen der Volkswirthschaft entsprechenden Massregeln zur Förderung der letztern ergriffen werden können. Eine solche Begriffsbestimmung wäre nicht unrichtig. Wenn die Volkswirthschaftspolitik indess schlechthin als die Wissenschaft von den [133] Grundsätzen zur Förderung der Volkswirthschaft bezeichnet wird, so geschieht dies deshalb, weil das obige Postulat der Forschung allen praktischen Wissenschaften eigen und deshalb selbstverständlich ist. So wenig nämlich der Hinweis auf die Berücksichtigung der Besonderheit der Verhältnisse in der Begriffsbestimmung der Technologie, der Therapie oder der Strategie erforderlich ist, so wenig ist dies in jener der „Volkswirthschaftspolitik“ der Fall.
Wir vermögen demnach auch in der Berücksichtigung verschiedener Verhältnisse Seitens der Volkswirthschaftspolitiker keine besondere Methode (keinen besondern Erkenntnissweg!) der Volkswirthschaftspolitik zu erkennen. Die Nichtberücksichtigung der Verschiedenheit der Verhältnisse ist ein grober Irrthum jeder wie immer gearteten Forschung auf dem Gebiete der praktischen Wissenschaften, die Berücksichtigung derselben nichts, was dem Vorgange eines Forschers den Charakter einer besondern Methode verleihen würde, es müsste denn die Vermeidung jedes, wie immer gearteten methodischen Missgriffes als eine besondere Methode der Forschung hingestellt werden.
Was hier von der Verschiedenheit der volkswirthschaftlichen Verhältnisse und ihrem Einflusse auf die Grundsätze der Volkswirthschaftspolitik überhaupt gesagt wurde, gilt selbstverständlich auch von jener, welche Völker in Folge der verschiedenen Entwickelung ihrer Wirthschaft aufweisen, und es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass auch diese Verschiedenheiten in den wirthschaftlichen Verhältnissen der Völker nicht ohne Einfluss auf die wirthschaftlichen Institutionen dieser letztern zu bleiben vermögen. Nicht nur verschiedenen, auch den nämlichen Völkern werden auf verschiedenen Stufen der wirthschaftlichen Entwickelung verschiedene volkswirthschaftsliche Massregeln, Normativgesetze, Gewohnheiten und Institutionen adäquat sein. All' dies ist mit Rücksicht auf den obigen allgemeinen Grundsatz von der Relativität praktischer Erkenntnisse indess selbstverständlich, so selbstverständlich, dass die besondere Betonung desselben zum mindesten als überflüssig erscheinen muss. Sie [134] wird indess geradezu zu einem Irrthume, wenn in der hier gekennzeichneten Anschauungsweise eine besondere, die „historische“ Methode der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaftspolitik erkannt, ja die Bethätigung derselben mit jener des allgemeinen Grundsatzes der Relativität praktischer Erkenntnisse auf dem Gebiete der Volkswirthschaft verwechSelt wird.
Eine Wissenschaft der Volkswirthschaftspolitik, welche die verschiedenen Entwickelungsstufen der Völker gebührend berücksichtigen, also den historischen Gesichtspunkt in diesem Sinne des Wortes auf das strengste festhalten, nicht aber zugleich auch die verschiedenen ökonomischen, geographischen und ethnographischen Verhältnisse auf gleicher Stufe der Entwickelung stehender Völker in Betracht ziehen würde, könnte, wie kaum bemerkt zu werden braucht, von dem Vorwurfe des „Absolutismus der Lösungen“ doch nicht freigesprochen werden; sie wäre eine historische im Sinne mancher unserer historischen Volkswirthe, aber nichtsdestoweniger eine solche, welche dem Grundsatze der Relativität socialer Einrichtungen doch nur zum Theile Rechnung tragen würde. Die Idee der „historischen Methode“ in den praktischen Socialwissenschaften an die Stelle des selbstverständlichen Grundsatzes von der allgemeinen Relativität praktischer Maximen gesetzt, ist desshalb nicht nur überflüssig, sondern geradezu verwirrend.
Eine auf der Höhe der methodischen Anforderungen stehende Wissenschaft der Volkswirthschaftspolitik muss, in Rücksicht auf die Förderung der Volkswirthschaft, jene selbstverständliche Aufgabe erfüllen, welche allen praktischen Wissenschaften gemein ist: sie muss uns die Grundsätze lehren, nach welchen die Volkswirthschaft, mit Berücksichtigung aller hier in Betracht kommenden besondern Verhältnisse, Seitens der öffentlichen Gewalt gefördert zu werden vermag. Diese Methode ist eine historische im Sinne unserer historischen Volkswirthe, indess zugleich eine solche, welche mit dem nämlichen Rechte eine geographische, eine ethnographische genannt werden könnte.
[135]
Und doch wäre selbst mit all diesen „Methoden“ der ei, sahe Gedanke keineswegs erschöpft, dass jede praktische Wissenschenschaft, ob sie sich nun auf die Gestaltung menschlicher Verhältnisse, oder der organischen, ja selbst der an(organischen Natur bezieht, der Verschiedenheit der Verhältwisse Rechnung zu tragen habe.
Das Bestreben unserer Historiker auf dem Gebiete der Volkswirthschaft - auch hier der Geschichte eine ausschliessliche Bedeutung zu vindiciren, hat nichts zur Klarstellung des in Rede stehenden methodischen Problems, wohl agr wesentlief zu dessen Verdunkelung beigetragen.
[139]
Die normale Function der Organismen ist durch jene ihrer Theile (der Organe), und diese letztere wiederum durch die Verbindung der Theile zu einem höheren Ganzen, bezw. durch die normale Function der übrigen Organe bedingt. – Aehnliche Beobachtung an den Socialerscheinungen. – Die Organismen weisen eine Zweckmässigkeit der Theile in Rücksicht auf die Function des Ganzen auf, eine Zweckmässigkeit, welche jedoch nicht das Ergebniss menschlicher Berechnung ist. – Analoge Beobachtung an den Socialerscheinungen. – Als methodische Consequenz dieser Analogien zwischen den Socialgebilden und den natürlichen Organismen ergiebt sich die Idee einer anatomisch-physiologischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Socialwissenschaften.
Zwischen den natürlichen Organismen und einer Reihe VOn Gebilden des socialen Lebens besteht sowohl in RückSicht auf ihre Function als auch auf ihren Ursprung eine gewisse Aehnlichkeit.
Wir vermögen an den natürlichen Organismen eine in ihren Details nahezu unübersehbare Complication und insbesondere eine grosse Mannigfaltigkeit ihrer Theile (der [140] einzelnen Organe) zu beobachten; all' diese Mannigfaltigkeit dient indess der Erhaltung, der Entwickelung und der Fortpflanzung der Organismen als Ganzen. Jeder Theil derselben hat in Rücksicht auf diesen Erfolg seine besondere Function, deren Störung je nach der Intensivität dieser letzteren, beziehungsweise je nach der Bedeutung des betreffenden Organes, eine mehr oder minder intensive Störung der Function des gesammten Organismus, beziehungsweise der übrigen Organe im Gefolge hat, während umgekehrt eine Störung des Zusammenhanges der Organe zu einem höheren Ganzen in gleicher Weise auf das Wesen und die Function der einzelnen Organe zurückwirkt. Die normale Function und Entwickelung des Ganzen eines Organismus ist solcher Art durch jene seiner Theile, diese letztere wieder durch die Verbindung der Theile zu einem höheren Ganzen, die normale Function und Entwickelung jedes einzelnen Organes endlich durch jene der übrigen Organe bedingt.
Eine in mancher Rücksicht ähnliche Beobachtung vermögen wir in Bezug auf eine Reihe von Socialerscheinungen überhaupt und der menschlichen Wirthschaft insbesondere anzustellen. Auch hier treten uns in zahlreichen Fällen Phänomene vor Augen, deren Theile der Erhaltung, der normalen Function und der Entwickelung des Ganzen dienen, ja diese letzteren bedingen, und deren normales Wesen und normale Function wieder von jener des Ganzen bedingt und beeinflusst wird, so zwar, dass weder das Ganze in seiner normalen Erscheinung und Function ohne irgend einen wesentlichen Theil, noch auch umgekehrt ein solcher in seinem normalen Wesen und seiner normalen Function getrennt vom Ganzen gedacht zu werden vermag. Es liegt auf der Hand, dass hier eine gewisse Analogie zwischen dem Wesen und der Function der natürlichen Organismen einerseits und den Socialen Gebilden andererseits vorhanden ist.
Das nämliche gilt rücksichtlich des Ursprunges einer Reihe socialer Erscheinungen. Die natürlichen Organismen Weisen bei genauer Betrachtung fast ausnahmslos eine geradezu [141] bewunderungswürdige Zweckmässigkeit aller Theile in RückSicht auf das Ganze auf, eine Zweckmässigkeit, welche indess nicht das Ergebniss menschlicher Berechnung, sondern eines natürlichen Processes ist. Aehnlich vermögen wir auch an zahlreichen socialen Institutionen eine in die Augen springende Zweckmässigkeit in Rücksicht auf das Ganze der Gesellschaft zu beobachten, während bei näherer Betrachtung dieselben sich uns doch nicht als das Ergebniss einer auf den obigen Zweck gerichteten Absicht, d. i. einer Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder, beziehungsweise der positiven Gesetzgebung erweisen. Auch sie stellen sich uns vielmehr (in einem gewissen Sinne) als „natürliche“ Producte, als un reflectirte Ergebnisse geschichtlicher Entwickelung dar. Man denke z. B. an die Erscheinung des Geldes, einer Institution, welche in so hohem Masse der Wohlfahrt der Gesellschaft dient und doch bei den weitaus meisten Völkern keineswegs das Ergebniss einer auf die Begründung derselben, als socialer Institution, gerichteten Uebereinkunft oder der positiven Gesetzgebung, sondern das unreflectirte Product geschichtlicher Entwickelung ist; man denke an das Recht, an die Sprache, an den Ursprung der Märkte, der Gemeinden, der Staaten u. s. f.
Weisen nun die Socialphänomene und die natürlichen Organismen rücksichtlich ihres Wesens, ihres Ursprunges und ihrer Function Analogien auf, so ist zugleich klar, dass diese Thatsache nicht ohne Einfluss auf die Methode der Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften überhaupt und der Volkswirthschaftslehre insbesondere bleiben kann.
Die Anatomie ist die Lehre von den Erscheinungsformen der Organismen und von dem Bau ihrer Theile (der Organe); die Physiologie die theoretische Wissenschaft, welche uns die Lebenserscheinungen der Organismen und die Functionen ihrer Theile (der Organe) in Rücksicht auf die Erhaltung und Entwickelung der Organismen in ihrer Totalität lehrt. Werden nun Staat, Gesellschaft, Volkswirthschaft u. S. f. als Organismen, beziehungsweise als den letzteren analoge Gebilde aufgefasst, so liegt der Gedanke nahe, auch auf dem [142] Gebiete der obigen Erscheinungen ähnliche Richtungen der Forschung zu verfolgen, wie auf dem Gebiete der organischen Natur. Die obige Analogie führt zu dem Gedanken theoretischer Socialwissenschaften, analog jenen, welche das Ergebniss der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der physisch-organischen Welt sind, zu einer Anatomie und Physiologie der „socialen Organismen“ des Staates, der Gesellschaft, der Volkswirthschaft u. s. f.
In dem Vorstehenden haben wir die Grundgedanken der Theorie von der Analogie der Socialphänomene und der natürlichen Organismen, eine Analogie, welche in den Staatswissenschaften bekanntlich bereits von Platon und Aristoteles gezogen wurde, dargelegt und auf die beiden Momente hingewiesen, rücksichtlich welcher dieselbe in der neueren wissenschaftlichen Literatur vornehmlich anerkannt wird. Nicht als ob hiermit die Gesammtheit der zwischen den beiden obigen Gruppen von Phänomenen angenommenen Parallelismen erschöpft wäre, wohl aber glauben wir in dem Voranstehenden den Kern der obigen Theorie in jener Form und in jenem Sinne dargelegt zu haben, in welchem sie von den sorgfältigsten und besonnensten Schriftstellern über diesen Gegenstand vorgetragen wird.
Die Analogie der Socialerscheinungen und der natürlichen Organismen bezieht sich nur auf einen Theil der ersteren, auf jene nämlich, welche das unreflectirte Product geschichtlicher Entwickelung sind; der Rest derselben ist das Ergebniss menschlicher Berechnung und somit nicht den Organismen, sondern den Mechanismen vergleichbar. Die obige Analogie ist somit jedenfalls keine universelle. – Dieselbe ist selbst [143] dort, wo sie in Frage kommt, keine das ganze Wesen der bezüglichen Phänomene, sondern nur gewisse Seiten dieser letzteren umfassende; sie ist auch in dieser Rücksicht nur eine partielle. – Sie ist überdies keiner klaren Erkenntniss des Wesens der natürlichen Organismen und der Socialgebilde, sondern einer dunkeln Empfindung entsprungen, zum Theil geradezu eine bloss äusserliche.
Die grosse Verbreitung, welche die vorhin gedachte, die sogenannte organische Betrachtungsweise der Socialgebilde in der Socialwissenschaftlichen Literatur aller Völker gefunden hat, ist jedenfalls ein sprechender Beweis dafür, dass eine in die Augen springende, wenn auch vielleicht nur äusserliche Aehnlichkeit zwischen den Gesellschaftserscheinungen und den natürlichen Organismen in den beiden vorhin hervorgehobenen Rücksichten bestehe.
Nichtsdestoweniger vermöchte nur jene volle Befangenheit in vorgefassten Meinungen, welche über dem Interesse für einzelne Seiten der Objecte wissenschaftlicher Beobachtung jenes für alle übrigen einbüsst, ein Dreifaches zu verkennen.
Erstens, dass nur ein Theil der Socialerscheinungen eine Analogie mit den natürlichen Organismen aufweist.
Ein grosser Theil der socialen Gebilde ist nicht das Ergebniss eines natürlichen Processes, in welchem Sinne derselbe auch immer gedacht werden mag, sondern das Resultat einer auf ihre Begründung und Entwickelung gerichteten Zweckthätigkeit der Menschen (der Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder, beziehungsweise der positiven Gesetzgebung). Auch die socialen Phänomene dieser Art weisen zumeist eine Zweckmässigkeit ihrer Theile in Rücksicht auf das Ganze derselben auf, es ist dieselbe jedoch nicht die Folge eines natürlichen, eines „organischen“ Processes, sondern das Ergebniss menschlicher Berechnung, welche eine Mannigfaltigkeit von Mitteln Einem Zwecke dienstbar macht. Von einem „organischen“ Wesen oder Ursprung dieser Socialerscheinungen, welche, wenn schon eine Analogie in Frage kommt, keine solche mit den Organismen, [144] sondern mit den Mechanismen aufweisen, [46]kann somit füglich nicht die Rede sein.
Zweitens, dass die Analogie zwischen den Socialerscheinungen und den natürlichen Organismen, selbst dort, wo sie nach dem vorhin Gesagten in Frage kommt, keine vollständige, alle Seiten des Wesens der betreffenden Phänomene umfassende ist, sondern lediglich eine solche, welche sich auf die im vorigen Abschnitte hervorgehobenen Momente beschränkt, und selbst in dieser Rücksicht eine ungenaue ist.
Dies gilt zunächst schon von der Analogie, welche zwischen den beiden hier in Rede stehenden Gruppen von Escheinungen hinsichtlich der Bedingtheit des normalen Wesens und der normalen Function des Ganzen durch die Theile und der Theile durch das Ganze bestehen soll. Dass die Theile eines Ganzen und das Ganze selbst gegenseitig zugleich Ursache und Wirkung seien (eine gegenseitige Verursachung derselben stattfinde), eine Auffassung, welche in der organischen Richtung der Socialforschung vielfach Platz gegriffen hat, [47]ist ein so dunkler, unseren Denkgesetzen inadäquater Gedanke, dass wir kaum irre gehen, wenn wir ihn als ein sprechendes Zeugniss dafür bezeichnen, dass es unserem Zeitalter an dem tieferen Verständnisse des Wesens der natürlichen Organismen sowohl als jenes der Socialphänomene in mancher [145] Rücksicht noch mangele. Die obige Analogie ist demnach keineswegs eine solche, welche sich auf die volle Einsicht in das Wesen der hier in Rede stehenden Phänomene, sondern auf die dunkle Empfindung einer gewissen Aehnlichkeit der Function der natürlichen Organismen und jener eines Theiles der Socialgebilde gründet, und es ist klar, dass eine Analogie dieser Art keine befriedigende Grundlage für eine das tiefste theoretische Verständniss der Socialphänomene erstrebende Richtung der Forschung zu sein Vermag.
In viel höherem Masse gilt dies von jener Analogie, welche zwischen dem Ursprunge der beiden hier in Rede stehenden Gruppen von Erscheinungen angenommen wird, eine Analogie, welche zu den mannigfaltigsten Theorien vom „ organischen Ursprunge“ der Socialerscheinungen geführt hat. Hier ist die Unstatthaftigkeit der Analogie geradezu augenfällig.
Die natürlichen Organismen sind aus Elementen zusammengesetzt, welche in durchaus mechanischer Weise der Function des Ganzen dienen; sie sind das Ergebniss rein causaler Processe, des mechanischen Spieles der Naturkräfte. Die Sogen. Socialen Organismen vermögen dagegen schlechterdings nicht als das Product rein mechanischer Kraftwirkungen aufgefasst und interpretirt zu werden; sie sind vielmehr das Ergebniss menschlicher Bestrebungen, der Bestrebungen denkender, fühlender, handelnder Menschen. Wenn demnach von einem „organischen Ursprunge“ der Socialgebilde, oder, richtiger gesagt, eines Theiles dieser letzteren, überhaupt die Rede sein kann, so vermag sich dies lediglich auf den Umstand zu beziehen, dass ein Theil der Socialphänomene das Ergebniss des auf ihre Begründung gerichteten Gemein willens (der Uebereinkunft, der positiven Gesetzgebung u. s. f.), ein anderer Theil dagegen das unreflectirte Ergebniss der auf die Erreichung wesentlich in dividueller Zwecke gerichteten menschlichen Bestrebungen (die unbeabsichtigte Resultante dieser letzteren) ist. In dem ersteren Falle entstehen die Socialphänomene durch den auf ihre [146] Begründung gerichteten Gemeinwillen (sie sind das beabsichtigte Product dieses letzteren); im anderen Falle entstehen die Socialphänomene ohne einen auf ihre Begründung gerichteten Gemein willen als das unbeabsichtigte Ergebniss individueller (individuelle Interessen verfolgender) menschlicher Bestrebungen. Nur dieser bisher in höchst ungenügender Weise erkannte Umstand (keineswegs aber etwa eine objectiv begründete strenge Analogie mit den natürlichen Organismen!) gab Veranlassung dazu, den Ursprung der letzterwähnten (der auf unreflectirtem Wege entstandenen) Socialerscheinungen im Gegensatze zu jenem der ersterwähnten (der in reflectirter Weise, durch den Gemein willen begründeten) als einen „urwüchsigen“, einen „natürlichen“ oder wohl auch „organischen“ zu bezeichnen. Der sogenannte „organische“ Ursprung eines Theiles der Socialphänomene, jener Process der Gestaltung von Socialgebilden, welchen wir mit dem obigen Ausdrucke bezeichnen, weist deninach in Wahrheit wesentliche Verschiedenheiten von dem Processe auf, welchem die natürlichen Organismen ihren Ursprung verdanken. Diese Verschiedenheiten sind nämlich nicht von der Art, wie sie auch zwischen natürlichen Organismen wahrgenommen werden können; die Verschiedenheit in der obigen Rücksicht stellt sich vielmehr als eine fundamentale, als eine solche, wie zwischen mechanischer Kraft und menschlichem Willen, zwischen Ergebnissen mechanischer Kraftwirkung und individueller menschlicher Zweckthätigkeit dar.
Auch jener Theil der Socialgebilde, bezüglich welches die Analogie mit den natürlichen Organismen überhaupt in Frage kommt, weist dieselbe somit jedenfalls nur in gewissen Rücksichten, selbst in diesen letzteren aber nur eine solche auf, welche zum Theil als eine unklare, zum Theil aber geradezu als eine höchst äusserliche und ungenaue bezeichnet werden muss.
[147]
Neben der sogen. „organischen" Interpretation der Socialerscheinungen ist die pragmatische unentbehrlich. Auch dort, wo die erstere der Sachlage adäquat erscheint, vermag sie uns nur zum Verständnisse gewisser Seiten der Socialphänomene, nicht dieser letzteren in ihrer Totalität zu führen. Selbst rücksichtlich der ersteren kann das „organische“ Verständniss der Socialerscheinungen indess nicht das Ergebniss einer mechanischen Uebertragung der Methoden und Resultate der Forschung auf dem Gebiete der natürlichen Organismen in die Socialforschung, die sogen. „organische“ Interpretation der Socialerscheinungen vielmehr in Wahrheit nur eine specifisch-socialwissenschaftliche sein. Irrthümer, in welche eine Reihe von Socialphilosophen in Rücksicht auf die organische Auffassung der Socialerscheinungen verfallen ist. Die Analogie der beiden obigenGruppen von Phänomenen als Mittel der Darstellung.
Wäre die Analogie zwischen den Socialerscheinungen und den natürlichen Organismen, wie Seitens einer Reihe von Socialphilosophen angenommen wird, eine vollständige, wären die Socialgebilde in Wahrheit Organismen, so wäre dieser Umstand ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung für die Methodik der Socialwissenschaften: die Methoden derjenigen Naturwissenschaften, welche sich mit der Erforschung der organischen Welt beschäftigen, und der Anatomie und Physiologie insbesondere, wären nämlich dann zugleich auch solche der Socialwissenschaften überhaupt und der Volkswirthschaftslehre insbesondere.
Der Umstand, dass die obige Analogie sich überhaupt nur auf einen Theil der Socialphänomene bezieht und auch rücksichtlich dieses letztern eine bloss partielle, überdies nur äusserliche ist, schliesst die obige Consequenz indess von vornherein aus. Die aus den vorangehenden Untersuchungen sich ergebenden erkenntnisstheoretischen Grundsätze sind vielmehr die folgenden:
1. Das sog. organische Verständniss der Socialphänomene kann vor allem jedenfalls nur einem Theile derselben adäquat sein, jenen nämlich, welche sich uns nicht als das Ergebniss [148] der Uebereinkunft, der Gesetzgebung, überhaupt des reflectirten Gemeinwillens darstellen. Die organische Auffassung kann keine universelle Betrachtungsweise, das organische Verständniss der Socialphänomene nicht das universelle Ziel der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der letztern sein. Zum Verständnisse der Socialerscheinungen in ihrer Gesammtheit ist vielmehr die pragmatische Interpretation jedenfalls eben so unentbehrlich, als die „organische“.
2. Auch dort, wo die Socialerscheinungen thatsächlich nicht auf einen pragmatischen Ursprung zurückweisen, ist die Analogie zwischen denselben und den natürlichen Organismen keine universelle, die Totalität ihres Wesens umfassende, sondern eine solche, welche sich lediglich auf gewisse Seiten ihres Wesens (ihre Function und ihren Ursprung) bezieht, und vermag demnach die organische Interpretation für sich allein uns auch nicht das allseitige Verständniss derselben zu verschaffen. Hierzu sind vielmehr noch andere Richtungen der theoretischen Forschung erforderlich, welche in gar keiner Beziehung zu der sog. organischen Auffassung der Socialphänomene stehen.
Die theoretischen Socialwissenschaften haben uns das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der Socialerscheinungen überhaupt und der einzelnen Gebiete derselben (z. B. der Erscheinungen der Volkswirthschaft) insbesondere darzulegen; sie erfüllen diese Aufgabe unter anderm auch dadurch, dass sie uns die Socialen Theilphänomene in ihrer Bedeutung und Function für das Ganze der Socialgebilde verstehen lehren. Das hier in Rede stehende Problem umfasst indess eben so wenig die Gesammtheit der Aufgaben der theoretischen Socialwissenschaften, als etwa das analoge Problem auf dem Gebiete der natürlichen Organismen die Gesammtheit der wissenschaftlichen Aufgaben auf dem Gebiete der Naturforschung. Auch wenn die Berechtigung der sog. Organischen Richtung der Forschung in dem obigen Sinne anerkannt wird, bleibt nichtsdestoweniger die Feststellung der Gesetze der Coexistenz und der Aufeinanderfolge der socialen [149] Erscheinungen überhaupt die Aufgabe der theoretischen Socialwissenschaften, die Feststellung der Gesetze der gegenseitigen Bedingtheit derselben nur ein besonderer Zweig der Socialforschung.
3. Aber selbst in jenen Rücksichten, in welchen die hier in Rede stehenden Analogien bei äusserlicher Betrachtung vorhanden zu sein scheinen, sind dieselben keine strengen, vor allem keine solchen, welche auf einer klaren Einsicht in das Wesen der Socialphänomene einerseits und der natürlichen Organismen andererseits beruhen, und können dieselben somit weder die Grundlage einer Methodik der Socialwissenschaften überhaupt, noch auch eine solche irgend welcher specieller Richtungen der Socialforschung sein. Die mechanische Uebertragung der Methoden der Anatomie und der Physiologie in die Socialwissenschaften ist selbst innerhalb der oben angedeuteten engen Grenzen unstatthaft.
Die sogen. „organische“ Interpretation könnte jedenfalls nur einem Theile der Socialphänomene, und nur rücksichtlich gewisser Seiten ihres Wesens adäquat sein; auch in dieser Rücksicht darf sie indess nicht schlechthin den Naturwissenschaften entlehnt werden, sondern muss das Ergebniss selbständiger Untersuchung über das Wesen der Socialerscheinungen und die besonderen Ziele der Forschung auf dem Gebiete dieser letztern sein. Die Methode der Socialwissenschaften überhaupt und der Politischen Oekonomie insbesondere kann nicht überhaupt eine physiologische oder anatomische sein; aber selbst dort, wo es sich um socialwissenschaftliche Probleme handelt, welche eine gewisse äussere Aehnlichkeit mit jenen der Physiologie und Anatomie haben, kann sie keine schlechthin der Physiologie oder Anatomie entlehnte, sondern stets nur eine social wissenschaftliche im strengsten Verstande dieses Wortes sein; die Uebertragung von Forschungsergebnissen der Physiologie und Anatomie per analogiam in die Politische Oekonomie [48]ist aber ein solcher Widersinn, [150] dass kein methodisch Gebildeter denselben auch nur einer ernstlichen Widerlegung würdigen wird.
Die obigen Irrwege der Forschung sind offenbar keine andern, als jene eines Physiologen oder Anatomen, welcher die Gesetze und Methoden der Volkswirthschaftslehre kritiklos in seine Wissenschaft übertragen, bezw. die Functionen des menschlichen Körpers durch die eben herrschenden Theorien der Volkswirthschaftslehre interpretiren wollte: etwa den Blutumlauf durch eine der herrschenden Theorien des Geldumlaufes oder des Waarenverkehrs, die Verdauung durch eine der herrschenden Theorien der Güterconsumtion, das Nervenleben durch eine Darstellung des Telegraphenwesens, die Function der einzelnen Organe des menschlichen Körpers [151] durch die Function der verschiedenen Volksclassen u. s. f. Den nämlichen Tadel, welchem ein Naturforscher der „volkswirthschaftlichen Richtung“ sich bei allen ernsten Berufsgenossen aussetzen würde, verdienen unsere Physiologen und Anatomen auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Wer übrigens den selbst heute noch höchst unvollkommenen Zustand der Naturwissenschaften, soweit sie sich auf die organische Welt beziehen, kennt, für den wird das oft mit dem Aufwande von unglaublichem Scharfsinn bethätigte Streben, das Unbekannte durch ein in nicht seltenen Fällen noch Unbekannteres zu erklären, der Komik nicht ganz entbehren. [49]
Kann solcherart darüber kein Zweifel bestehen, dass das Spiel mit Analogien zwischen den natürlichen Organismen und den Socialerscheinungen und insbesondere die mechanische Uebertragung von Forschungsergebnissen auf dem einen Gebiete der Erscheinungen in die Wissenschaften, welche uns das theoretische Verständniss anderer Gebiete der Erscheinungswelt eröffnen sollen, ein methodischer Vorgang ist, welcher kaum eine ernste Widerlegung verdient, so möchte ich doch den Nutzen gewisser Analogien zwischen den natürlichen Organismen und den Socialerscheinungen für bestimmte Zwecke der Darstellung keineswegs in Abrede stellen. Die Analogie in dem obigen Sinne, als Methode der Forschung, ist ein unwissenschaftlicher Irrweg; als Mittel der Darstellung mag sie für gewisse Zwecke und für gewisse Stadien der Erkenntniss der Socialphänomene indess immerhin sich als nützlich erweisen. Die ausgezeichnetsten Geister haben ihren Zeitgenossen das Wesen der Socialerscheinungen nicht selten durch den Vergleich mit organischen Gebilden zu erklären versucht, zumal in Epochen, wo dasselbe dem Volksgeiste noch fremder war, als in unsern Tagen. Ob bei der heutigen Ausbildung der Socialwissenschaften dergleichen Bilder, zum mindesten für die wissenschaftliche Darstellung, [152] nicht bereits obsolet geworden sind, mag dahin gestellt bleiben; geradezu verwerflich sind sie aber sicherlich dort, wo das, was nur ein Mittel der Darstellung sein soll, als ein Mittel der Forschung auftritt und die Analogie nicht nur dort gezogen wird, wo sie den realen Verhältnissen entspricht, sondern geradezu zu einem Principe und zu einer universellen Tendenz der Forschung wird. Auch für die Anhänger dieser Richtung hat der Verfasser der „Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des Volkswohlstandes“ ein treffliches Wort. „Die Analogie“, sagt er, „welche manchen Autoren Veranlassung zu einzelnen geistreichen Vergleichen bietet, wird bei Schriftstellern der obigen Art zu dem Angelpunkte, um den sich alles dreht. [50]
[153]
Auch das theoretische Verständniss der natürlichen Organismen kann ein doppeltes: ein exactes (ein atomistisches, ein chemisch-physikalisches) oder ein empirisch-realistisches (ein collectivistisches, ein specifisch anatomisch-physiologisches) sein. – Das exacte Verständniss der natürlichen Organismen wird in den Naturwissenschaften nicht nur angestrebt, sondern bedeutet gegenüber dem empirisch-realistischen einen Fortschritt. – Das exacte Verständniss der Socialerscheinungen oder eines Theiles derselben kann demnach nicht aus dem Grunde unstatthaft sein, weil die betreffenden Erscheinungen als sogen. „sociale Organismen“ aufgefasst werden. – Der Umstand, dass das exacte Verständniss der natürlichen Organismen und ihrer Functionen bisher nur zum Theil gelungen ist, beweist nicht die Unerreichbarkeit dieses Zieles in Rücksicht auf die sogen. socialen Organismen. – Die Theorie, dass die „Organismen“ untheilbare Ganze und ihre Functionen Lebensäusserungen dieser Gebilde in ihrer Totalität sind, begründet weder auf dem Gebiete der natürlichen, noch auf jenem der sogen. socialen Organismen einen Einwand gegen die exacte (die atomistische!) Richtung der theoretischen Forschung – Die exacte Richtung der Socialforschung negirt nicht die reale Einheit der socialen Organismen, sie sucht vielmehr das Wesen und den [154] Ursprung dieser letzteren in exacter Weise zu erklären. Sie negirt eben so wenig die Berechtigung der empirisch-realistischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der obigen Erscheinungen.
Wir haben in dem vorhergehenden Capitel von der Analogie zwischen den Socialerscheinungen und den natürlichen Organismen, von den Grenzen ihrer Berechtigung und endlich von den hieraus für die Methodik der Socialwissenschaften sich ergebenden Consequenzen gehandelt. Hierbei hat sich herausgestellt, dass die obige Analogie nur eine partielle und selbst in jenen Rücksichten, in welchen sie in Frage kommt, nur eine äusserliche ist. Auch das Verständniss jener Erscheinungen, welche auf keinen pragmatischen Ursprung zurückweisen, sondern das Ergebniss „organischer“ d. i. unreflectirter gesellschaftlicher Entwickelung sind, kann demnach auf dem Wege der blossen Analogie mit den natürlichen Organismen, beziehungsweise durch Uebertragung der Gesichtspunkte der Physiologie und der Anatomie in die Socialforschung nicht erreicht werden.
Was uns erübrigt ist, nunmehr zu untersuchen, in welcher Weise diejenigen Probleme der Socialforschung, deren Lösung nach der objectiven Sachlage auf pragmatischem Wege nicht erreichbar ist und bisher auf der Grundlage der obigen Analogie (auf „organischem“ Wege) unternommen wurde, sowohl in einer dem Wesen der Socialerscheinungen als den besonderen Zielen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete dieser letzteren adäquaten Weise beantwortet zu werden vermögen.
Bevor wir aber an die Untersuchung der hier einschlägigen Probleme schreiten, möchten wir derselben einige Bemerkungen allgemeiner Natur vorausschicken.
Alles theoretische Verständniss der Erscheinungen kann, wie wir oben sahen, das Ergebniss einer doppelten Richtung der Forschung, der empirisch-realistischen und der exacten sein. Dies gilt nicht nur überhaupt, sondern für jedes Gebiet von Erscheinungen insbesondere. Auch das Verständniss jener Socialerscheinungen, welche auf einen unreflectirten oder, wenn man so will, auf einen „organischen“ [155] Ursprung zurückweisen, ja das Verständniss der natürlichen Organismen selbst vermag in den beiden obigen Richtungen der Forschung angestrebt zu werden: nur die Verbindung derselben vermag uns das tiefste unserem Zeitalter erreichbare theoretische Verständniss der hier in Betracht kommenden Phänomene zu verschaffen.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass beide Arten des theoretischen Verständnisses auf allen Gebieten der Erscheinungen in gleicher Weise bereits thatsächlich erreicht sind, oder mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Stand der theoretischen Wissenschaften von der organischen Welt auch nur mit Bestimmtheit als erreichbar bezeichnet werden können. Als Postulat der Forschung steht indess das exacte Verständniss der Phänomene als gleichberechtigt neben dem realistisch-empirischen auf allen Gebieten der Erscheinungen, auf jenem der organischen Socialgebilde“ nicht minder als auf jenem der natürlichen Organismen. Es ist möglich, dass die exacte Analyse der natürlichen Organismen nie vollständig gelingen und die realistisch - empirische Forschung, zum mindesten in gewisser Rücksicht, für das theoretische Verständniss derselben stets unentbehrlich bleiben, das physikalisch-chemische (das atomistische!) Verständniss derselben aber schon aus dem obigen Grunde nie ausschliesslichen Herrschaft gelangen wird, Die empirisch - realistische Auffassung der organischen Welt ist eine in der Gegenwart berechtigte, vielleicht eine solche, welche neben der atomistischen der Berechtigung nie entbehren wird.
Aber nur derjenige, welcher mit dem gegenwärtigen Stande der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der natürlichen Organismen gänzlich unvertraut ist, könnte daraus folgern, dass das Streben nach dem exacten (dem atomistischen) i Verständnisse der natürlichen Organismen überhaupt ein unberechtigtes oder gar ein unwissenschaftliches sei. „Die Physiologie“, sagt Helmholtz, „musste sich entschliessen, mit einer unbedingten Gesetzlichkeit der Naturkräfte auch in [156] der Erforschung der Lebensvorgänge zu rechnen; sie musste Ernst machen mit der Verfolgung der physikalischen und chemischen Processe, die innerhalb der Organismen vor sich gehen“; und ein anderer ausgezeichneter Forscher findet in dem physikalisch-chemischen Verständnisse der organischen Phänomene geradezu einen Massstab für die Entwickelung der theoretischen Wissenschaften von der organischen Welt.
Wie gesagt, die exacte Analyse der natürlichen Organismen ist nur zum Theil gelungen, wird vielleicht nie vollständig gelingen; aber es hiesse die Augen den Fortschritten der exacten Naturwissenschaften verschliessen, wollte man das Grosse, was in der obigen Rücksicht bereits geleistet wurde, die Erfolge des „Atomismus“ auf dem Gebiete der natürlichen Organismen verkennen oder das obige, auf das exacte Verständniss der organischen Welt gerichtete Streben gar als eine unwissenschaftliche Verirrung bezeichnen.
Selbst diejenigen, welche an der Thorie von der strengen Analogie der Socialphänomene und der natürlichen Organismen festhalten, vermögen demnach die atomistische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften nicht zurückzuweisen. Im Gegentheile sollten eben jene, welche die obige Analogie ohne Unterlass im Munde führen, consequenter Weise auch das Streben der Naturforscher, zum exacten (zum atomistischen!) Verständnisse der organischen Welt zu gelangen, theilen und von der einseitigen Werthschätzung der realistisch-empirischen Richtung der Forschung am weitesten entfernt sein. Mag man demnach das Problem, mit welchem wir uns in diesem Capitel zu beschäftigen gedenken, immerhin als ein solches der „organischen“ Welt bezeichnen – die Thatsache, dass neben dem empirisch-realistischen Verständnisse der obigen Socialgebilde und ihrer Functionen das exacte Verständniss derselben ein berechtigtes Ziel der theoretischen Forschung ist, wird hierdurch keineswegs berührt. Die Anerkennung einer Reihe von Social erscheinungen als „Organismen“ steht keineswegs im Widerspruche mit dem Streben nach dem ex a cten (dem atomistischen!) Verständnisse derselben.
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Was soll man nun aber gar zu dem Vorgehen jener sagen, welche desshalb, weil auf dem Gebiete der natürlichen Organismen das exacte Verständniss bisher nur unvollständig erreicht worden ist, den Schluss ziehen, dass das Streben nach demselben auf dem Gebiete der Socialerscheinungen, die man in Wahrheit doch nur bildlich als Organismen zu bezeichnen vermag, überhaupt ein unberechtigtes, ja ein unwissenschaftliches sei? Ist es nicht vielmehr klar, dass selbst in dem Falle, dass das exacte Verständniss der natürlichen Organismen ein schlechthin unerreichbares, ja diesem Gebiete der Erscheinungswelt geradezu inadäquates wäre, das nämliche Verständniss doch auf dem Gebiete der Socialerscheinungen keineswegs nothwendig ausgeschlossen sein würde, dass vielmehr die Frage, ob ein solches möglich sei, stets nur durch eine originelle, die Natur der Socialphänomene unmittelbar in Betracht ziehende Untersuchung, niemals aber durch eine äusserliche Analogie beantwortet werden kann? [51]
[158]
Wenn die Meinung, dass auf dem Gebiete der Socialerscheinungen nur die „organische“, richtiger die „collectivistische“ Auffassung die berechtigte sei, oder doch diese letztere gegenüber der exacten die „höhere“ sei, nichtsdestoweniger so viele Vertreter in der neueren socialwissenschaftlichen Literatur gefunden hat, so liegt der Grund hiervon in einem Missverständnisse, das hier, um seiner principiellen Wichtigkeit willen, in Kürze zurückgewiesen werden soll.
Ein weit verbreiteter Einwand gegen die exacte Lösung der theoretischen Probleme auf dem Gebiete der Socialerscheinungen wird nämlich aus dem Umstande hergeleitet, dass die socialen Gebilde gleich den natürlichen Organismen untheilbare Ganze, in Rücksicht auf ihre Theile höhere Einheiten, ihre Functionen aber Lehensäusserungen der organischen Gebilde in ihrer Totalität seien und das Streben nach der exacten Interpretation ihres Wesens und ihrer Functionen, der „atomistische“ Gesichtspunkt in den Theorien der organischen Welt somit eine Verkennung dieses ihres einheitlichen Wesens bedeute.
Dass diese Auffassung auf dem Gebiete der Naturforschung keineswegs getheilt wird, haben wir bereits oben hervorgehoben, indem ja die exacte Interpretation der organischen Phänomene zu den höchsten Zielen der modernen Naturforschung zählt. Dass dieselbe auch auf dem Gebiete der Socialforschung eine unhaltbare, ja eine solche ist, welcher ein principieller Irrthum zu Grunde liegt, den Nachweis hierfür zu liefern, möchten wir an dieser Stelle nicht versäumen.
Die Wissenschaften in ihrer Gesammtheit haben die Aufgabe, uns das Verständniss aller Wirklichkeiten zu bieten, die theoretischen Wissenschaften insbesondere das theoretische Verständniss der realen Welt. Dies gilt, wie selbstverständlich, auch von jenen theoretischen Wissenschaften, deren Gebiet [159] die Erforschung der Organismen ist; sie könnten die obige Aufgabe indess nur in unvollkommener Weise erfüllen, würden sie die reale Einheit der hier in Rede stehenden Erscheinungen unbeachtet lassen, diese letzteren nur als ein Nebeneinander von Theilen und nicht vielmehr als ein Ganzes uns zum Bewusstsein bringen, und die Functionen der Organismen nicht als Solche dieser letzteren in ihrer Totalität.
Aus dem Umstande, dass die Organismen sich uns in jedem Falle als ein Ganzes, ihre Functionen als Lebensäusserungen derselben in ihrer Totalität darstellen, folgt indess keineswegs, dass die exacte Richtung der Forschung dem hier in Rede stehenden Gebiete von Phänomenen überhaupt inadäquat und dieser Gruppe von Phänomenen nur die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung angemessen sei. Was aus dem obigen Umstande für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der Organismen thatsächlich folgt, ist, dass derselbe für die exacte Forschung eine Reihe von Problemen begründet, deren Lösung von dieser letzteren nicht umgangen werden kann. Diese Probleme sind die exacte Interpretation des Wesens und des Ursprunges der Organismen (als Ganze gedacht) und die exacte Interpretation ihrer Functionen.
Die exacte Richtung der Forschung auf dem Gebiete der organischen Welt negirt demnach nicht die Einheit der Organismen, sie , sucht vielmehr den Ursprung und die Functionen dieser einheitlichen Gebilde in exacter Weise zu erklären, zu erklären, wie diese „realen Einheiten“ geworden sind und functioniren.
Diese Aufgabe, welche zu den höchsten der modernen Naturforschung gehört, stellt sich die exacte Richtung der Forschung auch auf dem Gebiete der Socialerscheinungen und insbesondere jener, welche sich uns als das unreflectirte Product geschichtlicher Entwickelung darstellen und auch hier kann somit von einer Verkennung der „Einheit“ der socialen Organismen, so weit dieselbe den realen Verhältnissen entspricht, nicht die Rede sein. Was die obige [160] Richtung der Forschung anstrebt, ist vielmehr einerseits die Klarstellung der besonderen Natur der Einheit“ jener Gebilde, welche als sociale Organismen bezeichnet werden, und andererseits die exacte Erklärung ihres Ursprunges und ihrer Function. Sie giebt sich nicht der Täuschung hin, dass jene Einheit durch die blosse Analogie mit den natürlichen Organismen begriffen werden könne, sondern sucht durch unmittelbare Untersuchung, durch die Betrachtung der „socialen Organismen“ selbst, das einheitliche Wesen derselben zu ergründen; sie begnügt sich nicht damit, die Functionen der hier in Rede stehenden Socialgebilde durch die obige Analogie verstehen zu wollen, sondern strebt nach ihrem exacten Verständnisse, ohne jede Rücksicht auf Analogien, deren Unstatthaftigkeit sie vielmehr klar stellt. Sie sucht für die Socialwissenschaften durch unmittelbare Untersuchung der Socialgebilde das nämliche zu leisten, was die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der natürlichen Organismen anstrebt, das exacte Verständniss der sogenannten „socialen Organismen" und ihrer Functionen. Sie widerstrebt dem Verständnisse der socialen Gebilde auf der Grundlage blosser Analogien, indess aus allgemeinen methodischen, aus den nämlichen Gründen, aus welchen z. B. die Physiologie das „nationalökonomische Verständniss des menschlichen Organismus als Princip der Forschung perhorresciren müsste; sie perhorrescirt die Meinung, dass theoretische Probleme, welche auf dem Gebiete der Naturforschung bisher ungelöst sind oder unserem Zeitalter als unlösbar erscheinen, auf dem Gebiete der Socialforschung von vorn herein gleichfalls als unlösbar bezeichnet werden. Sie untersucht vielmehr jene Probleme ohne Rücksicht auf die Ergebnisse der Physiologie und Anatomie im blossen Hinblick auf die Socialgebilde selbst, genau wie die Physiologie, welche in ihrem Streben nach dem empirischen, beziehungsweise dem exacten Verständniss der natürlichen Organismen, sich um die Ergebnisse der Socialforschung nicht bekümmert; all' dies indess gleichfalls nicht in Verkennung der einheitlichen Natur [161] der socialen Organismen, sondern aus allgemeinen methodischen Gründen. [52]
Die Meinung, dass die einheitliche Natur jener Socialgebilde, welche als „sociale Organismen“ bezeichnet werden, die exacte (die atomistische!) Interpretation derselben ausschliesse, ist somit allerdings ein grobes Missverständniss.
Wir werden aber in dem nachfolgenden zunächst von dem exacten und hierauf vom realistisch-empirischen Verständnisse der „socialen Organismen“ und ihrer Functionen handeln.
Ein Theil der Socialgebilde ist pragmatischen Ursprungs und müssen dieselben somit in pragmatischer Weise interpretirt werden. Ein anderer Theil derselben ist das unreflectirte Ergebniss gesellschaftlicher Entwickelung („organischen“ Ursprungs !) und die pragmatische Interpretation derselben unzulässig. - Das Hauptproblem der theoretischen Interpretation des Ursprungs der auf unreflectirtem (auf „organischem“) Wege entstandenen Socialgebilde. Das obige Problem und die wichtigsten Probleme der theoretischen Nationalökonomie weisen eine nahe Verwandtschaft auf. Ueber zwei andere aus der „organischen“ Auffassung der Socialerscheinungen sich ergebende Probleme der theoretischen Socialwissenschaften überhaupt und der theoretischen Nationalökonomie insbesondere: a) das Streben nach dem Verständniss der gegenseitigen Bedingtheit der Gesellschaftserscheinungen; b) das Streben nach dem Verständniss der socialen Phänomene als Functionen und Lebensäusserungen der Gesellschaft (bezw. der Volkswirthschaft u. s. f.) als organisches Ganze gedacht. Das Streben nach der exacten (der atomistischen!) und nach der empirisch-realistischen (der collectivistischen, der anatomisch-physiologischen!) Lösung der obigen Plobleme. Plan der Darstellung.
Es giebt eine Reihe von Socialphänomenen, welche Producte der Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder, bez. der positiven Gesetzgebung, Ergebnisse der zweckbewussten [162] Gemeinthätigkeit der Gesellschaft, als ein besonderes handelndes Subject gedacht, sind, Socialphänomene, bei welchen von einer „organischen“ Entstehung in irgend einem zulässigen Sinne somit füglich nicht die Rede sein kann. Hier ist die pragmatische Interpretation, – die Erklärung des Wesens und des Ursprungs der obigen Socialphänomene aus den Absichten, den Meinungen und den verfügbaren Mitteln der geselligen Vereinigungen der Menschen, bez. ihrer Machthaber – die der realen Sachlage angemessene.
Wir interpretiren diese Erscheinungen in pragmatischer Weise, indem wir die Ziele erforschen, welche im concreten Falle die geselligen Vereinigungen, bez. ihre Machthaber bei der Begründung und Fortbildung der hier in Rede stehenden Socialerscheinungen geleitet, die Hülfsmittel, welche denselben hierbei zur Verfügung gestanden, die Hindernisse, die sich der Schöpfung und Entwickelung jener Socialgebilde entgegengestellt haben, die Art und Weise, in welcher die verfügbaren Hülfsmittel zur Begründung derselben verwendet wurden. Wir erfüllen diese Aufgabe in um so vollkommenerer Weise, je mehr wir die letzten realen Ziele der handelnden Subjecte einerseits, und die ursprünglichsten Mittel, welche denselben zu Gebote standen, andererseits, erforschen und die auf einen pragmatischen Ursprung zurückweisenden Socialerscheinungen als Glieder einer Kette von Massregeln zur Verwirklichung der obigen Ziele verstehen lernen. Wir üben die historisch-pragmatische Kritik socialer Erscheinungen der obigen Art, indem wir in jedem concreten [163] Falle die realen Ziele der geselligen Vereinigungen bezw. ihrer Machthaber an den Bedürfnissen der betreffen'den geselligen Vereinigungen, die Verwendung der Hilfsmittel socialen Handelns aber an den Bedingungen des Erfolges (der möglichst vollständigen Befriedigung der socialen Bedürfnisse) prüfen.
Dies alles gilt von jenen Socialphänomenen, welche auf einen pragmatischen Ursprung zurückweisen. Ein anderer Theil derselben ist dagegen, wie wir bereits oben ausgeführt haben, nicht das Ergebniss der Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder beziehungsweise der Gesetzgebung. Die Sprache, die Religion, das Recht, ja der Staat selbst und, um speciell einiger wirthschaftlicher Socialphänomene zu gedenken, die Erscheinungen der Märkte, der Concurrenz, des Geldes und so zahlreiche andere sociale Gebilde treten uns bereits in Epochen der Geschichte entgegen, wo von einer auf die Begründung derselben gerichteten zielbewussten Thätigkeit der Gemeinwesen als solcher, oder ihrer Machthaber füglich nicht die Rede sein kann. Wir haben hier die Erscheinung socialer Institutionen vor uns, welche der Wohlfahrt der Gesellschaft in hohem Masse dienen, ja für diese letztern nicht selten von vitaler Bedeutung und doch nicht das Ergebniss socialer Gemeinthätigkeit sind. Hier ist es, wo uns das merkwürdige, vielleicht das merkwürdigste Problem der Socialwissenschaften entgegentritt:
Wieso vermögen dem Gemeinwohl dienende und für dessen Entwickelung höchst bedeutsame Institutionen ohne einen auf ihre Begründung gerichteten Gemeinwillen zu entstehen?
Damit ist das Problem der theoretischen Interpretation jener Socialerscheinungen, welche auf keinen pragmatischen Ursprung im obigen Sinne zurückweisen, indess keineswegs erschöpft. Es giebt eine Reihe höchst bedeutsamer socialer Erscheinungen, welche genau in dem nämlichen Sinne, wie die vorhin gekennzeichneten Socialgebilde, „organischen“ Ursprungs sind, indess, weil dieselben in ihrer jeweiligen concreten Gestalt nicht als sociale „Institutionen“ gleich dem Recht, dem Geld, den Märkten [164] u. s. f. erscheinen, gemeiniglich nicht als „organische Gebilde“ aufgefasst und demgemäss interpretirt werden.
Wir könnten hier auf eine lange Reihe von Phänomenen dieser Art hinweisen; wir gedenken indess den obigen Gedanken an einem Beispiele auszuführen, dessen Augenfälligkeit jeden Zweifel an dem Sinne dessen ausschliesst, was wir hier darzulegen gedenken: wir meinen das Beispiel der socialen Güterpreise. Diese sind in einzelnen Fällen bekanntlich ganz oder doch zum Theile das Ergebniss positiver socialer Faktoren, z. B. die Preise unter der Herrschaft von Tax- und Lohngesetzen u. s. f. Der Regel nach bilden und ändern sich dieselben indess frei von jedem auf ihre Regelung gerichteten staatlichen Einflusse, frei von jeder socialen Uebereinkunft, als unreflectirte Ergebnisse gesellschaftlicher Bewegung. Das nämliche gilt von dem Capitalzinse, der Bodenrente, dem Unternehmergewinne u. s. f.
Welcher Natur – dies ist die für unsere Wissenschaft bedeutungsvolle Frage – sind nun alle die obigen Socialerscheinungen und wie vermögen wir zu einem vollen Verständnisse ihres Wesens und ihrer Bewegung zu gelangen?
Es bedarf kaum der Bemerkung, dass das Problem des Ursprunges der auf unreflectirtem Wege entstandenen Socialgebilde und der Entstehung jener Wirthschaftsphänomene, deren wir soeben gedacht haben, eine überaus nahe Verwandtschaft aufweist. Das Recht, die Sprache, der Staat, das Geld, die Märkte, alle diese Socialgebilde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und in ihrem steten Wandel sind zum nicht geringen Theile das unreflectirte Ergebniss socialer Entwickelung: die Güterpreise, die Zinsraten, die Bodenrenten, die Arbeitslöhne und tausend andere Erscheinungen des Socialen Lebens überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere weisen genau die nämliche Eigenthümlichkeit auf – auch ihr Verständniss kann in den hier in Betracht kommenden Fällen kein „pragmatisches“, es muss ein dem Verständnisse der auf unreflectirtem Wege entstandenen Socialen Institutionen analoges sein. Die Lösung der wichtigsten Probleme der [165] theoretischen Socialwissenschaften überhaupt und der theoretischen Volkswirthschaftslehre insbesondere ist solcherart enge verknüpft mit der Frage nach dem theoretischen Verständnisse des Ursprunges und des Wandels der auf „organischem“ Wege entstandenen Socialgebilde.
Noch zweier anderer Probleme der theoretischen Socialwissenschaften müssen wir hier gedenken, welche gleichfalls in der organischen Auffassung der Gesellschaftsphänomene wurzeln.
Es wurde bereits oben, wo von der Analogie zwischen den natürlichen Organismen und einzelnen Gebilden des socialen Lebens überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere die Rede war, hervorgehoben, dass dem Beobachter dieser letztern eine Summe von Institutionen vor die Augen tritt, deren jede einzelne der normalen Function des Ganzen dient, dieselbe bedingt und beeinflusst und umgekehrt von dieser letztern wieder in ihrem normalen Wesen und in ihrer normalen Function bedingt und beeinflusst wird. Auch bei einer Reihe von Socialphänomenen tritt uns die Erscheinung jener gegenseitigen Bedingtheit des Ganzen und seiner normalen Functionen durch jene der Theile, und der normalen Functionen dieser letztern durch jene des Ganzen entgegen und als natürliche Consequenz dieser Thatsache eine besondere Richtung der Socialforschung, welche uns diese gegenseitige Bedingtheit der Socialerscheinungen zum Bewusstsein zu bringen die Aufgabe hat.
Ausser der oben gekennzeichneten Richtung der theoretiSchen Socialforschung könnte aus den nämlichen Gründen noch eine andere, der eben dargestellten nahe verwandte als „organische“ bezeichnet werden, jene nämlich, welche uns die Volkswirthschaftlichen Erscheinungen als Functionen, als Lebensäusserungen des Ganzen der Volkswirthschaft (diese letztere als eine organische Einheit gedacht!) zum Verständnisse zu bringen sucht und solcherart in einer nicht erst näher zu erörternden Beziehung zu gewissen Problemen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der natürlichen Organismen steht.
[166]
Alle diese aus der organischen Auffassung der Gesellschaft (beziehungsweise der Volkswirthschaft) resultirenden Richtungen der Forschung und die ihnen adäquaten erkenntnisstheoretischen Grundsätze vermögen mit Recht das Interesse der Socialphilosophen auf sich zu ziehen. Die empirischrealistischen (die specifisch physiologischen) Richtungen der Socialforschung sind indess in neuester Zeit, zumal in Deutschland, in so umfassender Weise ausgebaut worden, dass wir eine eingehende Darstellung derselben füglich zu unterlassen und uns auf die exacte Interpretation der sog. organischen Socialgebilde zu beschränken vermögen. Wir werden in dem nachfolgenden somit von dem Streben nach dem exacten Verständnisse der auf unreflectirtem Wege entstandenen socialen Gebilde, jener sowohl, welche gemeiniglich als „Organismen“ anerkannt werden, als auch derjenigen, deren „organischer“ Charakter bisher nicht genügend hervorgehoben wurde, handeln, den bezüglichen Ausführungen aber eine Uebersicht der hauptsächlichen Versuche voraussenden, welche bisher unternommen wurden, um die aus der organischen Auffassung der Socialerscheinungen sich ergebenden Probleme zu lösen.
Der Pragmatismus als universeller Erklärungsmodus des Ursprungs und des Wandels der socialen Erscheinungen. – Widerspruch desselben mit den Lehren der Geschichte. – Die Interpretation des Ursprungs der auf unreflectirtem Wege entstandenen Socialgebilde durch die Kennzeichnung desselben als „organisch“, als „urwüchsig“. – Die Meinung des Aristoteles. – Das Streben nach dem organischen Verständnisse der Wand – lungen der Socialphänomene. – Die Auffassung derselben als Functionen und Lebensäusserungen realer socialer Organismen (der Gesellschaft, der Volkswirthschaft u. s. f.) in ihrer Totalität. – Das Streben nach dem Verständnisse der gegenseitigen Bedingtheit der Gesellschaftserscheinungen. – Die physiologisch-anatomische Richtung der Socialforschung.
Der nächstliegende Gedanke, um zum Verständnisse der Socialen Institutionen, ihres Wesens und ihrer Bewegung zu [167] gelangen, war, dieselben als das Ergebniss menschlicher, auf ihre Begründung und Gestaltung gerichteter Berechnung zu erklären, dieselben auf die Uebereinkunft der Menschen, beziehungsweise auf Acte der positiven Gesetzgebung zurückzuführen. Dieser (der pragmatische) Erklärungsmodus war den realen Verhältnissen inadäquàt und durchaus unhistorisch; er bot indess den Vortheil, alle socialen Institutionen, sowohl jene, welche sich uns thatsächlich als das Ergebniss des Gemeinwillens social organisirter Menschen darstellen, als auch jene, bei welchen der obige Ursprung nicht nachweisbar ist, unter einem gemeinsamen, leicht verständlichen Gesichtspunkte zu interpretiren, ein Vortheil, welcher von Niemandem, der mit scientifischen Arbeiten vertraut ist und die Geschichte ihrer Entwickelung kennt, unterschätzt werden wird.
Der Widerspruch, in welchem der obige, nur formell befriedigende Erklärungsmodus (die ausschliesslich pragmatische Erklärung des Ursprungs und des Wandels der Socialerscheinungen) zu den Thatsachen der Geschichte steht, , bewirkte indess, dass in den wissenschaftlichen Untersuchungen über das hier behandelte Problem neben dem obigen, offenbar einseitigen Interpretationsmodus, ja zum Theile in geradem Gegensatze zu demselben, eine Reihe allerdings zumeist nichtssagender Versuche unternommen wurden, Versuche, welche so recht die Unzulänglichkeit der bisherigen „organischen“ Auffassungen der Socialerscheinungen documentiren.
In diese Kategorie gehört vor allem der Versuch jener, welche das obige Problem schon dadurch gelöst zu haben vermeinen, dass sie den hier in Rede stehenden Werdeprocess als einen „organischen“ bezeichnen. Man nenne den Process, durch welchen sociale Gebilde ohne Acte des socialen Gemeinwillens entstehen, immerhin einen „organischen“, aber man glaube nicht, dass durch dieses Bild, oder durch einige daran geknüpfte mystische Andeutungen, auch nur der geringste Theil jenes merkwürdigen Problems der Socialwissenschaften gelöst wird, auf welches wir oben hingewiesen haben.
Eben so nichtssagend ist ein anderer Versuch zur Lösung [168] des hier in Rede stehenden Problems. Ich meine jene zu weitverbreiteter Geltung gelangte Theorie, welche in den socialen Institutionen etwas Ursprüngliches d. i. schon mit der Existenz des Menschen selbst Gegebenes, also nicht erst ein Gewordenes, sondern ein urwüchsiges Product des Volkslebens erkennt. Die obige Theorie (die, nebenbei gesagt, von einigen Anhängern derselben, welchen ein einheitliches Princip höher, als die historische Wahrheit und die Logik der Dinge gilt, auf dem Wege einer eigenthümlichen Mystik auch auf die durch positive Gesetze geschaffenen socialen Institutionen übertragen wird) vermeidet wohl den Irrthum jener, welche alle Institutionen auf Acte positiven Gemeinwillens zurückführen, sie bietet uns indess offenbar keine Lösung des hier in Rede stehenden Problems, sondern weicht derselben nur aus. Der Ursprung einer Erscheinung wird durch die Behauptung, sie sei von allem Anfange an vorhanden gewesen oder sie sei urwüchsig entstanden, keineswegs erklärt. Die erstere schliesst, selbst abgesehen von der Frage der historischen Begründung der in Rede stehenden Theorie, in Rücksicht auf jede complicirte Erscheinung geradezu einen Widersinn in sich, indem eine solche doch offenbar irgend einmal aus ihren einfachern Elementen, eine sociale Erscheinung insbesondere, zum mindesten in ihrer ursprünglichsten Form, aus individuellen Factoren sich entwickelt haben muss; [53]die letztere Behauptung ist dagegen eine für den Zweck der Lösung des obigen Problems durchaus werthlose Analogie zwischen der Entstehung socialer Institutionen und jener der natürlichen Organismen. Sie besagt zwar, dass die ersteren nicht reflectirte Schöpfungen des Menschengeistes seien, nicht aber, wie sie entstanden sind ? Die obigen [169] Interpretationsversuche sind dem Vorgange eines Naturforschers vergleichbar, welcher das Problem des Ursprunges der natürlichen Organismen durch den Hinweis auf die „Ursprünglichkeit“, die „Naturwüchsigkeit“ oder die „Urwüchsigkeit“ derselben zu lösen gedächte.
Nicht minder unzulässig als die obigen Theorien, welche das Problem des Ursprunges der in unreflectirter Weise entstandenen Socialgebilde auf „organischem“ Wege zu lösen bezwecken, sind die bisherigen Versuche, die Veränderungen der Socialerscheinungen als „organische Processe“ zu interpretiren. Dass die Veränderungen der Socialphänomene, insoweit dieselben nicht das beabsichtigte Ergebniss der Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder bez. der positiven Gesetzgebung, sondern das unreflectirte Product gesellschaftlicher Entwickelung sind, nicht in social-pragmatischer Weise interpretirt zu werden vermögen, bedarf kaum der Bemerkung. Ebenso selbstverständlich ist aber auch, dass weder durch den blossen Hinweis auf den „organischen“ oder den „urwüchsigen“ Charakter der hier in Rede stehenden Processe, noch auch durch blosse Analogien zwischen diesen letztern und den an natürlichen Organismen zu beobachtenden Wandlungen auch nur die geringste Einsicht in die Natur und in die Gesetze der Bewegung socialer Erscheinungen gewonnen werden kann. Die Werthlosigkeit der obigen Richtung der Forschung ist so klar, dass wir dem von uns hierüber bereits Gesagten nichts hinzuzufügen vermöchten.
Soll das obige bedeutungsvolle Problem der Socialwissenschaften in Wahrheit gelöst werden, so vermag dies nicht auf dem Wege oberflächlicher und, wie wir sahen, zum nicht geringen Theile geradezu gänzlich unstatthafter Analogien, [54]sondern jedenfalls nur auf jenem der unmittelbaren Betrachtung der Socialphänomene, nicht in „organischer“, „anatomischer“ oder „physiologischer“, sondern nur in specifisch socialwissenschaftlicher Weise zu geschehen. Der Weg hiezu ist aber die theoretische Socialforschung, deren Wesen und [170] Hauptrichtungen (die exacte und die empirisch-realistische) wir oben gekennzeichnet haben.
Noch möchten wir an dieser Stelle einer Richtung der Socialforschung gedenken, welche gleichfalls in den Kreis der „organischen“ Betrachtungsweise der Gesellschaftserscheinungen fällt, wir meinen das Streben nach dem Verständnisse der gegenseitigen Bedingtheit dieser letztern. Dieser Richtung der Forschung liegt die Idee einer „wechselseitigen Verursachung“ der Socialerscheinungen zu Grunde, eine Idee, deren Werth für das tiefere theoretische Verständniss der obigen Phänomene, wie wir bereits an anderer Stelle angeführt haben, [55]kein ganz unbezweifelter ist. Nichtsdestoweniger ist die obige Betrachtungsweise eine 'dem gemeinen Verständnisse so nahe liegende, dass dieselbe, zum mindesten in so lange das exacte Verständniss auch der complicirteren Gesellschaftsphänomene nicht gewonnen ist, mit Recht die Beachtung der Socialforscher für sich in Anspruch nimmt.
Es wäre ein Irrthum, die obige Betrachtungsweise als die ausschliesslich berechtigte oder, wie manche wollen, gar als „die Methode“ der Socialwissenschaften aufzufassen; ebenso irrig wäre es indess, die Bedeutung derselben und ihren Nutzen für das theoretische Verständniss der Socialerscheinungen überhaupt verkennen zu wollen. [56]
Welcher Name dieser Richtung der Forschung beigelegt wird, ist eine Frage der Terminologie und solcherart vom Standpunkte der Methodik ohne sachliche Wichtigkeit; immerhin glauben wir aber, dass dieselbe in Rücksicht auf eine gewisse, wenn auch nicht völlig klar gestellte Aehnlichkeit mit gewissen Richtungen der theoretischen Forschung auf dem [171] Gebiete der natürlichen Organismen und Mangels eines bessern Ausdruckes als eine „organische“ bez, eine „physiologisch-anatomische" bezeichnet werden könnte, wenn nur festgehalten wird, dass die hier in Rede stehenden Ausdrücke bloss bildliche sind und mit denselben in Wahrheit eine specifisch socialwissenschaftliche Richtung der theoretischen Forschung bezeichnet wird, welche sachlich auch dann ihre Berechtigung hätte, wenn Wissenschaften von den natürlichen Organismen überhaupt und eine Anatomie und Physiologie der letztern insbesondere gar nicht beständen. Man nenne sie immerhin eine „organische“ oder eine „physiologischanatomische“, in Wahrheit ist sie ein Zweig der empirischrealistischen Richtung der theoretischen Socialforschung.
Einleitung. Gang der Darstellung. - a) Ueber den Ursprung des Geldes: Die Erscheinung des Geldes. Eigenthümlichkeit derselben. Die Theorie, dass das Geld durch Uebereinkunft oder Gesetz entstanden sei. Platon, Aristoteles, der Jurist Paulus. Unzulänglichkeit dieser Theorie. Exacte Erklärung des Ursprungs des Geldes. b) Ueber den Ursprung einer Reihe anderer socialer Institutionen: Die Entstehung der Ortschaften, der Staaten. Die Entstehung der Arbeitstheilung, der Märkte. Einfluss der Gesetzgebung. Exacte Erklärung des Ursprungs der obigen Socialgebilde. — c) Schlussbemerkungen: Allgemeine Natur der social- pragmatischen und der sog. „organischen“ Entstehung der Sociaierscheinungen; ibr Gegensatz. – Die Methoden für das exacte Verständniss des Ursprungs der auf „organischem“ Wege entstandenen Socialgebilde und jene für die Lösung der hauptsächlichen Probleme der exacten Volkswirthschaftslehre sind die nämlichen.
Ich habe in dem vorangehenden Abschnitte die bisherigen Versuche zur Lösung des obigen Problems dargelegt und auf die Unzulänglichkeit derselben hingewiesen. Soll überhaupt [172] von einer ernstlichen Lösung desselben die Rede sein, so muss sie jedenfalls auf anderen als den bisherigen Wegen gesucht werden.
Ich werde aber die Theorie des Ursprungs der hier in Rede stehenden Socialen Gebilde zunächst an einigen Beispielen darstellen, an jenem von der Entstehung des Geldes, der Staaten, der Märkte u. s. f., an der Entstehung socialer Institutionen somit, welche in hohem Masse den gesellschaftlichen Interessen dienen und deren erster Ursprung doch in den weitaus meisten Fällen keineswegs auf positive Gesetze oder auf sonstige Aeusserungen des reflectirten Gemeinwillens zurückgeführt zu werden vermag.
Dass auf den Märkten nahezu aller Völker, welche in ihrer wirthschaftlichen Cultur bis zu dem Tauschhandel vorgeschritten sind, allmählich bestimmte Güter, anfangs je nach den verschiedenen Verhältnissen Viehstücke, Thierfelle, KauriSchnecken, Kakaobohnen, Theeziegeln u. S. f., bei fortgeschrittener Cultur Metalle in ungemünztem, später in gemünztem Zustande von Jedermann im Austausche gegen die von ihm zu Markte gebrachten Waaren bereitwillig angenommen werden, und zwar selbst von solchen Personen, welche keinen unmittelbaren Bedarf an diesen Gütern, oder denselben doch bereits in ausreichender Weise gedeckt haben, mit einem Worte, dass auf den Märkten des Tauschhandels gewisse Waaren aus dem Kreise aller übrigen hervortreten und zu Tauschmitteln, zum „Gelde“ im weitesten Verstande des Wortes werden: ist ein Phänomen, dessen Verständniss den Socialphilosophen seit jeher die grössten Schwierigkeiten verursacht hat. Dass auf einem Markte ein Gut von seinem Besitzer gegen ein anderes ihm nützlicher erscheinendes bereitwillig hingegeben wird, ist eine Erscheinung, die auch dem gemeinsten Verstande einleuchtet; dass aber auf einem [173] Markte jeder, der Waaren feilbietet, dieselben gegen eine bestimmte andere Waare, also je nach der Verschiedenheit der Verhältnisse, z. B. gegen Vieh, gegen Kakaobohnen, gegen Gewichtsquantitäten von Kupfer oder Silber, auch wenn er dieser letzteren Güter nicht unmittelbar bedarf oder seinen allfälligen Bedarf an denselben bereits vollauf gedeckt hat, hinzugeben bereit ist, während er doch andere Güter unter der gleichen Voraussetzung im Verkehre zurückweist, ist ein dem lediglich auf das individuelle Interesse gerichteten Sinn des Einzelnen so widersprechender Vorgang, dass es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn er selbst einem so ausgezeichneten Denker, wie Savigny, geradezu als geheimnissvoll, und die Erklärung desselben aus den individuellen Interessen der Menschen als unmöglich erschien. [58]
Die Aufgabe, welche die Wissenschaft hier zu lösen hat, besteht in der Erklärung einer socialen Erscheinung, einer gleichartigen Handlungsweise der Mitglieder eines Gemeinwesens, für welche wohl öffentliche, im concreten Falle jedoch nur schwer individuelle Motive erkennbar sind. Der Gedanke, dieselbe auf eine Uebereinkunft beziehungsweise auf einen legislativen Act zurückzuführen, lag unter solchen Umständen, insbesondere mit Rücksicht auf die spätere Münzform des Geldes, ziemlich nahe. Platon meint, das Geld sei „ein vereinbartes Zeichen für den Tausch“, [59]und Aristoteles sagt, das Geld sei durch Uebereinkunft entstanden, nicht durch die Natur, sondern durch das Gesetz. [60]Gleicher Ansicht sind der Jurist Paulus [61]und mit wenigen Ausnahmen die mittelalterlichen Münztheoretiker bis hinab zu den Nationalökonomen unserer Tage. [62]
Diese Ansicht als eine principiell falsche zurückzuweisen, wäre ein Irrthum, denn die Geschichte bietet uns [174] thatsächlich Beispiele dar, dass gewisse Waaren durch Gesetz zum Gelde erklärt wurden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass in den meisten dieser Fälle die gesetzliche Bestimmung erweislich nicht sowohl die Einführung einer bestimmten Waare als Geld, als vielmehr die Anerkennung einer bereits zum Gelde gewordenen Waare als solche bezweckte. Nichtsdestoweniger steht fest, dass die Institution des Geldes, insbesondere bei Bildung neuer Gemeinwesen aus Elementen alter Cultur, z. B. in Colonien, gleich anderen socialen Institutionen auch auf dem Wege der Uebereinkunft beziehungsweise der Legislation eingeführt werden kann, wie denn auch ausser allem Zweifel steht, dass die Fortentwickelung der obigen Institution in Zeiten höherer wirthschaftlicher Cultur der Regel nach auf dem letzteren Wege erfolgt. Die obige Ansicht hat somit allerdings ihre partielle Berechtigung.
Anders verhält es sich mit dem Verständnisse der hier in Rede stehenden socialen Institution dort, wo dieselbe historisch keineswegs als das Resultat einer legislativen Thätigkeit aufgefasst werden kann, wo das Geld ohne eine solche, also „ur wüchsig“ oder, wie Andere sich ausdrücken, „ organisch“ aus den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Volkes entstand. Hier ist die obige, die pragmatische Erklärungsweise jedenfalls unstatthaft und die Aufgabe der Wissenschaft, uns das Verständniss der Institution des Geldes durch Darlegung jenes Processes zu eröffnen, durch welchen bei fortschreitender wirthschaftlicher Cultur, ohne ausdrückliche Uebereinkunft der Menschen, beziehungsweise ohne Gesetzgebungsacte, eine bestimmte Waare oder eine Anzahl von solchen aus dem Kreise der übrigen Waaren heraustritt und zum Gelde d. i. zu einer Waare wird, welche von Jedermann im Austausche gegen die von ihm feilgebotenen Güter angenommen wird, auch wenn er keinen Bedarf an dieser Waare hätte.
Die Erklärung der obigen Erscheinung ergiebt sich aus der nachfolgenden Betrachtung: So lange in einem Volke der blosse Tauschhandel herrscht, verfolgen die einzelnen wirthschafte den [175] Individuen bei ihren Tauschoperationen zunächst naturgemäss den Zweck, für ihren Ueberfluss nur solche Güter einzutauschen, an welchen sie einen unmittelbaren Bedarf haben, dagegen diejenigen zurückzuweisen, deren sie entweder überhaupt nicht bedürfen oder mit denen sie doch schon ausreichend versorgt sind. Damit Jemand, der seinen Ueberfluss zu Markte bringt, die ihm erwünschten Güter einzutauschen in der Lage sei, muss er demnach nicht nur Jemanden finden, welcher seine Waaren benöthigt, sondern zugleich auch einen solchen, welcher die ihm erwünschten Güter feilbietet. Dieser Umstand ist es, welcher unter der Herrschaft des reinen Tauschhandels dem Verkehr so grosse Hindernisse bereitet und denselben auf die engsten Grenzen einschränkt.
Zur Behebung dieses auf dem Güterverkehr schwer lastenden Uebelstandes lag nun aber in der obigen Sachlage selbst ein sehr wirksames Mittel. Jeder Einzelne konnte für sich leicht die Beobachtung machen, dass nach gewissen Waaren, namentlich nach solchen, welche einem sehr allgemeinen Bedürfnisse entsprachen, eine grössere Nachfrage auf dem Markte vorhanden war, als nach anderen, und dass er demnach unter den Bewerbern um diese Güter leichter solche fand, welche bestimmte, von ihm begehrte Güter feilboten, als wenn er sich mit minder absatzfähigen Waaren zu Markte begab. So weiss in einem Nomadenvolke z. B. Jedermann aus eigener Erfahrung, dass, wenn er Vieh zu Markte bringt, unter den vielen Personen, welche dieses Gut einzutauschen suchen, sich leichter solche finden, welche die von ihm begehrten Güter feilbieten, als wenn er eine andere Waare, welche nur einen kleinen Kreis von Abnehmern hat, zu Markte bringt. Der Gedanke lag daher für jeden Einzelnen, welcher Güter von geringer Absatzfähigkeit in dem obigen Sinne zu Markte brachte, nahe, dieselben nicht nur gegen solche Güter auszutauschen, die er eben benöthigte, S0ndern, wenn dies letztere nicht unmittelbar erreichbar war, auch gegen andere, deren er selbst zwar zunächst nicht bedurfte, die indess absatzfähiger als die seinen waren, indem [176] er hierdurch das Endziel der von ihm beabsichtigten wirthschaftlichen Operation (den Eintausch der ihm nöthigen Güter!) zwar nicht unmittelbar erreichte, sich demselben aber doch wesentlich näherte. Das ökonomische Interesse der einzelnen wirthschaftenden Individuen führt sie demnach bei gesteigerter Erkenntniss ihrer individuellen Interessen ohne alle Uebereinkunft, ohne legislativen Zwang, ja selbst ohne jede Berücksichtigung des öffentlichen Interesses dazu, ihre Waaren gegen andere absatzfähigere hinzugeben, selbst wenn sie dieser letzteren für ihre unmittelbaren Gebrauchszwecke nicht bedürfen, unter diesen letzteren aber, wie leicht ersichtlich ist, wiederum gegen solche, welche der Function eines Tauschmittels in bequemster und ökonomischster Weise zu dienen geeignet sind, und so tritt uns denn unter dem mächtigen Einflusse der Gewohnheit die allerorten mit der steigenden ökonomischen Cultur zu beobachtende Erscheinung zu Tage, dass eine gewisse Anzahl von Gütern, und zwar jene, welche mit Rücksicht auf Zeit und Ort die absatzfähigsten, die transportabelsten, die dauerhaftesten, die am leichtesten theilbaren sind, von Jedermann im Austausche angenommen werden und desshalb auch gegen jede andere Waare umgesetzt werden können, Güter, welche unsere Vorfahren Geld nannten, von „gelten" d. i. leisten, „zahlen".
Von welcher hohen Bedeutung gerade die Gewohnheit für die Entstehung des Geldes ist, ergiebt sich unmittelbar aus der Betrachtung des eben dargelegten Processes , . durch welchen bestimmte Güter zum Gelde werden. Der Austausch von minder absatzfähigen Waaren gegen solche von höherer Absatzfähigkeit, Dauer, Theilbarkeit u. s. f. liegt im ökonomischen Interesse jedes einzelnen wirthschaftenden Individuums; aber der factische Abschluss solcher Tauschoperationen setzt die Erkenntniss dieses Interesses Seitens jener wirthschaftenden Subjecte voraus, welche ein ihnen an und für sich vielleicht gänzlich unnützes Gut um der obigen Eigenschaften willen im Austausche gegen ihre Waaren annehmen sollen. Diese Erkenntniss wird niemals bei allen Gliedern [177] eines Volkes zugleich entstehen. Vielmehr wird stets zunächst nur eine Anzahl von wirthschaftenden Subjecten den Vortheil erkennen, welcher ihnen dadurch erwächst, dass sie überall dort, wo ein unmittelbarer Austausch ihrer Waare gegen Gebrauchsgüter nicht möglich oder höchst ungewiss ist, gegen ihre Waaren andere, absatzfähigere Waaren im Austausch annehmen, ein Vortheil, der an und für sich unabhängig ist von der allgemeinen Anerkennung einer Wa are als Geld, da immer und unter allen Umständen ein solcher Austausch das einzelne wirthschaftende Individuum seinem Endziele, der Erwerbung der ihm nöthigen Gebrauchsgüter, um ein beträchtliches näher bringt. Da es nun aber bekanntlich kein besseres Mittel gibt, die Menschen über ihre ökonomischen Interessen aufzuklären, als die Wahrnehmung der ökonomischen Erfolge jener, welche die richtigen Mittel zur Erreichung derselben in's Werk setzen, so ist auch klar, dass nichts so sehr die Entstehung des Geldes begünstigt haben mag, als die Seitens der einsichtsvollsten und tüchtigsten wirthschaftenden Subjecte zum eigenen ökonomischen Nutzen durch längere Zeit geübte Annahme eminent absatzfähiger Waaren gegen alle anderen. Solcherart haben Uebung und Gewohnheit sicherlich nicht wenig dazu beigetragen, die jeweilig absatzfähigsten Waaren zu solchen zu machen, welche nicht nur von vielen, sondern schliesslich von allen wirthschaftenden Individuen im Austausche gegen ihre Waaren angenommen wurden.
Das Geld, eine im eminentesten Sinne des Wortes dem Gemeinwohle dienende Institution, kann demnach, wie wir sahen, gleich anderen socialen Institutionen auf legislatorischem Wege entstehen. Derselbe ist aber eben so wenig die einzige, als die ursprünglichste Entstehungsart des Geldes, welche letztere vielmehr in dem oben dargestellten Processe zu suchen ist, dessen Natur indess nur sehr unvollständig erklärt werden würde, wollten wir ihn einen „organischen“ nennen, oder das Geld als etwas „urwüchsiges“, „ursprüngliches“ u. s. f. bezeichnen. Es ist vielmehr klar, dass der Ursprung des Geldes uns in Wahrheit nur dadurch zum vollen Verständnisse [178] gebracht zu werden vermag, dass wir die hier in Rede stehende sociale Institution als das unreflectirte Ergebniss, als die unbeabsichtigte Resultante specifisch individueller Bestrebungen der Mitglieder einer Gesellschaft verstehen lernen.
In ähnlicher Weise beantwortet sich die Frage nach dem Ursprunge einer Reihe anderer Socialgebilde, welche gleichfalls dem gemeinen Wohle dienen, ja dasselbe geradezu bedingen, ohne doch regelmässig das Ergebniss einer auf die Förderung dieses letztern gerichteten Absicht der Gesellschaft zu sein.
Die Bildung neuer Ortschaften erfolgt auch heute noch nur in den seltensten Fällen dadurch, dass eine Anzahl von Personen von verschiedenen Anlagen und verschiedenem Berufe sich in der Absicht, eine Ortschaft zu begründen, vereinigt und hierauf diese Absicht planmässig verwirklicht, obzwar, wie selbstverständlich, auch eine solche Entstehungsweise neuer Ansiedelungen nicht ausgeschlossen, ja durch die Erfahrung beglaubigt ist. Der Regel nach entstehen neue Ortschaften indess auf „unreflectirte" Weise d. h. durch die blosse Bethätigung individueller Interessen, welche von selbst, d. i. ohne eigentlich darauf gerichtete Absicht, zu dem obigen, dem gemeinen Interesse förderlichen Erfolge führt. Die ersten Landwirthe, welche ein Territorium in Besitz nehmen, der erste Handwerker, welcher sich in ihrer Mitte ansiedelt, haben der Regel nach nur ihr individuelles Interesse im Auge, ebenso der erste Gastwirth, der erste Krämer, der erste Lehrer u. s. f. Mit den steigenden Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder finden noch andere wirthschaftende Subjecte es vortheilhaft, in der allmälig wachsenden Gemeinde neue Berufe zu ergreifen oder die alten in umfassenderer Weise zu betreiben. So entsteht allmälig eine Organisation der Wirthschaft, welche den Interessen der Gemeindeglieder im hohen Grade förderlich [179] ist, ja ohne welche schliesslich die normale Existenz derselben nicht gedacht werden könnte, während diese Organisation doch keineswegs das Ergebniss der Bethätigung eines auf die Begründung derselben gerichteten Gemeinwillens ist. Dieser letztere pflegt vielmehr der Regel nach erst in fortgeschritteneren Entwickelungsstadien der Gemeinwesen zu Tage zu treten und nicht die Begründung, sondern zumeist nur die Vervollkommnung der auf „organischem“ Wege entstandenen Socialen Gebilde zu bewirken.
Ein ähnliches gilt vom Ursprunge des Staates. Kein Unbefangener kann daran zweifeln, dass durch Uebereinkunft einer entsprechenden Anzahl von Personen, welchen ein Territorium zur Verfügung steht, unter günstigen Verhältnissen die Grundlage zu einem entwickelungsfähigen Gemeinwesen gelegt werden könne. Auch kann vernünftigerweise nicht bezweifelt werden, dass aus den natürlichen GewaltVerhältnissen der Familie, durch einzelne Gewalthaber oder durch Gruppen von solchen neue entwickelungsfähige Staaten, auch ohne Uebereinkunft sämmtlicher Angehörigen des neuen Staates, begründet werden könnten. Die Theorie, nach welcher jenes sociale Gebilde, welches wir den Staat nennen, schlechthin auf „organischem“ Wege entstehe, ist somit jedenfalls eine einseitige. Ebenso irrig, ja in noch höherem Masse unhistorisch ist indess die Theorie, dass alle Staaten ursprünglich durch eine auf die Begründung derselben gerichtete Uebereinkunft oder durch eine auf den obigen Zweck gerichtete bewusste Thätigkeit einzelner Gewalthaber oder Gruppen von solchen entstanden seien. Es kann nämlich kaum bezweifelt werden, dass zum mindesten in den frühesten Epochen der Menschheitsentwickelung die Staaten in der Weise entstanden sind, dass durch kein staatliches Band verknüpfte, nebeneinander wohnende Familienhäupter, 0hne besondere Uebereinkunft, lediglich dadurch, dass sie ihre individuellen Interessen fortschreitend erkannten und zu verfolgen bemüht waren (durch freiwillige Unterwerfung der Schwächern unter den Schutz der Stärkern, durch wirksame Hilfe, welche der Nachbar dem Nachbar in jenen Fällen [180] brachte, in welchen dieser letztere unter Umständen vergewaltigt werden sollte, unter welchen auch die übrigen Bewohner eines Territoriums sich in ihrer Wohlfahrt bedroht erachteten u. s. f.), zu einer wenn auch zunächst unentwickelten staatlichen Gemeinschaft und Organisation gelangten. Auf den Zweck der Befestigung der Gemeinwesen als solcher gerichtete Uebereinkunft und Gewaltverhältnisse verschiedener Art mögen den obigen Process der Staatenbildung in einzelnen Fällen thatsächlich gefördert haben; die richtige Erkenntniss und die Bethätigung der individuellen Interessen Seitens einzelner nebeneinander wohnender Familienhäupter haben indess sicherlich in andern Fällen auch ohne die obigen Einflüsse; ja selbst ohne jede Rücksichtnahme der Individuen auf das gemeine Interesse zur Staatenbildung geführt. Auch jenes Socialgebilde, welches wir den Staat nennen, ist, zum mindesten in seinen ursprünglichsten Formen, die unbeabsichtigte Resultante individuellen Interessen dienender Bestrebungen gewesen.
In gleicher Weise könnte dargelegt werden, dass andere sociale Institutionen: die Sprache, das Recht, [63]die Sitte, insbesondere aber auch zahlreiche Institutionen der Volkswirthschaft, ohne jede ausdrückliche Uebereinkunft, ohne legislativen Zwang, ja ohne jede Rücksichtnahme auf das öffentliche Interesse, lediglich durch den Impuls individueller Interessen und als Resultante der Bethätigung dieser letztern, entstanden sind. Die Organisation des Waarenverkehrs in periodisch wiederkehrenden, an bestimmten Orten stattfindenden Märkten, die Organisation der Gesellschaft durch Trennung der Berufe und Theilung der Arbeit, die Handelsgebräuche u. s. f., lauter Institutionen, welche in eminentester Weise den Interessen des Gemeinwohls dienen und deren Ursprung auf den ersten Blick nothwendig auf Uebereinkunft oder Staatsgewalt zurückzuweisen scheint, sind ursprünglich nicht das Resultat von Uebereinkommen, Vertrag, Gesetz oder [181] besonderer Rücksichtsnahme der einzelnen Individuen auf das Öffentliche Interesse, sondern die Resultante individuellen Interessen dienender Bestrebungen.
Dass in diesen „organischen“ Werdeprocess die legislative Gewalt nicht selten eingreift und solcherart die Ergebnisse desselben beschleunigt oder modificirt, ist klar. Für die ersten Anfänge der Gesellschaftsbildung mag, entsprechend den thatsächlichen Grundlagen, die unreflectirte Entstehung der sócialen Phänomene die ausschliesslich massgebende sein. Im Laufe der Gesellschafts - Entwickelung tritt das zielbewusste Eingreifen der öffentlichen Gewalten in die gesellschaftlichen „Verhältnisse immer deutlicher zu Tage; es treten neben die auf „organischem“ Wege entstandenen Institutionen solche, welche das Resultat zweckbewussten gesellschaftlichen Handelns sind; Institutionen, welche auf organischem Wege entstanden sind, finden ihre Fortbildung und Neugestaltung durch die den socialen Zielen zugewandte zweckbewusste Thätigkeit der öffentlichen Gewalten. Das heutige Geld- und Marktwesen, das heutige Recht, der moderne Staat u. s. f. bieten eben so viele Beispiele von Institutionen, welche sich uns als Ergebniss der combinirten Wirksamkeit individual- und socialteleologischer Potenzen oder, mit andern Worten, organischer“ und „positiver“ Factoren darstellen.
Wenn wir nunmehr nach der allgemeinen Natur jenes Processes fragen, welchem jene socialen Erscheinungen, die nicht das Ergebniss social-teleologischer Factoren, sondern das unreflectirte Ergebniss gesellschaftlicher Bewegung sind, ihren Ursprung verdanken, ein Process, welcher im Gegensatze zu der Entstehung der Gesellschaftserscheinungen auf dem Wege positiver Gesetzgebung immerhin als ein „organischer“ bezeichnet werden mag: so kann die Beantwortung der obigen Frage kaum mehr zweifelhaft sein.
Das Charakteristische der social-teleologischen Entstehung der Gesellschaftsphänomene liegt in der auf die Begründung der letzteren gerichteten Absicht der Gesellschaft als solcher, [182] in dem Umstande, dass sie das beabsichtigte Ergebniss des Gemeinwillens der Gesellschaft, als handelndes Subject gedacht, oder der Machthaber dieser letztern sind. Die Socialphänomene, deren Ursprung ein „organischer“ ist, charakterisiren sich dagegen dadurch, dass dieselben sich als die unbeabsichtigte Resultante individueller d. i. individuelle Interessen verfolgender Bestrebungen der Volksglieder darstellen, demnach, im Gegensatze zu den vorhin gekennzeichneten Socialgebilden, allerdings die unbeabsichtigte sociale Resultante individual-teleologischer Factoren sind.
Wir glauben aber in dem Vorangehenden nicht nur die wahre, bisher lediglich durch unklare Analogien oder durch nichtssagende Redewendungen gekennzeichnete Natur jenes Processes, welchem ein grosser Theil der Socialerscheinungen seinen Ursprung verdankt, dargelegt, sondern zugleich auch zu einem andern, für die Methodik der Socialwissenchaften wichtigen Ergebnisse gelangt zu sein.
Es wurde von uns bereits oben darauf hingewiesen, dass eine lange Reihe von Phänomenen der Volkswirthschaft, welche gemeiniglich nicht als auf „organischem“ Wege entstandene „Socialgebilde“ aufgefasst werden, z. B. die Marktpreise, die Arbeitslöhne, die Zinsraten u. s. f., genau in der nämlichen Weise, wie jene socialen Institutionen entstehen, deren wir in dem vorangehenden Abschnitte gedacht haben. [64]Auch Sie sind nämlich, der Regel nach, nicht das Ergebniss social-teleologischer Verursachungen, sondern die unbeabsichtigteResultante zahlloser, in dividuelle Interessen verfolgender Bestrebungen der wirthschaftenden Subjecte, und auch ihr theoretisches Verständniss, das theoretische Verständniss ihres Wesens und ihrer Bewegung vermag somit in exacter Weisenur auf dem nämlichen Wege erzielt zu werden, wie jenes der oberwähnten socialen Gebilde, d. i. durch die Zurückführung derselben auf ihre Elemente, auf die individuellenFactoren ihrer Verursachung und durch die Erforschung der Gesetze, nach welchen die hier in Rede stehenden complicirten [183] Phänomene der menschlichen Wirthschaft sich aus diesen ihren Elementen aufbauen. Es ist dies aber, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, jene Methode, welche wir oben [65]als die der exacten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen überhaupt adäquate bezeichnet haben. Die Methoden für das exacte Verständniss des Ursprungs der auf , organischem“ Wege entstandenen Socialgebilde und jene für die Lösung der hauptsächlichen Probleme der exacten Volkswirthschaftslehre sind dem Wesen nach identisch.
[187]
Dass die Geschichte eine vortreffliche Lehrmeisterin für den Staatsmann und somit auch eine wichtige Grundlage für die Wissenschaft des Staatsmanns, die Politik, sei, ist ein so naheliegender Gedanke, dass, denselben auszusprechen, dem 19. Jahrhunderte nicht vorbehalten bleiben konnte. Ja, wir möchten fast glauben, dass das Studium der Geschichte für den praktischen Staatsmann sogar eine um so höhere Bedeutung aufweise, je geringer die Entwickelung jener WissenSchaft ist, welche wir die „Politik“ nennen, der Schriftsteller über Regierungskunst aber um so ausschliesslicher auf die Geschichte angewiesen erscheine, je geringer seine Einsicht in die Natur der Staatsgeschäfte und seine unmittelbare Erfahrung in diesen letztern ist. Wenn die Schriftsteller des Alterthums und der Renaissance die Wichtigkeit des GeschichtsStudiums für die Wissenschaft und die Praxis der Politik nicht nur nicht verkennen, sondern dieselbe in zahllosen Variationen, ja bisweilen geradezu bis zum Uebermasse betonen, so ist dies somit sicherlich nichts, was uns irgendwie überraschen dürfte.
[188]
Schon Platon hebt ausdrücklich hervor, dass die Untersuchungen in politischen Dingen „sich nicht auf leere Theorien, sondern auf Geschichte und wirkliche Begeben heiten gründen sollen, [66] eine Ansicht, welche bei Aristoteles bekanntlich geradezu zum Principe der Forschung wird. [67]
Als bei dem Wiedererwachen der Wissenschaften im Abendlande eine Reihe ausgezeichneter Schriftsteller die „Regierungskunst“ wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen begannen, waren neben den Schriften der Alten, welche unmittelbar die Politik behandelt hatten, die Geschichtswerke des classischen Alterthums, wie begreiflich, die hauptsächlichen Quellen, aus denen sie schöpften und deren Bedeutung für den „Politiker" sie demgemäss unmöglich übersehen konnten. Einerseits dies wurde die herrschende Meinung finde der „Politikers in den Geschichtswerken Beispiele verzeichnet, nach welchen er sich in ähnlichen Fällen zu richten vermöge; andererseits seien aber auch die Urtheile der Geschichtsschreiber über die historischen Thatsachen von nicht geringem Werthe. Je hervorragender ein Volk durch seine Thaten und Erfolge und je ausgezeichneter der Geschichtsschreiber, um so nützlicher dachte man das Studium der Geschichte in Rücksicht auf die Wissenschaft und die Praxis der Regierungskunst. Für ganz besonders belehrend wurde desshalb die Geschichte der Griechen und des römischen Volkes, vornehmlich jene ihrer Blütheepochen, in der Darstellung der ausgezeichnetern Historiker des Alterthums gehalten.
N. Macchiavelli glaubt, dass in dem politischen Wirrsal seiner Zeit es nöthig sei, „ad ea remedia confugere, quae a veteribus per leges instituta et excogitata fuerunt“ und beklagt als einen Hauptgrund des Verfalles der staatlichen Zustände seiner Zeit „quod historiarum usu legitimo destituamur[189] nec eos fructus ex illarum lectione percipiamus, quos illae natura sua alias producere queunt . [68]
Indess selbst diese hohe Werthschätzung der Geschichte Seitens des Florentiner Staatsmannes und Geschichtsschreibers erschien manchem seiner Zeitgenossen nicht ausreichend. Wirft doch der anonyme Verfasser des Werkes „De regno adversus Nic. Macchiavellum libri III“ (Innoc. Gentiletus), indem er den hohen Werth eines gründlichen Geschichtsstudiums für den Schriftsteller über Politik hervorhebt, seinem grossen Gegner geradezu vor und zeigt die Absicht, noch historischer als dieser sein zu wollen. [69]
In nicht geringerem Masse ist J. Bodin von der Wichtigkeit des Geschichtsstudiums für den Politiker, den Staatsmann und den Gesetzgeber durchdrungen.
„Cum historia – schreibt derselbe – laudatores habeat complures, qui veris eam ac propriis laudibus exornarunt, ex omnibus tamen nemo verius ac melius, quam qui vitae magistram appellavit; nam ea vox omnes omnium virtutum ac disciplinarum utilitates amplexa, significat, hominum vitam universam ad sacras historiae leges .. dirigi oportere ex quibus (historiis) non solum praesentia commode explicantur, sed etiam futura colliguntur certissimaque rerum expetendarum ac fugiendarum praecepta conflantur." [70]
Und an einer andern Stelle:
„Nec tamen Rempublicam idearum sola notione terminare decrevimus, qualem Plato, qualem etiam Thomas Maurus inani opinione sibi finxerunt: sed optimas quasque civitatum florentissimarum leges, quantum quidem fieri poterit, proxime consequemur." [71]
Selbst Bacon macht hiervon keine Ausnahme. Kennzeichnet er doch die Geschichte als Repertorium der [190] Vorbilder der Vergangenheit, als „fundamentum prudentiae civilis", und motivirt seine Befähigung zur Behandlung der Politik sogar ausdrücklich durch seine Geschichtsstudien. [72]
Auch die Idee, durch Vergleichung aller Staatsverfassungen und Gesetze zu einer Wissenschaft von der Verfassung und Gesetzgebung der Staaten, also zu einer Politik“ auf durchaus historischer Grundlage zu gelangen, musste sich den denkenden Köpfen unter den politischen Schriftstellern bereits früh aufdrängen. Ist die Geschichte die Lehrmeisterin und, wie man annahm, die beste Lehrmeisterin der Staatsmänner, welcher Gedanke lag näher, als durch Vergleichung der Staatseinrichtungen und ihrer Erfolge bei verschiedenen Völkern eine Wissenschaft der Politik zu begründen? In der That hat schon Platon den obigen Gedanken ausgesprochen und damit ein Problem aufgestellt, dessen Lösung in gewissem Sinne bereits Aristoteles versucht und noch ein J. Bodin als seine wichtigste Lebensaufgabe bezeichnet hat.
„Legissent Platonem" – sagt Bodinus von den Politikern seiner Zeit „qui legum tradendarum ac moderandae civitatis unam esse formam putavit, si omnibus omnium aut magis illustrium rerum publicarum legibus in unum collectis viri prudentes eas inter se compararent atque optimum genus ex eis conflarent. Ad hoc igitur institutum omnia mea studia, omnes contuli cogitationes."[73]
Den nämlichen Gedanken spricht schon Macchiavelli aus:
„Vetus dictum est" - sagt derselbe – „quod ut sapientissime pronunciatur, ita diligenter observari debet: Res futurascontemplatione praeteritarum conjici cognoscique posse. [191] Quaecunque enim per universum orbem fiunt, habuerunt olim aliquid simile, quod eodem modo antiquitus et ex iisdem causis ut haec quae nunc videmus factum fuit . Eo magis etiam videris, ex praeteritis futurarum rerum eventus posse conjicere". [74]
Aehnlich äussert sich der Baseler Prof. Nic. Stupanus (1599) in dem Widmungsschreiben zu seiner Ausgabe von Macchiavelli's „Fürsten“:
„Non faciunt sapientes Reipublicae gubernatores omnia, quae ab aliis facta esse in historiis perhibentur; sed propterea historiarum lectioni diligentissime incumbunt eorum optimi quique, ut insignem rerum praeteritarum cognitionem nacti, ceu rebus illis, quos legerunt, gerendis interfuissent, deinde in capiendis novis consiliis et rerum agendarum deliberatione Causas, Consilia, Progressus, Eventusque praeteritarum rerum promptos in animo habeant, praesentia exempla cum praeteritis, domestica cum peregrinis, similia cum similibus, contraria cum contrariis ubique possint conferre et ea praeteritis futurarum rerum eventus praevidere. Quae si ita se habere omnes intelligimus". [75]
Dass die nämliche Verfassung und Gesetzgebung nicht allen Völkern und Zeiten adäquat sei, vielmehr jedes Volk und jedes Zeitalter je nach seiner Eigenart besonderer Gesetze und staatlicher Einrichtungen bedürfe - auch dieser Gedanke lag nicht so fern ab, dass erst Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ihn hätten ergründen müssen. Dass die Völker einander nicht durchwegs gleichen und es gefährlich sei, Staatsverfassungen und Gesetze des einen Volkes [192] kritiklos auf das andere zu übertragen, ist vielmehr weder den Alten noch auch den Schriftstellern der Renaissance unbekannt.
Schon Platon hebt hervor, dass die Oertlichkeit eines Landes von nicht geringem Einfluss auf die Natur der Menschen sei und die Gesetzgebung diese Thatsache nicht unberücksichtigt lassen dürfe. Der Gesetzgeber müsse für alle Verschiedenheiten der obigen Art ein offenes Auge haben und dieselben, soweit dies einem Menschen überhaupt möglich sei, zu erforschen suchen, bevor er Gesetze zu entwerfen unternehme. [76]
Und an einer andern Stelle:
„Es ist kaum möglich, dass irgend eine bestimmte Staatseinrichtung sich in der Praxis unangefochten gleichwie in der Theorie bewähre; dies scheint vielmehr gerade so unmöglich zu sein, als jedem Körper Eine bestimmte Lebensweise vorzuschreiben, bei welcher nicht ein und dasselbe ihm bald schädlich und bald nützlich sich erwiese.“ [77]
Nicht minder entschieden betont Aristoteles die Relativität staatlicher Einrichtungen. „Die Politik“, sagt derselbe, „hat nicht lediglich die an sich wünschenswertheste Verfassung und Regierung zu untersuchen, sondern auch jene, welche unter bestimmten Umständen die zweckmässigste, die diesen letztern angemessenste ist. Dem Politiker liegt ob, einen jeden Staat und dessen Einrichtung, so wie sie in der [193] Wirklichkeit sind, zu untersuchen und das Eigenthümliche seiner Einrichtungen zu erforschen. Er muss den wirklichen Zustand der Dinge kennen, bevor er an die Verbesserung derselben zu schreiten vermag.“ [78]
Auch N. Macchiavelli ist die örtliche und zeitliche Relativität staatlicher Institutionen nicht fremd. Er schreibt:
„Sicuti diversae causae esse solent, quibus urbium fundamenta ponuntur, ita quoque diversae ipsis rationes legum et institutorum existere consueverunt." [79]
Und an einer andern Stelle:
„Qui cupit vel rempublicam vel sectam suam diuturnam esse, eam saepe corrigere debet et veluti ad prima sua principia revocare praecipue sunt respublicae atque sectae, quibus salutares sunt illae mutationes, per quas corriguntur, emendantur et ad primam suam originem principiumque revocantur.“ [80]
Besonders eingehend spricht sich über die Relativität staatlicher Einrichtungen J. Bodinus aus. In seiner Republik“ schreibt er ein eigenes Capitel: „De conformando civitatum statu pro regionum ac populorum varietate, quibusque disciplinis populorum mores dissimilesque naturae percipiantur.“ [81]
Ueber die obige Frage selbst äussert er sich folgendermassen:
„In toto genere animantium non modo innumerabiles sunt figurae, verumetiam earum, quae figuram eandem habent, maxima varietas est; sic hominum inter se admirabilis est ac pene incredibilis dissimilitudo variaque pro locorum diversitate natura",
und er stellt sich demgemäss die Aufgabe:
„explicare, quae quibus populis leges congruant, quis cuique civitati status conveniat, quibusque rationibus gentium mores[194] ac naturae percipiantur: ne aut formam civitatis a populi moribus alienam instituamus, aut naturae leges hominum arbitrio ac voluntati, repugnante natura, servire cogamus; quod plerique facere conati florentissima imperia funditus everterunt.“ [82]
Und an andern Stellen:
„Principem ac legislatorem populi mores ac naturam regionis, in qua civitas est, nosse prius oportet, quam legum aut civitatis conversionem moliatur: cum de omnibus rerumpublicarum arcanis nullum majus sit, quam ad varios gentium mores ac naturas civitatis cujusque leges ac formam congruentem accommodare.“
„Peccatur ab iis, qui ab alienis civitatibus leges acceptas ad eam quae plane contraria ratione dirigatur rempublicam adhiberi putant oportere.“ [83]
Die von so hervorragenden Schriftstellern so klar ausgesprochenen Einsichten in die Bedeutung des Geschichtsstudiums für den Politiker und die Relativität der staatlichen Einrichtungen sind, wie wohl kaum besonders bemerkt zu werden braucht, niemals wieder, weder überhaupt noch in Rücksicht auf einen besondern Zweig der Staatswissenschaften völlig verloren gegangen. Selbst die Schriftsteller der Aufklärungsepoche in Frankreich, welchen ganz vorzugsweise ein unhistorischer Sinn und eine Hinneigung zum „Absolutismus“ in der Politik zum Vorwurf gemacht wird, verkennen keineswegs so vollständig, als die historische Schule der deutschen Nationalökonomen dies annimmt, die Bedeutung des Geschichtsstudiums für den Staatsmann und den Grundsatz der bloss relativen Berechtigung staatlicher Einrichtungen. [84]
Allerdings jene Bedeutung, welche der Geschichtsschreiber [195] oder selbst der Geschichtsphilosoph historischen Studien beizumessen angewiesen ist, konnten diese letztern für die Socialphilosophen der Aufklärungsepoche überhaupt und die Physiokraten insbesondere nicht gewinnen. Wer bestehende Institutionen bekämpft und einer neuen Ordnung der Dinge das Wort redet, hat, wie selbstverständlich, zunächst nicht den Beruf, den historischen Ursprung derselben zu erforschen und ihre Entwickelung liebevoll zu verfolgen. Seine erste Aufgabe ist, die Verderblichkeit derselben in Rücksicht auf die Gegenwart darzuthun. · Eben so wenig kann Schriftstellern, welche die geistige Bewegung der französischen Revolution auf dem Gebiete der Volkswirthschaft repräsentiren, vernünftigerweise zugemuthet werden, die allfällige einstige Berechtigung der von ihnen bekämpften und die in Rücksicht auf örtliche und zeitliche Verhältnisse nur relative Berechtigung der von ihnen befürworteten Institutionen zu betonen. Dergleichen widerspricht der praktisch-reformatorischen Aufgabe der Physiokraten. Daraus, dass sie solches unterliessen, indess schliessen zu wollen, sie hätten die Bedeutung des Geschichtsstudiums für die Staatswissenschaft überhaupt verkannt oder sie seien grundsätzlich der Meinung gewesen, die nämlichen Einrichtungen, welche sie für das Frankreich des 18. Jahrhunderts empfahlen, seien für alle andern Völker und Zeiten, also z. B. etwa auch für die Tungusen und Kalmüken oder das Frankreich Ludwigs des Heiligen angemessen, heisst denn doch die Bedeutung dieser Schriftsteller verkennen, welche unter dem frischen Eindrucke von Voltaire's Philosophie der Geschichte und Montesquieu's Geist der Gesetze standen.
Dass gar A. Smith die Bedeutung des Geschichtsstudiums für unsere Wissenschaft und den Einfluss örtlicher und zeitlicher Verhältnisse auf die Institutionen der Volkswirthschaft verkannt hätte, vermöchte wahrlich nur die Unkenntniss zu behaupten.
[196]
Was ein ausgezeichneter Darsteller der geschichtlichen Entwickelung der griechischen Philosophie von Aristoteles im Gegensatze zu Platon sagt, dass der erstere nicht nur, gleich dem letztern, ein hervorragender speculativer Denker, sondern auch ein unermüdlicher Beobachter war, seinem System einen breiten Unterbau erfahrungsmässigen Wissens gegeben und seine philosophischen Sätze durch eine allseitige Betrachtung des thatsächlich Gegebenen zu begründen versucht habe: dies gilt auch von A. Smith in seinem Verhältnisse zu den Physiokraten.
Sehr richtig bemerkt der geistreiche Sismondi über den Verfasser der Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des Volkswohlstandes":
„Adam Smith reconnut que la science du gouvernement ne pouvait se fonder que sur l'histoire des peuples divers et que c'était seulement d'une observation judicieuse des faits qu'on pouvait deduire les principes. Son immortel ouvrage, „De la nature et des causes de la richesse des nations" . . est en effet le resultat d'une étude philosophique de l'histoire du genre humain.“ [85]
Ein anderer sehr gründlicher Forscher, E. Baumstark, äussert sich hierüber folgendermassen:
„Besonders Noth thut dem politischen Theile unserer Wissenschaft eine historische Grundlage, denn sie wird ohne diese auf die gefährlichsten Abwege gerathen. Ich meine hiermit nicht, dass bei jeder Doctrin eine magere geschichtliche Einleitung gegeben, sondern die ganze Wirthschaftslehre in ihrem Zusammenhange auf historische Grundlagen anstatt auf blosse Dogmatik gestellt und als ein Ergebniss von Forschungen in der Geschichte des Verkehrs, der Cultur, des Staats und der Menschheit überhaupt entwickelt werde. Welche Kraft haben auf diese Weise nicht A. Smith und Ferguson ihren unsterblichen Werken eingehaucht!“ [86]
[197]
Man mag über die Ergebnisse, zu welchen A. Smith gelangte, wie immer denken, sie für noch so unvollkommen erklären, die beiden obigen Charakteristiken des Smith'schen Werkes Seitens zweier was heut' zu Tage, wo vielerlei, aber nicht viel gelesen wird, besonders betont zu werden verdient - wirklicher Kenner desselben widerlegen jedenfalls, und zwar besser als dies eine noch so gehäufte Anführung von Belegstellen aus A. Smith's Schriften vermöchte, den auch dem Begründer unserer Wissenschaft nicht erspart gebliebenen Vorwurf der Unterschätzung des Geschichtsstudiums für unsere Wissenschaft und des unhistorischen Absolutismus in dem vorhin erwähnten Verstande des Wortes.
Unter den Schülern A. Smith's hat besonders Sismondi das Geschichtsstudium als Grundlage der Forschung auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie und den Gedanken der Relativität aller staatlichen Einrichtungen betont.
„Ce n'est pas sur des calculs arides“ – sagt derselbe – qu'elle (la science d'écon. pol.) est fondée, ce n'est pas non plus sur un enchaînement mathématique de théorèmes déduits, d'axiomes obscurs, donnés pour des vérités incontestables L'économie politique est fondée sur l'étude de l'homme et des hommes ; il faut connaître la nature humaine, l'état et le sort des sociétés en différents temps et en différents lieux, il faut consulter les historiens et les voyageurs etc. Une pareille étude ..c'est la philosophie de l'histoire et des voyages.“ [87]
Und an einer andern Stelle:
„On est tombé dans de graves erreurs, pour avoir toujours voulu généraliser tout ce qui rapporte aux sciences sociales ... Il faut s'attacher tantôt à un temps, tantôt à un pays, tantôt à une profession, pour voir bien ce qu'est l'homme et comment les institutions agissent sur lui. Ceux au contraire qui l'ont voulu voir isolé du monde, ou plutôt qui ont considéré abstraitement [198] les modifications de son existence, sont toujours arrivés à des conclusions démenties par l'experience.“ [88]
Wir unterlassen es, die lange Reihe von deutschen Schriftstellern anzuführen, welche offenbar in Folge der obigen Anregungen bereits in den drei ersten Decennien unseres Jahrhunderts, also lange vor der Begründung der „historischen Schule von Nationalökonomen in Deutschland", die Bedeutung der Geschichte für die Politische Oekonomie (die Wichtigkeit derselben als Mittel für das Verständniss der Gegenwart und als empirische Grundlage für die Socialforschung !) und die Relativität der volkswirthschaftlichen Institutionen und Gesetze hervorgehoben haben. [89]Geht doch schon aus den oben angeführten Stellen, die, wie kaum bemerkt zu werden braucht, ohne jede Mühe vermehrt und vervollständigt werden könnten, mit mehr als genügender Klarheit hervor, dass die hier in Rede stehenden Grundsätze weder den Socialwissenschaften überhaupt, noch auch – seit ihrer Begründung als selbständige Wissenschaft - der Politischen Oekonomie insbesondere jemals völlig fremd gewesen. Es giebt keine Epoche der Entwickelung unserer Wissenschaft, in welcher die leitenden [199] Grundsätze der historischen Schule deutscher Nationalökonomen nicht in hervorragenden, auch heute noch jedem Gebildeten bekannten und zugänglichen Schriften weltberühmter Autoren ausgesprochen worden wären. Der Entdeckung der obigen Wahrheiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts oder gar der Begründung einer besonderen Schule zur Propagation derselben bedurfte es wahrlich nicht.
[200]
Was Adam Smith und selbst denjenigen seiner Schüler, welche die Politische Oekonomie am erfolgreichsten fortgebildet haben, thatsächlich zum Vorwurfe gemacht werden kann, ist nicht die Verkennung der selbstverständlichen Bedeutung des Geschichtsstudiums für den Politiker und des ebenso selbstverständlichen Grundsatzes, dass verschiedenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen der Volkswirthschaft auch verschiedene wirthschaftliche Institutionen und Regierungsmassregeln entsprechen, sondern ihr mangelhaftes Verständniss für die auf unreflectirtem Wege entstandenen gesellschaftlichen Institutionen und die Bedeutung der letzteren für die Volkswirthschaft, die der Hauptsache nach auch in ihren Schriften hervortretende Meinung, die Institutionen der Volkswirthschaft seien durchweg das beabsichtigte Product des Gemeinwillens der Gesellschaft als solcher, Ergebnisse der ausdrücklichen Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder oder der positiven Gesetzgebung. In dieser einseitig pragmatischen Anschauung [201] vom Wesen der gesellschaftlichen Institutionen berührt sich der Ideenkreis A. Smith's und seiner nächsten Schüler mit jenem der Schriftsteller der französischen Aufklärungsepoche überhaupt und der französischen Physiokraten insbesondere. Auch Adam Smith und seine Schule streben vorwiegend nach dem pragmatischen Verständnisse der Volkswirthschaft, selbst dort, wo es der objectiven Sachlage nicht adäquat ist, so zwar, dass das weite Gebiet der in unreflectirter Weise entstandenen Socialgebilde ihrem theoretischen Verständnisse– verschlossen bleibt. Die obigen Einseitigkeiten und Mängel in der Auffassung der wirthschaftspolitischen Probleme Seitens A. Smith und seiner Schüler boten genügende Anhaltspunkte zu einer wissenschaftlichen Reaction. Indess machte sich eine solche auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie, zum mindesten in entscheidender Weise, nicht geltend. Die wissenschaftlichen Gegner Smith's bekämpften einzelne Theorien und Auffassungen desselben, nicht aber den obigen principiellen Irrthum, und konnten nicht verhindern, dass der Pragmatismus seiner Lehre allmählig zu unbestrittener Geltung gelangte. Eine Reaction mehr principieller Natur sollte den Lehren Smith's nicht originell aus dem Kreise der Volkswirthe erwachsen, sondern spät genug durch mechanische Uebertragung von Ideen und Methoden anderer verwandter Wissensgebiete auf die Volkswirthschaftspolitik erfolgen, ein geistiger Process, in welchem Missverständnisse mancherlei Art noch überdies keine geringe Rolle zu spielen berufen waren.
Der Pragmatismus in den Anschauungen vom Wesen und Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen hat zunächst auf dem Gebiete des Staatsrechtes herVorragende Gegner gefunden.
Burke war wohl der erste, [90]welcher, angeleitet hiezu [202] durch den Geist der englischen Jurisprudenz, mit vollem Bewusstsein die Bedeutung der organischen Gebilde des socialen Lebens und den zum Theil unreflectirten Ursprung dieser letztern betonte. Er lehrte auf das Ueberzeugendste, dass zahlreiche, in hohem Grade gemeinnützige, jeden Briten mit Stolz erfüllende Institutionen seines Vaterlandes nicht das Product positiver Gesetzgebung, beziehungsweise des bewussten, auf die Begründung derselben gerichteten Gemeinwillens der Gesellschaft, sondern das unreflectirte Ergebniss historischer Entwickelung seien. Er lehrte zuerst das Bestehende und Erprobte, das historisch Gewordene im Gegensatze zu den Projecten unreifer Neuerungssucht wieder achten, und schlug hiedurch die erste Bresche in den einseitigen Rationalismus und Pragmatismus der englisch-französichen Aufklärungsepoche. [91]
[203]
Die Ideen Burke's wurden in Deutschland zunächst die Veranlassung zur Bekämpfung des Pragmatismus in der [204] Jurisprudenz, welcher sowohl in der Behandlung des positiven Rechtes, als auch in der Philosophie des letztern zur einseitigen Geltung gelangt war. Schon Hugo hatte die Reaction gegen die obige Richtung durch seine Studien auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte angebahnt; Savigny und Niebuhr traten im vollen Bewusstsein der Aufgabe an die Spitze der neuen Bewegung. Ihnen ist das Recht nur eine besondere Seite des Volkslebens als ein Ganzes gedacht, untrennbar verbunden mit allen übrigen Seiten und Aeusserungen desselben; ihnen ist das Recht zum mindesten ursprünglich, ähnlich wie. die Sprache, nicht das Produkt einer auf die Hervorbringung desselben hinzielenden bewussten Thätigkeit der öffentlichen Gewalten überhaupt und der positiven Gesetzgebung insbesondere, sondern das unreflectirte Ergebniss einer höhern Weisheit, der geschichtlichen Entwickelung der Völker; ja sie sprechen dem blossen abstracten Verstande geradezu die Fähigkeit, und speciell ihrer Zeit den Beruf zu einer umfassenden Rechtsbildung ab. Auch die Fortbildung des Rechtes erfolge nämlich, gleich jener der Sprache, [92]nicht durch beabsichtigte Willkür, sondern in „organischer Weise, durch innere geschichtliche Nothwendigkeit, und wenn auch im Verlaufe der Culturentwickelung aus mannigfachen Gründen die Gesetzgebung in heilsamer Weise eintrete, so sei doch [205] auch in diesem Falle der Gesetzgeber nur als Repräsentant des Volkes, als Vertreter des wahren Volksgeistes zu betrachten, und die Continuität des Rechtes von ihm zu respectiren. [93]
In diesem dem Standpunkt Burke's auf dem Gebiete des Staatsrechtes analogen Anschauungen, in dem Gegensatze zu dem Pragmatismus und Rationalismus auf dem Gebiete der Jurisprudenz, nicht aber etwa in dem Grundsatze der Relativität des Rechtes [94]und in der schon lange vorher von [206] französichen Juristen betonten Bedeutung historischer Studien für das Verständniss des letztern liegt das Wesen der von Savigny und Niebuhr begründeten Juristenschule. [95]
[207]
In welcher Weise haben nun die Begründer der historischen Schule deutscher Nationalökonomen ihre ausgesprochene Absicht, die Grundgedanken der obigen Juristenschule auf die Politische Oekonomie anzuwenden, verwirklicht?
Adam Smith und seine Schüler hatten die Bedeutung des Geschichtsstudiums für die Politische Oekonomie und die . Relativität socialer Einrichtungen, ihre nothwendige Verschiedenheit (je nach der Verschiedenheit temporärer und localer Verhältnisse) keineswegs verkannt; was ihnen dagegen, wie bereits gesagt, mit Recht zum Vorwurf gemacht werden kann, ist ihr Pragmatismus, welcher der Hauptsache nach nur ein Verständniss für positive Schöpfungen der öffentlichen Gewalten hatte, die Bedeutung der „organischen“ Socialgebilde für die Gesellschaft überhaupt und die Volkswirthschaft insbesondere indess nicht zu würdigen verstand und desshalb dieselben zu conserviren auch nirgends bedacht war. Es ist der einseitige rationalistische Liberalismus, das nicht selten übereilte Streben nach Beseitigung des Bestehenden, nicht immer genügend Verstandenen, der ebenso übereilte Drang, auf dem Gebiete staatlicher Einrichtungen Neues zu schaffen oft genug ohne ausreichende Sachkenntniss und Erfahrung was die Lehren A. Smith's und seiner Schüler charakterisirt.
Die organisch gewordenen Institutionen der Volkswirthschaft hatten zumeist so. weise für die Lebenden, die bereits Bestehenden, für das Nahe, das Gegenwärtige gesorgt; der Pragmatismus in der Volkswirthschaft war auf die Wohlfahrt des abstracten Menschen, der Entfernten, der noch nicht Existirenden, der Künftigen bedacht und übersah in diesem Streben nur all zu oft die lebendigen, berechtigten Interessen der Gegenwart.
Gegen diese Bestrebungen der Smith'schen Schule eröffnete sich unserer Wissenschaft ein unermessliches Gebiet fruchtbarer Thätigkeit im Sinne der Richtung Burke-Savigny's [208] --- nicht einer solchen, welche das organisch Gewordene als unantastbar, gleichsam als die höhere Weisheit in menschlichen Dingen gegen die reflectirte Ordnung der socialen Verhältnisse schlechthin festzuhalten die Aufgabe gehabt hätte. Das Ziel der hier in Rede stehenden Bestrebungen musste vielmehr das volle Verständniss der bestehenden socialen Einrichtungen überhaupt und der auf organischem Wege entstandenen Institutionen insbesondere sein, die Festhaltung des Bewährten gegen die einseitig rationalistische Neuerungssucht auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Es galt die Zersetzung der organisch gewordenen Volkswirthschaft durch einen zum Theil oberflächlichen Pragmatismus zu verhindern, einen Pragmatismus, der gegen die Absicht_seiner Vertreter unausweichbar zum Socialismus führt.
Von all dem findet sich in den Schriften jener historischen Schule von Nationalökonomen, welche in der Mitte der vierziger Jahre - ein verspäteter Nachzügler der „historischen" Schulen auf anderen Gebieten der Staatswissenschaften – in Deutschland entstand, indess kaum eine Spur, und nur mit Unrecht weist dieselbe desshalb auf die historische Juristen schule als ihr Vorbild hin, nur mit Unrecht nennt sie sich i eine „historische" im Sinne der Schule Burke's und Savigny's. Sie theilt nicht deren Vorzüge, allerdings auch nicht deren Einseitigkeiten und Mängel; sie hat ihre besonderen Vorzüge und ihre ganz eigenthümlichen Einseitigkeiten, Missverständnisse und Irrthümer. Sie ist, soweit sie bisher in den Werken ihrer Wortführer zu Tage getreten, eine von der obgenannten wesentlich verschiedene: eine historische allerdings, aber eine solche in durchaus anderem Sinne, als jene Burke-Savigny's.
[209]
Die historische Schule deutscher Nationalökonomen hat nicht in Burke und Savigny, nicht in Niebuhr und W. v. Humboldt ihren Ausgang genommen, sondern wurzelt der Hauptsache nach in Wahrheit in den Bestrebungen jener deutschen Historiker, welche gegen den Schluss des vorigen und in den ersten vier Decennien unseres Jahrhunderts an einigen deutschen Universitäten, zumal in Göttingen und Tübingen, den damaligen Universitäts-Einrichtungen zu Folge Geschichte und daneben Politik lehrten und demgemäss eine naheliegende Veranlassung fanden, ihre historischen Kenntnisse für die Wissenschaft der Politik und ihre Kenntnisse in dieser letztern umgekehrt für ihre historischen Studien zu verwerthen.
Das Streben, das Studium der Politik mit jenem der Geschichte in Verbindung zu setzen, führte die verdienstvollen Geschichtsschreiber, um die es sich hier handelt, zunächst dazu, die von ihnen aufgestellten politischen Maximen durch Beispiele aus der Geschichte zu erläutern, durch den Hinweis auf Erfolge und Misserfolge politischer Massregeln zu erhärten, l im weitern Verlaufe der Entwickelung aber zu dem Versuche, die Politik überhaupt auf historische Grundlagen zu stellen, dieselbe als das Ergebniss einer denkenden Betrachtung, als [210] eine „Philosophie“ der Geschichte darzustellen. Es wäre leicht, die obigen Bestrebungen weiter zurück zu verfolgen. Für unsern Zweck genügt es indess, wenn wir auf Spittler, H. Luden, Pölitz, H. B. v. Weber und Wächter, in weiterer Folge auf Dahlmann, Gervinus und W. Roscher hinweisen, um darzuthun, dass ursprünglich in Deutschland eine , historische Schule“ von Politikern und zugleich eine „politische Schule“ von Historikern [96]entstand, aus welcher sich allmählig eine historische Schule von Volkswirthschaftspolitikern und da die Volkswirthschaftspolitik von den Vertretern der obigen Richtung mit der Politischen Oekonomie vielfach verwechselt wurde – schliesslich eine historische Schule der Politischen 3 Oekonomie überhaupt herausbildete.
Der allgemeine Charakter der obigen Schule von „Politikern“ und die nahen Beziehungen ihres Ideenkreises zu jenem unserer historischen Volkswirthe werden am besten aus der nachfolgenden kurzen dogmengeschichtlichen Darstellung klar werden. H. Luden charakterisirt die Aufgabe der Politik in folgenden Worten: „Ich wünschte ein Buch zu schreiben, das eine Ansicht der Dinge, die mit dem Leben und den ewigen Lehren der Geschichte übereinstimmt, darstellt. . . . Alles wünschte ich, so weit als möglich, mit Beispielen aus der Geschichte [211] zu bewähren, um es fühlbar zu machen, dass es eigentlich die Geschichte selbst sei, die da redet". [97] --- Pölitz hebt die Nothwendigkeit der Geschichtsstudien für den Politiker in folgender, für seinen Standpunkt charakteristischen Weise hervor: „Sollte die Staatskunst, welche dem wirklichen Leben der Völker und Staaten angehört, einzig aus der reinen Ver-2017 zu hören, so würde sie zum trockenen Gerippe abgezogener Begriffe werden, ohne Anwendbarkeit auf die kraftvolle Ankündigung des Staates als einer lebensvollen Organisation und ohne Benutzung der grossen Wahrheiten, welche die Geschichte in einem Zeitraum von mehreren Jahrtausenden darbietet“. [98]--- H. B. v. Weber bekämpft die bloss speculative Richtung der Politik als Wissenschaft: [99]historische Erfahrung biete die Regeln der Klugheit dar, nach welchen jedesmal die wirksamsten Mittel für die Zwecke des innern und äussern Staatslebens angewandt werden dürfen und sollen. [100]– Wächter endlich rühmt in seiner Einleitung zu Spittlers (bereits 1796 gehaltenen!) „Vorlesungen über Politik" die Berücksichtigung des „Individuellen“. Spittlers politische Maximen seien keine absoluten Regeln, die überall und unter allen Umständen durchgeführt werden müssten, sondern sie modificirten sich nach Localitäten, Zeitumständen, dem geographischen Umfange des Landes, der Verfassung, dem Charakter, der Lebensart der Völker . . . Ferner verlange Spittler immer nur allmähligen Gang der Reformen und Uebergangsstufen. [101]
[212]
Aus den obigen Stellen geht die anfängliche Tendenz der hier in Rede stehenden Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Politik mit voller Klarheit hervor. Was dieselbe auszeichnet, ist der Umstand, dass sie, im Gegensatze zu den einseitig speculativen Richtungen der an einzelne neuere deutsche Philosophenschulen sich anlehnenden Bearbeiter der Staatswissenschaften, die Erfahrung und insbesondere die Geschichte als eine wesentliche, ja als die wichtigste Grundlage der Forschung auf dem Gebiete der Politik anerkennt, die Erfahrungen der Geschichte für die Politik nutzbar zu machen, ja diese letztere geradezu auf die Lehren der Geschichte aufzubauen sucht. Es ist die uralte Reaction des Empirismus überhaupt und des historischen Empirismus insbesondere gegen die aprioristische Speculation in staatlichen Dingen, welche den Bestrebungen der obigen Schriftsteller ihren eigenthümlichen Charakter verleiht.
Der Grundgedanke der historischen Schulen des Staatsrechtes und der Jurisprudenz, die Bestrebungen, welche Burke-Savigny's Richtung charakterisiren, den eigentlichen Kernpunkt ihrer Bestrebungen ausmachen, „die Lehre von dem organischen, unreflectirten Ursprunge einer Reihe von Menschheitserscheinungen“ mit all' den Consequenzen für die Legislation und Verwaltung, ist den obigen Politikern daMAAMY gegen nebensächlich, ja zum Theile ganz fremd. Kaum dass ihre Gedankenkreise jene der historischen Schulen des Staatsrechts und der Jurisprudenz berühren. Sie sind Gegner der abstracten Speculation (auch solche der historisirenden Philosophie!), aber zumeist nicht solche der Aufklärungsliteratur des 17. und 18. Jahrhundertes und des Liberalismus in der Politik; Gegner der aprioristischen Construction in den Staatswissenschaften und in der Geschichte, aber nicht solche des einseitigen Pragmatismus in der Auffassung der Gesellschaftserscheinungen. ' Im Gegentheil, die Mehrzahl der hier in Betracht kommenden Schriftsteller gehört selbst der liberalen (wenn auch nicht einer abstract-liberalen) Richtung an, deren leitende Gedanken sie in ihrer Weise d. i. durch die [213] Geschichte nach Kräften zu stützen und zu begründen sucht. [102]Was die obigen, im Grunde zumeist liberalen Männer wollten, war eine Methode der Forschung, die Nutzbarmachung ihrer schönen und soliden Kenntnisse in der umgekehrt dieser letztern für die erstere, aber nicht der Conservativismus im Sinne der grossen Begründer der historischen Schulen des Staatsrechts und der Jurisprudenz. [103]
[214]
Dagegen halten sie sich allerdings auch von jenen Einseitigkeiten frei, welche wir in Burke-Savigny's Opposition gegen den Rationalismus und Pragmatismus der französischen Aufklärungsepoche gekennzeichnet haben. Nirgends verwechseln dieselben, die ja zumeist in Wahrheit Historiker und Politiker zugleich waren, die Politik mit der Geschichte, nirgends vertreten sie das Bestehende, historisch Gewordene schlechthin gegenüber den Reformbestrebungen ihrer Zeitgenossen gleich Burke, nirgends stellen sie die Weisheit in den auf organischem Wege entstandenen socialen Gebilden von vornherein und ohne zureichenden Beweis über die Menschenweisheit d. i. über das Urtheil der Gegenwart, gleich Savigny. [104]Eben so [215] wenig verfällt die Mehrzahl derselben, bei aller Anerkennung der Bedeutung des Geschichtsstudiums für die Politik in einen andern, „historischen Politikern“ so nahe liegenden Irrthum – in jenen des einseitigen Empirismus oder gar des einseitigen Historismus. „Die Staatskunst (die Politik) – sagt Pölitz [105]– ist eine gemischte (d. h. aus philosophischen Grundsätzen und geschichtlichen Thatsachen gleichmässig gebildete) Wissenschaft. Wollte man sie bloss auf Regeln, entlehnt der Erfahrung und Geschichte, zurückführen, so würde sie nicht bloss derjenigen festen Grundlage ermängeln, die zunächst auf Grundsätzen der Vernunft beruht; sie würde auch nicht ohne innere Widersprüche bleiben, weil man aus der Geschichte nicht selten Belege für die einander entgegengesetzten politischen Ansichten und Behauptungen aufstellen kann.“ Dass Pölitz die Politik eben so wenig einseitig aus der Vernunft abgeleitet [216] wissen will, haben wir bereits oben [106]gezeigt. In ähnlicher Weise spricht sich Weber [107]aus. „Die Politik“ --- sagt derselbe – „ist weder eine rein philosophische noch eine rein geschichtliche Staatswissenschaft, sondern eine gemischte, sofern sie zugleich aus philosophischen Grundsätzen und aus geschichtlichen Thatsachen gebildet wird.“ [108]Man mag gegen obige Auffassung, namentlich gegen die Bezeichung der Politik als einer „zum Theil philosophischen“ Wissenschaft manches einzuwenden haben, auch in den obigen Ausführungen über die Unhaltbarkeit des blossen Empirismus, beziehungsweise des blossen Historismus in der Politik den Hinweis auf manchen nahe liegenden Einwand vermissen: der einseitige Historismus findet indess noch keinen Raum in den Darstellungen der obgenannten Schriftsteller.
Der Schritt zu dieser Einseitigkeit --- in Wahrheit ein Rückschritt weit hinter den Standpunkt J. Bodin's! --- wurde erst in den dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts und zwar von einem ausgezeichneten Göttinger Historiker unternommen, welcher sich zwar mit dem Gedanken an die Abfassung einer Politik sein Leben lang getragen hatte, aber nie [217] an die Ausführung desselben geschritten war und deshalb des läuternden Einflusses, welchen die Durchführung einseitiger wissenschaftlicher Grundgedanken auf diese letztern zu üben pflegt, entbehrte. Es ist hier von Gervinus die Rede, einem Schriftsteller, welcher bedeutenden Einfluss auf die jungen Geister der Göttinger historischen Gelehrtenschule übte und durch eine seltsame Verkettung der Umstände auch von entscheidender Bedeutung für die Auffassung der methodischen Probleme Seitens der deutschen Volkswirthe werden sollte.
Dahlmann hatte in seiner 1835 erschienenen „Politiku die organische Auffassung vom Ursprunge und der Gestaltung. der gesellschaftlichen Institutionen und die Unzulänglichkeit des einseitig pragmatischen Standpunktes in der Erklärung derselben kräftiger und mit unvergleichlich grösserer Tiefe, als seine Vorgänger, betont. Ihn hatten die Gedankenkreise der historischen Juristenschule mehr, als bloss äusserlich, berührt. Auch er verabsäumt keine Gelegenheit, um die Bedeutung der Erfahrung überhaupt und des Geschichtsstudiums insbesondere für die Wissenschaft der Politik hervorzuheben; gegen den Irrthum des einseitigen Historismus schützte ihn dagegen schon sein Einblick in das Wesen der Politik als einer praktischen, auf die Gestaltung des Lebens hinzielenden Wissenschaft. [109]
Er weist der Politik „die würdige Aufgabe zu, mit einem durch Vergleichung der Zeitalter gestärkten Blicke die nothwendigen Neubildungen von den Neuerungen zu unterscheiden, welche unersättlich, sei's der Muthwille, sei's der Unmuth ersinnt“.
In einer 1836 zuerst veröffentlichten Besprechung dieser Schrift entwickelt nun Gervinus folgende Ansichten über eine von ihm geplante, aber nie zur Ausführung gelangte „rein wissenschaftliche Staatslehre". „Er (der Verfasser) würde für dieses Werk das Gebiet der Geschichte in seinem ganzen Umfange durchwandert und aufgenommen haben; er würde gesucht haben, aus der ungeheuern Summe der Erfahrungen, [218] aus dem Unsteten, Flüchtigen, Wiederkehrenden, Besonderen das Gesetzmässige und Allgemeine festzuhalten, aus den vollendeten Völkergeschichten die unvollendete Geschichte der Menschheit zu errathen, aus dem Ganzen die Theile, wie aus den Theilen das Ganze, aus den Staaten den Staat zu erklären ... Er würde gesucht haben, das, was sich in der Entwickelung der Völker und Staaten als nothwendig und naturgesetzlich herausstellt, in sein Gemälde allein aufzunehmen. Seine Staatslehre würde gleichbedeutend mit einer Geschichte des Staats, seine Geschichte des Staats gleichbedeutend mit einer Philosophie der Geschichte und sie würde zu einer Philosophie der Menschheit oder, was einerlei ist, des Menschen der nöthigste Grundstein geworden sein. Denn die rein wissenschaftliche Politik sollte nichts sein, als eine Philosophie des politischen Theils der Geschichte, wie die Aesthetik die Philosophie der Dichtungsgesehichte sein müsste ... In dieser Behandlungsart würde die Politik der Physiologie entsprechen oder dem Theile derselben, der neuerdings als Geschichte des Lebens abgeleitet ist ... Gervinus meint indess, er sei von diesen hohen Plänen zurückgekommen, weil das geschichtliche Material „lange noch nicht nahe genug gebracht sei, um an ein solches Werk auch nur denken zu können und die kindischen Versuche, die hie und da gemacht worden waren, von solcherlei Unternehmungen geradezu zurückschreckten. Eine Wissenschaft (der Politik), die ganz auf Empirie ruhen solle, bilde sich am besten erst an einem gewissen Schlusse der Erfahrungen ... Die Schriften des Plato und Aristoteles seien unstreitig die erste Grundlage für eine solche philosophische Staatslehre". [110]
Der obige, in seiner Art jedenfalls grossartige und dem Fleisse der Gelehrtenwelt ein geradezu unermessliches Feld der Bethätigung eröffnende Arbeitsplan des ausgezeichneten Göttinger Gelehrten ist in Deutschland auf keinen unfruchtbaren [219] Boden gefallen. Erforderte doch seine Durchführung weder einen unmittelbaren Einblick in das Staatsleben, in die Ziele und die Mittel der Regierungsthätigkeit, nicht jene grosse Summe von Erfahrungen und Kenntnissen, welche nur die unmittelbare Einsichtnahme in die Regierungshandlungen und die Betheiligung an den Staatsgeschäften zu gewähren pflegen, noch auch jenes so schwierige Urtheil in staatlichen Dingen, welches die Ziele politischer Thätigkeit und die Mittel für die Erreichung derselben aus der Betrachtung des Staatslebens in unmittelbarer origineller Weise wählt. Was das obige Programm verlangte, waren ein sorgfältiges, umfassendes Studium von Geschichtswerken und Geschichtsquellen und ein das Allgemeine vom Besondern abstrahirender Verstand: [111]Voraussetzungen, welche sich in deutschen Gelehrtenkreisen um so leichter vereinigt fanden, als ja selbst einzelne Details in der obigen Richtung einen dankenswerthen Beitrag für das Ganze der Aufgabe boten und mit Rücksicht auf die mangelhaften historischen Vorarbeiten selbst unvollkommenere Leistungen auf eine freundliche und nachsichtige Aufnahme Seitens der Mitstrebenden rechnen konnten. Die Aufgabe bot in jeder Beziehung viel Verlockendes; sie entsprach in hohem Maasse der Eigenart des überwiegenden Theiles der Fachgelehrten auf dem Gebiete der Staatswissenschaften in Deutschland.
Dazu trat der Umstand, dass der obige Arbeitsplan dem durch die überwuchernde Speculation der neueren deutschen Philosophenschulen auf das lebhafteste, ja, um des Gegensatzes zu diesen letzteren willen geradezu einseitig angeregten Bedürfnisse der Gelehrtenwelt und des Lesepublikums nach positiver Erkenntniss entgegen kam, welche nach den Ausschweifungen der philosophischen Speculation nach Erfahrung und Geschichte förmlich lechzten und wissenschaftliche Systeme um so höher zu schätzen geneigt schienen, je mehr diese letztern sich in der Betonung der Empirie und des historischen Empirismus insbesondere überboten.
Gervinus hatte mit seinem Programme die bisherige [220] historische Richtung der Politik jener der historischen Schulen der Jurisprudenz und des Staatsrechtes nicht näher gebracht; er hatte sich vom Ideenkreise dieser letztern vielmehr noch um ein beträchtliches entfernt. Indess sein „Programm für die Reform der Politik“ war jedenfalls so historisch, als die Natur der hier in Rede stehenden Wissenschaft dies nur immer zuliess.
Wir befinden uns aber hiemit an dem Ausgangspunkte derjenigen Schule deutscher Nationalökonomen, welche gegenwärtig die „historische“ genannt wird.
3.
Als der in der Folge zu so hoher Bedeutung für die hier in Rede stehende Schule deutscher Volkswirthe gelangte „Studiosus historicarum politicarum que literarum“ in Göttingen, Wilhelm Roscher, im Alter von 21 Jahren seine Inauguraldissertation über einige Lehren der Sophisten [112]veröffentlichte, nahm er bereits die Gelegenheit wahr, seine Ansichten über das Verhältniss der Politik (keineswegs schon jenes der Politischen Oekonomie!) zur Geschichte darzulegen. R. steht in dieser kleinen Schrift noch durchaus auf dem Standpunkte der damaligen Göttinger historischen Schule, und scheint namentlich der specifische Historismus, welchen Gervinus in seiner Auffassung der Politik hervorgekehrt hatte, nicht ohne massgebenden Einfluss auf denselben geblieben zu sein. Ihm ist die Geschichte die ausschliessliche empirische Grundlage der Politik, diese letztere lediglich das Ergebniss einer universellen Betrachtung der Geschichte, einer Vergleichung der verschiedenen Völkerentwickelungen, die beste Politik jene, welche aus der Betrachtung der Blütheepochen der Völkergeschichte sich ergebe. Wer eine universelle Geschichtskenntniss besässe, wäre zugleich auch im Besitze der ganzen, der objectiven Wahrheit in [221] der Politik, einer Wahrheit, welche, wie R. damals noch angenommen zu haben scheint, nicht nur bestimmten historischen Epochen, sondern dem Menschen in abstracto entsprechen würde. [113]
Noch vier Jahre später sagt Roscher: „Ich betrachte die Politik als die Lehre von den Entwickelungsgesetzen des Staates; die Staatswirthschaft und die Statistik (?) als besonders wichtige und daher besonders detaillirt ausgearbeitete Zweige und Seiten der Politik (?). Jene Entwickelungsgesetze denke ich durch Vergleichung der mir bekannten Volksgeschichten zu finden ... Meine Staatswissenschaft gründet sich durchaus auf universal - historische Vorstudien" [114]
Erst in seinem „Grundriss zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft nach geschichtlicher Methode“, welcher 1843 erschien, erklärt Roscher, dass er ein Anhänger der ,historischen Methode" sei [115]und mit derselben ,für die Staatswirthschaft etwas ähnliches erreichen wolle, was die Savigny - Eichhorn'sche Methode für die Jurisprudenz erreicht habe“. [116]Das Wesen dieser Methode charakterisirt er aber dahin, dass er bestrebt sein werde, .,das Gleichartige in den verschiedenen Volksentwickelungen als Entwickelungsgesetz zusammenzustellen“, [117]„aus der grossen Masse der Erscheinungen das Wesentliche, das Gesetzmässige heraus zu finden, zu welchem Zwecke alle Völker, deren man wird habhaft werden können, in wirthschaftlicher Hinsicht mit einander zu vergleichen seien“. [118]
Hiermit beginnt aber eine Reihe für die Entwickelung der wissenschaftlichen Nationalökonomie in Deutschland verderblich gewordener und heute noch nicht überwundener [222] Missverständnisse über das Wesen und die Methode unserer Wissenschaft. Roscher will für die Staatswirthschaft [119]etwas ähnliches erreichen, wie die Savigny-Eichhorn'sche Methode für die Jurisprudenz; was er aber als Wesen seiner Methode bezeichnet, hat kaum eine entfernte Aehnlichkeit mit der Savigny-Eichhorn'schen Richtung. Weder Savigny-noch-Eichhorn bezeichnen als die Hauptaufgabe ihrer Forschung oder überhaupt als eine solche: aus der Vergleichung der Rechtsentwickelung aller Völker, deren sie irgend habhaft werden können, Entwickelungsgesetze des Rechtes zusammenzustellen, oder gar auf diesem Wege eine juristische Wissenschaft von „objectiver Wahrheit“ zu gewinnen. Wonach sie streben, ist das historische Verständniss concreter Rechte, der Nachweis, dass diese letzteren unreflectirte Ergebnisse organischer Entwickelungen und als solche kein Object willkürlicher Umgestaltung und Neuerungssucht seien, ja über der MenschenWeisheit ständen. Die Idee einer Philosophie des Rechtes, oder eine Philosophie der Rechtsgeschichte, etwa im Sinne Roscher's, liegt fernab von ihren wissenschaftlichen Bestrebungen, zum Theil in geradem Gegensatze zu diesen letzteren. Was Roscher will, ist die Behandlung der Politischen Oekonomie in dem Sinne, wie Bodin die Staatslehre, wie Gervinus die Politik zu behandeln dachten, aber nicht die historische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft im Geiste der historischen Jurisprudenz. [120]
[223]
Die Unklarheit über das Wesen der Politischen Oekonomie und ihrer Theile, der Mangel jeder strengeren Unterscheidung des historischen, des theoretischen und des praktischen Gesichtspunktes der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, [121] die Verwechslung einzelner Richtungen der theoretischen Forschung und der Philosophie der Wirthschaftsgeschichte insbesondere mit der theoretischen Volkswirthschaftslehre, ja mit der Politischen Oekonomie überhaupt, die Unklarheit über das Wesen der exacten Richtung der theoretischen Forschung und ihr Verhältniss zur empirischrealistischen Richtung derselben, die Meinung, dass die geschichtsphilosophische Richtung die alleinig berechtigte in [224] der Politischen Oekonomie und der historischen Jurisprudenz analog sei, die Verkennung des wahren Wesens des historischen Gesichtspunktes in unserer Wissenschaft und in dem theoretischen Theile derselben insbesondere, die übertriebene Bedeutung, welche der sog. historischen Methode beigemessen wird, die Unklarheit über das Wesen der organischen Betrachtungsweise der Volkswirthschaft und über die sich hieraus für die Socialforschung ergebenden Probleme: alle diese zum nicht geringen Theile bereits in den Jugendschriften R.'s hervortretenden methodischen Irrthümer und Einseitigkeiten finden sich auch in den späteren Schriften desselben wieder, in welchen er seine Methode allerdings immer häufiger als „die historische oder (!) physiologische“ zu bezeichnen pflegt. [122]
[225]
Dazu kommt noch der Umstand, dass bei Roscher, wie bei den meisten seiner Schüler, die Darstellung der Politischen Oekonomie den obigen erkenntnisstheoretischen Grundsätzen keineswegs entspricht. Sein System der Politischen Oekonomie ist, wie jeder Unbefangene zugestehen muss, in Wahrheit nichts weniger als eine Philosophie der Wirthschaftsgeschichte in dem von ihm selbst gekennzeichneten Sinne, sondern der Hauptsache nach eine Compilation theoretischer und praktischer Erkenntnisse aus „historischen“, zumeist aber „unhistorischen“ Bearbeitungen der Politischen Oekonomie, eine Compilation, deren historisches Element im Grossen und Ganzen nicht in dem besonderen Charakter der theoretischen und praktischen Erkenntnisse von der Volkswirthschaft, sondern in den diesen letzteren beigefügten historischen und statistischen Mittheilungen und in eingeschobenen historischen und geschichtsphilosophischen Excursen über einzelne Materien der Volkswirthschaft besteht; seine Politische Oeko-/ nomie ist der Grundanlage nach keine Wissenschaft von der Volkswirthschaft nach der „historischen Methode“.
Die Vorzüge der wissenschaftlichen Persönlichkeit des gelehrten Leipziger Forschers, seine hervorragenden Verdienste um die Förderung des historischen Verständnisses einer Reihe wichtiger Erscheinungen der Volkswirthschaft, die unvergleichliche Anregung, welche seine Studien auf dem Gebiete der Literatur unserer Wissenschaft allen jüngeren Fachgenossen geboten, das von dem gebildeten Lesepublicum Deutschlands gesprochene Urtheil über die Kunst seiner Darstellung und über Sein feines Verständniss für das literarische Bedürfniss seines Leserkreises: all' dies kommt an dieser Stelle, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht in Frage. Was hier klar gestellt werden soll, sind die der Entwickelung unserer WiSSenSchaft und insbesondere des theoretischen Theiles derselben Verderblich gewordenen methodischen Irrthümer des Begründers der historischen Schule deutscher Volkswirthe.
[226]
Unter den Vertretern der historischen Schule deutscher Nationalökonomen ist B. Hildebrand an hervorragender Stelle zu nennen. Zwar in seinem ersten, 1845 erschienenen Schriftchen yon theilweise methodischem theilweise methodischem Inhalte [123]betont derselbe lediglich den Collectivismus in der Betrachtung der Volkswirthschaft gegenüber dem Individualismus“ Adam Smith's und der Mehrzahl seiner Schüler. [124]Aber schon drei Jahre später erklärt Hildebrand, [125]auf dem Gebiete der Nationalökonomie einer gründlichen historischen Richtung und Methode Bahn brechen und diese Wissenschaft zu einer Lehre von den ökonomischen Entwickelungsgesetzen der Völker umgestalten zu wollen. Er bezwecke eine ähnliche Reform für die Erkenntniss der wirthschaftlichen Seite des Volkslebens, wie sie in diesem Jahrhunderte die [227] Sprachwissenschaft erlebt habe. Smith und seine Schule hätten eine nationalökonomische Theorie aufzubauen gesucht, deren Gesetze für alle Zeiten und Völker_(also ohne Rücksicht auf die verschiedenen Entwickelungsstufen und Völkeranlagen) absolute Giltigkeit haben, auf alle Staaten und Völker gleichmässig angewendet, über Raum und Zeit erhaben sein sollten. Man habe in Deutschland, wie in England, die Gesetze und Regeln der nationalökonomischen Wissenschaft „ökonomische Naturgesetze“ genannt und ihnen, gleich anderen Naturgesetzen, ewige Dauer zugeschrieben. Dieser Richtung gedenke er entgegen zu treten. [126]
Fünfzehn Jahre später schreibt Hildebrand: „Die Wissenschaft Nationalökonomie hat es nicht, wie die Physiologie des thierischen Organismus oder andere Zweige der Naturwissenschaft, mit Naturgesetzen zu thun .. sondern sie hat in dem Wechsel der nationalökonomischen Erfahrungen den Fortschritt, in dem wirthschaftlichen Leben der Menschheit die Vervollkommnung der menschlichen Gattung nachzuweisen. Ihre Aufgabe ist es, den nationalökonomischen Entwickelungsgang sowohl der einzelnen Völker, als auch der ganzen Menschheit von Stufe zu Stufe zu erforschen und auf diesem Wege die Fundamente und den Bau der gegenwärtigen wirthschaftlichen Cultur sowie die Aufgabe zu erkennen, deren Lösung der Arbeit der lebenden Generation vorbehalten ist ... , den Ring zu erkennen, den die Arbeit des gegenwärtigen Geschlechtes der Kette gesellschaftlicher Entwickelung hinzufügen soll. Nationalökonomische Culturgeschichte im Zusammenhang mit der Geschichte der gesammten politischen und rechtlichen Entwickelung der Völker und Statistik sind die einzige sichere Grundlage, auf denen ein gedeihlicher Weiterbau der nationalökonomischen Wissenschaft möglich erscheint". [127]
[228]
Die Stellung Hildebrands zu den hier behandelten erkenntnisstheoretischen Problemen und insbesondere sein Verhältniss zu Roscher's methodischem Standpunkte ist durch die obigen Sätze genügend gekennzeichnet. Er trennt die il theoretische Nationalökonomie von den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, und handelt er auch fast ausschliesslich von der Methodik der ersteren, so verschwimmt bei ihm doch nicht, gleich wie bei R., das Problem der historischen Behandlung der obigen Wissenschaften miteinander. H. findet auch nicht, gleich Roscher, in der physiologischen Auffassung der nationalökonomischen Probleme die Verwirklichung der historischen Methode; er ist gegen „Naturgesetze der Volkswirthschaft überhaupt, wenn ich so sagen darf, eben so wohl gegen eine Physiologie, als gegen eine Physik der Volkswirthschaft. Er sucht das Wesen der historischen Methode vielmehr ausschliesslich in der collectivistischen Betrachtung der Erscheinungen des Volkslebens und in der Feststellung der ökonomischen Entwickelungsgesetze der Völker. Hier, in der zum Theile nur ungenügenden Trennung von Geschichte und Theorie der Volkswirthschaft und in dem ihm mangelnden Verständnisse für die exacte Z Richtung der theoretischen Forschung, begegnen sich seine Ansichten der Hauptsache nach mit einzelnen Aussprüchen Roscher's. Ueber das Wesen der Entwickelungsgesetze, welche Roscher im Sinne von Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte der Völker erfasst, also über den wichtigsten Punkt, hat sich Hildebrand indess nirgends eingehend geäussert. Er hat hierzu und zur Lösung der eigentlichen Probleme der historischen Methodik zweimal (1848 u. 1863) Anläufe genommen, beide Arbeiten indess an den entscheidenden Punkten abgebrochen und als Fragmente zurückgelassen.
In ungleich höherem Masse, als die beiden vorgenannten Schriftsteller, hat Karl Knies die Lösung der erkenntnisstheoretischen Probleme der historischen Richtung unserer Wissenschaft gefördert. Bei ihm findet sich nicht jene [229] Unklarheit über den Begriff der Politischen Oekonomie und die Natur ihrer Theile, wie bei Roscher, nicht jene Beschränkung des historischen Gesichtspunktes in unserer Wissenschaft auf die theoretischen Probleme derselben, wie bei Hildebrand, oder auf ihren praktischen Theil, wie bei manchen anderen. Seine methodischen Untersuchungen sind nicht ein Nebeneinander von unzusammenhängenden oder gar sich widersprechenden Bemerkungen über die Natur unserer Wissenschaft, die Wege zu ihrer Erkenntniss, die Methode ihrer Behandlung; sie bilden vielmehr, wenn auch nicht immer der Form, so doch dem Wesen nach, ein von einheitlichen Ideen getragenes Ganzes. Er hat auch bereits die deutliche Empfindung, dass mit blossen Postulaten und Affirmationen in Bezug auf die „historische Methode“ und mit der in sehr allgemeinen Worten gehaltenen Forderung einer Wissenschaft „ökonomischer Entwickelungsgesetze“ noch nichts geleistet sei, wenn diesen Postulaten der Forschung nicht Schriften entsprechen, welche die Probleme der Politischen Oekonomie in Wahrheit unter Festhaltung der aufgestellten erkenntnisstheoretischen Grundsätze behandeln.
Aber auch Knies ist nicht zur vollen Klarheit über das Wesen und die Aufgaben der historischen Richtung der Politischen Oekonomie und ihrer einzelnen Theile gelangt; \ er sucht dieselben bald in dem historischen Verständniss der volkswirthschaftlichen Phänomene, bald in einer den wechselnden geschichtlichen Verhältnissen adäquaten historischen Auffassung der Literaturgeschichte unserer Wissenschaft, bald in einer Philosophie der Wirthschaftsgeschichte, bald in der Relativität der Ergebnisse nationalökonomischer Forschung. Der hauptsächliche Mangel seines methodischen Standpunktes besteht indess in seiner einseitigen Hinneigung zum Realismus und Collectivismus in der Auffassung der theoretischen Probleme der Politischen Oekonomie. Kein Schriftsteller vor ihm hat so vollständig die methodischen Postulate der realistischen Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft entwickelt, keiner aber auch so vollständig, wie er, die selbständige Bedeutung der exacten [230] Richtung der theoretischen Forschung auf dem obigen Gebiete von Erscheinungen, die Natur der exacten Gesetze dieser letzteren, ja der Gesetze der Volkswirthschaft überhaupt verkannt. Sein Standpunkt in der theoretischen Nationalökonomie führt in Wahrheit zu einer Wissenschaft von, in Rücksicht auf Zeit und Ort, verschiedenen „ empirischen Gesetzen“ (beobachteten Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, ja in letzter Linie geradezu zur Anerkennung der specifisch historischen Forschung als einzig vollberechtigter Richtung des Erkenntnissstrebens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft.
Knies ist der überzeugungstreue, in die methodische Probleme der „historischen Schule“ sich vertiefende Gelehrte welcher aus den einseitigen Prämissen derselben mit rücksichtsloser Wahrheitsliebe die Consequenzen zieht und hiedurch den Ideenkreis der obigen Schule in Rücksicht auf die Methodik der Politischen Oekonomie gewissermassen abschliesst. Was nach ihm die Untersuchung über die methodischen Probleme der historischen Volkswirthschaftslehre an neuen Ergebnissen zu Tage gefördert hat, ist von uns an systematischer Stelle berücksichtigt worden: im Grossen und Ganzen findet es sich indess bei diesem Autor zum mindesten bereits angedeutet. Selbst die umfassenden Untersuchungen von J. Kautz [128]über die historische Methode unserer Wissenschaft und die in mehrfacher Beziehung hier einschlägigen Arbeiten von Dietzel, Held, Schmoller, H. v. Scheel und Schönberg machen, Soweit die Methodik der historischen Schule der Politischen Oekonomie in Frage kommt, hievon keine Ausnahme, von den zahlreichen italienischen und einzelnen englischen und französischen Adepten der obigen Richtung ganz zu schweigen, welche, noch nicht entnüchtert durch eigene Erfahrung, von [231] der ihnen meuen Richtung auf dem Gebiete unserer theoretisch-praktischen Wissenschaft noch ähnliche Erfolge erwarten, wie sie die neuere deutsche Jurisprudenz und Sprachforschung zu Tage gefördert haben.
Was nach ihm auf dem obigen Gebiete der Forschung zu leisten übrig blieb, war die Klarstellung der methodischen Irrthümer und Einseitigkeiten der „historischen Schule“ unserer Wissenschaft und der Aufbau einer alle berechtigten Richtungen der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft berücksichtigenden Erkenntnisstheorie.
[232]
Nicht nur von jeder Menschengemeinschaft getrennte Individuen, sondern auch die Glieder eines Volkes können die Erscheinung isolirter Wirthschaften [129]aufweisen, wofern sie nämlich auch sonst ihre Beziehungen zu einander sein mögen in keinem Güterverkehr mit einander stehen. Dass runter solchen Umständen keine „Volkswirthschaft“ im gemeinen Sinne dieses Wortes vorhanden sein würde, bedarf kaum der Bemerkung; jedenfalls würde der obige Ausdruck, wenn in diesem Falle überhaupt statthaft. nur die Summe der Individualwirthschaften in einem Volke im Gegensatz zu den einzelnen Wirthschaften dieser Art bezeichnen.
Wo immer dagegen die Glieder eines Volkes in wirthschaftlichen Verkehr mit einander treten, dort gewinnt der Begriff der Volkswirthschaft“ bereits eine nicht unwesentlich verschiedene Bedeutung. Zwar kann auch hier von einer Volkswirthschaft im eigentlichen, im strengen Verstande des Wortes nicht die Rede sein. Eine solche wäre vorhanden, wenn (wie z. B. in den geplanten [233] Einrichtungen mancher Socialisten) die der ökonomischen Sachlage nach erreichbare höchste Vollständigkeit der Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes, als Ganzes gedacht, in Wahrheit ihr Ziel, das Volk in seiner Totalität (sei es nun unmittelbar oder mittelbar durch seine Functionäre) in Wahrheit das wirthschaftende Subject, und endlich die vorhandenen Güter dem Volke, als Ganzes gedacht, für den obigen Zweck thatsächlich verfügbar wären, Bedingungen, welche in der heutigen Volkswirthschaft indess, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht eintreffen. Unter unsern gegenwärtigen socialen Verhältnissen sind nämlich nicht das Volk, beziehungsweise die Functionäre desselben schlechthin das wirthschaftende Subject, die Leiter der einzelnen Singular- und Gemeinwirthschaften sind vielmehr in Wahrheit die wirthschaftenden Subjecte; das Ziel dieser letztern ist im Grossen und Ganzen auch nicht die Deckung des Güterbedarfes des Volkes in seiner Totalität, sondern die Deckung ihres Güterbedarfes, bezw. jenes bestimmter anderer physischer oder moralischer Personen ; endlich dienen auch die vorhandenen Mittel der Wirthschaft nicht der Sicherstellung der Bedürfnisse des Volkes als Ganzes, sondern lediglich jener bestimmter physischer oder moralischer Personen. Was die Nationalökonomen mit dem Ausdrucke „Volkswirthschaft“ bezeichnen, die Volkswirthschaft im gemeinen Verstande des Wortes, ist keineswegs ein Nebeneinander von isolirten Individualwirthschaften, diese letztern sind vielmehr durch den Verkehr mit einander innig verbunden; aber eben so wenig ist sie eine Volkswirthschaft in dem obigen strengen Sinne, oder an sich Eine Wirthschaft überhaupt, sie ist in Wahrheit vielmehr eine Complication oder , so will, ein Organismus von Wirthschaften (von Singular- und Gemeinwirthschaften), indess, wir wiederholen es, nicht selbst eine Wirthschaft. Es besteht hier, um mich eines populären Bildes zu bedienen, ein ähnliches Verhältniss, wie z. B. bei einer Kette, welche ein aus Ringen bestehendes Ganze darstellt, ohne doch selbst ein solcher, wie bei einem Mechanismus, welcher ein aus Rädern etc. zusammengesetztes Ganze darstellt, ohne doch selbst ein solches zu sein. [130]
[234]
Auch der fördernde Einfluss, welchen die Regierungen in den meisten Ländern auf die wirthschaftlichen Angelegenheiten der Bevölkerung üben oder zu üben vermeinen, vermag an der obigen Thatsache nichts zu ändern. Die Förderung der wirthschaftlichen Bestrebungen dritter Personen ist nämlich noch keineswegs an sich als eine selbständige Wirthschaft zu betrachten und der Umstand, dass Individualwirthschaften, oder eine Complication Von solchen, durch irgend eine Macht, welcher Art auch immer dieselbe gedacht werden mag, gepflegt und gefördert werden, macht diese letzteren noch keineswegs zu einer einheitlichen Wirthschaft. Die [235] fördernde Thätigkeit, welche die Staatsregierungen auf die Wirthschaft der Staatsangehörigen ausüben, kann demnach weder selbst als Volkswirthschaft betrachtet werden, noch auch vermag dieselbe eine blosse Complication von Individualwirthschaften zu einer Volkswirthschaft im strengen Verstande des Wortes zu gestalten. Ueberdies ist es ja selbstverständlich, dass der fördernde Einfluss der Staatsregierungen nicht die Sicherstellung der Bedürfnisse des Volkes, als einheitliches wirthschaftliches Ganze gedacht, sondern nur das Gedeihen jener Complication von Einzelwirthschaften bezweckt, welche eben keine Volkswirthschaft im strengen Sinne des Wortes ist.
Die auf die Sicherstellung ihres eigenen Bedarfs gerichtete Thätigkeit der Staatsregierungen (der Staatshaushalt), ist ohne Zweifel eine selbständige Wirthschaft, die Staatsregierungen wirthschaften in der That, immer ist die Finanzwirthschaft jedoch nur ein Glied jener Complication von Individualwirthschaften, deren Gesammtheit gemeiniglich mit dem Ausdrucke „Volkswirthschaft“ bezeichnet wird, niemals aber selbst eine Volkswirthschaft.
Fassen wir das Gesagte zusammen: Weder die Thatsache, dass die Einzelwirthschaften in einem Volke in Verkehr mit einander treten, noch der Umstand, dass die Machthaber in einem Volke eine auf die Förderung der Einzelwirthschaften in ihrer Gesammtheit gerichtete Thätigkeit entwickeln, noch aber auch endlich der Bestand einer eigentlichen Finanzwirthschaft in einem Staate vermag die Einzelwirthschaften in einem Volke zu einer einheitlichen Wirthschaft des Volkes, zu einer Volkswirthschaft im eigentlichen Verstande des Wortes zu gestalten; immer stellt sich uns vielmehr jene Erscheinung, welche gemeiniglich mit dem obigen Ausdrucke bezeichnet wird, lediglich als eine organisirte Complication von Einzelwirthschaften, als eine zu höherer Einheit verbundene Vielheit von Wirthschaften dar, die indess nicht selbst eine Wirthschaft im strengen Verstande des Wortes ist.
Wie wichtig die obige Unterscheidung für das richtige Verständniss der ökonomischen Erscheinungen ist, haben wir bereits an einer andern Stelle hervorgehoben. [131]Es ist durchaus nicht gleichgiltig, ob die Erscheinungen der Wirthschaft social organisirter Menschen in einer der realen Sachlage durchaus inadäquaten Weise, als Ergebniss einer auf die Deckung seines Bedarfs gerichteten [236] einheitlichen Thätigkeit des Volkes, als solchen, und einer Verwendung der ihm verfügbaren Mittel für diesen Zweck betrachtet und unter dem Gesichtspunkte dieser Fiction interpretirt werden, oder ob dieselben, entsprechend der realen Sachlage, als Ergebniss zahlreicher individueller Bestrebungen, als Resultante der Bestrebungen durch den Verkehr verbundener wirthschaftender (physischer und moralischer) Personen aufgefasst werden; denn im ersteren Falle werden sich uns die Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft in ihrer heutigen socialen Form allerdings unter dem höchst einfachen Bilde von Phänomenen einer Einzelwirthschaft darstellen und wird ihre Interpretation bei dieser Auffassung keinerlei nennenswerthe Schwierigkeiten darbieten, während wir in dem letztern Falle einem von der Einzelwirthschaft verschiedenen, eben so verwickelten, als schwer zu interpretirenden Socialgebilde gegenüber stehen. In dem ersteren Falle liegt uns nämlich eine der Individualwirthschaft wesentlich analoge und somit unserem Verständnisse sehr nahe liegende und vertraute Erscheinung vor; im letztern ist „die Erklärung der complicirten Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft in ihrer heutigen socialen Form aus den Bestrebungen und Verhältnissen der durch den Verkehr mit einander verbundenen Individualwirthschaften“ das ungleich complicirtere und schwierigere Ziel der wissenschaftlichen Forschung.
Es ist indess klar, dass die obige Vereinfachung, weil auf einer durchaus unstatthaften Fiction beruhend, unserer Wissenschaft jeden wahren Werth raubt und die Forscher auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie die Probleme dieser letztern endlich nothgedrungen in jener Complication zu erfassen und zu lösen genöthigt sein werden, in welcher sie uns thatsächlich von der Erfahrung dargeboten werden. „Natura rerum subtilis“ vermag man auch von der menschlichen Wirthschaft in ihrer socialen Form zu sagen. Wie thöricht nun aber, anstatt die realen Erscheinungen derselben in ihrer Complication zu erforschen, d. i. sie auf ihre singularwirthschaftlichen Factoren zurückzuführen und solcherart nach ihrem allerdings schwierigen Verständnisse zu streben, die Wissenschaft im Gegensatze zu der Natur der Dinge durch eine unstatthafte Fiction vereinfachen eine Complication von Wirthschaften als eine grosse Individualwirthschaft auffassen zu wollen? Die Probleme der Wissenschaft können solcherart allerdings ausserordentlich vereinfacht werden 'indess nur um den Preis des ganzen Erfolges.
[237]
Adam Smith und seine Schule haben es unterlassen, die complicirten Phänomene der menschlichen Wirthschaft überhaupt, und der socialen Form der letztern, der „Volkswirthschaft“, insbesondere, entsprechend der realen Sachlage, auf die Bestrebungen der Singularwirthschaften zurückzuführen, sie als Resultante dieser letztern uns theoretisch verstehen zu lehren; ihr Bestreben ist vielmehr, allerdings zumeist in ganz unbewusster Weise, darauf gerichtet, dieselben unter dem Gesichtspuncte der obigen Fiction uns zum theoz retischen Verständnisse zu bringen, während die historische Schule von deutschen Volkswirthen der obigen irrthümlichen Auffassung in bewusster Weise folgt, ja in ihr sogar eine unvergleichliche Vertiefung unserer Wissenschaft zu erkennen geneigt ist. Es ist indess klar, dass unter der Herrschaft der hier in Rede stehenden Fiction ein den realen Verhältnissen adäquates theoretisches Verständniss der „volkswirthschaftlichen" Erscheinungen unerreichbar ist und der geringe Werth der herrschenden nationalökonomischen Theorien nicht zum geringsten Theile seine Erklärung in der obigen irrthümlichen Grundauffassung vom Wesen der heutigen socialen Form der menschlichen Wirthschaft findet.
[238]
Die Definition einer Wissenschaft hat drei Momente zu enthalten: 1) die genaue Bezeichnung der zu definirenden Wissenschaft; 2) das Object, auf welches die Forschung sich bezieht (z. B. die Thieroder Pflanzenwelt, den Staat, die Volkswirthschaft u. s. f., bez. bestimmte Gebiete derselben) und 3) den formalen Gesichtspunkt, unter welchem das letztere erforscht werden soll (z. B. den historischen, den theoretischen u. s. f.). Eine richtige Definition der theoretischen Nationalökonomie hat somit nebst der Bezeichnung dieser Wissenschaft und des Objectes derselben, der Volkswirthschaft, noch den formalen Gesichtspunkt festzustellen, unter welchem die obige Wissenschaft von der Volkswirthschaft (im Gegensatze zu anderen Wissenschaften, welche sich mit dem nämlichen Objecte befassen, z. B. der Geschichte, der Statistik der Volkswirthschaft, der Volkswirthschaftspolitik u. s. f.) diese letztere zu erforschen die Aufgabe hat.
Die Definition einer Wissenschaft, und somit auch jene der theoretischen Volkswirthschaftslehre, kann somit an drei fundamentalen Gebrechen leiden. Erstens, indem sie die Wissenschaft, welche definirt werden soll, nicht bestimmt genug bezeichnet. Dies ist der Fall bei allen jenen Begriffsbestimmungen der theoretischen Nationalökonomie, welche nicht in bestimmter Weise aussprechen, ob die Politische Oekonomie überhaupt (die theoretische Nationalökonomie, die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft in ihrer Gesammtheit) oder bloss die beiden erstgenannten Theile der [239] Politischen Oekonomie, oder aber endlich nur der theoretische Theil dieser letzteren definirt werden sollen, ja bisweilen uns sogar darüber im Zweifel lassen, ob nicht die Staats- oder Socialwissenschaften überhaupt in Frage sind.
Zweitens, indem das Object nicht genau bezeichnet wird, auf welches sich die bezügliche Wissenschaft bezieht. Dies ist bei allen jenen Begriffsbestimmungen der theoretischen Nationalökonomie der Fall, welche uns über das Object der Forschung in der obigen Wissenschaft im Unklaren lassen, oder aber als solches bald die Socialerscheinungen überhaupt, bald wieder nur bestimmte Gebiete oder Seiten der Volkswirthschaft bezeichnen. [132]Sowohl die Auffassung der theoretischen Nationalökonomie im Sinne einer allgemeinen theoretischen Socialwissenschaft, als auch jene im Sinne einer blossen Katallaktik, einer Philosophie der Volkswirthschaftsgeschichte u. s. f., sind Irrthümer der obigen Art.
Drittens – und hier ist der hauptsächliche Mangel der meisten Begriffsbestimmungen der theoretischen Nationalökonomie zu suchen –, indem der formale Gesichtspunkt nicht genau bezeichnet wird, unter welchem die in Rede stehende Wissenschaft die Erscheinungen der Volkswirthschaft erforscht. Die Mehrzahl der Definitionen lässt uns nämlich darüber im Zweifel, ob die obige Wissenschaft die Volkswirthschaft unter dem historischen, dem theoretischen oder dem praktischen Gesichtspunkte erforscht, oder mit anderen Worten, ob sie eine historische, eine theoretische oder eine praktische Wissenschaft von der Volkswirthschaft ist, ja sie werfen die obigen drei durchaus verschiedenen Gesichtspunkte der Forschung zumeist in unentwirrbarer Weise durcheinander.
Indess selbst jene, welche den formalen Charakter der theoretischen Nationalökonomie nicht grundsätzlich verkennen, verfallen fast ohne Ausnahme in gewisse Irrthümer über diesen letzteren. [240] Die theoretische Volkswirthschaftslehre hat uns nicht lediglich die „ Gesetze“ der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, sondern auch ihr „generelles Wesen “ [133]darzulegen. Eine Darstellung der obigen Wissenschaft z. T., welche uns zwar die Gesetze, indess nicht das Wesen der Güter, des Werthes und der verschiedenen Formen, in welchen derselbe zur Erscheinung gelangt, der Wirthschaft, des Preises, der Grundrente, des Capitalzinses, des Unternehmergewinnes, des Geldes u. s. f. darlegen würde, müsste jedenfalls als eine unvollständige bezeichnet werden. Die Definition der theoretischen Volkswirthschaftslehre (geschweige denn jene der Politischen Oekonomie überhaupt) als eine „Wissenschaft von den Gesetzen der Volkswirthschaft“ ist somit jedenfalls zu eng.
Noch weniger angemessen erscheint die obige Definition, wenn der Begriff der „Gesetze“ in irgend einem willkürlich gewählten, etwa nur eine bestimmte Art der letzteren bezeichnenden Sinne aufgefasst wird. Werden unter „Gesetzen“ der Erscheinungen, wie dies z. B. von Rümelin in seiner Untersuchung über den Begriff eines socialen Gesetzes geschieht, nur die sog. „ Naturgesetze“ im Gegensatze zu den sog. „ empirischen Gesetzen“ verstanden, [134]so erweist sich die Definition der theoretischen Nationalökonomie als Wissenschaft von den „Gesetzen“ der Volkswirthschaft als so enge, dass sie in Wahrheit für den grösseren Theil der Erkenntnisse, welche in den Darstellungen der theoretischen Volkswirthschaftslehre gemeiniglich Aufnahme finden, nicht zutreffend ist. Das Gleiche gilt von der Definition der theoretischen Nationalökonomie [241] (oder wohl gar der Politischen Oekonomie!) als „Wissenschaft von den Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“, als „Philosophie der Wirthschaftsgeschichte“ u. dgl. m.
Wir lassen nun die Auffassungen einiger neuerer deutscher Volkswirthe über das Wesen unserer Wissenschaft folgen, [135]deren Kritik sich aus dem Gesagten von selbst ergiebt:
H. Rau definirt in den letzten noch von ihm besorgten Ausgaben seiner Politischen Oekonomie (1868, I, § 9): „Die Volkswirthschaftslehre oder Nationalökonomie (der erste theoretische Haupttheil der Politischen Oekonomie) ist die Wissenschaft, welche die Natur der Volkswirthschaft entwickelt oder welche zeigt, wie ein Volk durch die wirthschaftlichen Bestrebungen seiner Mitglieder fortwährend mit Sachgütern versorgt wird“. – L. v. Stein (Lehrbuch der Volkswirthschaft 1858, S. 2): „Die wissenschaftliche Darstellung der Volkswirthschaft bildet die Volkswirthschaftslehre“ (vgl. dazu 2. Aufl. 1878, S. 564 ff.). – W. Roscher bezeichnet (System I, § 16) die Nationalökonomik, die Volkswirthschaftslehre, als „die Lehre von den Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft, des wirthschaftlichen Volkslebens“. – Aehnlich H. v. Mangoldt (Grundriss der Volkswirthschaft 1871, S. 11). – Br. Hildebrand (Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik 1863, I, S. 3) schreibt: „Die Wissenschaft von der Oekonomie der Völker . hat die Aufgabe, den historischen Entwickelungsgang sowohl der einzelnen Völker, als auch der ganzen Menschheit von Stufe zu Stufe zu erforschen und auf diesem Wege den Ring zu erkennen, den die Arbeit des gegenwärtigen Geschlechtes der Kette gesellschaftlicher Entwickelung hinzufügen soll“. – Bezüglich Knies' nirgends zusammengefasster Ansicht vergleiche seine Politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode, 1853, S. 17 u. 32 ff. und insb. 2. Aufl., 1881, S. 1 ff. – J. Kautz (Theorie und Geschichte der Nationalökonomie, 1858, I, S. 288) sagt: „Die Nationalökonomik ist die Lehre von den Grundlagen, den Mitteln und den Entwickelungsgesetzen der Volkswohlfahrt“. – J. C. Glaser (Handbuch der Politischen Oekonomie I, 1858, S. 10 ff.): „Die Wirthschaftslehre ist die Darstellung der auf den Erwerb und Gebrauch des Vermögens oder, was dasselbe sagt, der auf die Benutzung der Natur und ihrer Kräfte zur Befriedigung [242] seiner Bedürfnisse gerichteten Thätigkeit des Menschen“ . . . Derselbe unterscheidet hierauf drei verschiedene Arten, die Wirthschaftsverhältnisse zu betrachten, „gewissermassen drei Arten der Wirthschaftslehre“, nämlich: die technische, die eigentliche und die ethische Wirthschaftslehre (vgl. hierüber a. a. O. S. 12). – K. Umpfenbach (Die Volkswirthschaftslehre, 1867, S. 12): „Die Volkswirthschaftslehre ist die systematische Ergründung der Gesetze, nach welchen sich das Bedingtsein der menschlichen Bevölkerung durch ihren Lebensunterhalt im Kampfe ums Dasein vollzieht.“ – Schäffle (System, 3. Aufl., I, 46) definirt die Nationalökonomie „als die Lehre von der Erscheinung des wirthschaftlichen Princips in der menschlichen Gesellschaft“, während Ad. Wagner (Politische Oekonomie, 1876, I, S. 59) „die Volkswirthschaftslehre, Nationalökonomik oder Politische Oekonomik“ als „die Wissenschaft von der Volkswirthschaft, dem Organismus der Einzelwirthschaften staatlich organisirter Völker“ auffasst und gegen Schäffle bemerkt, dass die Aufgabe der Nationalökonomie in der Darlegung der Verwirklichung des Princips der Wirthschaftlichkeit in der Volkswirthschaft liege. – M. Wirth (Grundzüge der Nationalökonomie, 1861, I, S. 3) sieht in „der Lehre von der Nationalökonomie oder Volkswirthschaft die Wissenschaft derjenigen Ehtwickelungsgesetze der Natur, unter deren Einfluss die Erzeugung und Vertheilung der Güter in der menschlichen Gesellschaft vor sich geht; bei deren Beachtung die Völker gedeihen, bei deren Uebertretung sie leiden und untergehen“.
G. Schönberg (Die Volkswirthschaft der Gegenwart, 1869, S. 38) sagt: „Der Gegenstand unserer Wissenschaft ist das wirthschaftliche Leben des Volkes, das als besondere Erscheinung des Volksgeistes und mit der Culturentwickelung im engsten Causalzusammenhange von Stufe zu Stufe fortschreitend einen immer höheren Organismus bildet. Ihn als solchen in seiner Erscheinung in den Gesetzen und Regeln, die in ihm hervortreten, zu erkennen und aus dieser Erkenntniss heraus, welche auch die Aufgaben, deren Lösung der Arbeit unserer Generation vorbehalten ist, auffindet, einzugreifen in diese Arbeit, um das Wirthschaftsleben seinem hohen, ethischen Zwecke immer mehr zu nähern – das ist in kurzen Worten die Aufgabe unserer Wissenschaft“ (vgl. auch desselben Volkswirthschaftslehre, 1873, S. 3 ff.). – F. J. Neumann erkennt (Tübinger Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 1872, S. 267) in unserer Wissenschaft „die Lehre vom Verhalten [243] der Einzelwirthschaften zu einander und zum Staatsganzen“, während H. v. Scheel (in Schönbergs Handbuch der Politischen Oekonomie, 1882, I, S. 57) als Aufgabe der Politischen Oekonomie „die Darstellung des Zusammenhanges der Privatwirthschaften unter einander und ihres Zusammenhanges zu grösseren Wirthschaftsgemeinschaften (Staat, Gemeinden u. s. f.) nach Entstehung und Beschaffenheit und die Aufstellung von Regeln für die zweckentsprechendste, den Ansprüchen der erreichten und zu erreichenden Culturstufe entsprechende Ordnung“ bezeichnet. – G. Cohn (Ueber die Bedeutung der Nationalökonomie, 1869, S. 3) definirt die Nationalökonomie „als die Wissenschaft von dem wirthschaftenden Menschen, d. h. von derjenigen Thätigkeit, welche sich richtet auf die Aneignung der äusseren Mittel, deren wir zur Erreichung unserer mannigfaltigen Lebenszwecke bedürfen“.
Die obigen Definitionen unserer Wissenschaft widerspiegeln so recht deutlich den tiefen Stand der erkenntniss-theoretischen Untersuchungen auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie in Deutschland. Wir erfahren aus ihnen – unnöthigerweise [136]– zumeist die besonderen Auffassungen der betreffenden Autoren über das Wesen der Wirthschaft, Volkswirthschaft, ja der Gesellschaft; kein Unbefangener wird indess in Abrede stellen, dass dieselben, ganz abgesehen von der Frage ihrer Richtigkeit, nicht einmal den formalen Voraussetzungen sachgemässer Definition einer Wissenschaft genügen.
Bezüglich einiger hier einschlägiger, für die socialwissenschaftliche Literatur Deutschlands durch Rümelin angeregter Fragen über die Natur socialer Gesetze mögen noch folgende Bemerkungen an dieser Stelle Raum finden: Die „Gesetze der Erscheinungen“ (im Gegensatze zu den Normativ-Gesetzen!) können entweder nach dem Erscheinungsgebiete, auf welches sie sich beziehen (nach den Objecten!), oder aber nach ihrer formalen Natur classificirt werden. In der ersteren Beziehung unterscheiden wir Gesetze der Natur überhaupt und der anorganischen und organischen Natur insbesondere, Gesetze des Seelenlebens, Gesetze der Gesellschaftsphänomene überhaupt und der volkswirthschaftlichen Erscheinungen insbesondere u. s. f. In formaler Beziehung vermögen wir Gesetze der Aufeinanderfolge und der Coexistenz, exacte und empirische Gesetze und innerhalb der obigen Kategorien wieder [244] „Entwickelungsgesetze“, „Gesetze der grossen Zahlen“ u.s. f. zu unterscheiden. Verwirrend und überflüssig ist demnach die nicht ungewöhnliche Ausdrucksweise, wonach von Naturgesetzen - der Socialerscheinungen überhaupt und der Volkswirthschaft insbesondere gesprochen wird, während doch Naturgesetze sich in Wahrheit nur auf Naturerscheinungen zu beziehen vermögen und in dem obigen Falle von exacten Gesetzen der Socialerscheinungen bez. der Volkswirthschaft im Gegensatze zu den bloss empirischen Gesetzen die Rede sein sollte.
Die Auffassung der sog. „Naturgesetze“ der Erscheinungen als „Ausdruck für die elementare, constante, in allen einzelnen Fällen als Grundform erkennbare Wirkungsweise von Kräften“ mag man mit J. St. Mill und Rümelin immerhin gelten lassen, da sie den Gegensatz zwischen den „empirischen“ und den „exacten“ Gesetzen der Erscheinungen kennzeichnet und die Verwechslung der beiden obigen Gruppen von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausschliesst. Rümelin hat sich ein entschiedenes Verdienst um die Methodik der Socialwissenschaften in Deutschland erworben, indem er die methodischen Errungenschaften der neueren englischen Logik dem Verständnisse der deutschen Socialforscher nahe zu bringen und der leichtfertigen Verwechslung der exacten Gesetze der Erscheinungen und der auf realistisch-empirischem Wege gewonnenen theoretischen Erkenntnisse ein Ende zu machen suchte. Für die theoretische Volkswirthschaftslehre ist sein Begriff des „Gesetzes“ indess viel zu enge, da diese Wissenschaft nach ihrer heutigen Auffassung, wie bereits an anderer Stelle (S. 50) hervorgehoben wurde, nicht nur die exacrén, sondern auch die empirischen Gesetze, ja mannigfache Arten dieser letzteren, und nicht nur die elementaren, sondern auch die abgeleiteten Regelmässigkeiten im generellen Zusammenhange der volkswirthschaftlichen Erscheinungen zu erforschen und darzustellen hat.
[245]
Es bedarf für den in der allgemeinen Wissenschaftslehre auch nur einigermassen Erfahrenen kaum der Bemerkung, dass die sogenannten praktischen Wissenschaften (die Kunstlehren) überhaupt und jene von der Volkswirthschaft insbesondere (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft) selbst wieder praktischer Anwendung fähig sind, und dass demnach zwischen den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft einerseits und ihrer praktischen Anwendung andererseits streng unterschieden werden muss.Die erstern ‘lehren uns die allgemeinen Grundsätze, die Maximen, nach welchen die Volkswirthschaft, je nach Verschiedenheit der Umstände, gefördert, beziehungsw. der Staatshaushalt am zweckmässigsten eingerichtet zu werden vermag, während die praktische Anwendung dieser Wissenschaften in der Form von concreten legislativen Acten, Verwaltungsmassregeln u. s. f. zu Tage tritt. Das Verhältniss der theoretischen zu den praktischen Wissenschaften und beider zu der Praxis der Volkswirthschaft ist somit das Folgende: Die theoretische Volkswirthschaftslehre hat uns das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang (die Gesetze) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen darzustellen, während die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft uns die Maximen lehren, nach welchen, je nach der Besonderheit der Verhältnisse, die Volkswirthschaft am besten gefördert, beziehungsweise der Staats-ushalt am zweckmässigsten eingerichtet zu werden vermag. Die [246] Praxis der Volkswirthschaft besteht aber in der Anwendung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft Seitens der öffentlichen Gewalten nach Massgabe der Besonderheit _der_Verhältnisse der einzelnen Länder und Völker. Das Verhältniss der theoretischen Nationalökonomie zu der Volkswirthschaftspolitik und der Finanzwissenschaft und beider Kategorien von Wissenschaften zu der Praxis der Volkswirthschaftspolitiker und Finanzmänner ist demnach das nämliche, wie etwa jenes der theoretischen Chemie zu der chemischen Technologie einerseits und beider zur Thätigkeit der praktischen Chemiker andererseits, oder wie jenes der Ana-tomie und Physiologie zur Chirurgie und Therapie und beider Gruppen von Wissenschaften zu der praktischen Thätigkeit wissenschaftlich gebildeter Aerzte.
Es ist ein Zeichen des geringen philosophischen Sinnes der Bearbeiter unserer Wissenschaft, dass über die obigen geradezu elementarsten Fragen der Wissenschaftslehre selbst unter den hervorragendern Volkswirthen noch immer so viel Unklarheit und Widerstreit der Meinungen zu Tage tritt. Vergl. J. B. Say, Cours complet d'E. P. Paris, 1852, I, 24 ff. und insbes. die Note desselben zu Storch's Cours, Paris 1823–24, I. p. 11, wo Say nur eine praktische Anwendung der politischen Oeconomie, indess keine praktische Wissenschaft yon der_Volkswirthschaft gelten lassen will, eine Meinung, welcher die zahllosen Schüler Say's grossentheils gefolgt sind. - Auch Roscher neigt zur Ansicht, dass die Politische Oekonomie wohl in einen allgemeinen und in besondere Theile, nicht aber in einen theoretischen und praktischen Theil zerfalle, während doch in Wahrheit die Politische Oekonomie in eine theoretische Wissenschaft und in eine Reihe von praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zerfällt, jede einzelne der obigen Wissenschaften aber (sowohl die theoretische Nationalökonomie, als auch jede praktische Wirthschaftswissenschaft) in einer geordneten Darstellung wieder einen allgemeinen und besondere Theile aufweist. (Vergl. auch A. Wagner’s Allgemeine oder theoretische Nationalökonomie, 1. Theil. 1876 S. XII und passim, H. v. Scheel in G. Schönberg's Handbuch der Politischen Oekonomie, 1882 I, 57, und F. J. Neumann ebend. S. 115 ff.)
Dass die theoretische Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft später aufgetreten ist, als die beiden praktischen Theile der Politischen Oekonomie ist richtig ; irrig indess die Annahme, dass dieselbe entstand, indem man aus den letztern das Gemeinsame [247] ausschied und mit einander verband (F. J. Neumann a. a. O.) Die theoretische Nationalökonomie entstand aus dem. Bedürfnisse nach theoretischer Begründung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft. Erörterungen dieser Art · Untersuchungen über las generelle Wesen und den generellen Zusammenhang, die Gesetze der Erscheinungen der Volkwirthschaft finden sich zerstreut schon in den ältesten Schriften über Regierungskunst, später in jenen über Volkswirthschaftspolitik und Finanzwesen; sie sind indess fundamental verschieden von dem allgemeinen“ Theile dieser Wissenschaften, der seiner formalen Natur nach, wie selbstverständlich, gleichfalls praktisch ist, d. i. die allgemeinen praktischen Wahrheiten bezüglich der Förderung der Volkswirthschaft und der Leitung des Finanzwesens, nicht aber theoretische Erkenntnisse der Volkswirthschaft umfasst. Die theoretische Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft entstand, indem die in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, und zwar sowohl in den allgemeinen, als auch in den speciellen Theilen derselben, zerstreuten theoretischen Erörterungen, welche bereits bei den Physiokraten, insbesondere aber bei A. Smith und bei J. B. Say einen grossen Umfang gewonnen hatten, von einigen deutschen Gelehrten (zunächst von Jacob, Hufeland, Soden, u. s. f.) gesammelt, vervollständigt und systematisch geordnet wurden. Der vorhin gedachten Auffassung liegt offenbar die irrthümliche Voraussetzung zu Grunde, dass der allgemeine und der theoretische Theil einer Wissenschaft identisch seien.
Eine Verkennung des wahren Verhältnisses der theoretischen und der praktischen Volkswirthschaftslehre enthält insbesondere auch die Meinung, dass die erstere „die Gesetze des wirthschaftlichen Volkslebens ohne Rücksicht auf das Eingreifen der öffentlichen Gewalten in dasselbe", die andere dagegen die Grundsätze für dieses letztere zu entwickeln habe, eine Ansicht, welche in der nationalökonomischen Literatur Deutschlands (vgl. Pölitz, Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit, II, S. 3; Lotz, Handbuch 1837 I S 6; Rau, Politische Oekonomie, I, § 9 u. s. f.) vielfach zu Tage tritt. Die obige Ansicht über das Wesen der theoretischen Nationalökonomie ist schon deshalb unrichtig, weil diese letztere doch die Erforschung des generellen Wesens und der Gesetze der realen, somit jedenfalls auch der vom Staate beeinflussten Erscheinungen der Volkswirthschaft mit zu ihren Aufgaben zählt, eine Abstraction des wirthschaftlichen Volkslebens vom staatlichen [248] Einflusse somit zum mindesten rücksichtlich der empirischen Richtung der theoretischen Forschung geradezu undenkbar ist. Mit Recht verwerfen deshalb schon L. H. v. Jacob (Grundsätze, 3. Aufl. § 5), Rotteck (Vernunftrecht, IV. B. 1835 S. 23 ff.) und neuerdings Roscher, Knies, Scheel, Wagner u. A. die obige Auffassung der theoretischen Volkswirthschaftslehre. Ein Missverständniss ist es indess, wenn Wagner (Politische Oekonomie I, § 9) meint, dass die Theilung der Nationalökonomie in einen theoretischen und praktischen Theil im letzten Grunde auf dem Gedanken beruhe, „die Volkswirthschaft zunächst ohne und dann erst mit dem Staate zu betrachten“. Die obige Eintheilung steht nämlich zu dem hier in Rede stehenden Gedanken in keiner denkbaren Beziehung. Durchaus correct über das Verhältniss der theoretischen und praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft handelt schon L. H. v. Jacob (Grundsätze, 3. Aufl., § 5 ff.) und mit Recht vindicirt sich dieser Schriftsteller das Verdienst, die obige wichtige Trennung der beiden Hauptgebiete der Politischen Oekonomie vollzogen zu haben.
[249]
Ueber das Wesen der „ Politischen Oekonomie“ und ihrer Theile und die für die Bezeichnung der letztern herrschend, gewordene Terminologie haben wir bereits an anderer Stelle gesprochen. [137]Es könnte nur noch die Frage entstehen, ob der obige Ausdruck als Bezeichnung für die Gesammtheit der unter demselben gemeiniglich zusammengefassten theoretisch-praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, und die Ausdrücke „Theoretische Volkswirthschaftslehre“ (theoretische Nationalökonomie), „Volkswirthschaftspolitik“ und „Finanzwissenschaft“ für die einzelnen Theile der „Politischen Oekonomie“ zutreffend seien, eine Frage, welche, im Hinblick auf die vorhin gedachten Untersuchungen über das Wesen der hier in Rede stehenden Wissenschaften, allerdings nur ein secundäres, ein terminologisches Interesse darbietet, indess wegen der principiellen Stellung der ihr zu Grunde liegenden sachlichen Probleme doch nicht ganz ohne Wichtigkeit ist.
Das Streben, die Terminologie einer Wissenschaft, zumal in Rücksicht auf die hauptsächlichen Kategorien derselben, in befriedigender Weise festzustellen, Wesen und Bezeichnung dieser letztern, die Dinge und die Begriffe in den Wissenschaften mit einander in Einklang zu bringen, erscheint uns nämlich unter allen Umständen als ein in hohem Grade löbliches; denn eine richtige Terminologie verhindert nicht nur zahllose Unklarheiten in der [250] Erforschung und Reception wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern bildet geradezu einen Leitstern für jene grosse, ja erfahrungsgemäss stets überwiegende Menge von Bearbeitern der Wissenschaften, deren Blick in Wahrheit weniger auf die Dinge, als auf die Worte gerichtet ist.
Das uns an dieser Stelle zunächst beschäftigende terminologische Problem bietet überdies ganz besondere Schwierigkeiten dar, welche die mannigfachsten, bis auf unsere Gegenwart fortgesetzten Versuche erklären, die auf die Bezeichnung der Politischen Oekonomie und ihrer Theile bezügliche Terminologie im Gegensatze zu der herrschend gewordenen umzugestalten, [138]Schwierigkeiten, deren letzter Grund wohl hauptsächlich in dem Umstande zu suchen ist, dass die Politische Oekonomie nach ihrer gegenwärtigen Auffassung Wissenschaften von sehr verschiedener formaler Natur umfasst und das Problem einer durchaus adäquaten Bezeichnung derselben demnach naturgemäss nicht leicht zu überwindende formale Schwierigkeiten darbietet.
Hier scheint uns vor Allem eine Frage der Beachtung werth, weil sie das Wesen der Politischen Oekonomie und ihrer Theile selbst berührt, die Frage, ob die Politische Oekonomie zu den Staats- oder zu den Gesellschafts-Wissenschaften zu rechnen sei, und wir möchten dieselbe hier nicht ganz umgehen, weil sie für die in Rede stehenden terminologischen Versuche bekanntermassen geradezu grundlegend geworden ist.
Wird, wie es ja in der Absicht der Mehrzahl jener liegt, welche die Politische Oekonomie als eine Gesellschaftswissenschaft bezeichnen, der Begriff der Gesellschaft im Gegensatze zu jenem des Staates aufgefasst und die obige Wissenschaft nichts destoweniger als Social-oekonomie (économie sociale etc.) bezeichnet, so wird dabei übersehen, dass die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft Staatswissenschaften im eigentlichsten Verstande sind und die obige Bezeichnung demnach, unter der obigen Voraussetzung, jedenfalls als unangemessen für Darstellungen unserer Wissenschaft erscheint, welche auch die eben genannten Theile dieser letztern umfassen, während umgekehrt der von ältern deutschen Autoren (noch von Lotz, Fr. B. W. Hermann und selbst von Roscher in seinen ersten Schriften !) für die Politische [251] Oekonomie mit Vorliebe gebrauchte Ausdruck „ Staats-Wirthschaftslehre“ wieder mannigfache Bedenken gegen die Bezeichnung der „theoretischen Volkswirthschaftslehre“ als solcher hervorruft (Vgl. L. v. Stein: Die Volkswirthschaftslehre 1878 S. 571 ff.).
Minder bedenklich erscheint der Ausdruck „Volkswirthschaftslehre“ (Nationalökonomie) als Bezeichnung jener Gesammtheit von theoretisch - praktischen Wissenschaften, welche gemeiniglich unter dem Begriffe der Politischen Oekonomie zusammengefasst werden. Wird der Begriff der „Volkswirthschaft“ richtig d. i. im Sinne einer Complication der sämmtlichen Wirthschaften in einem Volke (auch der Finanzwirthschaft!) verstanden, als ein „Organismus“ von Wirthschaften, von welchem bei fortgeschrittener Cultur eine auf die Förderung desselben gerichtete staatliche Thätigkeit (die Volkswirthschaftspflege!) unzertrennlich erscheint, [139]so stellt sich der obige Ausdruck in der That als eine nicht ganz unpassende Bezeichnung der hier in Rede stehenden Gruppe von Wissenschaften dar. Auch die Eintheilung der „Volkswirthschaftslehre“ in einen theoretischen und praktischen Theil und des letztern in die „Volkswirthschaftspolitik“ und die „Finanzwissenschaft“ ergiebt sich ziemlich zwanglos aus den obigen Erwägungen. Wenn nichtsdestoweniger ein grosser Theil der deutschen und die weitaus überwiegende Mehrzahl der fremden Nationalökonomen an dem ebenso unbestimmten als ungenauen Ausdruck „Politische Oekonomie“ festhält, so geschieht dies offenbar wegen der internationalen Gebräuchlichkeit desselben, aus einem Grunde somit, welcher in Fragen der Terminologie stets von grosser, ja zumeist von ausschlaggebender Bedeutung ist, zum Theile vielleicht auch eben wegen seiner Unbestimmtheit, welche die Unklarheit des Begriffes, den er bezeichnet, in zweckmässiger Weise Verhüllt.
Unvergleichlich grösseres Interesse, allerdings auch noch unvergleichlich grössere Schwierigkeiten bietet das Problem einer befriedigenden Terminologie unserer Wissenschaft dar, wenn wir dieses letztere nicht lediglich in Rücksicht auf die Politische Oekonomie nach ihrer heutigen Auffassung, sondern im Hinblick auf die Wissenschaft von der menschlichen Wirth schaft überhaupt ins Auge fassen. Eine dem Wesen dieser letztern [252] adäquate Terminologie kann nämlich nur das Ergebniss einer vollen Einsicht in die Natur der verschiedenen Aufgaben sein, welche die Forschung auf dem Gebiete der Wirthschaftserscheinungen zu erfüllen hat; sie hat eine befriedigende Lösung des umfassenden Problems der Classification der Wirthschaftswissenschaften zu ihrer Voraussetzung.
Wie weit die Erkenntnisstheorie der Menschheitswissenschaften überhaupt und der Wirthschaftswissenschaften insbesondere von diesem Ziele noch entfernt ist, bedarf kaum besonders hervorgehoben zu werden; ist doch das analoge Problem auf dem Gebiete der Naturwissenschaften noch lange nicht gelöst und, wie die neuesten Versuche darthun, die bezügliche Lehre selbst in den wesentlichsten Punkten noch controvers. . Und doch, um wie viel höher ist die Ausbildung der Naturwissenschaften und der auf sie bezüglichen Erkenntnisstheorie, als jene der Menschheitswissenschaften! Es wird noch einer langen Entwickelung dieser letztern bedürfen, bevor die verschiedenen Ziele wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen vollständig klargestellt und dadurch die Grundlage zu einer vollständigen Classification und Terminologie derselben überhaupt und der Wirthschaftswissenschaften insbesondere gewonnen sein wird. Bis dahin mögen die nachfolgenden Andeutungen über einige Hauptpunkte der bier einschlägigen Probleme die Lösung dieser letztern vorbereiten helfen.
Die Gesammtheit der auf die menschliche Wirthschaft bezüglichen Wissenschaften, die Wirthschaftswissenschaft in diesem weitesten Verstande des Wortes, zerfällt, entsprechend den drei Hauptaufgaben, welche der menschliche Geist bei der Erforschung der Wirthschaftsphänomene sich zu stellen vermag, in drei grosse Gruppen:
I. in die historischen,
II. in die theoretischen,
III. in die praktischen.
I. Die historischen Wirthschaftswissenschaften haben das individuelle [140] Wesen und den individuellen Zusammenhang der [253] wirthschaftlichen Erscheinungen zu erforschen und darzustellen, und sie zerfallen, je nachdem sie diese ihre Aufgabe unter dem Gesichtspunkte der Zuständlichkeit oder der Entwickelung zu lösen unternehmen, in die Statistik und in die Geschichte der menschlichen Wirthschaft. Dass die historischen Wissenschaften unter der Voraussetzung collectiver Betrachtung der Menschheits-Phänomene, und die historischen Wirthschaftswissenschaften insbesondere nur unter jener 'der collectiven Betrachtung der Wirthschafts - Phänomene ihrer Aufgabe in universeller Weise zu entsprechen vermögen, ergiebt sich mit Rücksicht auf die unübersehbare Menge von Singularerscheinungen des Menschenlebens [141]bezw. der menschlichen Wirthschaft und die Exigenzen der Technik wissenschaftlicher Darstellung übrigens von selbst. Die historischen Wirthschaftswissenschaften sind schon um [254] ihrer universell - wissenschaftlichen Aufgabe willen nothwendig Darstellungen der menschlichen Wirthschaft unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung, d. i. der Volkswirthschaft in dem eben gedachten Verstande des Wortes. [142]
II. Die theoretischen Wissenschaften von der menschlichen Wirthschaft haben das generelle Wesen und den generellen [255] Zusammenhang (die Gesetze) der wirthschaftlichen Erscheinungen zu erforschen und darzustellen; sie bilden in ihrer Gesammtheit die Theorie der Volkswirthschaft, während sie im Einzelnen den verschiedenen Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft entsprechen. Wir haben auf diesem letztern die exacte und die empirische Richtung der theoretischen Forschung und innerhalb dieser letztern wieder die geschichtsphilosopische, die theoretisch-statistiche, die „physiologisch-anatomische“ u. s. f. kennen und unterscheiden gelernt, und doch ist auf den ersten Blick klar, dass auch damit die Gesammtheit der verschiedenen berechtigten Richtungen theoretischer Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft keineswegs erschöpft ist, dass die Entwickelung unserer Wissenschaft vielmehr immer neue Richtungen des theoretischen Erkenntnissstrebens zu Tage zu fördern vermag. Gegenwärtig, bei der geringen Entwickelung der Socialwissenschaften, werden die Ergebnisse aller Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zweckmässig in Eine Wissenschaft, „die theoretische Nationalökonomie“ zusammengefasst, in eine Disciplin, welche, nebenbei bemerkt, schon aus diesem Grunde nothwendig der strengen formalen Einheit der von ihr dargestellten Erkenntnisse und somit auch einer strengen Systematik entbehrt; es steht nach unserem Dafürhalten indess kein Hinderniss im Wege, dass dieselbe mit der fortschreitenden Entwickelung, ähnlich wie dies auf dem Gebiete der Naturforschung bereits der Fall ist, zum Theile nach logischen, zum Theile nach sachlichen Eintheilungsgründen, sich allmählig in verschiedene Zweige spalte, von denen jeder einzelne eine gewisse, zum mindesten relative Selbständigkeit aufweisen wird. Bis dahin möge das Gesagte aber zur Klarstellung des theoretischen Problems auf dem Gebiete der Volkswirthschaft und zur Erklärung der eigenthümlichen Schwierigkeiten dienen, welche einer strengen Systematik der theoretischen Nationalökonomie entgegenstehen.
III. Die praktischen Wirthschaftswissenschaften endlich sollen uns die Grundsätze lehren, nach welchen die wirthschaftlichen Absichten der Menschen (je nach Massgabe der Verhältnisse) am zweckmässigsten erreicht zu werden vermögen. Dieselben sind:
1. Die Volkswirthschaftspolitik, die Wissenschaft von den Grundsätzen zur zweckmässigen (den Verhältnissen angemessenen) Förderung der „Volkswirthschaft“ Seitens der öffentlichen Gewalten.
[256]
2. Die praktische Singularwirthschaftslehre, die Wissenschaft von den Grundsätzen, nach welchen die ökonomischen Zwecke der Singularwirthschaften (je nach Massgabe der Verhältnisse) am vollständigsten erreicht werden können.
Diese letztere zerfällt weiter:
a) in die Finanzwissenschaft, die Wissenschaft von den Grundsätzen zur zweckmässigen, den Verhältnissen entsprechenden Einrichtung der grössten Singularwirthschaft im Volke, des Haushaltes der Regierung und sonstiger mit der Finanzgewalt versehenen wirthschaftenden Subjecte, [143]und
b) in die praktische Privatwirthschaftslehre, die Wissenschaft von den Grundsätzen, nach welchen (unter unsern heutigen socialen Verhältnissen lebende!) Privatpersonen (je nach Massgabe der Verhältnisse) ihre Wirthschaft am zweckmässigsten einzurichten vermögen. [144]
[257]
Die obigen Wirthschaftswissenschaften beziehen sich durchweg auf die menschliche Wirthschaft in ihrer gegenwärtigen Organisation, d. i. auf die „Volkswirthschaft“ im heutigen uneigentlichen Verstande des Wortes. Bei einer streng socialistischen Organisation der Gesellschaft würden dieselben indess, gleichwie die Wirthschaft selbst, eine zum nicht geringen Theile verschiedene Gestalt gewinnen.
Innerhalb eines so geordneten Gemeinwesens würden neben der Gemeinwirthschaft, der Hauptsache nach, weder private Individualwirthschaften, noch eine besondere Volkswirthschaftspflege und Finanzverwaltung bestehen und damit auch die praktischen Wissenschaften von diesen letztern entfallen. Es wäre dann nur Eine Wirthschaft, eine Volkswirthschaft im eigentlichen Verstande des Wortes vorhanden, deren wirthschaftendes Subject das Volk (bez. dessen Vertreter), deren Ziel die möglichst vollständige Befriedigung der Bedürfnisse aller Gesellschaftsglieder sein würde, und somit auch nur Eine praktische Wirthschaftswissenschaft, die Wissenschaft von den Grundsätzen, nach welchen die Gemeinwirthschaft, je nach Massgabe der Verhältnisse, am zweckmässigsten eingerichtet und geführt zu werden vermöchte. Was man in unsern Tagen höchst ungenau als socialistische Theorien“ bezeichnet, sind Anläufe zu dieser praktischen Wissenschaft, und ihr Wesen und ihre Stellung im Systeme der Wirthschaftswissenschaften somit klar.
Dass diese praktische Volkswirthschaftslehre im eigentlichen, dem socialistischen Verstande des Wortes, gleich allen übrigen praktischen Wissenschaften einer theoretischen Begründung bedürfte, ist eben so klar, als der Umstand, dass sie eine solche nur: in einer Wissenschaft zu finden vermöchte, welche uns das generelle [258] Wesen und den generellen Zusammenhang der gemeinwirthschaftlichen Erscheinungen zum Bewusstsein bringen würde. Die theoretische Volkswirthschaftslehre in diesem, dem eigentlichen Verstande des Wortes würde mit der nämlichen Wissenschaft im heutigen Sinne keineswegs vollständig übereinstimmen, eben so wenig aber auch von derselben nothwendig durchaus verschieden sein. Die psychologische Begründung der allgemeinsten Wirthschaftsphänomene, die Lehre von den menschlichen Bedürfnissen und den uns zum Zwecke der Befriedigung derselben verfügbaren Mitteln, die Lehre vom Wesen und vom Masse der Bedürfnisse und der Güter (von Bedarf und verfügbarer Güterquantität!), vom Gebrauchswerth und seinem Masse, vom Wesen der Wirthschaft und der Wirthschaftlichkeit u. s. f. wären der theoretischen Wirthschaftslehre in beiden Fällen gemein; nur rücksichtlich des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der complicirten Wirthschaftsphänomene würde dieselbe in beiden Fällen, entsprechend der Verschiedenheit der realen Erscheinungen, auch ihrerseits Verschiedenheiten aufweisen.
Die Systematik der Wirthschaftswissenschaften im Socialistenstaate würde demnach mit jener der heutigen Wirthschaftswissenschaften keineswegs identisch sein, indem im ersteren Falle die „Volkswirthschaftspolitik“ und die „Finanzwissenschaft “, der Hauptsache nach auch die „praktische Privatwirthschaftslehre“, als selbständige Wissenschaften entfallen würden. Die „Wirthschaftswissenschaft“ im universellsten Verstande dieses Wortes würde sich dann lediglich in die „historischen Wissenschaften“ von der Volkswirthschaft, in eine „theoretische“ und eine „praktische“ Wissenschaft von dieser letzteren gliedern, Wissenschaften, welche überdies, entsprechend dem geänderten Objecte der Forschung, gegenüber den analogen Wirthschaftswissenschaften der Gegenwart, Besonderheiten aufweisen würden.
[259]
Keine Meinung ist unter den Socialphilosophen verbreiteter, als jene, dass wohl auf dem Gebiete der Natur-, nicht aber auch auf jenem der Menschheits-Erscheinungen exacte Gesetze (sog. Naturgesetze) herrschen, beziehungsweise dass wohl auf dem ersteren, nicht aber auch auf dem letzteren exacte Theorien erreichbar seien. Begründet wird diese Meinung einerseits dadurch, dass wohl auf dem Gebiete der Natur streng typische Phänomene beobachtet werden können (z. B. die einfachsten Elemente der Chemie, die elementarsten Agentien der Physik u. s. f.), auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen dagegen schon die Complication dieser letzteren (von dem Momente ihrer Entwickelung ganz abgesehen!) den streng typischen Charakter und somit auch die Möglichkeit exacter Gesetze derselben ausschliesse; ändererseits aber dadurch, dass die Erscheinungen der Natur ausschliesslich mechanisch wirkenden Kräften folgen, während in den Menschheitserscheinungen das Willensmoment eine entscheidende Rolle spiele.
In dieser Argumentation liegt nun aber eine Reihe fundamentaler Irrthümer. Dass die realen Menschheitserscheinungen nicht streng typisch sind und dass schon aus diesem Grunde, überdies aber auch noch in Folge der Willensfreiheit des Menschen, welche als praktische Kategorie zu negiren, uns selbstverständlich [260] fern liegt, empirische Gesetze von ausnahmslos er Strenge auf dem Gebiete der Erscheinungen menschlicher Thätigkeit ausgeschlossen sind: all' dies gestehen wir rückhaltslos zu. Was wir dagegen bekämpfen, ist die Meinung, dass die Naturerscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit streng typisch sind, oder aber auf dem Wege der empirischrealistischen Richtung der theoretischen Naturforschung Gesetze der Naturerscheinungen von ausnahmsloser Strenge gewonnen werden können. [145]Vom Standpunkte des empirischen Realismus sind exacte Naturgesetze eben so unerreichbar, als exacte Gesetze der Socialerscheinungen. Auch die exacten Naturgesetze, im eigentlichen Verstande dieses Wortes, sind kein Ergebniss der empirischrealistischen, sondern der exacten Naturforschung; diese letztere aber ist, ihrem Grundcharakter nach, der exacten Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen analog. [146]
Der Irrthum der Socialphilosophen besteht darin, dass sie zu exacten Socialgesetzen durch das Mittel der empirischen Forschung, somit auf einem Wege zu gelangen suchen, auf welchem exacte Gesetze der Erscheinungen überhaupt nicht erreichbar sind, weder exacte Socialgesetze, noch auch solche Naturgesetze.
Die bei den Socialphilosophen vorherrschende Meinung, dass die strengen Gesetze der Physik, der Chemie u. s. f. das Ergebniss der empirischen Richtung der theoretischen Forschung sind, hat den Erfolg gehabt, einen Theil derselben zu veranlassen, auf „empirischem“, also auf nicht exact em Wege nach exacten [261] Gesetzen der Socialerscheinungen zu streben, einen anderen Theil derselben aber dazu verleitet, an die Ergebnisse empirischer Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften die Massstäbe ex acter Forschung, und umgekehrt an die Ergebnisse exacter Socialforschung die Massstäbe empirischer Forschung zu legen, zwei Irrthümer, welche gleich verderblich die Entwickelung der Socialwissenschaften beeinflusst haben und auf welche der grösste Theil der Missverständnisse zurückzuführen ist, welche die theoretische Socialforschung in ihrer heutigen Gestalt und in ihren gegenwärtigen Bestrebungen beherrschen (vgl. hierzu die Cap. 4, 5 und 7 des I. Buches).
[262]
Wir haben, zumal bei fortgeschrittener wirthschaftlicher Cultur, nicht nur Bedürfnisse nach Gebrauchsgütern, d. i. nach Gütern, welche unmittelbar der Erhaltung unseres Lebens und unserer Wohlfahrt dienen, sondern auch einerseits Bedürfnisse nach Productionsmitteln) [147](z. B. nach Rohstoffen, nach Hilfsstoffen, nach Maschinen zum Zwecke der technischen Production, nach technischen Arbeitsleistungen u. s. f.) und andererseits nach Tauschgütern (z. B. nach Geld, bez. nach anderen zum Austausch bestimmten Waaren) – Bedürfnisse, welche man im Gegensatze zu den erstgenannten, den unmittelbaren, als mittelbare zu bezeichnen vermöchte. Unser Bedarf an Productionsmitteln und Tauschgütern ist indess durch unseren Bedarf an Gebrauchsgütern bedingt [148]und das Endziel aller menschlichen Wirthschaft demnach die Deckung unseres unmittelbaren Güterbedarfes, die Sicherstellung der Befriedigung unserer unmittelbaren Bedürfnisse. Um dies Ziel zu [263] erreichen, mögen wir noch so umfassende wirthschaftliche Vorkehrungen treffen und zunächst nach der Deckung unseres mittelbaren Bedarfes streben, diese letztere im concreten Falle zunächst als Ziel unserer wirthschaftlichen Thätigkeit betrachten: das Endziel derselben ist indess, wie gesagt, stets die Deckung unseres unmittelbaren Güterbedarfes.
Der Ausgangspunkt jeder Wirthschaft sind dagegen die den wirthschaftenden Subjecten unmittelbar verfügbaren Güter. Wir verfügen in Rüchsicht auf kommende Zeitpunkte, oder Zeiträume, auch in mittelbarer Weise über Güter (durch die in unserem Besitz befindlichen Productions - beziehungsw. Tauschmittel); die Güter, über welche wir in dieser Weise verfügen (die bezüglichen Producte und Waaren), sind indess durch die in unserer unmittelbaren Verfügung befindlichen Güter in quantitativer und qualitativer Weise bedingt. Der nächstliegende Ausgangspunkt unserer Wirthschaft sind stets nur diese letzteren.
Wir verstehen unter der Wirthschaft die auf die Deckung Keucoin unseres Güterbedarfes gerichtete vorsorgliche Thätigkeit. Fassen wir das vorhin Gesagte mit dieser Charakteristik des Wesens der! Wirthschaft zusammen, so ist klar, dass „Wirthschaft“ in letzter Linie jene Thätigkeit bedeutet, durch welche wir die uns unmittelbar verfügbaren Güter (die uns unmittelbar verfügbaren Productionsmittel, Tauschmittel und Gebrauchsgüter und zwar auf dem Wege der Production, des Verkehrs und der Haushaltung) der Deckung unseres unmittelbaren Güterbedarfes zuführen. Die Wirthschaft ist in Wahrheit nichts anderes, als der Weg, den wir von dem vorhin gekennzeichneten Ausgangspunkte zu dem vorhin charakterisirten Zielpunkte menschlicher Thätigkeit durchschreiten.
Die unmittelbaren Bedürfnisse eines jeden wirthschaftenden Subjectes sind nun aber jeweilig durch seine eigenthümliche Natur und bisherige Entwickelung (durch seine Individualität), die ihm unmittelbar verfügbaren Güter durch die jeweilige ökonomische Sachlage streng gegeben. Unser unmittelbarer Bedarf und die uns unmittelbar verfügbaren Güter sind in Rücksicht auf jede Gegenwart unserer Willkür entrückte, gegebene Thatsachen, und der Ausgangspunkt und der Zielpunkt jeder concreten menschlichen Wirthschaft ist somit in letzter Linie durch die jeweilige ökonomische Sachlage streng determinirt.
Was zwischen den beiden obigen Marksteinen jeder menschlichen [264] Wirthschaft liegt, die wirthschaftliche Thätigkeit der Menschen, mag auf den ersten Blick noch so complicirt, regellos und willkürlich erscheinen: immer sind es die durch unsere Natur und unsere bisherige Entwickelung streng determinirten unmittelbaren Bedürfnisse, deren Befriedigung sicherzustellen den letzten Zielpunkt, immer die durch die jeweilige Sachlage streng determinirten uns unmittelbar verfügbaren Güter, welche den uns nächst liegenden Ausgangspunkt derselben bilden. Was wir zur Erhaltung unseres Lebens und unserer Wohlfahrt zu thun vermögen, was in dieser Rücksicht von unserer Macht und Willkür abhängt, ist, jenen Weg von einem streng determinirten Ausgangspunkte, zu einem eben so streng determinirten Zielpunkte so zweckmässig, d. i. in unserem Falle, so wirthschaftlich als möglich zu durchschreiten.
Die Bedeutung, welche die obige Thatsache für die Lösung der theoretischen Probleme unserer Wissenschaft unter dem Gesichtspunkte exacter Forschung aufweist, bedarf kaum des besonderen Hinweises; sie tritt jedoch in ein noch viel helleres Licht, wenn der nachfolgende Umstand in Betracht gezogen wird.
Sind der Ausgangspunkt und der Zielpunkt einer menschlichen Bestrebung, welcher Art dieselbe auch immer gedacht werden mag, gegeben, so ist der Weg, welcher von den handelnden Menschen zur Erreichung des angestrebten Zieles in der Wirklichkeit betreten zu werden vermag oder thatsächlich betreten werden wird, von vorn herein zwar keineswegs streng determinirt. Willkür, Irrthum und sonstige Einflüsse können vielmehr bewirken und bewirken thatsächlich. dass die handelnden Menschen von einem streng gegebenen Ausgangspunkte zu einem eben so streng determinirten Zielpunkte ihres Handelns verschiedene Wege einzuschlagen vermögen. Sicher ist dagegen, dass unter den obigen Voraussetzungen stets nur Ein Weg der zweckmässigste zu sein vermag.
Dies gilt selbstverständlich auch von der menschlichen Wirthschaft. Ist es richtig, dass der Ausgangspunkt und der Zielpunkt derselben in jedem concreten Falle durch die ökonomische Sachlage gegeben sind, so kann es in jedem solchen Falle auch nur Einen zweckmässigsten, nur Einen ökonomischen Weg zu dem obigen Ziele geben, oder mit anderen Worten: Wollen die wirthschaftenden Menschen unter gegebenen Verhältnissen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse in möglichst vollständiger Weise sicherstellen, so führt von jenem streng determinirten Ausgangspunkte zu jenem eben so streng determinirten Zielpunkte der Wirthschaft nur Ein [265] durch die ökonomische Sachlage genau vorgezeichneter Weg, und dieser letztere oder, was dasselbe ist, die wirthschaftliche Thätigkeit der Menschen ist, da die obigen Bedingungen in jedem concreten Falle zutreffen, somit zwar nicht factisch, wohl aber ökonomisch determinirt. In jeder concreten Wirthschaft sind unzählige Richtungen des Handelns der wirthschaftenden Subjecte denkbar; sicher ist indess, dass, von ökonomisch irrelevanten Verschiedenheiten abgesehen, nur Eine Richtung der Wirthschaftsführung die zweckmässigste, die ökonomische zu sein vermag, oder mit anderen Worten: In jeder Wirthschaft sind unzählige unwirthschaftliche Formen der Führung derselben, indess, ökonomisch irrelevanten Verschiedenheiten abgesehen, stets nur Eine, und zwar eine streng determinirte ökonomische Richtung derselben denkbar.
Die Wichtigkeit dieses Ergebnisses unserer Untersuchung für die Methodik unserer Wissenschaft, insbesondere aber für das Verständniss des Wesens der exacten Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft und ihres Verhältnisses zu der empirisch-realistischen Richtung derselben ist unschwer zu erkennen. Die realen Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft sind, so paradox dies auch auf den ersten Blick klingen mag, zum nicht geringen Theile unwirthschaftlicher Natur und in Folge dieses Umstandes, vom Standpunkte der Wirthschaftlichkeit betrachtet, keineswegs streng determinirte Phänomene. Die realistische Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Wirthschaft vermag demnach auch, und zwar schon aus dem eben angeführten Grunde, nicht zu „exacten Gesetzen“, sondern nur zu mehr oder minder strengen „Regelmässigkeiten“ in der Coexistenz und in der Aufeinanderfolge der realen Erscheinungen menschlicher Wirthschaft zu führen. (Die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem obigen Gebiete untersucht dagegen die Erscheinungen der Wirthschaftlichkeit, Phänomene, welche, wie wir sahen, streng determinirt sind, und sie gelangt demnach allerdings nicht zu exacten Gesetzen der réalen, zum Theil ja höchst unökonomischen Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft, wohl aber zu exacten Gesetzen der Wirthschaftlichkeit.
Der hohe Werth dieser Gesetze für das theoretische Verständniss der wirthschaftlichen Seite der Gesellschaftserscheinungen ist von uns bereits wiederholt betont worden, [149]ebenso der Umstand, [266] dass die formale Natur derselben keine andere, als jene der Gesetze aller übrigen exacten Wissenschaften und der exacten Naturwissenschaften insbesondere ist. [150]Auch der Vorwurf, dass diese Gesetze einen unempirischen Charakter aufweisen und alle jene Einwände, welche die einseitigen Anhänger der empirisch-realistischen Richtung der theoretischen Socialforschung gegen dieselben erheben, beweisen nur, wie sehr die hier in Rede stehenden Socialphilosophen das wahre Wesen der exacten Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen verkennen.
[267]
Wir haben oben (S. 168 ff.) bereits dargelegt, dass die Meinung, die Erscheinung des Staates sei eine ursprüngliche, zugleich mit der Existenz des Menschen gegebene, eine unhaltbare, ja geradezu sinnlose sei. Solchem Widersinne war selbstverständlich auch Aristoteles fremd, so oft auch auf denselben als den Begründer der obigen Theorie hingewiesen wird. Wir werden aber zur Klarstellung der interessanten Frage nach der Auffassung des grossen Philosophen vom Ursprunge des Staates zunächst die hierauf bezüglichen Stellen seiner Schriften anführen, da einige derselben zu dem obigen Missverständnisse zum mindesten die äussere Veranlassung geboten haben.
Ueber das Wesen und den Ursprung des Staates äussert sich < Aristoteles (Polit. I„1) wie folgt: „Man kann die Natur einer Sache nicht besser ergründen, als wenn man sie unter seinen Augen entstehen sieht. Diese Methode wollen wir also auch rücksichtlich unseres Gegenstandes (der Feststellung der Natur des Staates!) einschlagen. Zu dem Ende müssen wir zuerst jene zwei Menschen in Verbindung bringen, die sich durchaus nicht entbehren können, nämlich Mann und Weib, denn ihre Bestimmung ist die Fortpflanzung ihres Geschlechtes. Die Verbindung derselben ist aber nicht ein Werk ihres Vorsatzes und der Vernunft, sondern des Instinctes. . . . Die zweite der einfachsten Verbindungen ist [268] die zwischen Herrn und Knecht, zwischen dem Befehlenden und dem Gehorchenden. . . . Auch diese Verbindung ist natürlich. ... Aus diesen beiden Verbindungen, der ehelichen und der herrschaftlichen, entsteht zuerst ein Haus, eine Familie. . . . Der natür liche Ursprung einer Ortschaft ist aber daher zu leiten, dass die erste Familie Ansiedler aus ihrem Schosse entsendet. . . . So entstanden Städte und Volksstämme aus Familien und in der Familie war die monarchische Regierungsform vorhanden: Der Aelteste einer Familie wird naturgemäss das Oberhaupt derselben. Diese Herrschaft dehnt sich dann leicht auf die Familien aus, welche von der erstern ausgehen und sich neben ihr in besondern Häusern ansiedeln. Die aus der Vereinigung mehrerer Ortschaften entstehende, schon beinahe vollständige und sich selbst genügende Gesellschaft ist ein Staat, oder ein bürgerliches Gemeinwesen. . . . Wenn nun jene einfachen Verbindungen der Häuser und der Ortschaft natürlich sind, so ist auch das bürgerliche Gemeinwesen etwas natürliches. . . . Hieraus ist klar, dass die bürgerliche Gesellschaft, der Staat in seiner ersten und einfachen Form, unter die Werke der Natur gehört und der Mensch ein von Natur aus zum bürgerlich-gesellschaftlichen Leben bestimmtes und eingerichtetes
Aristoteles stellt in dem Vorangehenden (zum Zwecke der Erklärung des Wesens des Staates) den Process dar, durch welchen der Staat aus Individuen, beziehungsweise aus Familien entsteht, zeigt, dass dieser Process keineswegs das Ergebniss einer auf die Staatenbildung gerichteten Absicht der Menschen, sondern ein solches ihrer natürlichen Triebe, dass jener Process ein natürlicher und der Staat selbst somit ein Naturprodukt im obigen Sinne ist, und fährt hierauf in folgender Weise fort:
„Obgleich die Familie aus einzelnen Menschen und der Staat aus mehreren Familien besteht, so kann man doch in gewissem Sinne sagen, dass der Staat oder das Gemeinwesen das Erste und Ursprüngliche sei und dass die Familie und der einzelne Mensch nur hierdurch bedingte (davon abhängige) Wesen seien. Denn das Ganze ist nothwendig die Grundlage der Theile und muss also als das selbständigere und ursprünglichere betrachtet werden. Sobald der ganze Körper stirbt, so ist auch Hand und Fuss todt; wenigstens existiren sie dann nur der äussern Gestalt und dem Namen nach, sowie man auch eine von Stein so gebildete [269] Form eine Hand nennt. ... Wenn also der Mensch ohne die bürgerliche Gesellschaft nicht bestehen kann und, getrennt von ihr, sich selbst nicht genügt, so verhält er sich zur Gesellschaft nicht anders, als jeder Theil sich zu seinem Ganzen verhält. Das Ganze aber ist das selbständige und ursprüngliche, der Theil das bedingte und abgeleitete. Also ist auch der Staat das erstere, das einzelne Individuum das letztere.“
Der vielfach missverstandene Sinn der obigen, zum Theil scheinbar widerspruchsvollen Aristotelischen Darstellung von dem Wesen und Ursprung des Staates ist demnach folgender: Der Staat ist ein Wesen, in welchem jeder Theil durch das Ganze bedingt ist. Der (Cultur-)Mensch ist ohne Staat nicht denkbar. Der Staat ist, demnach in Rücksicht auf den Culturmenschen das ursprünglichere, der Cultur-Mensch das spätere, das bedingte. Dass auch der uncivilisirte Mensch ohne Staat nicht gedacht werden könne und die Erscheinung des Staates demnach eben so alt, als jene des Menschen überhaupt sei, behauptet jedoch Aristoteles keineswegs. Er sagt im Gegentheile (Pol. 1,1 gegen den Schluss): „Bei den Cyklopen, wie Homer sie beschreibt, wohnten die Familien von einander abgesondert. Diese Lebensart war die allgemeine der Menschen in den ältern Zeiten“ – und stellt sogar, wie wir oben sahen, in ausführlicher Weise den Process dar, durch welchen die Staaten aus Familien (deren essentiellen Unterschied von Staaten er ausdrücklich betont: Pol. 1,1 im Anfange) entstanden sind. Zum Ueberflusse erklärt er (Nic. Eth. V 14) ganz ausdrücklich, dass der Mensch von Natur aus noch mehr zur Geschlechtsverbindung, als zur staatlichen Vereinigung geschaffen sei, da die Familie älter und nothwendiger als der Staat sei.
Aristoteles anerkennt sogar die Möglichkeit, dass der Culturmensch durch zufällige Umstände ausserhalb der bürgerlichen Gesellschaft“ lebe (Polit. 1,2). Nur von solchen Menschen, welche vermöge ihrer Natur“ ausserhalb der Gesellschaft leben, in welchen also der natürliche Trieb zur Vergeselligung nicht liege, sagt er in echt griechischem Geiste, dass sie entweder mehr oder weniger als Menschen sein müssten. Dem uncivilisírten Menschen, welcher diesen Trieb hat, aber bis zur Staatenbildung noch nicht gelangt ist, spricht er keineswegs die Existenzmöglichkeit ab. Das vielberufene Aristotelische άνθρωπος ζωον πολιτικόν bedeutet demnach nicht, dass der Mensch stets im Staate gelebt habe und dieser [270] somit so alt, als der Mensch selbst sei, sondern nur dass die im Menschen liegenden Triebe ihn naturgemäss zur Vergesellschaftung und zur Staatenbildung führen und der Mensch im „ griechischen “ Sinne, der Culturmensch nicht älter als der Staat sein könne. Diese Ansicht entspricht aber – wenn nicht eine einzelne aus dem Zusammenhang der Darstellung herausgerissene Stelle ausschliesslich in Betracht gezogen wird – nicht nur den Worten des grossen Philosophen, sondern auch dem gesunden Menschenverstande, welcher uns lehrt, dass ein complicirtes Ganze nicht eben so alt sein könne, als die Elemente, welchen es nothwendig seine Entstehung verdankt.
[271]
Das Recht, insoweit dasselbe sich als Ergebniss positiver Gesetzgebung darstellt, ist ein sociales Phänomen, dessen Erklärung als solches nach keiner Richtung hin, zu besonderen Schwierigkeiten führt. Das Recht als reflectirtes Ergebniss des Willens einer organisirten Volksgemeinschaft oder ihrer Machthaber ist eine Erscheinung, welche weder in Rücksicht auf ihr allgemeines Wesen noch aber auch auf ihren Ursprung den Scharfsinn des Forschers in ungewöhnlichem Masse herausfordert. Anders das Recht, wo immer dasselbe nicht als das Ergebniss positiver Gesetzgebung (des reflectirten Gemeinwillens), sondern als solches eines „organischen Processes“ zur Erscheinung gelangt. Hier tritt uns nämlich, wie oben beim Gelde, ein sociales Gebilde entgegen, welches im eminentesten Sinne das Gemeinwohl fördert, ja dasselbe geradezu bedingt und sich doch nicht als das Ergebniss eines dahin zielenden Willens der Gesellschaft darstellt. Ein unreflectirtes Product gesellschaftlicher Entwickelung, welches das Wohl der Gesellschaft doch bedingt und fördert, und dies vielleicht in höherem Masse, als irgend eine gesellschaftliche Einrichtung, welche das Werk menschlicher Absicht und Berechnung ist -– die Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung ist die schwierige Aufgabe, deren Lösung der Socialwissenschaft obliegt.
Dass mit dem blossen Hinweise auf den organischen Ursprung, die „Urwüchsigkeit“, die „Ursprünglichkeit“ des Rechtes u. s. f.) [151][272] das hier in Rede stehende Problem in Wahrheit nicht gelöst zu werden vermag, bedarf wohl kaum der Bemerkung. Die obigen Erklärungsversuche sind Bilder, Analogien zwischen der Entstehung der natürlichen Organismen und jener des Rechtes, Analogien überdies, welche, wie schon an anderer Stelle dargelegt wurde, [152]durchaus äusserliche sind. Soll die Theorie vom „organischen Ursprunge“ des Rechtes nicht eine blosse Redewendung sein, soll das obige Problem wirklich gelöst, der „organische Ursprung“ des Rechtes im Gegensatze zur social-pragmatischen Entstehung dieses letztern uns thatsächlich zum klaren Bewusstsein gelangen, so ist vielmehr nöthig, dass wir die Natur und den Verlauf des Processes untersuchen, durch welchen das Recht ohne positive Gesetzgebung zur Erscheinung gelangt, jenes Processes, welchen man dann immerhin einen „organischen“ nennen mag.
Die Untersuchung wie das Recht ursprünglich in den einzelnen concreten Fällen thatsächlich geworden, und die Zusammenfassung der Parallelismen dieser historischen Entwickelung bei den verschiedenen Völkern, wäre unzweifelhaft ein sehr zweckmässiger und verlässlicher methodischer Vorgang, um den Ursprung des Rechtes und die allfälligen verschiedenen Formen desselben festzustellen. Eben so unzweifelhaft ist es jedoch, dass dies Ziel auf dem eben dargelegten Wege nicht erreicht zu werden vermag. Das Recht ist in Perioden menschlicher Entwickelung entstanden, welche weit zurück liegen hinter jenen urkundlicher Geschichte, und was die Historiker uns über diesen Process zu berichten vermögen, fusst demnach nur auf Schlüssen, nicht auf beglaubigter empirischer Erkenntniss. Selbst die sorgfältigste Benutzung der Geschichte vermöchte uns keine genügende empirische Grundlage für die Lösung eines Problems zu bieten, bei welchem Gesetze [273] prähistorischer Entwickelungen in Frage sind. Sicherlich wird die theoretische Forschung bei dem obigen Unternehmen Geschichte und Völkerkunde auf das Sorgfältigste zu benützen haben; der Versuch, das in Rede stehende Problem ausschliesslich auf historischempirischem Wege zu lösen, wäre indess kaum minder unstatthaft, als wollte ein Naturforscher den ersten Ursprung der natürlichen Organismen lediglich auf dem Wege historisch-empirischer Untersuchung ergründen.
Der blosse Hinweis auf den ,organischen Ursprung“ des Rechtes, die „ Urwüchsigkeit“ desselben und auf ähnliche Analogien ist völlig werthlos, das Streben nach der specifisch historischen Lösung des obigen Problems aber ein aussichtsloses.
Der Weg, um zum theoretischen Verständnisse jenes „organischen“ Prozesses zu gelangen, welchem das Recht seinen ersten Ursprung verdankt, kann somit kein anderer sein, als dass wir untersuchen, welche Tendenzen der allgemeinen Menschennatur und welche äusseren Verhältnisse zu jener allen Völkern gemeinsamen Erscheinung zu führen geeignet sind, welche wir das Recht nennen, wie das Recht aus diesen allgemeinen Tendenzen und Verhältnissen zu entstehen und nach Massgabe der Verschiedenheit derselben seine besonderen Erscheinungsformen zu gewinnen vermochte.
Die so gewonnene Erkenntniss ist keine historische, pirisch - realistischen Verstande dieses Wortes, indess eine solche, welche gegenüber der Phrase von der Ursprünglichkeit“, der „Urwüchsigkeit“, dem „organischen Ursprunge“ des Rechtes, seinem „Ursprunge im Volksgeiste" u, s. f. jedenfalls einen bedeutenden Fortschritt in dem theoretischen Verständnisse jenes Processes bedeutet, durch welchen das Recht in seiner ursprünglichsten Gestalt entstanden ist; ja sie hat den Vorzug, uns nicht nur das äussere Bild der hier in Rede stehenden Entwickelung zu bieten, sondern auch die treibenden Kräfte klar zu legen, welche mit der wachsenden Einsicht der Menschen in ihre Interessen zur Entstehung des Rechtes führten.
Dass das Recht in entwickelten Gemeinwesen vorwiegend auf dem Wege der Gesetzgebung, bezw. einer auf die Begründung desselben gerichteten ausdrücklichen Uebereinkunft der Gesellschaftsglieder, also vorwiegend in pragmatischer Weise zu entstehen und sich zu entwickeln pflegt und demnach auch vorwiegend in [274] pragmatischer Weise, aus den Absichten der Gesetzgeber und den dieselben bestimmenden Verhältnissen, interpretirt werden muss, bedarf keiner besonderen Bemerkung. Anders in den ersten Anfängen der Cultur, in Epochen, wo der Verkehr der ein bestimmtes Territorium bewohnenden Menschen ein geringer, ihr Zusammenhang ein loser, das Bewusstsein dieses letztern überdiess ein mangelhaftes ist und von dem Rechte, als dem Ausdrucke des organisirten Gesam mt willens eines Volkes, somit füglich noch nicht die Rede sein kann. Hier ist die Entstehung des Rechtes jedenfalls nicht eine pragmatische im obigen Verstande des Wortes und die Frage nach der Natur derselben eine unausweichliche.
Die gleiche äussere Lage, in welcher sich unter den ursprünglichsten Verhältnissen die Familienhäupter eines Territoriums befinden, die allen gemeinsame Unsicherheit der Errungenschaften ihrer in dividuellen Bestrebungen bewirken, dass die Vergewaltigung des Einzelnen von allen Andern auf das Lebhafteste mitempfunden wird. Es liegt in der menschlichen Natur, die fortgesetzte Bedrohung mit Uebeln peinlicher fast zu empfinden, als die angedrohten Uebel selbst. Jeder Einzelne, wenn auch nicht unmittelbar geschädigt, fühlt sich durch Acte der Gewalt doch in seinen Interessen auf das ernstlichste bedroht, insbesondere der Schwache, welcher, dem Starken gegenüber, ja stets in der grossen Mehrheit ist.
Unter solchen Umständen bilden sich Ueberzeugungen von der Nothwendigkeit gewisser, in Rücksicht auf ihre Natur weiter unten zu erörternder Schranken der Willkür, anfangs wohl nur in den Geistern der Weisesten im Volke, jener nämlich, welche, über das kurzsichtige Interesse des Augenblicks hinweg, ihr dauerndes Interesse zu erkennen vermögen, allmälig mit der wachsenden Einsicht indess in den Geistern aller jener, in deren Vortheil eine Beschränkung der individuellen Willkür liegt, und zu welchen selbst der Starke zählt, dessen Interesse ja die Conservirung der Errungenschaften seiner Gewalt heischt.
Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit solcher Schranken der Willkür gelangt demnach ursprünglich nicht in dem Volke, als eine organisirte Einheit gedacht, zum Bewusstsein, noch viel weniger aber etwa als das Ergebniss einer auf die Wohlfahrt der Gesammtheit hinzielenden Reflexion der Einzelnen, oder gar eines Volksrathes; sie entsteht vielmehr in den Geistern der [275] einzelnen Glieder der Bevölkerung mit der wachsenden Erkenntniss ihr es, des Einzelinteresses. Was Allen, oder doch der weitaus grösseren Mehrheit frommt, gelangt allmälig zum Bewusstsein. Aller.
Die Form, in welcher Ueberzeugungen der obigen Art im Bewusstsein der Bevölkerung sich bilden, ist, der Natur der Sache nach, jene von Regeln für das Handeln, indess zunächst und unmittelbar keineswegs nothwendig eine bei allen Volksgliedern übereinstimmende. Nur der Inhalt der Regel, nicht auch die Form derselben wird zunächst eine Uebereinstimmung aufweisen, bis allmälig Zufall oder Begabung auch eine besonders glückliche, dem Auffassungsvermögen mindercivilisirter Menschen besonders entsprechende Form jener Regeln zu Tage fördert, welche dann ohne Vertrag oder besondere Uebereinkunft in den Geistern der Bevölkerung sich festsetzt. Allen, selbst den rohesten Völkern sind solche Grundsätze eigen.
Hiermit, mit der Entstehung gewisser Regeln für das Handeln der Volksglieder, deren Zweckmässigkeit in Rücksicht auf ihre Wohlfahrt den Gliedern der Bevölkerung zum Bewusstsein gelangt, ist der Begriff des Rechtes indess noch nicht vollendet. Damit dies der Fall sei, muss noch ein Moment hinzutreten, welches mit der von uns oben dargestellten Sachlage allerdings implicite bereits gegeben ist.
Die Bedeutung jener Regeln für die eigene Wohlfahrt ist in den Anfängen der Gesellschaft Jedem unmittelbar bewusst; jeder Einzelne erkennt durch die Beachtung derselben Seitens der Gesellschaftsglieder sich in seinen Interessen gefördert, durch ihre Verletzung in seinen Interessen bedroht.
Was von Jedem als sein Interesse erkannt ist, dessen Schutz wird auch zum Interesse jedes Einzelnen, und es entsteht in der Bevölkerung solcherart das Bewusstsein, dass die Befolgung jener Regeln im concreten Falle nicht dem freien Ermessen der Einzelnen anheimgestellt, sondern gesichert werden müsse. Damit ist der Gegensatz zwischen Recht und Moral begründet, zugleich aber auch der Begriff des Volksrechtes in seiner ursprünglichen Form vollendet. Es ist der Inbegriff der von der Volksüberzeugung getragenen, die individuelle Willkür der Volksglieder beschränkenden Regeln, deren Befolgung, nach dem Willen der Bevölkerung, dem freien Ermessen der Einzelnen nicht überlassen bleiben soll.
[276]
Dass das Recht in allen Fällen thatsächlich erzwungen, das verletzte thatsächlich gesühnt werde oder werden könne, dass insbesondere eine hiezu berufene Coércitivgewalt thatsächlich vorhanden sei und ordnungsgemäss functionire: dies alles ist dagegen dem Begriffe des Rechtes in seiner ursprünglichsten Form fremd. [153]Wohl aber ist das Entstehen einer Coércitivgewalt eine naturgemässe Consequenz der oben dargelegten Verhältnisse.
In jenen Anfängen der Civilisation, in welchen das Volksrecht entsteht, ist jedes Volksglied nicht nur von der Zweckmässigkeit der Rechtsregeln und von der Nothwendigkeit, ihre Befolgung dem freien Ermessen der Einzelnen zu entziehen, durchdrungen, sondern es fühlt zugleich den Impuls in sich, das bedrohte Recht zu vertheidigen, bez. das verletzte zu sühnen, da ja noch keine ausserhalb der Macht der Einzelnen liegende Gewalt dasselbe zu schützen berufen ist. Das Recht in seiner ursprünglichsten Form entsteht und lebt nur im Geiste der Bevölkerung, aber auch seine Verwirklichung ist ausschliesslich Sache dieser letztern; es findet seinen thatsächlichen Ausdruck in der „Selbsthilfe“ und in der „Volksjustiz“, seine Befestigung in der Tradition und in der Gewohnheit gleichmässigen Handelns. Je unentwickelter ein Volk, um so grösser die Macht der hier geschilderten Verhältnisse. Bei allen Völkern, deren Rechtsleben noch in der Kindheit ist, spielen die Selbsthilfe und die Volksjustiz eine hervorragende Rolle. Ja, selbst in Perioden höherer Entwickelung vermögen wir im Rechte [277] noch Spuren dieser ursprünglichsten Formen seines Schutzes zu erkennen.
Nur allmälig, durch gleiche äussere Schicksale, durch die Gemeinsamkeit der Geschichte, der Stammesverwandtschaft, der Sprache, der religiösen Empfindungen, nicht zum geringsten Theile aber auch durch die Gemeinsamkeit der Rechtsüberzeugungen (resp. der Rechtsregeln) und des auf ihre Verwirklichung gerichteten Handelns entsteht in dem Geiste der Bevölkerung die Idee einer engeren Zusammengehörigkeit, das Bewusstsein der Volksgemeinschaft und eine alle Volksglieder zu einer höheren Einheit zusammenfassende Organisation.
Erst von da an wird das Recht, welches bis dahin nur in dem Geiste der Einzelnen lebte und in der That kraft der Einzelnen (der Beth eiligten und ihrer Ueberzeugungsgenossen) seine Garantien fand, zu dem Ausdrucke des einheitlich organisirten Volkswillens und seine Verwirklichung zu einer Sache der zu einer organisirten Einheit gewordenen Bevölkerung eines Territoriums, des Staates.
Das Volksrecht in seiner ursprünglichsten Form ist solcherart allerdings nicht das Ergebniss eines Vertrags oder einer auf die Sicherung des Gemeinwohls hinzielenden Reflexion. Es ist aber auch nicht, wie die historische Schule behauptet, mit dem Volke zugleich gegeben; es ist vielmehr älter, als die Erscheinung dieses letztern, ja es ist eines der stärksten Bindemittel, durch welches die Bevölkerung eines Territoriums zu einem Volke wird und zu einer staatlichen Organisation gelangt.
Wenn“ die Idee der Gemeinschaft zum Bewusstsein der Bevölkerung gelangt, wenn diese sich allmälig Eins zu fühlen beginnt, dann erweitert sich auch der Kreis ihrer Interessen und damit jener der Rechtsregeln. Sie hören auf, das blosse Ergebniss der auf den Schutz des in dividuellen Interesses gerichteten Bestrebungen der Volksglieder zu sein: auch das gemeine Interesse oder das, was dafür gilt, tritt in den Ideenkreis der Bevölkerung und damit das Bewusstsein von der Nothwendigkeit, dasselbe gegen individuelle Willkür zu schützen. Zu dem Rechte, welches aus dem Streben der Einzelnen nach Sicherstellung ihrer individuellen Errungenschaften entsteht, tritt jenes, welches das Ergebniss der auf den Schutz des Gemeinwesens hinzielenden Bestrebungen ist. Aber auch dieses ist nicht nothwendig die Frucht [278] einer gemeinsamen Berathung, einer Uebereinkunft, eines Vertrages oder positiver Gesetzgebung, sondern von analogem Ursprunge wie das Volksrecht überhaupt.
Wie ein neues Licht mag den Menschen in den ersten Culturanfängen die Idee des Rechtes vor das Bewusstsein getreten sein, spätern Generationen aber, welche die ursprüngliche Bildung des Rechtes nicht an sich selbst erlebt, sondern dieses letztere, seinen Grundlagen nach, von den Vorfahren ererbt hatten, gleich der Eingebung einer höheren göttlichen Weisheit. Alle Völker haben denn auch die Idee des Rechtes schon in sehr frühen Epochen ihrer Entwickelung mit den erhabensten Ahnungen in Verbindung gebracht. Die Regeln des Rechtes sind zum Gegenstande des Volksglaubens, einer geheiligten, von Generation auf Generation sich vererbenden Tradition, und zu einem wichtigen Gegenstande der religiösen Erziehung geworden. Was in den Anfängen der Cultur jeder Einzelne an sich erlebt und selbst aus sich geschaffen, ist in der Meinung des Volkes solcherart allmälig zu einem Objectiven, zu einem über der Menschenweisheit und über dem Menscheninteresse stehenden Göttlichen geworden, und die allmälig erwachende Einsicht in die Gemeinnützigkeit des Rechtes hat diesen frommen Irrthum befestigt.
Der obige Process hat sich seiner Natur nach sicherlich nur allmälig, fast unbemerkt vollzogen, auch an sich den Inhalt des Rechtes kaum beeinflusst, das Wesen dieses letztern ist indess hierdurch keineswegs unberührt geblieben.
An die Stelle der lebendigen Einsicht in den Zusammenhang zwischen den Interessen der Volksglieder und dem Rechte, als dem Ergebnisse der Würdigung jener Interessen durch die Vdlksglieder, tritt allmälig das Recht als Gegenstand des Autoritätsglaubens – der Glaube an die Heiligkeit und den höhern Ursprung des Rechtes; es steht zum mindesten seiner Idee und seinen grundlegenden Bestimmungen nach vor dem Geiste der Bevölkerung nicht mehr als ein selbst Erlebtes, als der Ausdruck seiner Einsicht und seiner Ueberzeugung, als ein Subjectives, sondern als ein hiervon Unabhängiges, ihm äusserlich Gebotenes, ein Objectives.
Welchen speciellen Inhalt das Recht im concreten Falle annimmt, bevor die Gesetzgebung dasselbe zu gestalten beginnt, hängt von den besonderen Verhältnissen der Bevölkerung ab, aus deren Geiste dasselbe entspringt. In seiner ursprünglichen Gestalt [279] auf die Sicherung der wichtigsten und allgemeinsten individuellen Interessen der Volksglieder gerichtet, erweitert und vertieft sich dasselbe allmälig mit dem wachsenden Verkehr und der steigenden Einsicht der Einzelnen in ihre Interessen; es befestigt sich durch die Gewohnheit und wird erschüttert und schliesslich umgestaltet durch den Wandel jener Verhältnisse, denen es seinen Ursprung verdankt. Gewisse aus der allgemeinen menschlichen Natur resultirende und deshalb überall zu Tage tretende Verhältnisse rufen aller Orten dem Wesen nach ähnliche Rechtsinstitute hervor, während Stammesunterschiede, Verschiedenheiten der äusseren Verhältmisse und Ideenkreise auch Verschiedenheiten des Rechtes im Gefolge haben. Was einem Volke als Recht gilt, mag dem andern zum Theile als Unrecht erscheinen, und mit dem Wandel der Verhältnisse mag die gleiche Erscheinung auch bei dem nämlichen Volke in verschiedenen Epochen seiner Entwickelung zu Tage treten. Ueberall ist das Recht in den Fluss der Zeit und der menschlichen Verhältnisse gestellt und nur in Rücksicht auf diese hat es seine besondere Existenz. [154]
Das Recht kann indess, und zwar schon unter den ursprünglichsten Verhältnissen, auch auf eine andere, von der obigen wesentlich -verschiedene Weise entstehen: durch Autorität. Der Mächtigeoder geistig Ueberlegene vermag der Willkür der seinem Einfluss unterworfenen Schwachen oder geistig Inferioren, der Sieger den Besiegten gewisse Schranken vorzuschreiben, ihnen bestimmte Regeln ihres Handelns aufzuerlegen, welchen sie sich fügen müssen, ohne Rücksicht auf ihre freie Ueberzeugung: aus Furcht. Diese Regeln, so ähnlich sie sich in ihrer äusseren Erscheinung jenen des Volksrechtes darstellen, sind, ihrem Ursprunge sowohl, als den Garantien ihrer Verwirklichung nach, doch wesentlich von dem Rechte verschieden, welches aus den Ueberzeugungen der Bevölkerung erwächst und dessen Verwirklichung ursprünglich auch Sache des Volkes ist – ja sie können in directem Widerspruche [280] mit dem Volksrechte stehen: sie sind in Wahrheit kein Recht, sondern Gesetz. Aber der Starke hat ein Interesse daran, sie „Recht“ zu nennen, sie mit der Heiligkeit des Rechtes zu umkleiden, sie mit religiösen Traditionen zu verknüpfen, sie zum Gegenstande religiöser und ethischer Erziehung zu erheben, bis die Gewohnheit des Gehorsamens und der durch sie ausgebildete Sinn der Unterwürfigkeit in ihnen ein dem Recht Analoges erkennt, ja jene die Willkür des Einzelnen beschränkenden Regeln, welche aus den Ueberzeugungen des Volkes hervorgehen, und diejenigen, welche die Gewalt den Schwachen vorschreibt, kaum mehr unterscheidet. Haben diese letztern durch Generationen bestanden und sich in Epochen, wo urkundliche Geschichte noch nicht besteht, mit dem Volksrechte verschmolzen, so vermag selbst die Wissenschaft sie kaum mehr zu erkennen. Die Amalgamirung des Volksrechtes und der Gesetze der Gewalt geht aber um so leichter vor sich, je mehr das Volksrecht selbst zum Gegenstande eines Autoritätsglaubens geworden und von den auf der Einsicht in die eigenen Interessen beruhenden Ueberzeugungen, aus denen es ursprünglich hervorgegangen, nicht mehr getragen wird. Alle Institutionen, welche das Recht heiligen, auch die philosophischen Systeme, welche dasselbe „objectiviren“ oder als etwas „über der Menschenweisheit Stehendes“ darstellen, sind stets der Gewalt zu Gute gekommen. [155]
[281]
Das Recht ist ursprünglich aus der Ueberzeugung der Volksglieder oder durch Gewalt entstanden. Sobald mit den Fortschritten der Cultur die Verhältnisse eines Volkes und damit auch sein Recht einen so complicirten Charakter gewinnen, dass die Kenntniss dieses letztern nicht mehr die Sache aller Volksglieder sein kann, führt die Nothwendigkeit der Arbeitstheilung indess auch hier zu einer besonderen Menschenclasse, welche sich berufsmässig mit dem Studium, der Anwendung und der Fortbildung des Rechtes befasst, zum Juristenstande, während die fortschreitende staatliche Organisation das Recht zugleich immer mehr als den Ausdruck des einheitlich organisirten Gemeinwillens, seinen Schutz als Sache der Staatsgewalt erkennen lässt. In einzelnen Lebenskreisen oder dort, wo das Staatsgesetz eine Lücke lässt, mag das Recht immer noch in den ursprünglichen Formen sich fortbilden und von der Ueberzeugung gewisser Bevölkerungskreise getragenes [282] Gewohnheitsrecht, ja sogar neben dem Gesetze eine besondere demselben widersprechende Rechtsüberzeugung entstehen: im Grossen und Ganzen wird aber im Laufe der Culturentwickelung die Rechtsbildung, die Rechtssprechung und die Verwirklichung des Rechtes überhaupt Sache der Staatsgewalt und der Juristenstand – die Bedingung jeder universellen Erkenntniss und jeder höhern technischen Vervollkommnung des Rechtes und seiner Uebung – das Werkzeug, dessen diese letztere sich bedient.
Auch der hier angedeutete Process hat sich, wie selbstverständlich, nur allmälig und keinesfalls nothwendig im Gegensatz zu dem ursprünglichen Volksrechte vollzogen. Die Stäatsgewalt hat das Gewohnheitsrecht zumeist nicht beseitigt, sondern anerkannt und technisch vervollkommnet. Auch der Juristenstand mit seiner berufsmässigen Sachkunde ist nur allmälig in seine rechtbildende und rechtsprechende Function eingetreten. Wohl aber war hiermit die Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen den Rechtsüberzeugungen des Volkes, des Juristenstandes und dem Gesetze gegeben.
Hierbei hat sich bei genauerer Untersuchung das Volksrecht keineswegs in allen Stücken als das inferiore erwiesen. Es mochte im Einzelnen Lücken, Widersprüche, Ungenauigkeiten und technische Mängel anderer Art aufweisen, im Ganzen nicht immer den jeweiligen Auffassungen der Machthaber von den Zwecken des Staates und seiner Rechtsordnung entsprechen; es mochte vor Allem der Beweglichkeit staatlicher und socialer Verhältnisse nicht rasch genug folgen. Alle diese Gebrechen mussten, sobald ein besonderer Stand sich mit dem Studium des Rechtes berufsmässig zu beschäftigen begann, demselben alsbald zum Bewusstsein gelangen und zwar in um so höherem Masse, je mehr durch das Studium fremder ausgebildeter Rechte der Blick der Juristen für die obigen Gebrechen geschärft worden war. Auch inhaltlich mochte das ohne Reflexion in Rücksicht auf das Gemeinwohl aus den individuellsten Lebensverhältnissen organisch entstandene Volksrecht einer Prüfung seiner Zweckmässigkeit in Rücksicht auf den gemeinen Nutzen keineswegs immer gewachsen sein.
Der Juristenstand hat denn auch, zumeist im Dienste der Staatsgewalt, überall eine tiefgehende Reform der Volksrechte vollzogen, allerdings nicht ohne in einzelne aus der Natur der Sache hervorgehende Irrthümer zu verfallen.
[283]
Das Volksrecht war aus den Bedürfnissen und Ueberzeugungen, tief aus der Eigenart der Bevölkerung entstanden und hatte durch Jahrhunderte andauernde Uebung die den concreten Verhältnissen entsprechende Gestalt gewonnen. Es lebte als das Ergebniss uralter erprobter Volksweisheit im Herzen der Bevölkerung, welche instinctiv an demselben festhielt, selbst dort, wo sie die Einsicht in den Zusammenhang zwischen den Rechtsregeln und den besonderen Verhältnissen, aus denen sie hervorgegangen waren, bereits längst verloren hatte; es war ein guter Theil vom Volke selbst nur noch empfundener, aber demselben nicht mehr klar bewusster Weisheit in dem Volksrechte.
Dieses wichtige Moment hat der gelehrte Juristenstand durch Jahrhunderte lang verkannt, und zwar um so vollständiger, je mehr er, dem Studium des eigenen Volksthums entfremdet, sich einseitig in den Ideenkreisen fremder ausgebildeter Rechte und abstracter Rechtstheorien bewegte. Ihm fehlte nicht nur das Verständniss, sondern auch die Empfindung der unreflectirten Weisheit im Volksrechte.
Diejenigen, welche in dem Staate und den staatlichen, in der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Institutionen lediglich das Resultat zweckbewusster Thätigkeit der Bewohner eines Territoriums bezw. der Machthaber derselben erkannten, waren selbstverständlich seit jeher geneigt, alle auf organischem Wege entstandenen oder durch organische Potenzen beeinflussten socialen Institutionen, soweit sie dieselben in ihrer Bedeutung für die Erhaltung und Entwickelung der Gesellschaft nicht verstanden, unter dem Gesichtspunkte von Missbräuchen und gesellschaftlichen Uebelständen betrachten und die Reform derselben im Sinne einer Politik anzustreben, welche nicht selten um so gewaltthätiger auftrat, je mangelhafter die ihr zu Grunde liegende Einsicht war. Die „unverstandene Weisheit“ in den auf organischem Wege entstandenen socialen Institutionen (nicht ganz unähnlich jener „Zweckmässigkeit“, welche in den natürlichen Organismen vor das bewundernde Auge des sachkundigen Naturforschers tritt, aber vom Stümper leicht verkannt wird !) wurde von den Vertretern der obigen Richtung überhaupt übersehen, und die Frucht hiervon auf dem Gebiete der praktischen Politik war eine unreife Kritik bestehender socialer Institutionen, an welche sich nicht minder unreife Reformbestrebungen schlossen.
[284]
Theoretische Einseitigkeit und missverständliche Neuerungsvsucht haben solcher Art oft genug selbst dort das Recht eines Volkes verdorben, wo diejenigen, welche die reformirende Hand an dasselbe legten, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln glaubten. Nun aber gar dort, wo die Machthaber und die Juristen sich die Hand reichten, um an die Stelle des aus dem Volke und für das Volk hervorgegangenen Gewohnheitsrechtes ein solches zu setzen, welches den Interessen der Gewalthaber dienen sollte!
Es war ein unleugbares Verdienst der historischen Juristenschule, jene unreifen und übereilten Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Gesetzgebung eingedämmt und auf den organischen Ursprung des Gewohnheitsrechtes und die unreflectirte Weisheit in demselben wieder hingewiesen zu haben, ein Verdienst, welches sich würdig jenem anreiht, welches die nämliche Schule durch umfassende Forschungen auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte und durch Vertiefung des specifisch historischen Verständnisses unseres Rechtes sich erworben hat.
Was der obigen Schule dagegen zum Vorwurfe gemacht werden kann, ist eine Reihe von Irrthümern und Unterlassungen, auf die hier in Kürze hinzuweisen, von uns nicht umgangen werden kann.
Die historische Juristenschule hat allerdings den „organischen Ursprung“ des Gewohnheitsrechtes, seine „Urwüchsigkeit“ und „Ursprünglichkeit“, sein Entstehen im Volksgeiste u. s. f. betont; sie ist indess hierbei stehen geblieben, als ob durch die obigen theils bildlichen, theils nichtssagenden Redewendungen das Problem vom Ursprunge des Gewohnheitsrechtes irgendwie gelöst werden würde; sie hat es unterlassen, uns die Natur und den Verlauf jenes Processes zum theoretischen Verständnisse zu bringen, dessen Ergebniss das Gewohnheitsrecht ist.
Auch mit dem blossen Hinweise auf die „höhere Weisheit“ des in unreflectirter Weise entstandenen Gewohnheitsrechtes war nur sehr wenig gewonnen, ja zum Theil geradezu ein neuer Irrthum in den Kreis wissenschaftlicher Betrachtung gezogen worden. Der Sinn dieses Satzes kann vernünftiger Weise doch nur der sein, dass das Gewohnheitsrecht, trotzdem es sich nicht als das Ergebniss des in bewusster Weise auf das Gemeinwohl hinzielenden Gesellschaftswillens darstellt, nichtsdestoweniger dieses letztere in höherem Masse fördere, als eine entsprechende positive Gesetzgebung [285] dies vermöchte. Diese Behauptung ist indess in jeder denkbaren Auffassung irrthümlich; denn auch das Gewohnheitsrecht hat sich oft genug dem Gemeinwohl abträglich erwiesen, die Gesetzgebung dagegen eben so oft das Gewohnheitsrecht in einer dem Gemeinwohl förderlichen Weise umgestaltet: die obige Theorie widerspricht der Erfahrung.
Wenn dieselbe nichtsdestoweniger in den methodischen Schriften der historischen Juristenschule, wie selbstverständlich mit allen erdenklichen Vorbehalten, immer wiederkehrt, so liegt die Ursache hiervon in der Unklarheit, welche über das Wesen des „organischen Processes“ besteht, als dessen Ergebniss das Gewohnheitsrecht bezeichnet wird. Die natürlichen Organismen weisen allerdings eine ganz unvergleichliche Zweckmässigkeit auf, eine solche, welche mit Recht die Bewunderung des sachkundigen Forschers erregt. Was ist indess damit für das Gewohnheitsrecht und seine Zweckmässigkeit in Rücksicht auf die Förderung menschlicher Wohlfahrt erwiesen ? Das Gewohnheitsrecht kann vor Allem doch nur im figürlichen Sinne als ein „organisches Gebilde“ bezeichnet werden, und was von den natürlichen Organismen gilt, vermag deshalb nicht schlechthin auf das erstere übertragen zu werden, so weniger, als ja das Gewohnheitsrecht zwar nicht das reflectirte Ergebniss des auf das Gemeinwohl hinzielenden Gemeinwillens, wohl aber, wie wir sahen, ein Ergebniss individueller menschlicher Bestrebungen ist und solcher Art in gar keinem directen Gegensatze zur Menschenweisheit steht. [156]
Wäre aber das obige Bild selbst ein streng zutreffendes, wäre das Gewohnheitsrecht thatsächlich ein den natürlichen Organismen durchaus analoges Gebilde, würde hieraus folgen, dass die Gesetzgebung sich jedes, oder auch nur irgend eines durch die Sachlage gebotenen Eingriffes in die Entwickelung dieses Organismus zu enthalten habe?
Ein Staatsmann, welcher sich aus dem Grunde, weil das Recht wirklich oder vermeintlicher Weise “organischen“ Ursprungs ist, scheuen würde, dasselbe im Hinblick auf das Gemeinwohl umzugestalten, wäre einem Landwirthe, einem Technologen, einem Arzte vergleichbar, welcher aus Verehrung vor der hohen Weisheit, welche [286] sich in der Natur kundgiebt, auf jeden Eingriff in den Verlauf der natürlichen organischen Processe verzichten würde. Und giebt es nicht sogar absolut schädliche Organismen ?
Die Theorie von der „höhern Weisheit“ des Gewohnheitsrechtes widerspricht somit nicht nur der Erfahrung, sondern sie wurzelt zugleich in einer unklaren Empfindung, in einem Missverständnisse, sie ist die bis zur Unkenntlichkeit gesteigerte Uebertreibung des wahren Satzes, dass die positive Gesetzgebung bisweilen die unreflectirte Weisheit im Gewohnheitsrechte nicht begriffen, und indem sie dieses letztere im Sinne des Gemeinwohles umzugestalten suchte, nicht selten den entgegengesetzten Erfolg herbeigeführt hat.
Wäre die historische Juristenschule nicht bei der Phrase von der organischen Natur und der höhern Weisheit des Gewohnheitsrechtes stehen geblieben, wäre sie tiefer auf den Grund der hier in Rede stehenden thatsächlichen Verhältnisse gegangen, so könnte sie über ihre Stellung zu dem obigen Probleme keinen Moment in Zweifel sein. Erweisen sich die Regeln und Institutionen des GeWohnheitsrechtes in Rücksicht auf das Gemeinwohl nicht selten als höchst zweckmässig, so war es die Aufgabe der Wissenschaft, uns diesen Vorzug zum Verständniss zu bringen. Jene Zweckmässigkeit des Gewohnheitsrechtes, welche das unreflectirte Ergebniss eines „organischen Processes“ ist, musste zum Bewusstsein der Juristen und der Gesetzgeber gelangen, um die so gewonnene neue Einsicht für die positive Gesetzgebung nutzbar zu machen. Haben einzelne Zeitalter den eigenthümlichen Werth des Gewohnheitsrechtes verkannt und durch unreife oder übereilte Reformen das Recht, anstatt dasselbe zu verbessern, verunstaltet, so war es die Pflicht der historischen Juristenschule, einem ähnlichen Vorgange für die Zukunft vorzubeugen, – nicht indem sie die höhere Weisheit des Gewohnheitsrechtes proclamirte, sondern indem sie die obige Einsicht in der Legislation zu verwerthen lehrte. Die Frucht der obigen Anschauung durfte nicht der, wenn auch noch so verclausulirte principielle Verzicht auf die positive Rechtsbildung, sie musste die Läuterung dieser letztern durch die aus der denkenden Betrachtung des Gewohnheitsrechtes gewonnene neue Einsicht sein. Wie der Landwirth, der Technologe, der Arzt die Natur und die Gesetze ihrer Bewegung erforschen, um auf Grundlage der so gewonnenen Einsicht die Dinge nach ihren Zwecken zu gestalten: so musste auch die historische Juristenschule uns die bisher unbegriffenen Vorzüge des Gewohnheitsrechtes zum Verständnisse [287] bringen, um durch die so erweiterte Erkenntniss dem Gesetzgeber eine neue Handhabe bei Ausübung seines hohen Berufs zu gewähren. Niemals aber, und dies ist der principielle Gesichtspunkt in der obigen Frage, darf die Wissenschaft darauf verzichten, auch solche Institutionen, welche auf „organischem Wege“ entstanden sind, in Rücksicht auf ihre Zweckmässigkeit zu prüfen und dieselben, wenn eine sorgfältige Untersuchung dies erfordert, nach Massgabe der wissenschaftlichen Einsicht und der vorhandenen praktischen Erfahrungen umzugestalten und zu verbessern. Kein Zeitalter darf auf den „Beruf“ hierzu verzichten.
[288]
Verschieden von der „historischen Richtung“ und doch eng verknüpft mit der Methodik derselben ist die sog. „ethische Richtung unserer Wissenschaft, als deren Hauptvertreter in der deutschen Nationalökonomie C. W. Ch. Schütz, B. Hildebrand, K. Dietzel, der Ungar J. Kautz u. s. f., als deren Anhänger jedoch die Mehrzahl der historischen Volkswirthe Deutschlands bezeichnet werden können.
Dass dieselbe in Rücksicht auf den theoretischen Theil der „Politischen Oekonomie“ ein methodisches Missverständniss, eine Verkennung des wahren Wesens der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft und ihrer speciellen Aufgaben bedeute, haben wir bereits im ersten Buche in principieller Weise ausgeführt. [157]Was wir hier noch besonders hervorheben möchten, ist der Umstand, dass yon einer ethischen Richtung der theoretischen Nationalökonomie weder in Rücksicht auf die exacte, noch auch auf die empirisch-realistische Richtung der theoretischen Forschung vernünftigerweise die Rede sein könne.
Exacte Theorien haben grundsätzlich die Aufgabe, uns einzelne Seiten der realen Welt, die exacte Nationalökonomie, die wirthschaftliche Seite des Volkslebens zum theoretischen Verständnisse zu bringen. [158]Eine „ ethische Richtung der exacten [289] Nationalökonomie“ kann demnach keineswegs etwa den Sinn haben, uns zugleich das exacte Verständniss der ethischen und der wirthschaftlichen Seite des Volkslebens eröffnen , also die Aufgaben der Ethik und Oekonomik mit einander vereinigen zu wollen. Die Forderung einer ethischen Richtung der exacten Volkswirthschaftslehre könnte nur besagen, dass diese letztere uns nicht schlechthin die ökonomischen, sondern die von ethischen Tendenzen beeinflussten, oder aber gar nur die den Ansprüchen der Ethik conformen wirthschaftlichen Erscheinungen zum exacten Verständniss zu bringen habe ein Postulat der Forschung, welches indess, wie kaum bemerkt zu werden braucht, dem Wesen der obigen Richtung der theoretischen Forschung schlechterdings widerspricht. [159]
Eben so unangemessen ist die Idee einer ethischen Richtung der empirisch-realistischen Theorie der Volkswirthschaft. In dieser ist nämlich die Berücksichtigung der ethischen Einflüsse auf die Volkswirthschaft, so weit dieselben in den Erscheinungen der letzteren real sind, durch die Natur des bezüglichen Erkenntnissstrebens von selbst gegeben, ja geradezu unausweichlich. Es ist [290] unmöglich, auf realistisch-empirischem Wege zu Gesetzen der volkswirthschaftlichen Erscheinungen zu gelangen, ohne dass hierbei die allfälligen ethischen Einflüsse auf diese letzteren Berücksichtigung fänden (vgl. S. 69 ff.), und es ist somit nicht abzusehen, was für eine Aufgabe eine ethische Richtung der empirisch - realistischen Volkswirthschaftslehre eigentlich haben solle?
Die Idee einer „ethischen Richtung“ ist in Rücksicht auf den theoretischen Theil unserer Wissenschaft ein dunkles, jedes tieferen Gehaltes entbehrendes Postulat der Forschung.
Eine ähnliche Unklarheit liegt der sog. „ethischen Richtung“ in Rücksicht auf die praktischen Wirthschaftswissenschaften zu Grunde. Sicherlich steht Jedermann auch in seiner wirthschaftlichen Thätigkeit, welcher Art immer dieselbe gedacht werden mag, unter dem Moralgesetze, und auch der Forscher auf dem Gebiete der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft wird sich dem Einflusse dieser Thatsache somit nicht entschlagen können. Auch die Grundsätze für das wirthschaftliche Handeln der Menschen, wie sie die praktischen Wirthschaftswissenschaften entwickeln, werden sich innerhalb der durch Recht und Sitte gebotenen Schranken zu bewegen haben.
Dies ist indess eine Eigenschaft aller, wie immer gearteter praktischer Wissenschaften, auch eine solche der Politik, der Pädagogik, der Therapie, der Kriegskunst, ja selbst der Technologie. Würde die „ethische Richtung“ in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft in dem obigen Sinne aufgefasst, dann gäbe es keine praktischen Wissenschaften von anderer als ethischer Richtung, denn alle Bestrebungen der Menschen, nicht nur die wirthschaftlichen, stehen unter dem Moralgesetze.
Nur praktische Wirthschaftswissenschaften, in welchen über die oben gekennzeichneten Grenzen hinaus ethische Rücksichten grundsätzlich als massgebend für die wirthschaftliche Thätigkeit der Menschen anerkannt, praktische Wirthschaftswissenschaften, in welchen die ökonomischen Rücksichten jenen der Moral grundsätzlich untergeordnet werden würden – nur solche Wissenschaften könnten auf die obige Bezeichnung Anspruch erheben. Darstellungen dieser Art wären indess in Wahrheit keine „praktischen Wirthschaftswissenschaften“, sondern moralische Schriften über die menschliche Wirthschaft.
Die sog. „ethische Richtung“ der Politischen Oekonomie ist demnach sowohl in Rücksicht auf die theoretischen als auch auf die [291] praktischen Aufgaben der letzteren ein dunkles, jedes tieferen Sinnes entbehrendes Postulat, eine Verirrung der Forschung, und wir vermögen uns wohl eine berechtigte Richtung des Erkenntnissstrebens zu denken, welche das Verhältniss zwischen dem Rechte, der Moral u. s. f. einerseits und der Wirthschaft andererseits, bezw. zwischen der Etbik und der Oekonomik feststellt eine ethische Richtung der Oekonomik ist indess ein Gedanke, der keine höhere Berechtigung, als etwa jener einer ökonomischen Richtung der Ethik, aufweist.
In Wahrheit wurzelt der obige Gedanke einerseits in der Verkennung der Natur und der eigenthümlichen Aufgaben der theoretischen und der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, andererseits aber in der Unterschätzung der wirthschaftlichen Seite des Volkslebens, im Verhältnisse zu anderen für höher erachteten, und in dem hieraus resultirenden Streben eines Theiles unserer Volkswirthe, das von ihnen gering geachtete Object der Untersuchung durch eine „ethische Richtung der Forschung zu adeln, als ob die Würde einer Wissenschaft in ihrem Objecte und die Würde derjenigen, welche sie pflegen, in der Natur dieses letzteren und nicht vielmehr in der Wichtigkeit, der Tiefe und Originalität der Ergebnisse ihrer Untersuchung beruhen würde ! Das Streben nach einer ethischen Richtung unserer Wissenschaft ist zum Theil ein Ueberrest antiker und, in einem gewissen anderen Sinne, ein solcher mittelalterlich-ascetischer Weltanschauung, zum guten Theil ist es jedoch eine klägliche Krücke wissenschaftlicher Unzulänglichkeit, ähnlich wie ihrerzeit die ethische Richtung der Geschichtsschreibung. Es ist ein nahezu typisches Merkmal jener, welche für die Lösung der Probleme ihrer Wissenschaft unzureichende Kräfte aufweisen, durch Heranziehung der Ergebnisse anderer Wissenschaften und mechanische Verwerthung derselben zu befriedigenden Lösungen auf dem eigenen Gebiete der Forschung gelangen zu wollen.
S. 4, Z. 8 v. 0. lies: wegen der Wichtigkeit (st. um).
S. 26, Z. 7 v. u. ist nach dem Worte „Zusammenhanges“ ein Beistrich zu setzen.
S. 86, Z. 12 v. 0. lies: consumirendes (st. concurrirendes).
S. 87, Z. 6 v. 0. lies: solches (st. solchen).
S. 106, Z. 16 v. u. lies: derselben (st. desselben).
S. 133, Z. 6 v. u. lies: volkswirthschaftliche Massregeln.
S. 206, Z. 13 v. 11. lies: Es sei nichts etc.
S. 238, Z. 8 v. 11. lies: kann demnach an drei etc.
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
[1] Wir gebrauchen an dieser Stelle den Ausdruck individuella lediglich, um den Gegensatz zu dem „Generellen“, zwischen den concreten Erscheinungen und den Erscheinungsformen zu bezeichnen. Die Ausdrücke „concret“ und „abstract“ wurden von uns hier absichtlich vermieden, weil sie mehrdeutig sind und den obigen Gegensatz überdies nicht genau kennzeichnen.
[2] Siehe Anhang I: Ueber das Wesen der VolkswirthSchaft.
[3] Das „Individuelle“ ist keineswegs mit dem „Singulären“, oder was das nämliche ist, die Individualerscheinungen sind keineswegs mit den Singularerscheinungen zu verwechseln. Der Gegensatz des „Individuellen“ ist nämlich das „Generelle“, während der Gegensatz einer „ Singularerscheinung“ die „Collectiverscheinung“ ist. Ein bestimmtes Volk, ein bestimmter Staat, eine concrete Volkswirthschaft, eine Genossenschaft, eine Gemeinde u. s. f. sind beispielsweise Individual-, indess keineswegs Singularerscheinungen (sondern Collectiv-Phänomene), während die Erscheinungsformen des Gutes, des Gebrauchswerthes, des Unternehmers u. s. f. wohl generelle, indess keine Collectiverscheinungen sind. Dass die historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft die indi. viduellen Phänomene dieser letzteren darstellen, schliesst demnach keineswegs aus, dass sie dieselben unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung uns zum Bewusstsein bringen. Immer ist jedoch der Gegensatz zwischen der Erforschung und Darstellung des Individuellen und Generellen der Menschheitserscheinungen das, was die historischen von den theoretischen Socialwissenschaften unterscheidet.
[4] Die theoretische Volkswirthschaftslehre hat das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der volkswirthschaftlichen Erscheinungen zu erforschen, nicht etwa die volkswirthschaftlichen Begriffe zu analysiren und die aus dieser Analyse sich ergebenden Consequenzen zu ziehen. Die Erscheinungen, beziehungsweise bestimmte Seiten derselben, und nicht ihr sprachliches Abbild, die Begriffe, sind das Objekt der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Die Analyse der Begriffe mag im einzelnen Falle eine gewisse Bedeutung für die Darstellung der theoretischen Erkenntnisse von der Volkswirthschaft haben, das Ziel der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie kann indess immer nur die Feststellung des generellen Wesens und des generellen Zusammenhanges der volkswirthschaftlichen Erscheinungen sein. Es ist ein Zeichen des geringen Verständnisses, welches namentlich einzelne Vertreter der historischen Schule für die Ziele der theoretischen Forschung haben, wenn sie in Untersuchungen über das Wesen des Gutes, über das Wesen der Wirthschaft, das Wesen des Werthes, des Preises u. dergl. m. nur Begriffsanalysen, und in dem Streben nach einer exacten Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen „die Aufstellung eines Systems von Begriffen und Urtheilen“ sehen (vgl. insbes. Roscher’s Thukydides S. 27). In einen ähnlichen Irrthum verfällt eine Reihe französischer Nationalökonomen, welche, in missverständlicher Auffassung der Begriffe „Theorie“ und „System“, unter diesen letzteren lediglich aus apriorischen Axiomen auf deductivem Wege gewonnene Sätze, beziehungsweise Lehrgebäude von solchen, verstehen (vgl. insbes. J. B. Say, Cours 1852 I, p. 14 ff. Noch J. Garnier sagt: C'est dans le sens de doctrine erronnée qu'on prend le mot “Systeme“ en économie politique. Traité d'Econ. Pol. 1868, S. 648).
[5] Vgl. unten Anhang II: Ueber den Begriff der theoretischen Nationalökonomie und das Wesen ihrer Gesetze.
[6] Knies praecisirt (Pol. Oek. 1853, S. 3 ff.) die Aufgabe der Wirthschaftsgeschichte in folgender Weise: „Sie hat nicht nur die geschichtliche Entwickelung der nationalökonomischen Theorie, die Intentionen und die Praxis der allgemeinen Staatsgewalten für die Gewinnung ihres Bedarfes an sachlichen Gütern und zur Förderung der wirthschaftlichen Volksinteressen, sondern auch die ökonomischen Zustände und Entwickelungen in dem wirklichen Leben der verschiedenen Nationen und Zeiten zu erfassen und darzustellen.“ Uns scheint die Aufgabe der wissenschaftlichen Wirthschaftsgeschichte eine dreifache zu sein: 1. die Erforschung der Quellen der Wirthschaftsgeschichte, 2. die äussere und innere Kritik dieser Quellen, 3. die Darstellung der Entwickelung jener Collectivphänomene, welche wir „Volkswirthschaft“ nennen, auf Grund des so gewonnenen historischen Materials. Je umfassender das Studium der Quellen, je sorgfältiger und methodischer die Kritik derselben und je grösser die Kunst der Darstellung, in um so höherem Masse wird es dem Geschichtsschreiber gelingen, uns ein einheitliches, den realen Verhältnissen adäquates Bild der Wirthschaftsgeschichte der einzelnen Völker, bestimmter Völkergruppen, oder aber der Menschheit zu bieten. Unwissenschaftlich scheint uns dagegen der Vorgang jener zu sein, welche die Wirthschaftsgeschichte der Völker, ohne auf die Quellen zurückzugehen und, ohne eine zum mindesten nachprüfende Kritik derselben zu üben, lediglich aus zusammengelesenen Notizen compiliren, unwissenschaftlich insbesondere auch der Vorgang jener, welche ein mehr oder minder äusserlich angeordnetes historisches Material, aber kein einheitliches Bild der volkswirthschaftlichen Entwickelungen darbieten und dergleichen Sammlungen mehr oder minder unkritischer Notizen als Geschichte bezeichnen.
[7] Die Statistik, als historische Wissenschaft, hat die nämlichen Aufgaben wie die Geschichte, jedoch nicht rücksichtlich der Entwickelung, sondern des Zustandes der Gesellschaften zu lösen. Unkritische Compilationen, oder bloss äusserliche, der höheren Einheit entbehrende Anordnungen von statistischem Material, fallen nicht in das Bereich wissenschaftlicher Darstellung. Die Definition der historischen Statistik als „ruhende Geschichte“, als „Durchschnitt der geschichtlichen Entwickelung“, als „Darstellung der Gesellschaft in einem bestimmten Zeitpunkte“ und dergl. Begriffsbestimmungen mehr, gestatten mannigfache Missdeutungen des wahren Wesens der obigen Wissenschaft. Die historische Statistik hat uns nicht das äussere Bild der Gesellschaft in einem bestimmten Zeitpunkte, welches je nach der Wahl dieses letzteren ja ein höchst verschiedenes und in Rücksicht auf die Totalität des Volkslebens ein höchst unvollständiges sein müsste, sondern die Darstellung aller (auch der in einem bestimmten Momente latenten) Faktoren des Gesellschaftslebens zu bieten, aus welchen die Bewegung der Gesellschaft resultirt, während die Geschichte diese Bewegung selbst zu schildern hat. Zu unterscheiden von der Statistik, als historische Wissenschaft, sind die durch Massenbeobachtung gewonnenen Statistiken, welche gegenüber der historischen Statistik ebensowohl, wie gegenüber der theoretischen Statistik, sich als blosses wissenschaftliches Material darstellen. So wenig zu Tage geförderte historische Quellen und selbst kritisch festgestellte bistorische Thatsachen an sich „Geschichte“ sind, so wenig können auch blosse Statistiken als „Statistik“ bezeichnet werden. Auch die Methode zur Gewinnung von Statistiken muss, wie eigentlich selbstverständlich sein sollte, von der wissenschaftlichen Darstellung der Ergebnisse derselben unterschieden werden. Die „Statistik als Wissenschaft" kann nie eine blosse Metbode sein. Was gemeiniglich „Theorie der Statistik“ genannt wird, ist seinem Wesen nach zumeist Methodik (sogen. Erkenntnisstheorie!) dieser Wissenschaft. Correcter Weise sollten nur die Ergebnisse einer in Wahrheit theoretischen Betrachtung des statistischen Materials, die aus der Erforschung dieses letzteren sich ergebenden Gesetze der Coexistenz und der Aufeinanderfolge der socialen Phänomene als theoretisch-statistische Erkenntnisse und die Gesammtheit derselben als theoretische Statistik bezeichnet werden. Gesetze der grossen Zahlen“ bilden den wichtigsten Bestandtheil, keineswegs aber den ausschliesslichen Inhalt der theoretischen Statistik.
[8] Vgl. Anhang III: Ueber das Verhältniss der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zur Praxis auf dem Gebiete dieser letzteren und zur theoretischen Volkswirthschaftslehre.
[9] Als derjenige, welcher den Ausdruck Politische Oekonomie (Economie politique) zuerst gebraucht hat, wird Mont chrétien Sieur de Vateville genannt, welcher im Jahre 1615 seinen „Traicté de l'économie politique“ in Rouen bei Jean Osmont erscheinen liess. Der obige zu so grosser Verbreitung gelangte Ausdruck findet sich indess nur auf dem Titel des Werkes, weder im königlichen Privileg, wo dasselbe als „Traicté économique du profit“ bezeichnet wird, noch auch irgendwo im Texte, scheint demnach das Ergebniss einer momentanen Inspiration des Verfassers, vielleicht auch nach der Drucklegung des Textes einer zeitgenössischen Schrift entlehnt worden zu sein. Das Werk, welches in drei Bücher, über die Gewerbe, den Handel und die Schifffahrt, zerfällt, ist der Hauptsache nach praktische Wirthschaftslehre (vgl. J. Garnier, Journal des Economistes, Heft Aug.-September 1852. Duval, Mémoire sur Antoine de Montchrétien, Paris 1868). Der Ausdruck Politische Oekonomie ist wohl bereits in der pseudaristotelischen Oekonomik, jedoch nur im Sinne der Wirthschaft einer Stadt angedeutet. Im mittelalterlichen Latein wird das Wort „politia“, häufiger noch „politica“ im Sinne von Regierungskunst angewandt (in den ältesten Glossaren werden die obigen Ausdrücke durch: „statordenunge, regiment eyner stat, kunst von der regierung der stat, ein kunst von stetten zu regieren“ übersetzt. „ Oeconomia“ hat im mittelalterlichen Latein zumeist die Bedeutung von praedium, villa rustica; „Oeconomus“ die Bedeutung von Verwalter, defensor, advocatus u. s. f. Die Verbindung der beiden obigen Ausdrücke habe ich bei alten Schriftstellern sonst nirgends vorgefunden, auch nicht bei den Kirchenvätern (vgl. Du Cange 1845 V, 333 ff. und IV, 696. Laur. Diefenbach, Glossarium Latino-german. 1857, p. 445). Die vor Montchrétien erschienenen Schriften handeln, durchweg im Anschluss an die Aristotelische Terminologie, von der Politik, oder von der Oekonomik, nicht aber von der Politischen Oekonomie.
[10] Vgl. Anhang IV: Ueber die Terminologie und Classification der Wirthschaftswissenschaften.
[11] Welche Verwirrung selbst über das obige elementarste Problem der nationalökonomischen Methodik herrscht, darüber vergl. noch W. Roscher, System der Volkswirthschaft I, § 26, wo die einfache Schilderung erstens der wirthschaftlichen Natur und Bedürfnisse des Volkes, zweitens der Gesetze und Anstalten, welche zur Befriedigung der letzteren bestimmt sind, und endlich des grösseren oder geringeren Erfolges, den sie gehabt haben, als Aufgabe der Theorie bezeichnet und die Ergebnisse dieser Richtung der Forschung „gleichsam als die Anatomie und Physiologie der Volkswirthschaft“ bezeichnet werden ! Dass übrigens auch bereits unter den Anhängern der historischen Schule sich eine Reaction gegen das obige, mehr noch in der Praxis als in der Theorie der Forschung hervortretende Missverständniss geltend macht, davon geben die neuesten Schriften Knies', Schmoller's, Held's und neuestens auch Scheel's (Vorrede zu Ingram's Die nothwendige Reform der Volkswirthschaftslehre, Jena 1879, S. VI) Zeugniss. Der Irrthum ist ähnlich jenem, welcher auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft die Rechtsgeschichte mit der historischen Jurisprudenz überhaupt identificirte.
[12] Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1815 I, S. 436.
[13] System des heutigen Römischen Rechtes, Berlin 1840, I, S. XV.
[14] Diejenigen, welche die historische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie mit jener auf dem Gebiete der Jurisprudenz in eine Parallele stellen und sich für berechtigt halten, die methodischen Gesichtspunkte der historischen Juristenschule schlechthin auf unsere Wissenschaft zu übertragen, übersehen dabei einen sehr wichtigen Umstand. Die historische Juristenschule anerkennt neben der Erforschung des Rechtes in seinen concreten Gestaltungen und in seiner geschichtlichen Entwickelung keine theoretische Wissenschaft vom Rechte im eigentlichen Verstande des Wortes. Der historischen Juristenschule ist die Jurisprudenz somit überhaupt eine historische Wissenschaft und ihr Ziel das historische Verständniss des Rechtes, neben welchem nur noch die Dogmatik ihr Recht behauptet. Auf dem Gebiete der Volkswirthschaft anerkennen dagegen selbst die fortgeschrittensten Vertreter der historischen Richtung eine Wissenschaft von dem generellen Wesen und den Gesetzen der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, eine Theorie der letzteren, und die historische Richtung der Forschung in der theoretischen Nationalökonomie kann somit nicht in der Negation des theoretischen Charakters dieser letzteren, in der ausschliesslichen Anerkennung der Geschichte der Volkswirthschaft, als Mittel für das Verständniss der Phänomene der Volkswirthschaft bestehen; ihre Eigenthümlichkeit kann vielmehr vernünftiger Weise nur in der Festhaltung des historischen Gesichtspunktes in der Theorie der Volkswirthschaft gesucht werden. Das, was die historische Juristenschule will, und das, was die Anhänger der historischen Methode in der Nationalökonomie, so lange der Charakter der letzteren als einer theoretischen Wissenschaft festgehalten wird, nothwendiger Weise anstreben müssen, unterscheidet sich somit wie Geschichte und Theorie oder vielmehr wie Geschichte und eine durch historische Studien geläuterte Theorie. Beide Schulen stehen, ihrer gemeinschaftlichen Devise zum Trotze, in einem tiefgehenden methodischen Gegensatze, und die mechanische Uebertragung der Postulate und Gesichtspunkte der Forschung aus der historischen Jurisprudenz in unsere Wissenschaft ist demnach ein Vorgang, dem, bei einiger Ueberlegung, kein methodisch gebildeter Forscher zuzustimmen vermag.
[15] Vgl. neuerdings insb. Bonamy Price, Practical Polit. Economy, London 1878. S. 1 ff.
[16] A. Smith, History of Astronomy. Ed. by Dugald Steward, Basil 1799. S. 28 ff.
[17] Siehe Anhang V: Dass auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen exacte Gesetze (sog. Naturgesetze) unter den nämlichen formalen Voraussetzungen erreichbar sind, wie auf jenem der Naturerscheinungen.
[18] Die in erkenntniss-theoretischen Untersuchungen gebräuchlichen Ausdrücke „ empirische Gesetze“ und „ Naturgesetze“ bezeichnen keineswegs in genauer Weise den Gegensatz zwischen den Ergebnissen der realistischen und der exacten Richtung der theoretischen Forschung. Auch auf dem Gebiete der Naturerscheinungen (z. B. auf jenem der organischen Welt, der Witterungsphänomene u. s. f.) führt die realistische Richtung der Forschung bloss zu „empirischen Gesetzen“, und es giebt demnach Naturgesetze (im eigentlichen Verstande dieses Wortes), welche nur „empirische Gesetze“, somit keine „Naturgesetze“ in dem obigen technischen Sinne des Wortes sind, während wir umgekehrt auch auf anderen Gebieten der Erscheinungswelt (nicht lediglich auf jenem der Naturerscheinungen) zu strengen Gesetzen, zu „Naturgesetzen“ zu gelangen vermögen, welche wieder nicht Naturgesetze (Gesetze der Naturerscheinungen) sind. Der hier in Rede stehende Gegensatz wird viel genauer durch die Ausdrücke „empirische“ und „ex a cte“ Gesetze der Erscheinungen ausgedrückt. Die Gesetze der theoretischen Nationalökonomie sind in Wahrheit niemals Naturgesetze im eigentlichen Verstande des Wortes, sie können vielmehr nur empirische oder exacte Gesetze der ethischen Welt sein.
Im engen Zusammenhange mit der obigen Terminologie steht eine andere, welche gleichfalls inkorrekt ist und bereits manches zur Verwirrung der erkenntniss-theoretischen Probleme unserer Wissenschaft beigetragen hat. Der Gegensatz zwischen den theoretischen Naturwissenschaften und den theoretischen Social wissenschaften ist lediglich ein solcher der Erscheinungen, welche dieselben unter dem theoretischen Gesichtspunkte erforschen, keineswegs aber ein Gegensatz der Methoden, indem auf beiden Gebieten der Erscheinungswelt, sowohl die realistische, als die exacte Richtung der theoretischen Forschung zulässig ist. Ein Gegensatz besteht nur zwischen der realistischen und der exacten Richtung der theoretischen Forschung, beziehungsweise zwischen den die Ergebnisse beider Richtungen umfassenden, den empirischen und den exacten theoretischen Wissenschaften. Es giebt Naturwissenschaften, welche keine exacten sind (z. B. die Physiologie, die Meteorologie u. s. f.), und umgekehrt exacte Wissenschaften, die keine Naturwissenschaften sind (z. B. die reine Nationalökonomie), und es ist demnach keine genaue Ausdrucksweise, wenn diese letztere eine „ Naturwissenschaft“ genannt wird: sie ist in Wahrheit eine exacte ethische Wissenschaft. – Eben so falsch ist es endlich, von der naturwissenschaftlichen Methode in den Socialwissenschaften überhaupt und der theoretischen Nationalökonomie insbesondere zu sprechen. Die Methode der letzteren kann entweder die empirische oder die exacte, niemals aber in Wahrheit eine „naturwissenschaftliche“ sein.
[19] Die Methode der exacten Forschung, die Rolle, welche das Experiment in derselben spielt, das über das Experiment und alle Erfahrung hinausgehende speculative Element derselben, insbesondere bei Formulirung der „exacten Gesetze“, ist kein Gegenstand unserer Darstellung in diesem Werke. Sie wird im Zusammenhange mit einer Kritik der Bacon'schen Induction eine gesonderte Darstellung an anderer Stelle finden.
[20] Siehe Anhang I.
[21] Vergleiche Meine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre 1871. S. VII ff.
[22] Siehe Anhang VI: Dass der Ausgangspunkt und der Ziel. punkt aller menschlichen Wirthschaft streng determinirt seien.
[23] Vgl. Meine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre I, S. 172 ff.
[24] C. Dietzel, Die Volkswirthschaft und ihr Verhältniss zu Gesellschaft und Staat. Frankfurt a. M. 1864. S. 52.
[25] C. Knies, Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode. Braunschweig 1853. S. 29 und 109 ff.
[26] Als eine nicht ganz glückliche Formulirung des obigen Grundgedankens muss es bezeichnet werden, wenn Schmoller (Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft. Jena 1875. S. 42 ff.) verlangt, dass die Wissenschaft der Nationalökonomie neben den „technisch-natürlichen" auch die „psychologischen und ethischen Ursachen“ „systematisch in ihrer Bedeutung für die Volkswirthschaft“ zu erforschen habe. Zwischen den beiden obigen Gruppen von Ursachen besteht nämlich kein strenger Gegensatz. Die menschlichen Bedürfnisse und das aus ihnen resultirende Streben nach Befriedigung derselben, jedenfalls die weitaus wichtigsten Faktoren der menschlichen Wissenschaft, sind z. B. sicherlich eben so wohl natürliche als psychologische Ursachen der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, und doch rechnet sie Schmoller, wie aus dem Zusammenhange seiner Darstellung hervorgeht, zu den natürlichen, oder wohl gar zu den „technisch-natürlichen“ und stellt sie solcherart in Gegensatz zu den psychologischen und ethischen Ursachen der Volkswirthschaft. Ein Gegensatz besteht in Wahrheit zwischen der specifisch wirthschaftlichen (der auf die Deckung ihres Güterbedarfes gerichteten) Tendenz und anderen, den nicht ökonomischen Bestrebungen der Menschen, aus deren Zusammenwirken das reale Volksleben und in diesem die Volkswirthschaft entsteht, welche demnach in ihrer realen Erscheinung keineswegs lediglich als das Ergebniss der ersteren Tendenz betrachtet werden darf. Diese an sich höchst einfache Beobachtung wird durch die Kategorien Schmoller's nicht vertieft, sondern verdunkelt.
[27] Fr. C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814. S. 11.
[28] Ebendaselbst S. 30.
[29] Die Sache ist so klar, dass der obige, nebenbei gesagt, sehr alte Irrthum selbst einem in methodischen Dingen sonst nicht eben massgebenden Autor wie J. B. Say auffallen musste. Derselbe schreibt: „Les phénomènes de la politique eux-mêmes n'arrivent point sans causes, et dans vaste champ d'observations de circonstances pareilles ammène aussi des résultats analogues. L'économie politique montre l'influence de plusieurs de ces causes; mais comme il en existe beaucoup d'autres toutes les sciences n'en feraient qu'une, si l'on ne pouvait cultiver une branche de nos connaissances sans cultiver toutes celles qui s'y rattachent; mais alors quel esprit pourrait embrasser une telle immensité! On doit donc, je crois, circonscrire les connaissances qui sont en particulier le domaine de l'économie politique“ (J. B. Say, Cours d'E. P. I, p. 5 ff. ed. 1852).
[30] Das obige der Natur der theoretischen Forschung so vollständig Widersprechende Postulat wurde thatsächlich von einigen extremen Vertretern der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie gestellt, indem dieselben, in vollständiger Verkennung des Wesens der theoretischen Forschung, bei Feststellung der (realistischen!) Gesetze der Volkswirthschaft stets das ganze Volksleben (warum nur dieses und nicht das ganze UniVersum, da ja auch hierin eine Abstraction liegt?) in Betracht zu ziehen Vorgeben, damit aber in letzter Consequenz dazu gelangten, von der theoretischen Forschung vollständig abzuirren und auf das Gebiet der Geschichtsschreibung zu gelangen.
[31] K. Knies, Die Politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode. 1853. S. 147.
[32] Vgl. Schmoller, Ueber einige Grundfragen. Jena 1875. S. 42.
[33] Siehe oben, S. 42.
[34] Fr. C. v. Savigny in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. Berlin 1815. I, S. 3 ff.
[35] Wie sehr die obige Lehrmeinung der von den deutschen Volkswirthen der historischen Schule selbst in der theoretischen Nationalökonomie mit Vorliebe festgehaltenen specifisch-historischen Betrachtungsweise entsprach, bedarf nach dem im vorhergehenden Abschnitte Gesagten kaum einer weiteren Bemerkung. Die Geschichte erfasst die Menschheitserscheinungen durchweg unter dem Gesichtspunkte der Collecti betrachtung, da sie nur in dieser Weise, nicht aber durch Zurückführung der Socialerscheinungen auf die Singularphänomene des Menschenlebens, ihrer specifischen Aufgabe in universeller Weise zu genügen vermag. Den vorwiegend historisch gebildeten deutschen Volkswirthen der geschichtlichen Richtung lag somit der Gedanke nahe, den gewohnten historischen Gesichtspunkt der Betrachtung auch in die theoretische Forschung zu übertragen. Auch die obige Meinung stellt sich uns solcherart als eine besondere Form jenes universelleren methodischen Irrthums der historischen Schule der deutschen Nationalökonomen dar, als eine jener mechanischen Uebertragungen specifisch historischer Gesichtspunkte in die theoretische Forschung, deren wir schon mehrfach gedacht haben und die zu bekämpfen eine der Hauptaufgaben dieser Schrift ist.
[36] Siehe Anhang I.
[37] Richtig hebt Knies (Pol. Oek. S. 35) hervor, dass die Festhaltung des historischen Standpunktes in der Volkswirthschaftspolitik häufig genug mit einer durchaus unhistorischen Behandlung der theoretischen Volkswirthschaftslehre Hand in Hand gehe: „Es beziehen sich“ – schreibt derselbe a. a. O. – „bei den meisten Schriftstellern die Zugeständnisse zu Gunsten der Grundsätze über die geschichtliche Entwickelung der Politischen Oekonomie und die Aussprüche gegen die absolute Geltung der volkswirthschaftlichen Theorien nur auf die Grundsätze der Volkswirthschaftspolitik und nicht auf die Nationalökonomie, d. h. also nicht auf den allgemeinen theoretischen Theil der Politischen Oekonomie.“
[38] Der Zustand der Volkswirthschaft, welcher im concreten Falle als Grundlage für die Darstellung der theoretischen Nationalökonomie gewählt werden muss, ist selbstverständlich nicht nothwendig für alle Zeiten und Völker der nämliche. Seine Wahl ist nicht eine Frage der Forschung, sondern eine solche der zweckmässigen Darstellung und somit durch zeitliche und örtliche Verhältnisse bedingt. Sehr richtig bemerkt schon Dahlmann (Politik. Leipzig 1847, I, S. 9): „Weil die Menschheit in jedem Zeitalter neue Zustände gebärt, so lässt sich kein Staat grundfest darstellen, ausser mit den Mitteln und unter den Bedingungen irgend eines Zeitalters, ausser gebunden an die Verhältnisse irgend einer un- mittelbaren Gegenwart. Daher drängt alle Behandlung von Staatssachen im Leben und in der Lehre zur Historie hin und durch sie auf eine Gegenwart, und weiter, weil keine neue Form des Lebens sich vernachlässigen lässt, auf unsere Gegenwart, unseren Welttheil, unser Volk.“
[39] Knies, Politische Oekonomie nach geschichtlicher Methode. 1853. S. 19 (1882. S. 24).
[40] Vgl. insbes. Roscher, Leben, Werke und Zeitalter des Thukydides. Göttingen 1842. S. VII.
[41] Die Volkswirthschaftslehre hat nicht nur das generelle Wesen jener Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft zu erforschen, welche, wie beispielsweise die Marktpreise, die Wechsel- und Effectencurse, die Geldwäbrung, die Banknoten, die Handelskrisen u. s. f. „volkswirthschaftlicher“ Natur sind, sondern auch das Wesen der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft, z. B. das Wesen der Bedürfnisse des Individuums, das Wesen der Güter, das Wesen des Tausches, ja selbst das Wesen solcher Erscheinungen, welche, weil sie durchaus subjectiver Natur sind, lediglich im Individuum zur Erscheinung gelangen, z. B. des Gebrauchswerthes in seiner subjectiven Erscheinung. Wie vermöchte sie da ausschliesslich aus der Geschichte zu schöpfen? Die Geschichte als ausschliessliche empirische Grundlage der Socialwissenschaften aufzufassen, ist ein in die Augen fallender Irrthum. In einen ähnlichen Irrthum sind bereits Saint-Simon und seine Schüler verfallen. Auch A. Comte hält die Socialwissenschaft wesentlich für ein Ergebniss von Verallgemeinerungen aus der Geschichte; doch fühlt er zum mindesten das Bedürfniss, diese letzteren durch Ableitung aus den Gesetzen der menschlichen Natur zu bewahrheiten. J. St. Mill anerkendt die Methode Comte's nur für einen Theil der socialwissenschaftlichen Probleme, während er rücksichtlich eines anderen Theiles derselben die Berechtigung der exacten (nach Mill der concret-deductiven) Methode zugiebt. „Speciell die Politische Oekonomie verdanke der letzteren ihre Entstehung und ihre Ausbildung“. Was an Mill's Untersuchungen uns als einseitig und fehlerhaft erscheint, ist das auch ihm mangelnde Verständniss für die Nothwendigkeit, in allen Fragen der Methodik die theoretische von der praktischen Volkswirthschaftslehre und die exacte von der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu trennen, ein Umstand, welcher bewirkt, dass auch er vielfach die methodischen Postulate der praktischen und der realistischen Richtung auf die Ergebnisse der exacter Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften überträgt. Auch unterscheidet Mill nicht genügend die einzelnen Zweige der realistischen Forschung auf dem Gebiete der theoretischen Socialwissenschaften (Mill, Logic B. IV, Ch. 9, § 3). Unter den deutschen Methodikern, welche die hier einschlägigen Fragen in sachkundiger Weise behandelt haben, ist in erster Reihe Rümelin zu nennen. Doch verleitet auch ihn seine zu enge Auffassung vom Wesen der socialen Gesetze und das ihm mangelnde Verständniss für die exacte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften, an die Ergebnisse specifisch - empirischer Richtungen der theoretischen Socialforschung den Massstab exacter Naturforschung zu legen (Reden und Aufsätze I, S. 1 ff. u. II, S. 118 ff.).
[42] Es gehört zu den auffälligsten Einseitigkeiten der geschichtsphilosophischen Richtung in der Politischen Oekonomie, dass die Vertreter derselben einerseits „Naturgesetze“ der Volkswirthschaft, ja zum Theil überhaupt „Gesetze der Volkswirthschaft“ läugnen, andererseits aber nicht nur Entwickelungsgesetze der Volkswirthschaft überhaupt anerkennen, sondern denselben bisweilen sogar den Charakter von „Naturgesetzen“ vindiciren. Das Studium der Geschichte lehrt jedem Unbefangenen, dass absolute Regelmässigkeiten in der Entwickelung geschichtlicher Thatsachen überhaupt und der volkswirthschaftlichen Phänomene insbesondere keineswegs zu beobachten sind, während jede gereiftere Erkenntnisstheorie sogar die Unmöglichkeit einer durchgängigen streng typischen Entwickelung von Erscheinungen so complicirter Natur, wie die Thatsachen der „Volkswirthschaft“ es sind, ausser jeden Zweifel stellt. Die sogen. Entwickelungsgesetze der Volkswirthschaft können demnach für sich durchaus keine grössere Strenge in Anspruch nehmen, als andere empirische Gesetze auf dem obigen Gebiete der Erscheinungswelt (vgl. hierzu insbes. Rümelin, Reden und Aufsätze II, S. 113 ff.; J. St. Mill, Logic B. VI, Ch. IX, § 5 Schluss und § 6).
[43] Als seltsam muss es bezeichnet werden, dass gerade eine Gelehrtenschule, die sich eine „historische“ nennt, ihre Hauptaufgabe in der Feststellung der obigen „Gesetze“ sucht. Welch' uuhistorischer Gedanke, die Wirthschaftsgeschichte aller Völker und Zeiten zu vergleicher --- nicht etwa um die Besonderheit der einzelnen Entwickelungen, sondern um die oft doch nur höchst unvollkommenen Parallelismen derselben zu constatiren! Welch' „unhistorischer Gedanke insbesondere, von der Besonderheit und dem inneren Zusammenhange der concreten volkswirthschaftlichen Entwick und Institutionen zu abstrahiren, um äusserliche Parallelismen der Entwickelung festzustellen!
[44] Mit dem vieldeutigen Ausdrucke „Geschichtsphilosophie“ werden nicht selten auch andere, von der oben dargestellten nicht unwesentlich verschiedene Richtungen der Forschung bezeichnet. Der Nachweis eines stetigen Fortschrittes des Menschengeschlechtes in seiner geschichtlichen Entwickelung (Perrault, Turgot, Leroux); der Nachweis, dass die Entwickelung des Menschengeschlechtes sich in bestimmten Epochen vollziehe (Condorcet); der Nachweis, dass die Geschichte die fortschreitende Realisirung der Freiheitsidee (Michelet), eine Erziehung des Menschengeschlechtes (Lessing), ein Fortschreiten zur Realisirung der Idee der Humanität (Herder) ist; dass die Geschichte der einzelnen Völker eine aufsteigende Linie, einen Höhepunkt und eine absteigende Linie der Entwickelung aufweise (Bodin, Vico); dass das Endziel aller Geschichte die Bildung eines Staates sei, in welchem Freiheit und Nothwendigkeit zur harmonischen Verbindung gelangen (Schelling); ja selbst der Nachweis, dass die französische Civilisation der Typus der menschlichen Civilisation überhaupt sei (Guizot): wurde bereits als Philosophie der Geschichte bezeichnet. Diese und zahllose andere Richtungen der geschichtsphilosophischen Forschung könnten in irgend einer Form auch auf die Volkswirthschaft übertragen werden, und wir würden solcherart neben jener Wissenschaft von den „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“, welche unsere deutschen Volkswirthe der historischen Richtung ausschliesslich als „Philosophie der Wirthschaftsgeschichte“ bezeichnen, zahlreiche andere „Philosophien der Wirthschaftsgeschichte“ erhalten. Es ist indess klar, dass selbst alle obigen Richtungen der Forschung zusammengenommen mit der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Wirthschaftserscheinungen nicht gleichbedeutend wären. Selbst wenn die Philosophie der Wirthschaftsgeschichte in dem weitesten Sinne des Wortes verstanden wird, erscheint die Identificirung derselben mit der theoretischen Nationalökonomie immer noch als eine ungeheuerliche Einseitigkeit.
[45] Dabei mag noch unentschieden bleiben, ob jener_Absolutismus der Lösungen auf dem Gebiete der Volkswirthschaftspolitik, welchem wir bei einzelnen Schriftstellern begegnen, in Wahrheit nicht vielmehr in ihrer Unkenntniss der Verschiedenheit der Verhältnisse oder in dem Umstande, dass sie eben nur für ihre Zeit und für bestimmte Wirthschaftsverhältnisse zu schreiben glaubten, begründet erscheint. Dass aber ein Schriftsteller auf dem Gebiete der Volkswirthschaftspolitik vorwiegend, oder selbst ausschliesslich, die Verhältnisse seines Landes und seiner Zeit vor Augen hat und unter diesem Gesichtspunkte Gebräuche, Gesetze, Institutionen u. s. f. beurtheilt und Massregeln vorschlägt, ist bei einer praktischen Wissenschaft nichts, was vernünftiger Weise Anstand erregen könnte. Wer für praktische Ziete, z. B. die Begründung oder die Reform von Institutionen eintritt und iieser Kategorie gehören die meisten volkswirthschaftspolitischen Schriftsteller an fühlt selbstverständlich nur in sehr geringem Masse den Beruf in sich, die bloss relative Wahrheit seiner Meinungen hervorzukehren.
[46] Nicht nur die Organismen, sondern auch die Mechanismen weisen eine Zweckmässigkeit der Theile in Rücksicht auf das Ganze auf, und nicht nur bei den ersteren, sondern auch bei den letzteren ist die normale Function des Ganzen durch die normale Beschaffenheit der Theile bedingt. Der Organismus unterscheidet sich vom Mechanismus indess dadurch, dass er einerseits nicht gleich diesem letzteren das Ergebniss menschlicher Berechnung, sondern das Product eines natürlichen Processes ist, und andererseits dass der einzelne Theil desselben (jedes Organ) nicht nur in seiner normalen Function, sondern auch in seinem normalen Wesen durch den Zusammenhang der Theile zu einem höheren Ganzen (dem Organismus in seiner Totalität) und durch das normale Wesen der übrigen Theile (der übrigen Organe) bedingt ist, während dies letztere beim Mechanismus keineswegs der Fall ist.
[47] Vgl. Roscher, System I, § 13 (insbes. Note 5).
[48] In einen ähnlichen Irrthum verfallen jene, welche die Ergebnisse der Anatomie und Physiologie zwar nicht auf dem Wege einer mechanischen Analogie den Socialwissenschaften schlechthin einverleiben, indess durch allerhand künstliche und gewundene Deutungen eine durchgängige reale Analogie zwischen den natürlichen und den sog. socialen Organismen nachzuweisen suchen, all' dies in der Meinung, auf diesem Wege zu einem (organischen !) Verständnisse der Socialerscheinungen zu gelangen. Forscher dieser Art untersuchen nicht die Natur der Socialphänomene, nicht ihr Wesen und ihren Ursprung, um etwägelegentlich auf einzelne in die Augen fallende Analogien zwischen den beiden obigen Gruppen von Erscheinungen hinzuweisen; sie gehen vielmehr von der vorgefassten Meinung einer durchgängigen realen Analogie zwischen den natürlichen und den sogen. socialen Organismen aus und suchen nun mit der grössten Anstrengung, bisweilen geradezu mit Aufopferung jeder wissenschaftlichen Unbefangenheit, nach einer Begründung der von ihnen präsumirten Meinung. Diese Richtung der Forschung ist von gleicher Werthlosigkeit wie die vorhin gekennzeichnete, mit welcher sie nicht nur eine äussere Aehnlichkeit aufweist, sondern in der Praxis der Forschung sich auch regelmässig verbindet. Vgl. von Neueren H. C. Carey, The unity of law, Philadelphia 1872; P. v. Lilienfeld, Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft, V, 1875–81; Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft, mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. Tüb. IV, 1875–78. Derselbe: „Ueber den Begriff der Person nach Gesichtspunkten der Gesellschaftslehre“. Tübing. Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaften 1875, S. 183 ff. „Der collective Kampf ums Dasein. Zum Darwinismus vom Standpunkte der Gesellschaftslehre“. Ebend. 1876, S. 89 ff. u. S. 243 ff. und 1879, S. 234 ff. „Zur Lehre von den socialen Stützorganen und ihren Functionen.“ Ebend. 1878, S. 45 ff.
[49] Vgl. Fr. J. Neumann's Bemerkungen gegen die obige Richtung in Schönberg’s Handbuch der Pol. Oek. I, S. 114 ff und Krohn: Beiträge zur Kenntniss und Würdigung der Sociologie. Jena'er Jahrb. f. Nation. u. Statist. XXXV. Bd. S. 433 ff. und XXXVII. Bd. S. 1 ff.
[50] A. Smith: History of Astronomy, in seinen „Essays on philos. subjects“. Herausgegeben von Dugald Stewart. S. 29 der Basler Ausgabe von 1799.
[51] Die letzten Elemente, auf welche die exacte theoretische Interpretation der Naturphänomene zurückgehen muss, sind „Atome“ und „Kräfte“. Beide sind unempirischer Natur. Wir vermögen uns „Atome“ überhaupt nicht, und die Naturkräfte nur unter einem Bilde vorzustellen, und verstehen wir in Wahrheit unter den letzteren lediglich die uns unbekannten Ursachen realer Bewegungen. Hieraus ergeben sich für die exacte Interpretation der Naturphänomene in letzter Linie ganz ausserordentliche Schwierigkeiten. Anders in den exacten Socialwissenschaften. Hier sind die menschlichen Individuen und ihre Bestrebungen, die letzten Elemente unserer Analyse, empirischer Natur und die exacten theoretischen Socialwissenschaften somit in grossem Vortheil gegenüber den exacten Naturwissenschaften. Die „Grenzen des Naturerkennens“ und die hieraus für das theoretische Verständniss der Naturphänomene sich ergebenden Schwierigkeiten bestehen in Wahrheit nicht für die exacte Forschung auf dem Gebiete der Socialerscheinungen. Wenn A. Comte die „Gesellschaften“ als reale Organismen und zwar als Organismen complicirterer Art, denn die natürlichen, auffasst und ihre theoretische Interpretation als das unvergleichlich complicirtere und schwierigere wissenschaftliche Problem bezeichnet, so befindet er sich somit in einem schweren Irrthume. Seine Theorie wäre nur gegenüber Socialforschern richtig, welche den, mit Rücksicht auf den heutigen Zustand der theoretischen Naturwissenschaften, geradezu wahnwitzigen Gedanken fassen würden, die Gesellschaftsphänomene nicht in specifisch socialwissenschaftlich-, sondern in naturwissenschaftlich-atomistischer Weise interpretiren zu wollen.
[52] Die „organische“, richtiger die ,collectivistische“ Auffassung der Volkswirthschaft bildet weder einen Gegensatz zu den Aufgaben der theoretischen Nationalökonomie überhaupt, noch umfasst sie die Totalität der Aufgaben dieser letzteren. Sie ist nichts anderes als ein Theil, eine besondere Seite jener Wissenschaft, welche uns die Phänomene der Volkswirthschaft theoretisch verstehen lehrt, und die Anerkennung derselben nichts, was den Begriff der Nationalökonomie als theoretischer Wissenschaft aufzuheben oder irgendwie zu alteriren vermöchte. Auch die Anerkennung der „organischen“ Auffassung der Volkswirthschaft vermag unsere Wissenschaft weder zu einer historischen oder praktischen, noch aber auch zu einer Wissenschaft von dem blossen „organischen“ Verständniss (zu einer blossen „Anatomie und Physiologie“) der menschlichen Wirthschaft zu gestalten.
[53] Solchem Widersinne war selbstverständlich auch Aristoteles fremd, so oft auch auf denselben als den Begründer der Theorie hingewiesen wird, nach welcher der Staat etwas „ursprüngliches“, mit der Existenz des Menschen selbst gegebenes sein soll. Siehe Anhang VII: Ueber die dem Aristoteles zugeschriebene Meinung, dass der Staat eine ursprüngliche, zugleich mit der Existenz des Menschen gegebene Erscheinung sei.
[54] Siehe S. 142 ff.
[55] Siehe S. 144 ff.
[56] Hier ist es auch, wo die in ihrer Art geradezu grossartigen Arbeiten A. Comte's, H. Spencer's, Schäffle's und Lilienfeld's in der That zur Vertiefung des theoretischen Verständnisses der Socialerscheinungen wesentlich beigetragen haben, und zwar ohne jede Rücksicht auf die von einzelnen dieser Autoren in den Vordergrund der Darstellung gerückten Analogien zwischen den natürlichen Organismen und den Gebilden des socialen Lebens.
[57] Vgl. Meine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, S. 250 ff, wo die obige Theorie bereits dargelegt wird.
[58] Savigny, Obligat. II, 406.
[59] De republica II, 12.
[60] Ethic. Nicom. V, 8.
[61] L. 1 Dig. de contr. empt. 18, 1.
[62] Vgl. die bezügliche Literatur in meiner Volkswirthschaftslehre. S. 255 f.
[63] Siehe Anhang' VIII: Ueber den „organischen“ Ursprung des Rechtes und das exacte Verständniss desselben.
[64] Siehe S. 164 ff.
[65] Siehe S. 39 ff.
[66] De Legibus III, 684 u. 692
[67] Pol. IV,
[68] Disputationum de Republica Lib. I, Proëm. Lugd. Bat. 1643, fol. 7 ff.
[69] Lib. I, Praef. p. 3 ff. ed. Lugd. Bat. 1647.
[70] De Methodo, Proëm. p. 1 et Praef. fol. 6. Argent. 1627.
[71] De Republica Lib. I, Cap. 1, 1591 p. 4.
[72] De augm. scient. Lib. II, Cap. V, pass. et Lib. VIII, Cap. III, § 1.
[73] J. Bodini: De Methodo ad historiarum cognitionem, 1566 (Argentorati 1627, Praef. pag. 3).
[74] Disput. de Republica L. III, Cap. XLIII. Lugd. Bat. 1643. p. 410 ff. Conf. Lib. I, Cap. XXXIX, p. 115.
[75] Pag. 1 ff. Montisbelgardi 1599.
[76] De Legibus V, 747.
[77] Ibid. I, 636. Platon geht in der Berücksichtigung der Besonderheit socialer und staatlicher Verhältnisse so weit, dass er es sogar für eine Verkehrtheit erklärt, einen einsichtigen Staatsmann durch Gesetze beschränken zu wollen, indem solche doch, als etwas Allgemeines, der Eigenthümlichkeit der einzelnen Personen und Fälle sich nie völlig anschmiegen und insbesondere, als etwas Feststehendes, mit den wechselnden Verhältnissen nie gleichen Schritt halten könnten. Nur wo die wahre Staatskunst fehle, da sei es allerdings besser, sich an (durch Erfahrung erprobte !) Gesetze zu halten, als dem selbstsüchtigen und unverständigen Belieben der Machthaber zu folgen.
[78] Pol. IV, 1.
[79] Disput. Lib. I, Cap. II, pag. 13: ed. 1643.
[80] Ibid. Lib. III, Cap. 1, p. 283.
[81] De Rep. Lib. V, Cap. 1, p. 750: ed. 1591. Menger, Socialwissenschaft.
[82] De Rep. Lib. V, Cap. 1, p. 750; ed. 1591.
[83] Ibid. Lib. V, Cap. 1, p. 754 und Lib. IV, Cap. 3, p. 663.
[84] Quelles sont, suivant le temps, les lieux et les circonstances, les conclusions justement et clairement deduites de l'ordre politique ? Diese Frage kehrt in den Schriften einzelner Physiokraten immer wieder (Ephémérides du Citoyen. Programmartikel von Baudeau, Paris 1767, I, p. 5 ff.).
[85] Sismondi, Nouv. princ. Paris 1827. I, p. 47 ff.
[86] Baumstark, Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg 1835. S. VIII ff.
[87] Sismondi, De la Richesse commerciale, Genève 1803, I, p. XIV ff.; Storch, Cours d'E. P. ed. Paris 1823, I, p. 36.
[88] Sismondi, Etudes sur l’E. P. Paris 1837. I, p. IV.
[89] Vergl. insbesondere K. H. Rau, Lehrbuch der politischen Oekonomie. Heidelberg 1826. I, § 18; G. F. Krause, Versuch eines Systems der National- und Staatsökonomie mit vorzüglicher Berücksichtigung Deutschlands, aus dem Gang der Völkercultur etc. entwickelt. Leipzig 1830. II, S. VI; E. Baumstark, Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg 1835. S. IV ff. (wo der Verfasser sehr entschieden gegen die Ableitung wirthschaftlicher Grundsätze aus Definitionen, anstatt aus Geschichte und Leben polemisirt und die Nothwendigkeit betont, die ganze öffentliche Wirthschaftslehre in ihrem historischen Zusammenhange auf historische Grundlagen, anstatt auf blosse Dogmatik, zu stellen und als ein Ergebniss von Forschungen in der Geschichte des Verkehrs, der Cultur, des Staates und der Menschheit überhaupt zu entwickeln); J. Schön, Die Staatswissenschaft, geschichtsphilosophisch begründet, 1. ed. Breslau 1831, 2. ed. 1840 (Meine Schrift - sagt der Verf. - bemüht sich um die Aufgabe, die Politik als eine Philosophie der. Politischen Geschichte hervorleuchten zu lassen und an die Stelle vereinzelter Regeln weltgeschichtliche Gesellschaftsgesetze zu entwickeln, S. VII der 2. Ausg.).
[90] Schon Montesquieu spricht die Meinung aus, dass die socialen und staatlichen Institütionen in ihrer concreten Gestalt nicht schlechthin das Ergebniss willkürlicher Satzungen (der positiven Gesetzgebung), sondern vielmehr die Folge der Natur- und Culturverhältnisse und des historischen Entwickelungsganges der Völker seien: „Les êtres particuliers intelligents" sagt derselbe „peuvent avoir des lois qu'ils ont faites; mais ils en ont aussi qu'ils n'ont pas faites Avant qu'il y eût des lois faites, il y avait des rapports de justice possible. Dire qu'il n'y a rien de juste ni d'injuste que ce qu'ordonnent ou défendent les lois positives, c'est dire qu'avant qu'on eût tracé de cercle tous les rayons n'étaient pas égaux“ (De l'esprit des lois. 1748. Liv. I, Chap. 1). „J'ai d'abord examiné les hommes, et j'ai cru que, dans cette infinie diversité de lois et de moeurs, ils n'étaient pas uniquement conduits par leurs fantaisies. J'ai posé les principes, et j'ai vu les cas particuliers s'y plier comme d'eux-mêmes, les histoires de toutes les nations n'en être que les suites et chaque loi particulière liée avec une autre loi ou dépendre d'une autre plus générale“ (Ibid. Pref.).
[91] Burke betont die organische, die unreflectirte Entstehung des englischen Verfassungsrechtes in folgender Weise: From magna charta to the declaration of right, it has been the uniform policy of our constitution to claim and assert our liberties as an entailed inheritance derived to us from our forefathers, and to be transmitted to our posterity. This policy appears to me to be the result of profound reflection, or rather the happy effect of following nature, which is wisdom without reflection and above it“ (Reflections on the Revol. in France. Works, London 1792, III, 58 ff.). Den einseitigen Rationalismus bekämpft er mit folgenden Worten: „I cannot stand forward and give praise or blame to anything which relates to human actions and human concerns, on a simple view of the object, as it stands stripped of every relation, in all the nakedness and solitude of metaphysical abstraction. Circumstances (which with some gentlemen pass for nothing) give in reality to cery political principle its distinguishing colour and discriminating effect. The circumstances are what render every political scheme beneficial or noxious to mankind.“ (Ibid. III, p. 28). Und an einer anderen Stelle: „Old establishments are tried by their effects. If the people are happy, united, wealthy and powerful, we presume the rest. We conclude that to be good, from whence good is derived. In old establishments various correctives have been found for their aberrations from theory. Indeed they are the results of various necessities and expediences. They are not often constructed after any theory; theories are rather drawn from them. In them we often see the end best obtained, where the means seem not perfectly reconcileable to what we may fancy was the original scheme. The means taught by experience may be better suited to political ends, than those contrived in the original project. They again react upon the primitive constitution and sometimes improve the design itself from which they seem to have departed (Reflect. on the Revol. in France. Works III, 227 ff.). — Necker schreibt im selben Sinne: „On a consideré les principes comme une spiritualité qui trouvait place partout, et l'on n'a pas fait attention, que les conséquences de ces principes tenaient un espace réel. Les abstractions, sans doute, ont une application universelle, c'est un large compas qui s'ouvre à volonté et qui réunit figurativement les divers points de l'étendue ; mais tout se touche en pratique, tout se meut terre à terre, et c'est alors qu'on fait l'épreuve des obstacles franchis en spéculation et des nombreuses difficultés dedaignées par la théorie“ (Du pouvoir exécutif dans les grands états 1792, s. 1. II, p. 72). – Le Maistre's Zurückführung der bestehenden, oder vielmehr der vorrevolutionären Autoritäten auf göttliche Einsetzung und Haller's Auffassung der politischen Gewalten unter dem Gesichtspunkte wohlerworbener Privatrechte haben gleichfalls einen contrerevolutionären Zweck, beruhen indess so sichtbar auf falschen Voraussetzungen, dass dieselben neben Burke's wenngleich einseitigen, so doch sachlich begründeten Ausführungen kaum in Betracht kommen.
[92] Aehnliche Bestrebungen auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft haben in Deutschland Wilhelm von Humboldt's Schriften angebahnt. Er führte die Bildung der Sprache auf einen unmittelbaren Zeugungstrieb, einen intellectuellen Sprachinstinct des menschlichen Geistes zurück und erkannte in ihrem Bau eine Gesetzmässigkeit, welche derjenigen der organischen Natur analog sei. Savigny (Vom Berufe unserer Zeit, 1814, S. 9) und seine Schüler berufen sich häufig auf die Analogie der Rechtsentstehung und der Sprachbildung. Ein Aehnliches findet sich später auch bei den Volkswirthen der historischen Schule, namentlich bei Hildebrand (vergl. hiezu insb. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechtes, Berlin 1836; Schasler's Elemente der philos. Sprachwissenschaft W. v. Humboldt's, Berlin 1847, und Steinthal's Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten Fragen alles, Wissens, Berlin 1852).
[93] Vgl. Savigny, Ueber den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung. Heidelberg 1814, S. 8--15; desselben Programmaufsatz in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Band I, 1815, S. 1–17 und Band III, S. 1–52; desselben System I, S. 13—21,] 34–57; Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte 1808, Vorrede und Einleitung S. 1 ff. Von älteren Schriftstellern vergl. insb. Hugo, Encyclopädie, 4. Ausg., SS 21, 22 und Naturrecht (1. Ausg. 1798) 3. A., § 130 und im Civilistischen Magazin 1813, Bd. IV, S. 117–136. --- J. Möser wird von Savigny in seinem „Beruf“ (1. Aufl. S. 15) neben Hugo in höchst ehrenhafter Weise erwähnt: „Hohe Ehre gebührt auch dem" Andenken J. Möser's, der mit grossartigem Sinne überall die Geschichte, oft auch in Beziehung auf das bürgerliche Recht, zu deuten suchte.“ Nicht ohne Einfluss auf die Entwickelung der historischen Juristenschule ist auch Schellings Lehre von der organischen Natur des Staatslebens gewesen und seine Theorie, dass die ursprüngliche Bildung auf allen Culturgebieten eine unbewusste sei, dass überhaupt alles Bewusste seine Voraussetzung und Grundlage in einem unbewussten Wirken des Menschen- und Volksgeistes habe. — Schon Platon sagt übrigens in einer, meines Wissens bisher unbeachtet gebliebenen, Stelle (Leges IV, 4), kein Mensch könne irgend ein Gesetz (willkürlich) schaffen, alle gesetzlichen Einrichtungen würden vielmehr durch mancherlei Zufälle und Umstände hervorgerufen ... Kein Sterblicher mache ein Gesetz; alle menschlichen Verfügungen seien vielmehr das Ergebniss der Verhältnisse. Allerdings müsse vernünftigerweise auch zugegeben werden, dass menschliche Kunst hinzutrete (vergl. auch die S. 202 angeführte Stelle Montesquieu's).
[94] Wie wenig der vorhin gekennzeichnete Ideenkreis der historischen Schule deutscher Nationalökonomen mit jenem Burke-Savigny's übereinstimmt, mag schon daraus entnommen werden, dass die Vertreter dieser letzteren Richtung es als einen Irrthum bezeichnen, dass eine staatliche Institution schon deshalb vortrefflich sei, weil sie der Natur des Landes und des Volkes angemessen sei, für welches sie bestimmt ist (vergl. Gentz, Politische Abhandlungen zu Burke's Betrachtungen über die französische Revolution, Hohenzollern 1794, II, S. 244). — Noch klarer geht dies aus dem Kampfe hervor, welchen Savigny und Thibaut über die Begründung neuer Gesetzbücher in Deutschland führten. Der letztere betont unablässig, dass die bürgerlichen Einrichtungen ganz nach den Bedürfnissen der Unterthanen anzuordnen seien, dass dieselben insbesondere den Bedürfnissen der Zeit entsprechen müssen (Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechtes für Deutschland. Civilistische Abhandlungen 1814, S. 404 ff.). Nichts desto weniger bekämpft ihn Savigny in seinem berühmten Buche „Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, weil Thibaut den Grundgedanken der historischen Schule, die unreflectirte, die organische Entstehung und Entwickelung des Rechtes verkannte und alles Recht aus Gesetzen sich entstehend dachte, aus ausdrücklichen Geboten und Verboten der legislatorischen Gewalt.
[95] „Das Wesen der geschichtlichen Juristenschule ist eine Ansicht von der Entstehung des Rechtes. Das Recht ist eine Seite im gesammten Leben eines Volkes, untrennbar verbunden mit den anderen Seiten und Thätigkeiten desselben, als Sprache, Sitte, Kunst. Es entsteht daher ursprünglich, gleich wie diese, nicht aus Wahl und Ueberlegung, sondern durch einen innewohnenden Sinn und Trieb, durch ein Bewusstsein der Nothwendigkeit . . . Die Grundlehren der geschichtlichen Schule sind demnach: Der Zusammenhang des Rechtes mit dem Volke und Volksbewusstsein, seine ursprünglich unreflectirte Entstehung, die Anforderung der Continuität in seiner Fortbildung“ (Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. Heidelberg 1856. S. 572 ff.). – Seit Begründung der historischen Schule war die Erkenntniss wieder gewonnen, dass „das Recht nicht bloss ein von oben her gebotenes“, „sondern aus dem Geiste der Nation herausgewachsen sei, als dessen Form“. Es ist nichts willkürliches, das heute so und morgen anders sein könnte, sondern die Vergangenheit sei mit der Gegenwart und Zukunft eng verbunden und verwachsen. Es sei nicht ein zufälliges, sondern ein innerlich bestimmtes. „ Diese Einsicht in die Natur des positiven Rechtes ist das allein charakteristische für die historische Schule. Nur von diesem Gesichtspunkte aus sind ihre Leistungen und ist die Umgestaltung, welche seither die Jurisprudenz durch sie erfahren hat, zu beurtheilen“ (Bluntschli, Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen. 2. Aufl. Zürich 1862. S. 18). – E. Kuntze kennzeichnet den Grundgedanken der historischen Rechtsschule dahin, dass „das Recht nicht ersonnen, sondern geboren worden, nicht eine bewusst-willkürliche Hervorbringung aus endlichem, beschränktem Verstande, sondern an die Gesetze alles organischen Entstehens und Wachsens gebunden sei“ (Der Wendepunkt in der Rechtswissenschaft. Leipzig 1856. S. 53).
[96] Die Mehrzahl der oben angeführten Schriftsteller ist eben so sehr darauf bedacht, die Geschichtsforschung durch das Studium der Politik, als umgekehrt die Forschung auf dem Gebiete der Politik durch das Studium der Geschichte zu fördern; sie suchen, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, nicht nur den historischen Gesichtspunkt in der Politik, sondern auch den „politischen“ Gesichtspunkt in der Geschichte festzuhalten. „Man muss“ sagt beispielsweise Luden „über die Grundsätze im Reinen sein, welche Regenten bei Erhaltung, Mehrung, Verwaltung und Regierung der Staaten zu befolgen haben ...., um die grossen Ereignisse des Lebens, die Schicksale von Völkern und Staaten (kurz die Geschichte!) verstehen zu können“ (Politik, Jena 1811, S. IV). Andererseits betrachtet er wiederum die Geschichte als die Grundlage der Politik (ebend. S. VII). Aehnlich in Rücksicht auf unsere Wisseuschaft Th. Rogers (A Manual of Pol. Econ. 1869, S. V):„ ... just as the historian, who is ignorant of the interpretations of political economy, is constantly mazed in a medley of unconnected and unintelligible facts, so the economist, who disdains the inductions of history, is sure to utter fallacies“.
[97] H. Luden, Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik. 1811. S. VII ff.
[98] Pölitz, Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit. 1823. I, S. 8 f.
[99] H. B. v. Weber, Grundzüge der Politik oder philosophischgeschichtliche Entwickelung der Hauptgrundsätze der innern und äussern Staatskunst. 1827. S. IX. (In Weber's „Politik“ finden sich einige Hindeutungen auf den Ideenkreis der historischen Juristenschule. Vergl. insbesondere §. V.)
[100] Ebend. S. 42.
[101] F. v. Spittler, Vorlesungen über Politik. Herausgegeben von K. Wächter. 1828. S. XIX.
[102] Der historischen Schule des Staatsrechts und der Jurisprudenz in einzelnen Beziehungen thatsächlich analoge Richtungen in den Staatswissenschaften vertreten: Justus Möser, D. G. Strube, Fr. K. v. Moser, Fr. Chr. J. Fischer, G. Sartorius, J. J. v. Görres, Fr. Gentz, Adam Müller, K. L. v. Haller u. s. f.
[103] Parallel mit den oben dargelegten Bestrebungen, die Wissenschaft der Politik nicht auf Speculation, sondern auf Erfahrung und Geschichte zu begründen, laufen ähnliche Bestrebungen auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie.
Schon L. H. v. Jacob, obzwar ein Anhänger der Kant'schen Philosophie, hatte die Geschichte als die Quelle der Thatsachen bezeichnet, , worauf fast alle Staatswissenschaften gebauet werden müssten. Die meisten Grundsätze dieser letzteren müssten aus der Erfahrung, vermittelst der Geschichte, erwiesen werden. Das Studium der Geschichte müsse daher dem Studio der Staatswissenschaften zur Seite stehen“ (Einleitung in das Studium der Staatswissenschaften. Halle 1819. S. 31). G. Fr. Krause will in seinem „Versuch eines Systems der National- und Staatsökonomie, mit vorzüglicher Berücksichtigung Deutschlands aus dem Gang der Völkercultur und aus dem praktischen Leben populär entwickelt“ „die Wissenschaft der Nationalökonomie aus dem Gang der Cultur" und Industrie entwickeln" (a. a. 0. I, 1830. S. V). - Fr. List, in den meisten Beziehungen im Gegensatze zu den hier genannten Schriftstellern, erklärt doch, „ein tüchtiges System (der Volkswirthschaft) müsse durchaus eine tüchtige historische Grundlage haben“ (Das nationale System I. 1841. S. XXXI; vergl. auch eb. S. XXXIX und 170 ff.). Auch H. Rau betont uvablässig die Bedeutung des Studiums der Geschichte und der Statistik für die Politische Oekonomie (vergl. insbes. seine Pol. Oek. I. 1826. S. 13).
Deutlicher noch tritt die obige Tendenz bei E. Baumstark, Joh. Schön und Fr. Schmitthenner hervor. Der erstere schreibt (Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg 1835. S. VIII ff.): „Besonders Noth thut dem politischen Theile unserer Wissenschaft eine historische Grundlage, denn sie wird ohne diese auf die gefährlichsten Abwege gerathen. Ich meine biermit nicht, dass bei jeder Doctrin der Finanzwissenschaft mit Jahrzahlen und kalten statistischen Daten eine magere geschichtliche Einleitung gegeben, sondern die ganze öffentliche Wirthschaftslehre in ihrem Zusammenhange auf historische Grundlagen, statt auf Dogmatik gestellt und als ein Ergebniss von Forschungen in der Geschichte des Verkehrs, der Cultur der Staaten und der Menschheit überhaupt entwickelt werde“. - Schön erklärt (Die Staatswissenschaft, geschichtl.philosophisch begründet. 2. Aufl., Breslau 1840. S. VII; 1. Aufl. 1831) als Zweck seiner Schrift: die Politik als eine Philosophie der politischen Geschichte hervorleuchten zu lassen und an die Stelle vereinzelter Regeln welthistorische Gesellschaftsgesetze zu entwickeln“. Es handle sich ihm um eine geschichtsphilosophische Begründung der Staatswissenschaften, welche jetzt (1839!) populärer, als beim ersten Erscheinen seiner Schrift (1831!), sei.
Am markantesten tritt die hier in Rede stehende Tendenz indess bei Fr. Schmitthenner hervor. Derselbe schreibt (Zwölf Bücher v. Staate, III. Band. 1845. S. 15 ff.), indem er sich direct gegen die Auswüchse der bloss speculativen Philosophie auf dem Gebiete der Staatswissenschaften in Deutschland wendet: „Eine Weltanschauung, welche im Staate ein organisches System sieht, kann die Prätension nicht zugeben, dass es möglich sei, das Wesen desselben bloss logisch, d. h. aus dem Verhältniss von Begriffen, oder auch verstandesmässiger Entwickelung von Begriffen zu erkennen, sondern die volle Bedeutung des logischen Elementes erst da zugestehen, wo ihr durch die geschichtliche Erkenntniss die Prämissen gegeben sind.“ ....„Der geschichtlichorganischen Methode handle es sich um Aufdeckung des Gesetzes der organischen Entwickelung der Menschheit.“
[104] Dass auch auf dem Gebiete der Jurisprudenz die in mancher Beziehung einseitige historische, Richtung der Savigny- Eichhorn’schen Schule einer keineswegs mehr vereinzelten Opposition begegnet und namentlich die theoretische Seite des Rechtes neuerdings wieder schärfer betont wird, geht aus den Schriften eines G. Beseler, Leist, Bluntschli, Kierulff, Rein. Schmidt, Ihering, Brinz, Ahrens, Kuntze, Lenz u. s. f. hervor. – Hat doch Savigny selbst am Abend seines Lebens in der Vorrede zu seinem 1840 erschienenen „Systeme des heutigen römischen Rechtes“ die historische Richtung der Forschung auf dem Gebiete der Jurisprudenz als erfüllt erklärt und darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft nunmehr die seither vernachlässigten Bahnen wieder betreten müsse: „Alles Gelingen in unserer Wissenschaft“ – schreibt er – „beruht auf dem Zusammenwirken verschiedener Geistesthätigkeiten. Um Eine derselben und die aus ihr vorzugsweise entspringende wissenschaftliche Richtung in ihrer Eigenthümlichkeit zu bezeichnen, war früher von mir und Anderen arglos der Aurdruck der historischen Schule gebraucht worden. Es wurde damals diese Seite der Wissenschaft besonders hervorgehoben, nicht um den Werth anderer Thätigkeiten und Richtungen zu verneinen, oder auch nur zu vermindern, sondern weil jene Thätigkeit lange Zeit hindurch von anderen versäumt worden war, also vorübergehend mehr als andere einer eifrigen Vertretung bedurfte, um in ihr natürliches Recht wieder einzutreten“ (a. a. O. Band I, S. XIII). – Hervorragende Vertreter der historischen Schule der Jurisprudenz bezeichnen denn auch ihre Methode gegenwärtig nicht mehr als eine specifisch historische, sondern als eine historisch-philosophische. Vergl. J. Unger's System I. 1876. S. I
[105] A. a. O. S. 7 ff.
[106] Siehe S. 211.
[107] A. a. 0. S. 42.
[108] Aehnlich die oben (Note 102) erwähnten Nationalökonomen. Noch H. Rau schreibt (Pol. Oek. 1863. I, § 24): „Die Geschichte giebt Gelegenheit, den Einfluss wechselnder Umstände auf die Gestaltung der Volkswirthschaft, und auch wieder den Einfluss der wirthschaftlichen Verhältnisse auf die Ereignisse im Staatsleben zu erkennen. Ferner bietet sie . . . eine Fülle der schätzbarsten Erfahrungen dar über die günstigen oder nachtheiligen Folgen der von den Regierungen in Hinsicht auf wirthschaftliche Angelegenheiten gewählten Handlungsweise. Die Belehrung ist desshalb um so höher anzuschlagen, weil man überhaupt in der Staatsverwaltung selten Versuche anstellen kann, ohne die Wohlfahrt des Staates zu gefährden, und sich daher aus der Betrachtung früherer Fälle belehren muss. ... Die geschichtliche Betrachtung der Wirthschaftsangelegenheiten wird indess die allgemeinen volkswirthschaftlichen Gesetze nicht beseitigen, sondern ihr Walten unter den verschiedensten Verhältnissen kenntlich machen“.
[109] Politik 1835. S. 236 (vergl. auch S. 83 ff.).
[110] Gervinus, Historische Schriften. Karlsruhe. B. VII, S. 595 ff. (Die obige Besprechung erschien zuerst 1836 in den Litterarischen Untersuchungsblättern.)
[111] Vergl. S. 127, Note 43.
[112] De historiae doctrinae apud Sophistas majores vestigiis. Gotting. 1838.
[113] A. a. 0. S. 54 ff.
[114] Leben, Werke und Zeitalter des Thukydides. Göttingen 1842. S. VII ff.
[115] Grundriss, S. I.
[116] Ebend. S. V.
[117] Ebend. S. 2.
[118] Ebend. S. IV.
[119] Roscher spricht hier noch von der Staats-, nicht von der Volkswirthschaft, unterscheidet auch nicht die theoretische Nationalökonomie von den praktischen Wissenschaften der Volkswirthschaft.
[120] Will man die oben gekennzeichnete Richtung der Forschung durchaus mit einer solchen der Jurisprudenz in eine Parallele stellen, so wäre dies die vergleichende Rechtswissenschaft, also etwa die Richtung eines Feuerbach, eines Bernhöft, der Herausgeber der „Revue de droit international et de legislation comparée“ u. s. f. „Warum“ – schreibt schon Feuerbach in der Vorrede zu Unterholzner’s Jurist. Abhandl. p. XI ff. – „hat der Anatom seine vergleichende Anatomie und warum der Rechtsgelehrte noch keine vergleichende Jurisprudenz? . . . So wie aus der Vergleichung der Sprache die Philosophie der Sprache, die eigentliche Sprachwissenschaft hervorgeht, so aus der Vergleichung der Gesetze und der Rechtsgewohnheiten der verwandtesten wie der fremdartigsten Nationen aller Zeiten und Länder die Universal-Jurisprudenz, die Gesetzwissenschaft“ u. s. f. – Fr. Bernhöft („Ueber Zweck und Mittel der vergleichenden Rechtswissenschaft“ in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. 1878. I, S. 3) und vor ihm schon J. Unger (System I. ed. 1876. S. 4, Note 12) und Andere verlangen von der Rechtsphilosophie, „dass sie ihre Resultate aus der Erforschung der in der Geschichte der Menschheit liegenden Ideen“ und solcherart eine streng wissenschaftliche Grundlage gewinne. Keinem der erwähnten Juristen fällt es indess bei, in der obigen Richtung der Forschung das Wesen der historischen Jurisprudenz überhaupt, oder gar der Methode Savigny’s zu erkennen. Auch begnügen sie sich nicht, von der wissenschaftlichen Rechtsphilosophie – denn diese haben sie im Auge – etwa die Feststellung der Parallelismen der Rechtsgeschichte zu erwarten; ihre Absicht ist vielmehr darauf gerichtet, durch Vergleichung der verschiedenen Lösungen, welche die praktischen Probleme der Jurisprudenz in dem Gewohnheitsrechte und in der Gesetzgebung der verschiedenen Völker gefunden, neue Grundlagen für das Verständniss und die Reform des Rechtes der Gegenwart zu finden. Die Entwickelungsgesetze des Rechtes, im Sinne von Roscher's „Entwickelungsgesetzen der Volkswirthschaft“ könnten höchstens als das Forscherziel eines nebensächlichen Zweiges der vergleichenden Rechtswissenschaft bezeichnet werden. Eine vergleichende Wissenschaft im Sinne der obigen Juristen Wäre übrigens, unserem Dafürhalten nach, auch auf dem Gebiete der Volkswirthschaft von unvergleichlich höherer Bedeutung, als die Feststellung aller erdenklichen „Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“.
[121] System I, §§ 22 u. 26 u. s. f.
[122] Roscher nimmt an einzelnen Stellen seiner Schriften (vergl. insbes. Deutsche Vierteljahrsschrift 1849, 1. Abth.) einen Anlauf zur Unterscheidung der theoretischen und praktischen Aufgaben der Politischen Oekonomie. So schreibt er z. B. a. a. 0. S. 182: „Schon früher habe ich auf zwei wesentlich verschiedene Classen von Fragen aufmerksam gemacht, die sich bei jeder nationalökonomischen, ja staatswissenschaftlichen Untersuchung herausstellen: die Fragen nämlich, was ist, und was soll sein ?“ Mit diesem nicht weiter ausgeführten Satze kennzeichnet Roscher indess nur den Gegensatz zwischen den „realistischen“ und den „praktischen“ Aufgaben der Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Auch die Geschichtsforschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft beschäftigt sich nämlich mit dem was ist, und der obige Gegensatz charakterisirt somit keineswegs das Verhältniss der theoretischen zu den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft. Allerdings spricht Roscher in der nämlichen Abhandlung (S. 180) auch von Gesetzen, ja sogar von Naturgesetzen, nach welchen die Völker ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen“, von Naturgesetzen insbesondere, „WOnach diese Bedürfnisse auf den Staat einwirken und vom Staat wieder influencirt werden“; ja er bezeichnet die Erforschung solcher Gesetze als Aufgabe der Nationalökonomie. Unter diesen „Naturgesetzen“ versteht R. indess ausschliesslich die Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte (ebend. S. 181): „Das einfache, aber freilich sehr umfangreiche Mittel, jene Naturgesetze kennen zu lernen, ist die Vergleichung möglichst vieler und verschiedener Volksentwickelungen; das Uebereinstimmende wird als Regel hingestellt, das Nichtübereinstimmende als Ausnahme zu erklären versucht.“ Auch hier geht somit bei R. die „theoretische Nationalökonomie“ in der „Philosophie der Wirthschaftsgeschichte“ auf.
[123] Xenophontis et Aristotelis de oecon. publ. doctrinae illustrantur Partic. I. Marburgi 1845.
[124] „ ... quae est inde ab Adami Smithii aetate per Europam divulgata doctrina, ea quidem haud immerito in reprehensionem incurrit propterea, quod solis suis quemque consulere rationibus jubet quodque, cum summam de lucro contendendi licentiam poscat, si ipsam constanter persequantur omnes, omnem tollat honestatem singulorumque in singulos excitet bellum necesse est“ (1. c. p. 3). H. meint nun, das Studium der vom Gemeingeiste durchdrungenen ökonomischen Schriften der Alten werde dazu beitragen, den obigen Irrthum der Smith'schen Schule zu berichtigen. --- An der obigen, gegen den „Individualismus“ in der Volkswirthschaft gerichteten Auffassung hat H. auch in seinen späteren Schriften (vgl. insb. seine Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, 1848, S. VI u. 29 ft.) festgehalten und solcherart (vor ihm schon Schütz, Tüb. Zeitschrift für die Staatsw. 1844, S. 133 ff.) zur Begründung der „ethischen“, zum Theil auch der von dieser letzteren wohl zu unterscheidenden „Socialpolitischen“ Richtung der nationalökonomischen Forschung in Deutschland nicht urwesentlich beigetragen, allerdings nachdem Sismonde de Sismondi die nämlichen Aufgaben bereits lange vorher in Frankreich zu lösen unternommen hatte (vgl. biezu den Anhang IX: Ueber die sogen. ethische Richtung der Politischen Oekonomie).
[125] Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft. 1848. S. V u. 324.
[126] Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft. S. 27 ff.. u. S. 34.
[127] Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 1863. I, S. 3 ff. u. S. 145 f.
[128] K. Knies u. J. Kautz haben, im Gegensatz zu W. Roscher, die „historische Methode“ nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis der Forschung ernst genommen; sie haben in der That „Politische Oekonomien nach der historischen Methode“ geschrieben, Werke, welche indess in Wahrheit keine Darstellungen der Politischen Oekonomie sind.
[129] Der Begriff der Wirthschaft wird von einer Reihe volkswirthschaftlicher Schriftsteller in zu weitem Sinne gefasst, indem von den einen jede auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse gerichtete Thätigkeit (Leibesbewegung! Besichtigung von Kunstwerken! u. s. f.), von anderen neben der Production und Vertheilung auch die Consumtion der Güter als Acte der Wirthschaft aufgefasst werden. In Wahrheit ist nur die auf die mittelbare und unmittelbare Deckung ihres-Güterbedarfes gerichtete vorsorgliche Thätigkeit der Menschen als Wirthschaft zu betrachten, während die Acte der eigentlichen Güterconsumtion an sich nicht unter den Begriff derselben fallen.
[130] Die Mehrzahl der zeitgenössischen Nationalökonomen unterscheidet sebr strenge zwischen „Privatwirthschaft“ und „ Volkswirthschaft“; der Irrthum derselben beruht somit keineswegs auf einer Verwechselung der beiden obigen Erscheinungen. Derselbe liegt vielmehr darin, dass die „Volkswirthschaft“ nicht als eine Complication von Individualwirthschaften, sondern selbst als eine grosse Individualwirthschaft aufgefasst wird, in welcher das „Volk“ das bedürfende, das wirthschaftende und consumirende Subject darstellen soll.
Hierin liegt nun aber ein in die Augen fallender Irrthum. Dadurch, dass mehrere bisher wirthschaftlich isolirt gewesene Personen, ohne auf die Verfolgung ihrer individuellen wirthschaftlichen–Ziele und Bestrebungen zu verzichten, in Güterverkehr mit einander treten (also in Wahrheit doch nur ihre individuellen Interessen in zweckmässigerer Weise als bisher zu verfolgen unternehmen), verwandeln sich ihre bisherigen isolirten Wirthschaften weder in Eine Gemeinwirthschaft, noch aber auch tritt eine solche zu denselben neu hinzu. Die bisherigen isolirten-Wirthschaften erfahren vielmehr durch die obige Thatsache nur eine Organisation, durch welche dieselben zwar ihren Charakter als isolirte, keineswegs jedoch jenen als Singularwirthschaften einbüssen. Dies würde nur dann der Fall sein, wenn jedes wirthschaftende Subject auf seine individuellen wirthschaftlichen Ziele und Bestrebungen, auf seine Wirthschaft verzichten, die möglichst vollständige Deckung des Bedarfs aller Glieder der Gesellschaft aber das gemeinsame Ziel sämmtlicher wirthschaftenden Subjecte werden würde. Nur in diesem Falle würden nämlich die hier in Rede stehenden Singularwirthschaften verschwinden und eine Gemeinwirthschaft an ihre Stelle treten. Dagegen würde eine neue Wirthschaft und zwar eine Gemeinwirthschaft zu den bisherigen Singularwirthschaften hinzutreten, wenn die wirthschaftenden Subjecte nur einen Theil ihrer wirthschaftlichen Bestrebungen in der vorhin gedachten, der gemeinwirthschaftlichen Weise organisiren würden, dagegen rücksichtlich des übrigen ihre Singularwirthschaft erhalten bliebe. Dass überdies innerhalb des Kreises der hier in Rede stehenden Personen nur einen Theil dieser letzteren umfassende Gemeinwirthschaften sich zu bilden vermögen, versteht sich von selbst. Was man gegenwärtig Volkswirthschaft nennt, ist eine Organisation von Singular- und Gemeinwirthschaften der verschiedensten Art, nicht aber eine Volkswirthschaft im eigentlichen Verstande des Wortes, oder in seiner Totalität überhaupt Eine Wirthschaft (vgl. hiezu F. Cohn, „Gemeinbedürfniss und Gemeinwirthschaft“ in der Tübinger Zeitschr. 1881, S. 478 ff.).
[131] Siehe S. 86 ff.
[132] Ein grosser Theil der heutigen Volkswirthe sucht in den Begriffsbestimmungen der Nationalökonomie weniger diese letztere, als den Begriff der „Volkswirthschaft“: nicht die Wissenschaft, sondern das Object der Forschung, zu definiren und seine besonderen Anschauungen - über das Wesen der letzteren der Definition der obigen Wissenschaft einzuverleiben, anstatt durch eine gesonderte Untersuchung zunächst diesen Gegenstand zu erledigen und nach Lösung der hier in Rede stehenden Vorfrage an die Begriffsbestimmung der Nationalökonomik zu schreiten, ein Vorgang, welcher übrigens in der grossen Unklarheit über das eigentliche Gebiet (das Object) der Forschung, mit welchem die Politische Oekonomie sich zu beschäftigen hat, seine Erklärung findet.
[133] Einen interessanten Versuch in der obigen Rücksicht hat Her bert Spencer in seiner „Descriptive Sociology, or groups of sociological facts“ (London, 1873) unternommen. Spencer beabsichtigt in dem grossartig angelegten Werke, welches er in Gemeinschaft mit einer Reihe von Mitarbeitern herausgiebt, die (auf das staatliche, das religiöse, das intellectuelle, das wirthschaftliche Leben u. s. f. bezüglichen) socialen Erscheinungsformen der einzelnen Völker auf den verschiedenen Stufen ihrer Entwickelung in tabellarischer, die Vergleichung derselben erleichternder Form zur Darstellung zu bringen, ein Unternehmen, welches zwar nicht, wie Sp. meint, die Summe alles der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften erforderlichen empirischen Materials zu bieten vermag, indess, wenn vollendet, sich von unzweifelhaftem Werthe für die obige Richtung des Erkenntnissstrebens, insbesondere für die verschiedenen Zweige der empirisch-realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften erweisen würde.
[134] Reden und Aufsätze, 1875, I, S. 5 ff. (vgl. auch J. St. Mill, Logic, B. III, Ch. IV).
[135] Einige ältere Literatur bei J. Kaut z, Theorie und Geschichte der Nationalökonomie I, S. 288 ff.
[136] Siehe Note 131.
[137] Siehe S. 8 ff.
[138] Eine Uebersicht der obigen Versuche bei J. Kautz: Theorie und Geschichte der Nationalökonomie I, S. 285 ff.; vgl. auch ebd. S. 288 ff.
[139] Siehe Anhang VI.
[140] Siehe S. 8 ff. und insbes. die Noten 6 und 7, wo wir auch die Aufgaben der wissenschaftlichen Statistik und die verschiedenen Richtungen statistischer Forschung charakterisirt haben. Vgl. hierzu insbes. M. Block, Traité théoretique et pratique de Statistique 1878, wo auch die sehr werthvolle neuere deutsche Literatur über Wesen und Begriff der Statistik sorgfältige Berücksichtigung findet.
[141] Der obige für die Methodik der historischen Wissenschaften überhaupt höchst bedeutsame Umstand schliesst die Darstellung des Zustandes und der Entwickelung singularwirthschaftlicher Phänomene der menschlichen Wirthschaft, wie selbstverständlich, nicht aus, wohl aber erklärt er, wie die universelle Aufgabe der historischen Wirthschaftswissenschaften nothwendig zur collectivischen Auffassung der Wirthschaftsphänomene zur Geschichte und Statistik der Volkswirthschaft“ führt.
Hier ist zugleich auch die Grundlage für die Lösung des die Geschichtsforschung vielfach beschäftigenden Problems zu suchen, welche Erscheinungen des Menschenlebens aus der unübersehbaren Menge derselben hervorzuheben und darzustellen, Aufgabe der historischen Wissenschaften sei ? Sie haben in Wahrheit die Aufgabe, die Individualerscheinungen 6 des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung darzustellen, die einzelne Erscheinung indess nur in so weit, als sie für das collective Bild des Menschenlebens an sich von Bedeutung ist. Nur sol vermögen dieselben ibrer specifischen Aufgabe in universeller Weise zu genügen.
Auch das, man die künstlerische Aufgabe der Geschichtsschreibung nennt, findet in der obigen Auffassung vom Wesen der Geschichte und dem Verhältnisse derselben zu den Singularerscheinungen des Menschenlebens seine ausreichende Erklärung. Die eigenthümliche Kunst des Geschichtsschreibers (auch jene des Statistikers !) besteht hauptsächlich in der Fähigkeit, uns die unübersehbare Menge von Individualphänomenen des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkte collectiver Darstellung zum Bewusstsein zu bringen, uns ein collectives Bild der Entwickelung bez. des Zustandes der Menschheitserscheinungen in ihrer Totalität zu bieten. (Vgl. hierzu die seit Humboldt immer wieder unternommenen Versuche, das Wesen der sog. „historischen Kunst“ zu erklären, bei Gervinus, Grundzüge der Historik, S. 13 ff.; J. G. Droysen, Historik, 1875, S. 75 ff.; O. Lorenz: Fr. Chr. Schlosser, Sitzungsbericht der Wiener Akademie der Wissenschaften, 88. Bd., S. 136 ff.).
Hier zeigt sich auch ganz besonders deutlich der Gegensatz zwischen den historischen und den theoretischen Wissenschaften. Die letzteren haben es nicht mit der Darstellung des „Individuellen“, sondern mit jener des „Generell en“, der „Erscheinungsformen“ und der „Gesetze der Erscheinungen“ zu thun. Ihnen liegt nicht die Aufgabe ob, die unübersehbare Menge der individuellen Phänomene, sondern nur den unvergleichlich engeren Kreis der Erscheinungsformen und ihrer typischen Relationen uns zum Bewusstsein zu bringen. Der collectivische Gesichtspunkt der Betrachtung, von der Idee historischer Wissenschaften geradezu unzertrennlich, ist den theoretischen Wissenschaften entbehrlich, ja, wie wir gesehen haben, geradezu inadäquat (vgl. hierzu die bezüglichen Ausführungen im II. Buche, Cap. 2, S. 122 ff.).
[142] Jene, welche an die Stelle der bisherigen, als unbefriedigend bezeichneten Methoden der Socialforschung die „historische Methode“ zu setzen unternahmen, haben mit den Anhängern der sogen. „ organischen Auffassung“ der Socialerscheinungen das Eine gemein, dass sie sich über den gegenwärtigen Zustand der betreffenden Methoden einer intensiven Täuschung hingeben. Dass die Erklärung der Gesellschaftsphänomene durch Analogien mit organischen Gebilden in Wahrheit eine Interpretation des wenig Bekannten durch ein noch weniger Bekanntes sei, haben wir bereits an anderer Stelle (vgl. S. 151) hervorgehoben. Dass aber auch die historische Methode, mit welcher ein Theil unserer Volkswirthe in so unbefangener Sicherheit operirt, als hätte er ihre Tiefen vollständig ergründet, oder als bestände über das Wesen dieser Methode nicht der geringste Zweifel, den eigentlichen Historikern selbst nicht annähernd so klar zu sein scheint, als den eben erwähnten Nationalökonomen, darüber vgl. Droysen (Historik, 1875, S. 3): „Wenn man die historischen Studien nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung und ihrem Verhältniss zu anderen Formen menschlicher Erkenntniss, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zusammenhange ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, genügende Auskunft zu geben“; O. Lorenz (Fr. Chr. Schlosser und über einige Aufgaben und Principien der Geschichtsschreibung, Berichte der Wiener Akademie der Wissenschaften, 88. Bd., S. 133): „Man muss zugestehen, dass wir auch heute kein durchgreifendes Princip, keine anerkannte historiographische Richtung, ja nicht einmal einen historischen Stil von einiger Gleichmässigkeit haben“.
[143] Der Haushalt der mit der Finanzgewalt versehenen wirthschaftenden Subjecte hat mannigfache Eigenthümlichkeiten, welche die Besonderheit der praktischen Wissenschaft von der zweckmässigen Einrichtung desselben begründen. Seinem Wesen nach ist er jedoch eine Singularwirthschaft und fällt die Finanzwissenschaft somit zugleich mit der praktischen Privatwirthschaftslehre unter die allgemeinere Kategorie der „praktischen Singular wirthschaftslehren“.
[144] Aus dem Obigen ist zugleich ersichtlich, dass die Meinung jener, welche zwischen der praktischen Privatwirthschaftslehre und der praktischen Volkswirthschaftslehre einen principiellen Gegensatz erkennen, eine durchaus irrige ist; auch die praktische Privatwirthschaftslehre bezieht sich nämlich auf die Wirthschaft social organisirter Menschen und auch sie findet ihre theoretische Grundlage nicht etwa in einer besonderen theoretischen Privatwirthschaftslehre, sondern in der theoretischen Nationalökonomie. Der Börsenmann, der Banquier, der Effecten- und Getreidespeculant u. s. f. stützen sich in ihren privatwirthschaftlichen Operationen eben so wohl auf die Theorie des Preises, des Capitalzinses, der Grundrente u. s. f., also auf Lehren der theoretischen Volkswirthschaftslehre, wie der Volkswirthschaftspolitiker, oder ein Organ der Finanzverwaltung in seiner öffentlichen Thätigkeit. Die theoretische Volkswirthschaftslehre ist eben so wohl die theoretische Grundlage der praktischen Privatwirthschaftslehre, als der Finanzwissenschaft und Volkswirthschaftspolitik. Auch Diejenigen, welche, gleichwie J. St. Mill (Essays on some unsettled questions, p. 125) die Privatwirthschaft überhaupt als keinen Gegenstand der Wissenschaft, sondern lediglich als solchen der Kunst anerkennen, verfallen in den obigen Irrthum; denn auch der Privatwirthschaft liegen, wie selbstverständlich, theoretische und praktische Erkenntnisse zu Grunde.
Sämmtliche praktische Wirthschaftswissenschaften beruhen solcherart auf der theoretischen Wirthschaftslehre; es wäre indess irrig, anzunehmen, dass diese letztere die einzige theoretische Grundlage derselben bilde. Die a praktischen Wissenschaften, welcher Art immer dieselben auch sein mögen, wurzeln nämlich überhaupt nicht ausschliesslich in einzelnen theoretischen Wissenschaften; es ist vielmehr sogar der Regel nach eine Mehrheit der letzteren, welche die theoretische Grundlage der ersteren bildet. Nicht nur die Anatomie, sondern auch die Physiologie, die Physik, die Mechanik, die Chemie u. 8. f. sind beispielsweise die theoretischen Grundlagen der Chirurgie und Therapie, nicht die theoretische Chemie allein, sondern eben so wohl die Physik, ja selbst die Mechanik und die Mathematik sind die theoretische Grundlage der chemischen Technologie. Das Gleiche gilt von den praktischen Wirthschaftswissenschaften. Sie wurzeln zwar durchweg, indess nicht ausschliesslich in der theoretischen Wirthschaftslehre.
[145] Jedem exacten Naturgesetze, für welches Gebiet der Erscheinungswelt dasselbe auch immer seine Geltung beansprucht, liegen zwei unempirische Annahmen zu Grunde. Erstens dass alle concreten Phänomene irgend einer bestimmten Art (z. B. aller Sauerstoff, aller Wasserstoff, alles Eisen u. s. f., in jenem Sinne, in welchem das betreffende Naturgesetz dasselbe auffasst) qualitativ identisch und zweitens dass dieselben in exacter Weise gemessen seien. In der Wirklichkeit sind die obigen Phänomene indess weder streng typisch, noch auch in exacter Weise messbar (vgl. S. 75 ff.).
[146] Dass die exacte Forschung auf dem Gebiete der Erscheinungen menschlicher Thätigkeit von der Annahme einer bestimmten Willensrichtung der handelnden Subjecte ausgeht, ist eine Eigenthümlichkeit der exacten Socialwissenschaften, begründet indess keinen essentiellen Unterschied zwischen der exacten Natur- und der exacten Socialforschung, indem ja auch die erstere von Voraussetzungen ausgeht, welche mit der hier in Rede stehenden eine formale Analogie aufweisen.
[147] Siehe meine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre I, S. 4. Der von mir zur Bezeichnung der Gebrauchsgüter gebrauchte Ausdruck „Güter erster Ordnung“ und die Bezeichnung der in Rücksicht auf diese letzteren verschiedenen Stufen der Productionsmittel, als Güter zweiter, dritter, vierter und höherer Ordnung erscheint mir nicht nur an sich als zweckmässig, sondern die der obigen Terminologie zu Grunde liegende Classification der Güter für das exacte Verständniss der Werth- und Preiserscheinungen geradezu unentbehrlich.
[148] Vgl. für die ganze folgende Untersuchung meine Güterlehre, ebendas. S. 35 ff.
[149] Siehe insbesondere S. 44.
[150] Anhanmg V, S. 260.
[151] Eben so wenig wird das obige Problem durch den Hinweis auf den Ursprung des Rechtes im Volksgeiste gelöst. Wollte man nämlich auch einen von dem Geiste der menschlichen Individuen verschiedenen Volksgeist als eine reale Existenz mit besonderem, von jenem der einzelnen in socialem Verkehre stehenden Individuen verschiedenem Bewusstsein und Streben anerkennen, so müsste doch sofort die Frage entstehen, wie denn in dem so gedachten Geiste die Idee des Rechtes thatsächlich sich bilde und im concreten Falle seine besondere Gestalt gewinne? Durch die obige Fiction wird das hier in Rede stehende Problem nur verdunkelt, aber nicht gelöst. Vgl. Ahrens, Philosophie des Rechtes 1870. I, S. 175 ff.
[152] Siehe S. 145 ff.
[153] Es ist ein Irrthum, wenn seit Thomasius von einer langen Reihe von Rechtsphilosophen in dem Hinzutreten der Coércitivgewalt, oder gar in der factischen Erzwingbarkeit des durch die Rechtsregel Gebotenen der Unterschied zwischen Recht und Moral gesucht wird; denn das Recht bleibt offenbar Recht, wenn dasselbe auch (z. B. gegen den Klügeren oder Stärkeren, oder in Folge schlechter Justiz) nicht erzwungen, beziehungsweise das verletzte Recht nicht gesühnt werden kann, ja selbst dann, wenn eine hierauf bezügliche Coércitivgewalt (wie z. B. in manchen Fällen des internationalen Verkehrs) überhaupt nicht vorhanden ist. Das Recht unterscheidet sich von der Moral vielmehr dadurch, dass die Rechtsregel in dem Bewusstsein der Bevölkerung, bez. nach der Absicht des Gesetzgebers, eine solche ist, deren Befolgung dem freien Ermessen des Einzelnen nicht anheimgestellt werden soll, während bei den Regeln der Moral dies keineswegs der Fall ist. Der factische Bestand einer Zwangsgewalt, die factische Sühne des verletzten Rechtes sind zwar natürliche und regelmässig eintretende Consequenzen der oben dargelegten Sachlage, keineswegs aber nothwendige Voraussetzungen oder Attribute des Rechtes.
[154] Mit Recht bekämpft Schmoller (Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft. 1875. S. 25 ff.) die Meinung, dass die sittlichen Ideen der Ehe, des Eigenthums u. s. f. sich stets gleich bleiben und zeigt (S. 29 ff.), dass das Sittliche nicht in der historischen Constanz einer Institution liege. Vgl. auch desselben „Gerechtigkeit in der Volkswirthschaft“ (Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft, 1881. S. 29 ff.).
[155] Die Rechtsordnung ist eine Bedingung jedes fortgeschritteneren Verkehrs, dieser letztere wiederum eine solche jeder höheren menschlichen Wohlfahrt; das Streben nach Wohlfahrt liegt aber in der allgemein menschlichen Natur. Das Recht ist somit nichts zufälliges, sondern, sowohl seiner Idee als auch seinem besonderen Inhalte nach, wesentlich durch die menschliche Natur und die Besonderheit der Verhältnisse implicite gegeben. Damit ist indess das Recht, weder seiner Idee noch aber auch seinem besonderen Inhalte nach, bereits existent. Damit es thatsächlich zur Erscheinung gelange, müssen jene Factoren, welche dasselbe bestimmen, doch erkannt, erwogen und muss das Recht durch einen geistigen Process geschaffen werden. Will man nicht annehmen, dass das Recht den Menschen auf dem Wege äusserer oder innerer Offenbarung zum Bewusstsein gelangt ist, mit einem Worte, will man nur mit wissenschaftlich zulässigen Mitteln operiren, so kann jener geistige Process, durch welchen das durch die menschliche Natur und die sonstigen hier einschlägigen Verhältnisse doch nur postulirte Recht existent wird, jedenfalls nur in menschlichen Geistern vor sich gegangen sein, und die Aufgabe der Wissenschaft ist es, uns über diesen Process Klarheit zu verschaffen, eine Aufgabe, welche durch die Phrasen der „Ursprünglichkeit“, der „Urwüchsigkeit“ oder des „organischen Ursprunges“ jedoch keineswegs gelöst wird. Indem wir an eine sachgemässe Lösung der obigen Aufgabe geschritten sind, haben wir aber zugleich auch dargethan, dass das Recht in seiner objectiven Existenz nicht bereits a priori im Menschengeiste überhaupt oder im Volksgeiste insbesondere enthalten, auch nicht von einer dem Menschengeschlechte gegenüber äusseren Intelligenz geoffenbart, sondern, soweit dasselbe sich uns nicht als ein Product der Gewalt bez. der positiven Gesetzgebung darstellt, das Ergebniss einer denken den Betrachtung und Beurtheilung der bedürftigen Menschen natur und der uns umgeben den Verhältnisse Seitens der Volksglieder ist. Das Recht ist demnach auch kein Selbstzweck; es ist dies so wenig, dass, würden jene Schranken individueller Willkür, welche wir die Rechtsordnung nennen, in einem bestimmten Zustande der Gesellschaft überflüssig, oder das Recht gar dem menschlichen Wohle abträglich, dieses letztere sofort auch seiner Idee nach verschwinden und zu einer eben so nutzlosen als lästigen Beschränkung individueller Freiheit werden würde. Jeder würde dann von selbst erkennen, dass es weder „ewig“, noch „ursprünglich in der Menschenbrust“, noch auch „göttlich“, sondern eine menschlicher Intelligenz entsprungene und menschlichen Interessen dienende Einrichtung ist. Was vor dem Auftreten der historischen Rechtsschule in Deutschland oft genug verkannt wurde, ist die Thatsache, dass das Recht nicht immer, ursprünglich sogar überhaupt nicht, das Ergebniss eines auf die Begründung desselben und die Förderung des Gemeinwohls gerichteten (reflectirten) Gemein willens ist, eine Thatsache, welche indess keineswegs die Entstehung des Rechtes als Ergebniss menschlicher Intelligenz ausschliesst.
[156] Vgl. S. 275 ff.
[157] Siehe das VI. und VII, Capitel des I. Buches.
[158] Siehe S. 61 ff.
[159] Manche volkswirthschaftliche Schriftsteller suchen die ethische Richtung der theoretischen Nationalökonomie darin, dass sie die Erscheinungen der Volkswirthschaft unter dem Gesichtspunkte der Moral betrachten, also z. B. untersuchen, welche Güter vom Standpunkte der letzteren als solche, das ist als „wahre“ Güter, anerkannt werden dürfen, welche Preise, Capitalzinsen u. s. f. als moralisch verwerflich zu bezeichnen seien u. dgl. m. Hierin liegt indess, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, keine ethische Richtung der nationalökonomischen Forschung, sondern ein moralisches Urtheil über einzelne Erscheinungen der Volkswirthschaft, welches die Ergebnisse der theoretischen Forschung, auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in keiner Weise zu tangiren vermag. Ein noch so „unwahres“ oder „unmoralisches“ Gut unterliegt z. B. doch den ökonomischen Gesetzen des Werthes, des Preises u. s. f., ist somit vom wirthschaftlichen Standpunkte ein „Gut“, dessen Werth, Preis u. s. f. eben so wohl theoretisch interpretirt werden muss, als der Werth oder Preis der den höchsten Zwecken dienenden Güter. Oder sollte eine „ethische“ Theorie der Volkswirthschaft etwa die Interpretation der an Gütern, welche unmoralischen Zwecken dienen, zu beobachtenden ökonomischen Erscheinungen grundsätzlich zurückweisen? Soll sie sich auf die theoretische Interpretation jenes Theiles der ökonomischen Erscheinungen beschränken, welcher den Grundsätzen der Ethik, bez. einer bestimmten Richtung derselben entspricht? Welche Wissenschaft hätte denn dann die Aufgabe, die Gesetze der „nicht wahren“ Güter, bez. der „nicht ethischen“ Erscheinungen der Volkswirthschaft uns zum theoretischen Verständnisse zu bringen?